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26 2010 SONNABEND / SONNTAG, 26. / 27. JUNI 2010 Unterwegs: 10 Ausflüge für Erdbeerpflücker Stadtgespräch: Pierre Brice Titel-Thema: Hinter den Kulissen der 59. Karl-May-Spiele Lokal-Termin: Tim Mälzers „Bullerei“ Gestern & Heute: „Der kleine Prinz“ wird 60 Jahre Handgemacht: Ein Paradies für Eis-Gourmets F iktion und Realität auseinanderzuhalten ist ja nicht jedermanns Sache. Mir fiel das schon immer ziemlich schwer. In der Schule war ich das Mädchen, dem die versammelten Deutsch- lehrer gerne mal ein humorloses „zu viel Fanta- sie“ unter die Aufsätze knallten. Meine liebsten Spielgefährten waren unsichtbare Piraten, die fliegen, kämpfen und Schiffe über die sieben Weltmeere segeln konnten. Ich glaubte fest da- ran, dass Peter Pan mit allem recht hatte. Und ich war überzeugt davon, dass Old Shatterhand wirklich existiert. Dieser charismatische Mann, der auf seinem Pferd Hatatitla in die tief stehende Sonne ritt, den Henrystutzen und den Bärentöter geschultert, und irgendwo da hinten am Horizont wartete sein Blutsbruder Winne- tou. Der Apachenhäuptling saß auf seinem Pferd Iltschi und reckte zum Gruß die Silberbüchse in die Luft. Gemeinsam bestanden die beiden Freunde dann die wildesten Abenteuer. Silberseeschatz suchen. Bleich- gesichterbanden zerschlagen. Komantschen, Kiowas, Shoshonen tref- fen. Und diese Sioux, immer wieder. Dann noch Santer, der schlimme Halunke. Außerdem Berge, Schluchten, Adler, Pferde – und Frauen und Männer mit Federn im Haar. Für mich war das alles die Wirklichkeit. Es war einfach zu schön, um es nicht zu glauben: Freunde reiten durch die Prärie und tun Gutes, die Bösen sind zu guter Letzt immer relativ leicht auszutricksen und mit ein paar gezielten Fausthieben umzuballern, und zusätzlich gibt es noch genug Anlässe für große Gefühle, wenn Väter, Schwestern oder schöne Indianerinnen sterben müssen. Toll. Es ist absolut verständlich, dass Karl May, der Schöpfer dieser sagen- haften Geschichten, da auch manchmal durcheinanderkam. Dass er be- hauptete, er selbst sei Old Shatterhand und hätte all die Abenteuer mit Winnetou nicht erfunden, sondern tatsächlich erlebt. Er ließ sich von einem sächsischen Büchsenmacher den Henrystutzen, den Bärentöter und die Silberbüchse anfertigen. Er brachte Autogrammkarten in Um- lauf, auf denen er im Fransenanzug zu sehen war. Er nannte sein Haus Villa Shatterhand. Er zauberte sich eine Welt, die ihm gefiel. Aus leder- nen Cowboys, edlen Indianern und ganz besonderen weißen Männern (manche wurden sogar zu Indianern!). Ich fand diese Welt auch super genug, um sie in meinen täglichen Realitätsverlust einzubauen: Ich saß im Garten meiner Eltern auf einem Steinhaufen, hatte abwechselnd die Piraten und Winnetou zu Besuch, und gegen Abend saß Old Shatterhand neben mir (natürlich in der Version von Kleinmädchentraum Lex Bar- ker), klug, aufrecht und gut aussehend. Dass der weiße Mann in Amerika häufig eher dumm, charakterlos und übergewichtig ist, und dass der rote Mann auch nicht immer nur als mu- tiger Krieger oder friedlicher Naturphilosoph lebt, ging mir erst sehr viel später auf. War mir dann aber auch schnell wieder egal. Die Karl-May- Filme wurden in Kroatien gedreht, und der Erzähler Karl May war nie in den USA gewesen. Mein Old-Shatterhand-Winnetou-Programm hatte mit den echten Amerikanern also absolut nichts zu tun. Und so konnte ich mir in aller Ruhe weiterhin mein Bild von den Männern im Wilden Westen zurechtfantasieren. Das Bild hält bis heute, ich bin in meinem Wahn ziemlich unerschütterlich. Wenn ich an Indianer denke, denke ich an Winnetou. An diesen schicken Politiker im cremefarbenen Folklore- anzug und ohne jegliche Affären. Den Mann, der Gewalt nicht mochte, sie aber einzusetzen wusste, wenn es nötig war. Der mit Rauchen Frie- den schaffen konnte. Denke ich an Cowboys, denke ich an versoffene, halbkriminelle Banden, die sich nie waschen, aber verdammt gut mit dem Schießeisen umgehen können. Und wenn ich an Abenteurer denke, denke ich an Old Shatterhand. An diesen ganz speziellen Typ Mann, der gut ist und sexy. Der mit der Faust ebenso schnell ist wie mit dem Gehirn. Der auch in größter Bedrängnis noch cool genug ist, um die richtigen Entscheidungen zu treffen, und der nebenbei sogar noch einen Witz macht, der dann gar nicht mal so übel ist. Mit so einem Mann würde ich sofort eine Blutsbrüderschaft eingehen. Das ist überhaupt das Größte: Die Vorstellung, dass zwei Menschen sich die Pulsadern öffnen, die blutenden Unterarme aufeinanderpres- sen, und schon ist man für immer verbunden. Wie herrlich romantisch ist das bitte? Als würden durch das verschmierte Blut die Seelen inein- ander kriechen. Ich hab mir das oft gewünscht, früher, als ich noch ein Nomadenleben geführt habe. Wenn ich irgendwo auf der Welt an irgend- einer Theke oder auf irgendeiner Fähre einen Menschen kennengelernt habe, den ich sehr mochte, und ich wusste, dass wir morgen schon wie- der getrennt sein würden, dann dachte ich an so was in der Art. Damit wir uns immer wieder finden, egal, wo der andere landet. Deshalb haben Old Shatterhand und Winnetou das gemacht, da bin ich sicher. Sie sind Blutsbrüder geworden, um einander nicht zu verlieren. Und um selbst nicht verloren zu gehen. Wer sein Blut geteilt hat, ist nie mehr alleine unterwegs. Ein bisschen was vom anderen ist immer dabei und passt auf einen auf. Old Shatterhand war ja nicht nur im Wilden Westen auf Tour, sondern auch im Orient, als Kara Ben Nemsi. (Pferd: Rih. Begleiter: Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah.) Da konnte es nicht schaden, einen flüssigen Apachenhäupt- ling in sich zu tragen. Und Winnetou lebte im Angesicht der Ausrottung seines Volkes, der konnte Mut für zwei gut gebrauchen. Blutsbrüderschaft ist wohl einfach eine ganz und gar altmodische Form von Freundschaft: auf ewig. Allein dieses Ideal so populär gemacht zu haben würde reichen, um Karl May zu einem großen Schriftsteller zu machen. Seine einfallsreichen Geschichten, die Millionen von Jungs und Mädchen zu mehr Fantasie verhelfen, tun den Rest. Und die Leute, die behaupten, Karl May sei ein hochstaplerisch veranlagter Schmierfink gewesen, haben kein Herz. Für mich ist Karl May ein Riese gewesen. Er hat mir viele imaginäre Freunde geschenkt. Und ich hege eine kindliche Sehnsucht danach, ein- mal in Bad Segeberg im Amphitheater zu sitzen, Saloons explodieren und Cowboys durch die Luft fliegen zu sehen. Noch drei, vier Jahre. Dann ist mein Sohn alt genug für Old Shatterhand und Winnetou. Dann reiten wir da Hand in Hand hin, der tief stehenden Sonne von Schleswig- Holstein entgegen. Howgh. S. 4/5 – „Durchs wilde Segeberg“: ein Tagebuch über die Produktion der 59. Karl-May-Spiele. Wir sind Winnetou! Schmöker? Von wegen! Mit Winnetou und Old Shatterhand prägte Karl May unsere Ideale, Weltsicht und Fantasie, erklärt SIMONE BUCHHOLZ. Howgh! Alles, was man über Gut und Böse, Pferde und Pfeiferauchen wissen muss, lehrt uns der Apachenhäuptling. FOTO: PLAINPICTURE/GLASSHOUSE

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SONNABEND / SONNTAG, 26. / 27. JUNI 2010

Unterwegs: 10 Ausflüge für Erdbeerpflücker › Stadtgespräch: Pierre Brice › Titel-Thema: Hinter den Kulissen der 59. Karl-May-Spiele Lokal-Termin: Tim Mälzers „Bullerei“ › Gestern & Heute: „Der kleine Prinz“ wird 60 Jahre › Handgemacht: Ein Paradies für Eis-Gourmets

F iktion und Realität auseinanderzuhalten ist ja nicht jedermanns Sache. Mir fiel das schon immer ziemlich schwer. In der Schule war ich das Mädchen, dem die versammelten Deutsch-lehrer gerne mal ein humorloses „zu viel Fanta-sie“ unter die Aufsätze knallten. Meine liebsten Spielgefährten waren unsichtbare Piraten, die fliegen, kämpfen und Schiffe über die sieben Weltmeere segeln konnten. Ich glaubte fest da-

ran, dass Peter Pan mit allem recht hatte. Und ich war überzeugt davon, dass Old Shatterhand wirklich existiert.

Dieser charismatische Mann, der auf seinem Pferd Hatatitla in die tief stehende Sonne ritt, den Henrystutzen und den Bärentöter geschultert, und irgendwo da hinten am Horizont wartete sein Blutsbruder Winne-tou. Der Apachenhäuptling saß auf seinem Pferd Iltschi und reckte zum Gruß die Silberbüchse in die Luft. Gemeinsam bestanden die beiden Freunde dann die wildesten Abenteuer. Silberseeschatz suchen. Bleich-gesichterbanden zerschlagen. Komantschen, Kiowas, Shoshonen tref-fen. Und diese Sioux, immer wieder. Dann noch Santer, der schlimme Halunke. Außerdem Berge, Schluchten, Adler, Pferde – und Frauen und Männer mit Federn im Haar.

Für mich war das alles die Wirklichkeit. Es war einfach zu schön, um es nicht zu glauben: Freunde reiten durch die Prärie und tun Gutes, die Bösen sind zu guter Letzt immer relativ leicht auszutricksen und mit ein paar gezielten Fausthieben umzuballern, und zusätzlich gibt es noch genug Anlässe für große Gefühle, wenn Väter, Schwestern oder schöne Indianerinnen sterben müssen. Toll.

Es ist absolut verständlich, dass Karl May, der Schöpfer dieser sagen-haften Geschichten, da auch manchmal durcheinanderkam. Dass er be-hauptete, er selbst sei Old Shatterhand und hätte all die Abenteuer mit Winnetou nicht erfunden, sondern tatsächlich erlebt. Er ließ sich von einem sächsischen Büchsenmacher den Henrystutzen, den Bärentöter und die Silberbüchse anfertigen. Er brachte Autogrammkarten in Um-lauf, auf denen er im Fransenanzug zu sehen war. Er nannte sein Haus Villa Shatterhand. Er zauberte sich eine Welt, die ihm gefiel. Aus leder-nen Cowboys, edlen Indianern und ganz besonderen weißen Männern (manche wurden sogar zu Indianern!). Ich fand diese Welt auch super genug, um sie in meinen täglichen Realitätsverlust einzubauen: Ich saß im Garten meiner Eltern auf einem Steinhaufen, hatte abwechselnd die Piraten und Winnetou zu Besuch, und gegen Abend saß Old Shatterhand neben mir (natürlich in der Version von Kleinmädchentraum Lex Bar-ker), klug, aufrecht und gut aussehend.

Dass der weiße Mann in Amerika häufig eher dumm, charakterlos und übergewichtig ist, und dass der rote Mann auch nicht immer nur als mu-tiger Krieger oder friedlicher Naturphilosoph lebt, ging mir erst sehr viel später auf. War mir dann aber auch schnell wieder egal. Die Karl-May-Filme wurden in Kroatien gedreht, und der Erzähler Karl May war nie in

den USA gewesen. Mein Old-Shatterhand-Winnetou-Programm hatte mit den echten Amerikanern also absolut nichts zu tun. Und so konnte ich mir in aller Ruhe weiterhin mein Bild von den Männern im Wilden Westen zurechtfantasieren. Das Bild hält bis heute, ich bin in meinem Wahn ziemlich unerschütterlich. Wenn ich an Indianer denke, denke ich an Winnetou. An diesen schicken Politiker im cremefarbenen Folklore-anzug und ohne jegliche Affären. Den Mann, der Gewalt nicht mochte, sie aber einzusetzen wusste, wenn es nötig war. Der mit Rauchen Frie-den schaffen konnte. Denke ich an Cowboys, denke ich an versoffene, halbkriminelle Banden, die sich nie waschen, aber verdammt gut mit dem Schießeisen umgehen können. Und wenn ich an Abenteurer denke, denke ich an Old Shatterhand. An diesen ganz speziellen Typ Mann, der gut ist und sexy. Der mit der Faust ebenso schnell ist wie mit dem Gehirn. Der auch in größter Bedrängnis noch cool genug ist, um die richtigen Entscheidungen zu treffen, und der nebenbei sogar noch einen Witz macht, der dann gar nicht mal so übel ist. Mit so einem Mann würde ich sofort eine Blutsbrüderschaft eingehen.

Das ist überhaupt das Größte: Die Vorstellung, dass zwei Menschen sich die Pulsadern öffnen, die blutenden Unterarme aufeinanderpres-sen, und schon ist man für immer verbunden. Wie herrlich romantisch ist das bitte? Als würden durch das verschmierte Blut die Seelen inein-ander kriechen. Ich hab mir das oft gewünscht, früher, als ich noch ein Nomadenleben geführt habe. Wenn ich irgendwo auf der Welt an irgend-einer Theke oder auf irgendeiner Fähre einen Menschen kennengelernt habe, den ich sehr mochte, und ich wusste, dass wir morgen schon wie-der getrennt sein würden, dann dachte ich an so was in der Art. Damit wir uns immer wieder finden, egal, wo der andere landet. Deshalb haben Old Shatterhand und Winnetou das gemacht, da bin ich sicher. Sie sind Blutsbrüder geworden, um einander nicht zu verlieren. Und um selbst nicht verloren zu gehen. Wer sein Blut geteilt hat, ist nie mehr alleine unterwegs. Ein bisschen was vom anderen ist immer dabei und passt auf einen auf. Old Shatterhand war ja nicht nur im Wilden Westen auf Tour, sondern auch im Orient, als Kara Ben Nemsi. (Pferd: Rih. Begleiter: Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah.) Da konnte es nicht schaden, einen flüssigen Apachenhäupt-ling in sich zu tragen. Und Winnetou lebte im Angesicht der Ausrottung seines Volkes, der konnte Mut für zwei gut gebrauchen.

Blutsbrüderschaft ist wohl einfach eine ganz und gar altmodische Form von Freundschaft: auf ewig. Allein dieses Ideal so populär gemacht zu haben würde reichen, um Karl May zu einem großen Schriftsteller zu machen. Seine einfallsreichen Geschichten, die Millionen von Jungs und Mädchen zu mehr Fantasie verhelfen, tun den Rest. Und die Leute, die behaupten, Karl May sei ein hochstaplerisch veranlagter Schmierfink gewesen, haben kein Herz.

Für mich ist Karl May ein Riese gewesen. Er hat mir viele imaginäre Freunde geschenkt. Und ich hege eine kindliche Sehnsucht danach, ein-mal in Bad Segeberg im Amphitheater zu sitzen, Saloons explodieren und Cowboys durch die Luft fliegen zu sehen. Noch drei, vier Jahre. Dann ist mein Sohn alt genug für Old Shatterhand und Winnetou. Dann reiten wir da Hand in Hand hin, der tief stehenden Sonne von Schleswig-Holstein entgegen. Howgh.

S. 4/5 – „Durchs wilde Segeberg“: ein Tagebuch über die Produktion der 59. Karl-May-Spiele.

Wir sindWinnetou!

Schmöker? Von wegen! Mit Winnetou und Old Shatterhand prägte Karl May unsere Ideale,Weltsicht und Fantasie, erklärt SIMONE BUCHHOLZ. Howgh!

Alles, was man über Gut und Böse,Pferde und Pfeiferauchen wissen

muss, lehrt uns der Apachenhäuptling.FOTO: PLAINPICTURE/GLASSHOUSE

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Man sollte meinen, der Großstädter wäre froh über jeden Moment der Ruhe, den er bekommen kann. Zumindest für den

Hamburger scheint das nur eingeschränkt zu gelten: Egal ob „Street Mag Show“, „Car Night“ oder Motor-rad-Gottesdienst – die Hansestädter leihen heulen-den Motoren, quietschenden Reifen und röhrenden Auspuffen gerne ein Ohr. Dieses Wochenende sind nun die „Harley Days“ dran: Noch bis Sonntag lockt das, was die Veranstalter als „Faszination aus Chrom und Stahl“ beschreiben. Ein buntes Programm steigt dazu auf dem Großmarkt-Gelände – dem „Harley Village“ – sowie an weiteren Plätzen in der Stadt.

Es weht ein Hauch von Easy Rider durch den Nor-den, ein bisschen Route-66-Stimmung kommt auf – zum Beispiel mit der „Ride-In Bike Show“ am Sonn-abend in der Mönckebergstraße (11–15 Uhr). Mehr als 100 der coolsten „Customs“, individuell gestaltete Motorräder also, funkeln dann in der Sonne, zudem stehen Gästen die neuesten Harley-Davidson- und Buell-Modelle für Probefahrten zur Verfügung. Auch im „Harley Village“ gibt man Gas: Hier demonstriert der Stuntman Rainer Schwarz sein halsbrecherisches Können (Sa, 15 u. 18 Uhr, und So, 12 u. 16 Uhr). Und wer einen gültigen Führerschein hat, darf bei den

Frisch vom Feld schmecken Erdbeeren einfach am besten. Auf vielen Obsthöfen rund um Hamburg kann man die Sommerfrüchte jetzt zum Vorzugspreis selber pflücken und dabei schon ein wenig kosten – nur sicherheitshalber, natürlich!

Die Erdbeere ist die Diva unter den Früchten: Sie tritt nur im Sommer auf, in diesem Jahr etwas später, denn es war ihr noch zu kalt. Sie mag es nicht, wenn man sie härter anfasst, dann bekommt sie Druckstellen. Und sie will rot gepflückt werden – grüne Beeren reifen nicht nach. Ihre Launen macht die kalorienarme Vitamin-C-Bombeaber mehr als wett: als Marmelade, mit Zucker und Sahne, in der Bowle, auf dem Kuchen oder einfach pur. Außerdem bereitet das Selberpflücken großen Spaß – wenn man es als Familiensport betreibt und einige Tipps befolgt: Die Beeren nicht abreißen,sondern mit Zeigefinger und Daumen am Stiel abknipsen. Beim Transport nicht quetschen und erst zu Hause waschen, damit sie nicht zu viel Wasser aufsaugen.

TIPPS & TERMINE

1 GUT WULKSFELDE Gleich gegenüber vom Hofladen liegen die Felder. Hier kann man sich die schönsten Bioland-Erbeeren aussuchen, die Ernte wird vor Ort gewogen und bezahlt. Am 26.6. wird der Hof zum großen Bauernmarkt mit über 40 Ständen. Plus: Treckerfahrten, Spiele und Bastelaktionen für Kinder.» Wulksfelder Damm 15–17, 22889 Tangstedt/Hamburg, Tel. 644 25 10, Hof-fest: 26.6., 10–18 Uhr, Selberpflücken tägl. 9–18 Uhr, www.gut-wulksfelde.de

2 ERDBEERHOF GLANTZ Hier werden diverse Sorten angebaut, die nacheinander reifen, damit man den ganzen Sommer in Erdbeeren schwelgen kann. Als erste am Start sind die früh- und mittelreifen „Honeoye“ und „Sonata“, dann die „Florence“.Auf neun Feldern darf gepflückt werden, man kann die Früchtchen aber auch an einem der über 140 Stände in Hamburg kaufen.» Hamburger Straße 2a, 22941 Delingsdorf,Tel. 04532/202 40, tägl. 8–19 Uhr, www.glantz.de

3 INGENHOF Hier wächst die süße „Sonata“, ab Mitte Juli sind auch die Himbeeren reif. Nach dem Pflücken locken Waffeln im Feld-Café (tägl. 14–19 Uhr), und selbst gemachte Marmelade kann dort auch erstanden werden.» Dorfstraße 19, 23714 Bad Malente-Malkwitz, Tel. 04523/2306,tägl. 9–19 Uhr, www.ingenhof.de

4 OBSTHOF BUSCH Der größte Erdbeerbauer im Süden Hamburgs. Aber auch Äpfel, Sauerkirschen, Birnen, Pflaumen, Mirabellen, Renekloden, Johannisbeeren und mehr lassen sich auf 60 Hektar Anbaufläche ernten.» Niedersachsenstr. 4, 21255 Tostedt, Felder an der B75 in Tostedt-Todt-glüsingen, Tel. 04182/70 78 77, www.obsthofbusch.de

5 ERDBEERHOF KAACK In den Gewächshäusern reifen die Erdbeeren auf Gestellen in einem Meter Höhe – hier können die Angestellten pflücken, ohne sich zu bücken. Auf den Selbstpflück-Feldern muss man dagegen in die Knie gehen.» Dorfstraße 12, 24649 Fuhlendorf, Tel. 04192/2293, tägl. 8–19 Uhr.

6 KARLS ERLEBNIS-HOF WARNSDORF Auf dem Feld gegenüber kann man Erdbeeren pflücken, im Cafe gibt es am Wochenende eine 10 m² große Erdbeer-torte und auf dem Hof freuen sich Kinder über Streichelzoo und Abenteuerspielplatz.» Fuchsbergstr. 17, 23626 Ratekau/Warnsdorf, Tel. 04502/863 00,tägl. 8–20 Uhr, www.karls.de

7 ERDBEER- UND SPARGELHOF LÖSCHER Die 6 Felder zum Selberpflücken liegen in Meckelfeld, Eißendorf, Winsen-Ost, Reppenstedt und Harmstorf, die genauen Orte finden Sie auf der Website. Die Renner im Hofcafé sind Erdbeertorte,Buchweizentorte und Rhabarberbaiser, alle natürlich selbst gemacht.» Hoopter Elbdeich 77, 21423 Winsen/Luhe, Ortsteil Hoopte (1 km zur Fähre Hoopte-Zollenspieker), tägl. 9–18 Uhr, Tel. 04171/2534, www.hofcafe-loescher.de

8 PIPERS NATURLANDHOF Nur gesunde Bio-Erdbeeren kommen bei Pipers Naturlandhof ins mitgebrachte Körbchen.» Luerberg 1, 22929 Schönberg, Tel. 04534/578, tägl. 9–18 Uhr.

9 OBSTHOF JAHNKE Geerntet wird nach festen Regeln: Jeder Pflücker bekommt eine bestimmte Erdbeerreihe zugewiesen. Mit kleinen weißen Stöcken wird in der Reihe die Stelle markiert, an der ein Pflücker aufgehört hat und der nächste anfängt.So geht man sicher, dass sich niemand einfach nur die großen Beeren rauspickt.» Harsefelder Str. 100, 21614 Hedendorf, Tel. 04163/81 14 61, tägl. 8–19 Uhr.

10 PLANTAGE DEUTSCH EVERN Deutschlands älteste Erdbeerzucht (seit 1891) hat 1961 als erster die Selbstpflücke eingeführt – und wurde dafür von Anbauer-kollegen zunächst belächelt. Heute hat sich dieses Ernteverfahren durchgesetzt – zu unserem Vergnügen. Von Ende Juli bis Mitte September werden hier auch Erdbeerpflanzen verkauft – dann kann man im nächsten Jahr zu Hause ernten.» Am Bahnhof 9, 21407 Deutsch Evern, Tel. 04131/79214, www.erdbeersorten.de

Räder, die die Welt bedeuten:Bei den „Harley Days“ kann jeder mal „Easy Rider“-Flair tanken.FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA

Service» Zum Ersten – zum Zweiten – zum Glück 26.6., Die 2te Heimat (S-Bahn Altonaer Bahnhof),Max-Brauer-Allee 34, 19.30,Einlass ab 18.45 Uhr, Karten: 49 Euro inklusive 3-Gänge-Menü und Getränken, Tel. 30 60 65 41,Infos: www.die2teheimat.de

Unter BikernHalsbrecherische Stunts und hochtouriger Rock ’n’ Roll, Leder, Chrom und das Brummen von 10 000 Motoren: Die „Harley Days“ fahren dieses Wochenende nicht nur ein starkes Programm auf – sie feiern das Gefühl von Freiheit und Abenteuer.

TEXT: CHRISTOPHER BESCHNITT

Ab ins Umland

Der Hausherr empfängt seine Gäste persön-lich an der Tür. Sie sollen sich gleich wohl-fühlen, wie zu Besuch bei guten Freunden.

Die Räume im ehemaligen Speicherhaus an der Max-Brauer-Allee wirken denn auch nicht wie ein Theater. Eher wie eine gemütlich eingerichtete, von Kerzen stimmungsvoll erleuchtete Wohnung, in der man sich zum Essen, Kennenlernen, Klönen trifft – nur dass hier tatsächlich auch Theater gespielt wird.

Denn zu jeder Vorstellung in der „2ten Heimat“ wird ein speziell komponiertes Drei-Gänge-Menü serviert. Meist stehen hier Ein- oder Zwei-Personen-Stücke auf dem Spielplan, der auch den Speiseplan inspiriert: Wenn die neue Aufführung „Zum Ersten – zum Zweiten – zum Glück“ von Kapitän Freddy auf der Barkasse MS Helene handelt, dann dampft als Es-sensauftakt nach der Vorstellung eine Selleriesuppe mit Nordseekrabben auf dem Tisch.

Kapitän Freddy, verkörpert von Thomas Schultz, der gleichzeitig auch Autor des Stücks ist, erzählt beim Schippern durch den Hamburger Hafen aus sei-nem Leben. Von Menschen, die ihnen Wertvolles ver-lieren und dafür etwas Neues finden. Der Seemann versteigert während der Fahrt die Fundsachen, von ihm poetisch „Perlen des Lebens“ genannt – und fin-den Theatergäste an den Büchern, Kerzen oder klei-

Klar Schiff: Kapitän Freddy (Thomas Schultz) räumt sein Leben auf, danach lädt er ein zu Auktion und Krabbensuppe.FOTO: DIE 2TE HEIMAT

Der natürliche Feind der Erdbeere: die Naschkatze.FOTOS: ISTOCKPHOTO, PICTURE-ALLIANCE/DPA

10 FRUCHTIGE AUSFLUG-TIPPSErdbeer-Ernte für Selbstpflücker

JanSievers

Schauspielkunst, ein 3-Gänge-Menü und Requisiten-Shopping: „Die 2te Heimat“ in Altona zelebriert ein Fest für alle Sinne.

TEXT: KLAUS WITZELING

„Demo Rides“ das Harley-Gefühl auskosten und ein-mal losbrettern (Sa, 11�–�18 Uhr, und So, 13�–�18 Uhr).

Natürlich wird das Spektakel auf der Harley-Da-vidson-Bühne mit hochtouriger Musik untermalt. Zum Start spielen am Sonnabend die Hamburger Blues-Rocker Thirsty Mamas (13.30�–�14.30 Uhr), ih-nen folgen weitere Bands zwischen Hardrock, Coun-try und Alternative, bis die Stockholm Cowboys (21.30–23 Uhr) mit energiegeladenem Oldschool-Rock den Schlussakkord setzen. Das geht am Sonntag munter weiter: Dann tritt u.a. Hamburgs lebende Blues-Legende Abi Wallenstein auf (12�–�14 Uhr).

Höhepunkt der „Harley Days“ bildet schließlich am Sonntag die große Abschlussparade. Mehr als 10 000 Fahrer brausen dann mit ihren Bikes durch den Hafen, über die Köhlbrandbrücke und die Ree-perbahn. Los geht’s um 13 Uhr am Großmarkt.

Übrigens hatte es im Vorfeld der „Harley Days“ Querelen gegeben, eine Weile standen sie sogar auf der Kippe. Grund: Der Senat befand, dass sie nicht zu Hamburgs Auszeichnung als Europäische Umwelt-hauptstadt 2011 passten. Nach großen Protesten gab es doch noch grünes Licht. Allerdings sollen die „Har-ley Days“ nur noch alle zwei Jahre stattfinden und mussten von der Bahrenfelder Sylvesterallee an den Hafen umziehen. Auf Motorenlärm und Chrom wol-len die Hanseaten dann doch nicht verzichten.

nen Schmuckstücken Gefallen, können sie zugreifen. Das gilt übrigens auch für Bestecke, Gläser, Leuchter, Teelichter und andere Dinge, die im Theatersalon und bei der Tafel als Dekoration dienen. Im „Emotio-nalienraum“ können sie als Erinnerungsstück oder Mitbringsel für Freunde erstanden werden.

Die Kombination von Kultur, Kulinarik und Kauf-haus hat der Regisseur Thomas Gisiger aus Düssel-dorf mitgebracht. Dort war der Schweizer Schauspie-ler und Regisseur aus Solothurn Mitbegründer der „Theater-Kantine“ gewesen. Vor drei Jahren wech-selte er vom Rhein an die Elbe und eröffnete mit Kompagnon Andreas Löher die originelle und in Hamburg einmalige Off-Bühne.

Jede Vorführung beginnt mit einem Begrüßungs-Prosecco und Finger-Food. Die hauseigene Küche bereitet alle Speisen täglich frisch zu, auf Wunsch auch vegetarische Varianten. Serviert wird erst nach der Vorstellung: So bewahren die Gäste klaren Kopf und haben dann beim Schmausen genügend Stoff, miteinander ins Gespräch zu kommen. Nach dem Hauptgang zu Säften, Rot- oder Weißwein gibt es le-ckere Desserts – wie das zur Barkassenfahrt passende „Verlorene Karamell“ in Mascarpone-Creme. Süße Belohnung für den Finder.

Ein Abend in der „2ten Heimat“ ist ein Fest für alle Sinne. Es entführt den Gast weit weg vom Alltag und gibt ihm zugleich das Gefühl, zu Hause zu sein.

KULTUR ERLEBEN

Theater à la carte

DER GRÜNE PUNKT Hier ist das Vögelchen! Bei der HanseBird, der Messe für Optik und Ornithologie im Tierpark Hagenbeck, kann man bis zum 27.6. von 9–18 Uhr Pelikan, Pfau & Co. beobachten und fotografieren. Dazu gibt es Vorträge und Veranstaltungen rund um die gefiederten Freunde.

STADTLEBEN

9276250Zuschauer hatten die Karl-May-Spiele seit 1952. Im vergangenen Jahr wurde bei den 72 Aufführungen mit 320 339 Besuchern ein neuer Rekord aufgestellt. Die Ein-wohnerzahl von Bad Segeberg: 15 877.

Der 32-jährige Sänger (aktuelles Album: „Abgeliebt“) springt Fall-schirm und macht Träume wahr.

Service» Harley Days Sa, 26.6., 11 – 24,und So, 27.6., 11 – 18 Uhr, auf dem Großmarkt-Gelände (U 1 / Stein-straße u. S 3 / Hammerbrook) sowie in der Innenstadt; Eintritt: frei; Infos unter Tel. 30 08 52 48 bzw.www.hamburgharleydays.de

FOTO

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REAS

LAIB

LE

Sonnabend / Sonntag, 26. / 27. Juni 2010

8 Uhr Ich schlafe und träu-me, dass ich in Neuseeland bin und mich vom Dschungel zum Gletscher durchschlage und von dort zum Flughafen.

11 Uhr Ankunft am Flugha-fen. Ich wache auf. Duschen, Wetterlage checken.

11.30 Uhr Ich frühstücke mit Freunden im Vespers in der Osterstraße Rührei mit Nordseekrabben, Obst salat, grünem Tee und frischem Orangensaft. Dazwischen: Wetterlage checken.

14 Uhr Zeit für Sport. Ich fahre zum Flugplatz Harten-holm. Kein Traum: Dort ziehe ich einen knallroten Ganz-körperanzug an, packe den Fallschirm, lasse ihn von drei Leuten durchchecken und mich von einer Maschine auf 4000 Meter Höhe fliegen.

16.20 Uhr Jetzt kommt der spannende Moment.

16.26 Uhr Ich bin dran, stehe an der offenen Tür und atme tief durch. Dann gebe ich dem Piloten ein Zeichen, dass ich bereit bin. Auf sein Kommando springe ich.

16.27 Uhr Ich genieße 50 Sekunden freien Fall. Ich gucke mir die Welt von oben an – und alle fünf Sekunden auf den Höhenmesser am Handgelenk.

16.28 Uhr Auf ca. 1600 Meter Höhe ziehe ich die Reiß-leine. Zähle 21, 22, 23 und kontrolliere, ob sich der Fall-schirm richtig geöffnet hat. Sonst ziehe ich den Ersatz-schirm. Dann steuere ich auf den Landeplatz zu, habe Spaß beim Gleiten, flare (bremse) über dem Boden und lande gekonnt, ohne umzufallen. Nachdem ich den Fallschirm eingepackt habe, fahre ich breit grinsend nach Hause.

18 Uhr Für meine Freundin und mich mache ich Omas Kartoffelsalat und tellergroße Wiener Schnitzel. Die besten gibt es in der Bio-Schlachterei in der Osterstraße.

19.30 Uhr Glücklich lasse ich mich in den Sessel fallen. Neben mir ein Glas Rotwein und ein sehr gutes Buch: „Ein Regenschirm für diesen Tag“ von Wilhelm Genazino.

20.30 Uhr Träume wieder von Neuseeland, werde aber von Kiwi-Rufen geweckt. Die kommen aus dem Fernseher, meine Freundin guckt eine Tier-Doku. Fasziniert schaue ich mit.

23 Uhr Inspiriert setze ich mich ans Keyboard und verar-beite die sonntäglichen Ein-drücke zu einem Song mit dem Titel „Kiwi im freien Fall“.

2 Uhr Gehe ins Bett und komme Minuten später am Flughafen in Neuseeland an.

Mein perfekterSonntag

KART

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Page 3: Wirsind Winnetou! - static.apps.abendblatt.destatic.apps.abendblatt.de/flips/magazin/magazin2010_26/files/magazin... · 26 2010 SONNABEND / SONNT G,A26. / 27 .JUNI 2010 Unterwegs:

Sonnabend / Sonntag, 26. / 27. Juni 2010

Häuptling der Herzen

MAGAZIN: Wie verarbeiten Sie diese Kriegserlebnisse?BRICE: Ist das überhaupt möglich? Diese traumati-schen Erlebnisse verfolgen mich bis heute. Ich schla-fe oft schlecht, habe Albträume. Aber ich will die Zeit auch nicht verteufeln, der Zusammenhalt war un-glaublich. Vor zwei Jahren hat der Fernsehsender Arte ein Porträt über mich ausgestrahlt, kurz darauf haben mich ganz viele meiner ehemaligen Kamera-den angerufen und wir haben uns getroffen. 60 Jahre nach diesem Kriegseinsatz! Das finde ich schon er-staunlich.

MAGAZIN: Eine Ihrer Lieblingsszenen ist die, in der Win-netou spürt, dass er sterben muss, und mit Old Shatter-hand über Gott spricht. Sie selbst sind katholisch – welche Rolle spielt der Glaube in Ihrem Alltag?BRICE: Eine große Rolle. Ich bete jeden Abend vor dem Schlafengehen. Ich gehe auch regelmäßig in die Kir-che – aber nur, wenn sie leer ist. Ich brauche die Stille, um mich zu konzentrieren. Deshalb suche ich mir in Paris immer eine ganz kleine Kirche, in der Kathe-drale Notre-Dame sind zu viele Touristen.

MAGAZIN: … und von denen würden viele den Apachen-häuptling erkennen. In Deutschland sind Sie schließ-lich das Idol einer ganzen Generation, in Frankreich dagegen fast unbekannt. Wurmt Sie das manchmal?BRICE: Ehrlich gesagt, mir ist das egal. Es hat sich eben so ergeben. In Frankreich habe ich kaum gedreht. Meine Karriere ging in Italien los, dann habe ich mei-ne erste größere Rolle in dem spanischen Film „Los Atracadores“ gespielt, den ich 1962 auf den Film-festspielen in Berlin präsentiert habe. Dort lernte ich dann bei einem Abendessen auf der Dachterrasse des Hotels Intercontinental einen gewissen Horst Wend-landt kennen.

MAGAZIN: … den Produzenten der Karl-May-Filme.BRICE: Genau. Und was dann passierte, ist Geschichte.

MAGAZIN: Russell Crowe kämpft sich gerade als „Robin Hood“ über die Leinwand, auch Piraten haben sich zum Blockbuster gemeutert. Wann entdeckt Holly-wood Winnetou wieder?BRICE: Bestimmt demnächst. Aber leider ohne mich in der Hauptrolle …

MAGAZIN: Wer wäre denn ein würdiger Nachfolger?BRICE: Keine Ahnung. Dafür habe ich die Entwicklung der jungen Schauspieler zu wenig verfolgt.

MAGAZIN: Nachvollziehbar. Sie sind Baron, leben mit Ihrer Ehefrau auf einem Jagdschloss nördlich von Paris und lassen die Ruhe des Tages abends bei einem Glas Bordeaux auf der Terrasse ausklingen. Man könnte sagen, Sie leben wie Gott in Frankreich.BRICE: Na ja, das vielleicht nicht. Aber es stimmt schon, es geht uns sehr gut. Meist stehe ich gegen 9 Uhr auf, dann trinke ich eine Tasse Tee mit Honig und Zitrone. Nach dem Mittagessen gehen meine Frau Hella und ich mit den Hunden spazieren – und da-nach strample ich mich ein bisschen auf dem Home-trainer ab und lerne Texte.

MAGAZIN: Zum Beispiel für die Rolle des Wanderers zwischen den Welten, den Sie ab 15. Juli in Cuxhaven spielen. „Der Traum von Freiheit“ heißt das Stück. Der Titel könnte auch von Karl May sein.BRICE: Stimmt, aber Indianer kommen in dem Musical nicht vor. Heldin der Geschichte ist eine junge Frau namens Tjede Peckes, die es im 16. Jahrhundert mit der korrupten katholischen Kirche aufnimmt.

MAGAZIN: Haben die jüngsten Skandale der katholischen Kirche eigentlich Ihren Glauben erschüttert?BRICE: Das nicht, aber erschreckend ist es schon, was da jahrelang hinter verschlossenen Türen geschehen ist.

MAGAZIN: In Deutschland nehmen Sie mit dem Musical Abschied von der Bühne. Warum sagen Sie in Cux-haven „au revoir“ und nicht in Bad Segeberg?BRICE: Dort bin ich ja schon jahrelang aufgetreten. Ich bin einfach nach wie vor neugierig, und Regisseur Christian Berg, den ich übrigens vor 22 Jahren in Bad Segeberg kennengelernt habe, hat mich mit seinem Enthusiasmus für das Cuxhavener Projekt begeistert.

MAGAZIN: Sie sind dieses Jahr 81 geworden. Warum tun Sie sich den Probenstress überhaupt noch an?BRICE: Die Schauspielerei ist mein Beruf – und meine Berufung. Am liebsten möchte ich auf der Bühne sterben. Aber natürlich noch nicht jetzt.

MAGAZIN: Ihre Frau Hella begleitet Sie. Seit mehr als 30 Jahren sind Sie skandalfrei verheiratet. Dabei dürfte sich doch die eine oder andere Squaw für Sie interes-siert haben.BRICE: Es gibt kein Rezept für eine glückliche Ehe. Wir lieben uns einfach – und diese Liebe wird mit jedem Tag stärker. Wir würden nie etwas tun, das dem anderen wehtut.

Die Rolle des Winnetou habe ich schon als Junge gespielt. Ich weiß noch, wie ich aus den Streben eines Regenschirms Pfeile bastelte.

Silberlocke statt Silberbüchse: Bundesverdienstkreuzträger Pierre

Brice im Hamburger „Grand Elysée“.

Vanessa Seifert trifft Pierre Brice

Der 81-Jährige ist Winnetou und Winnetou ist Pierre Brice. In Cuxhaven sagt der Franzose jetzt der deutschen Bühne „au revoir“. Nein, er spielt keinen Indianer. Aber, Überraschung!, einen Helden, der doch irgendwie an den Apachenhäuptling erinnert.

MAGAZIN: Gut, dann frage ich nach einem anderen Re-zept. Sie sollen ein hervorragender Koch sein. Was tischen Sie am liebsten auf ?BRICE: Mittlerweile hat meine Frau, die übrigens auch sehr gut kocht, das Zepter in der Küche übernom-men. Ich esse alles gern. Außer Fisch.

MAGAZIN: Hamburg liegt Ihnen kulinarisch nicht so sehr?BRICE: Doch, das ist eine tolle Stadt. Und Fisch esse ich schon, jedenfalls geräucherten Lachs und Kaviar. Oh je, das klingt furchtbar verwöhnt! Es ist nur so, dass ich während des Indochina-Krieges miterlebt habe, wie Fässer explodierten, in denen vorher Fi-sche verrottet waren. Der Gestank ist mir nie mehr aus der Nase gegangen.

MAGAZIN: Reden wir zum Finale über etwas Erfreuliches – Fußball!BRICE: Ich hasse Fußball, furchtbar. Alles Schauspieler, die einem Ball hinterherjagen! Und sie sind fast alle überbezahlt – und spielen zu allem Übel auch noch schlecht. Ich mag Rugby.

MAGAZIN: Haben Sie trotzdem einen Tipp, wer Fußball-weltmeister wird?BRICE: Frankreich jedenfalls nicht. Ich hoffe, Deutsch-land schafft es. Aber ich tippe auf Argentinien.

MAGAZIN: Wie geht es Winnetou?PIERRE BRICE: Alles in Ordnung, merci.

MAGAZIN: Ich meinte eigentlich Ihren Dackel.BRICE: Ach, unser Winnie. Das ist kein Dackel, sondern ein Mischling. Ich habe ihn und eine Schäferhündin vor Jahren in Rumänien von der Straße gerettet. Und ich glaube, er hat mir das nicht vergessen: Jeden Tag kommt er angetollt und bedankt sich bei mir dafür. Ihm geht es also auch gut, merci.

MAGAZIN: Sie haben sich als Winnetou aber gleich ange-sprochen gefühlt.BRICE: Na ja, Pierre Brice ist Winnetou und Winnetou ist Pierre Brice.

MAGAZIN: Ist das Fluch oder Segen?BRICE: Schicksal. Winnetou war unumstritten die Rol-le meines Lebens. Und ich hätte sie fast abgelehnt! Doch meine damalige Agentin, ein großer Karl-May-Fan, hat mich überredet. Pierre, hat sie gesagt, mit dieser Rolle wirst du unsterblich. Recht hatte sie.

MAGAZIN: Als Kind in Brest, waren Sie da lieber Cowboy oder Indianer?BRICE: Tatsächlich der Indianer. Stimmt, so gesehen habe ich diese Rolle schon als kleiner Junge gespielt. Ich weiß noch, wie ich mir aus den Streben eines al-ten Regenschirms Pfeile gebastelt habe.

MAGAZIN: Wofür steht Winnetou alias Pierre Brice?BRICE: Über mich wurde einmal geschrieben, ich hätte Winnetou nicht nur ein Gesicht gegeben, sondern vor allem eine Seele. Ich hoffe, das stimmt. Winnetou kämpft für Frieden, Freiheit und Freundschaft, für Respekt zwischen den Völkern und Menschenrechte. Werte, für die ich mich auch einsetze.

MAGAZIN: Und das nicht nur mit Worten. Sie sind 1948 freiwillig als Fallschirmjäger in den Indochina-Krieg gezogen, um dort gegen den Kommunismus zu kämp-fen. Mussten Sie töten?BRICE: Ja, leider, um mich zu verteidigen. Diese Zeit war abscheulich, furchtbar.

FOTO: THOMAS LEIDIG

M on dieu, sind Sie jung!“, ruft Pierre Brice zur Begrüßung und blickt von seiner Erdbeer-schnitte mit Sahne auf. Er sitzt am Fenster im

Café des Hotels „Grand Elysée“ – „Ham-burg ist eine tolle Stadt!“ – und teilt sich das Stück Kuchen mit seiner Ehefrau Hella, mit der er seit mehr als 30 Jahren auch fast alles andere teilt, vor allem das Leben. Die Themen für das Gespräch hat Monsieur Brice mit seinem Ausruf also gleich selbst gesetzt: Gott und das Alter. Na ja, und Winnetou natürlich. Der sitzt aber sowieso immer mit am Tisch, wenn Pierre Brice auftaucht. In elf Karl-May-Filmen hat der elegante Franzose, der Jeans verabscheut und an diesem Nach-mittag einen perfekt sitzenden Anzug trägt, dem Apachenhäuptling ein Gesicht gegeben und in den 1960er-Jahren die Kinolandschaft geprägt. Der Mann aus der Bretagne wurde zum Superstar einer ganzen Generation, die „Bravo“ feierte ihn mit 56 Titelseiten, drei Starschnitten und zwölf „Otto“-Leserpreisen. Ein Rezept für den Erfolg oder eine glückliche Ehe hat der Schauspieler, der nahe Paris lebt, zwar nicht – dafür aber eines, das sein alters loses Aussehen erklärt: „Jeden Tag ein Glas Rotwein, das ist meine Medizin.“

Kurz-Biografie» Pierre Louis le Bris wurde am 6. Februar 1929 als Sohn eines Marine-offiziers in Brest (Frankreich) geboren.Mit 18 meldete er sich zum Militär und kämpfte als Fallschirmjäger in Indochi-na. Zurück in Frankreich, jobbte er als Schreibmaschinenverkäufer, Fotomodel und akrobatischer Tänzer. Ab 1962 verkörperte er elfmal Winnetou. Foto oben: Brice mit Lex Barker in „Im Tal der Toten“ (1968). Auch nach seiner Kino-karriere spielte der fünffache Bambi-Gewinner über ein Jahrzehnt die edle Rothaut – bei den Karl-May-Spielen in Elspe und in Bad Segeberg. Vom 15. Juli bis 8. August tritt Pierre Brice im Musical „Der Traum von Freiheit“ in Cuxhaven auf.

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Durchs wildeSegebergTEXT: KIRSTEN RICK

Im Freilichttheater am Kalkberg wird jeden Sommer Cowboy und Indianer gespielt – vor beeindruckender Kulisse und Hunderttausenden Zuschauern. Jetzt geht es mit „Halbblut“ in die neue Saison: ein Produktions-Tagebuch der 59. KARL-MAY-SPIELE in Bad Segeberg.

Die Show beginnt, das Publikum sitzt gespannt auf den Rängen: Plötzlich donnern Hu-fe durch die Arena, Schüsse fallen und Eva Habermann singt „Mein Herz gehört dem Westen“. Dann: eine Ex-plosion, der Saloon geht in Flammen auf, ein Adler kreist über den Köpfen und Halbblut Ik Senanda raunt: „Ich verfluche den Tag, an dem der Große Geist den Menschen ihre Hautfarben gab.“ Old Shatter-hand trifft mit der Kutsche ein, wieder eine Explosi-on, und Winnetou reitet zur Erkennungsmelodie durch den Mittelgang – das ist immer so, das muss so sein. Es ist laut, es ist heiß, es ist mitreißend.

Zwar wird die Premiere von „Halbblut“ erst heute Abend über die Bühne gehen, doch dass die Szenen genauso ablaufen werden, steht außer Zweifel. Denn in Bad Segeberg ist alles von langer Hand geplant:

Oktober 2009 – Was wird gespielt?„Die Geschichte ist ja immer die gleiche: Wir su-

chen nach Gold, Öl oder einem Schatz, Kinder gera-ten in Gefahr, müssen beschützt werden – und am Ende siegen die Guten“, erklärt Stefan Tietgen, Pro-duktions- und Spielleiter. Gemeinsam mit der Ge-schäftsführung der Kalkberg GmbH, dem Autor, dem Regisseur und dem Bühnenbildner bespricht er, wel-ches Stück gespielt wird. „Es gibt vier Grundzutaten: Action, indianische Philosophie, Romantik und Ko-mik“, sagt Ute Thienel. Sie ist Geschäftsführerin der Kalkberg GmbH, die die Karl-May-Spiele veranstal-tet und zu 76 Prozent der Stadt gehört. Neun feste Mitarbeiter hat sie, später schwillt ihr Stab auf 150 an. „Fast jeder Bad Segeberger war mal Statist.“

Zu Beginn der 50er wollte die Stadtverwaltung ihr Freilichttheater, das die Nazis als „Thingstätte“ er-richtet hatten, mit neuem Programm wiederbeleben. Die Frage war bloß: womit – die Nibelungen oder et-was von Karl May? Letzterer setzte sich durch, und als Bürgermeister Kasch im Frühjahr 1952 beim Karl-May-Verlag in Bamberg anrief, stellte man sofort ein spielbares Stück zur Verfügung: „Winnetou“.

Die Segeberger nahmen das Projekt „Eine Stadt spielt Indianer“ begeistert auf: Sie schneiderten Kos-tüme, probten Rollen, rekrutierten Ackergäule und peppten sie zu feurigen Mustangs auf. Das Budget be-trug 25 000 DM, finanziert aus den Einnahmen der Kalkberghöhlen, das Ergebnis war überwältigend: Zu jeder der 15 Vorstellungen kamen 6500 Zuschauer.

November 2009 – Vom Buch zur BühneDie Hauptaufgabe von Autor Michael Stamp lautet

erst einmal: streichen – um die May-Bücher in ein 90-Minuten-Format zu bringen. Dann gilt es, die Lo-gistik zu beachten, damit z.B. den Statisten genug Zeit bleibt, zwischen den Szenen Kostüme zu wechseln. Und schließlich stellt er dem Bühnenbildner die Fra-ge aller Fragen: „Können wir einen Zug entgleisen, eine Lok in ein Haus rasen lassen?“

Sobald er die Handlung kennt, zeichnet Ulrich Schröder das Bühnenbild: Geisterstädte, Bahnstatio-nen, Hängebrücken. „Für mich ist das wie Indianer-spielen“, freut er sich seit 2002 jedes Jahr über den Job. Die Aufträge werden vergeben, aber erst im Mai rücken die Bautrupps an: Bis dahin finden in der Are-na noch Konzerte statt. Der Hintergrund der Bühne steht natürlich fest: der Kalkberg. Nur noch 91 Meter hoch liegt der Gipfel heute, beim Kalkabbau wurde er geradezu skalpiert, ursprünglich waren es 110 Meter.

Januar 2010 – Tierische EffekteAm 15. Januar ist Abgabe für das Buch, dann wird

über die Besetzung entschieden. „Da sind jedes Mal 50 Prozent Neulinge dabei, vor allem bei den Darstel-lern“, sagt Produktionsleiter Stefan Tietgen. Im Hin-tergrund arbeiten dagegen viele Profis: Pyrotechni-ker Uwe Preuss sinniert schon mal, was er im Som-mer so alles in die Luft jagen kann.

Jetzt beginnt auch Heras Job. Wann immer Win-netou in Not gerät, fliegt ein Adler ein, und dafür muss Hera, Weißkopfseeadler mit 2,20 Metern Flü-gelspannweite, trainieren. „Der Autor sagt, was er sich so vorstellt, ich sage ihm dann, was geht“, be-schreibt Thomas Wamser, Chef der „Eventfalknerei“, seine Aufgabe. Dieses Jahr soll auch ein Nasenbär mitspielen. Kein Problem, Wamser hat drei davon.

Februar 2010 – Einzug der HeldenOld Shatterhand hat seinen Vertrag unterschrie-

ben: Niemand spielte Winnetous Blutsbruder so oft wie Joshy Peters – siebenmal schwang er schon die Fäuste, sein Debüt gab er vor 23 Jahren. Die Rolle ist seine „große Liebe“, wenn auch Knochenarbeit. Er zählt die Bruchstellen auf: Finger, Rippen, Nase.

Auch Harald Wieczorek hat bereits einiges mitge-macht: 2009 musste er dreimal sterben – in drei Rol-len. Seit 1979 ist er dabei. „Ich habe fünf Winnetous und fünf Regisseure verbraten“, grinst er. Dieses Jahr spielt er den Bahnarbeiter Clifton und den Indianer-hasser Captain Ratchett, kommt aber mit heiler Haut davon. „Es ist viel angenehmer, die Bühne im Sattel zu verlassen, als rausgeschleift zu werden.“

Häuptling Tokvi-Kava, der Schwarze Mustang, hat ebenfalls sein Kreuz unter den Vertrag gesetzt. Hat Peter Mustafa Daniels, Schauspieler und Dozent an der Folkwangschule in Essen, Bedenken, wie sich ein solches Engagement auf sein berufliches Image aus-wirkt? „Vorurteile gibt es natürlich. Aber das sind hier alles exzellente Leute – das weiß nur kaum jemand.“ Die Gage ist gut, und das Thema nicht ohne Tiefe: „Immerhin geht es um den Genozid eines Volkes.“

„Es gibt einen historischen Hintergrund“, sagt auch Claudia González Espíndola. Die Kostümbild-nerin feiert ihre Premiere und hat dafür gründlich recherchiert. „Dieses Jahr haben wir viele Komant-schen, die haben sich viel westlicher angezogen als die Apachen: wenig Fransen, dafür Trophäen von Über-fällen.“ Im Modejargon heißt das „Crossover-Style“.

23. März 2010 – Stars in der ManegeIns „Indian Village“, das Indianerdorf neben dem

Freilichttheater, reiten die Gaststars zur Pressekon-ferenz ein: Eva Habermann und Ingo Naujoks. Die Saloonlady Kitty LaBelle sei ihr sehr ähnlich, verrät Habermann, „nämlich eine wilde Hummel“. Und Naujoks, Ex-Tatort-Sidekick, stellt markig fest: „Karl Mays Helden sind so, wie wir gerne sein wollen.“

Die Liste der ehemaligen Gaststars ist lang und il-luster, sie reicht von Wayne Carpendale und Freddy Quinn bis zu Elke Sommer und Ingrid Steeger. Und es hält sich das Gerücht, dass auch Dieter Bohlen schon Interesse bekundet hat, in Bad Segeberg aufzutreten.

April 2010 – Pferde gehen durchs Feuer Auf dem Pferdehof Behnk in Groß Rönnau, wo die

25 Vierbeiner der Festspiele leben, beginnt Sylvia Kassel, die ganzjährig für die Kalkberg GmbH arbei-tet, mit dem Training der Reiterstatisten. Neue Tiere dürfen sich eine Spielzeit lang den Trubel erst nur an-gucken, mit 17, 18 Jahren gehen sie dann in Rente, meist zu einem Team-Mitglied. „Dieses Jahr wird Ki-to verabschiedet. Damals hieß es, er habe Angst vor Menschen, doch bei mir hat er wieder Vertrauen ge-fasst. Er steht neben Explosionen und geht durch Feuer.“ Wenn sich die Schauspieler nach der Saison von ihren Pferden verabschieden, fließen oft Tränen.

20. Mai 2010 – Besser als KinoDie Kulissen werden eingebaut – in nur vier Tagen

und mit ungleich höheren Ansprüchen als beim Film: „Da muss es nur ein Mal funktionieren – hier aber gleich 72-mal. Und es muss nach einer Stunde wieder einsatzbereit sein“, sagt Bühnenbildner Ulrich Schrö-der. Absoluter Höhepunkt war 2003 eine explodie-rende Hängebrücke, die einen Bösewicht immer wie-der punktgenau ins Wasser schleuderte.

25. Mai 2010 – Proben ohne PauseBürgermeister Dieter Schönfeld empfängt das En-

semble und das künstlerische Team im Rathaus. Die Schauspieler tragen sich ins Goldene Buch der Stadt ein und erhalten als Gastgeschenk ein T-Shirt mit der Aufschrift „Karl-May-Team 2010“.

Dann heißt es 32 Tage lang: Reitproben, Stellpro-ben, Bilddurchlaufproben. Und nach Feierabend sind die Komparsen dran. „Sie sind das Salz in der Suppe, ohne sie sähe es hier ganz schön leer aus“, sagt Pro-duktionsleiter Stefan Tietgen. Doch meist ist sein Blick zum Himmel gerichtet. „Morgens checke ich zuerst Wetter-Online. Vor Ort mache ich einen Rund-gang und hoffe, dass der Boden nicht zu nass ist.“

Hinter und in den Kulissen ziehen die Pyrotechni-ker Leitungen, vor der Kostümbildnerei rattert eine Nähmaschine, und die Schauspieler putzen und sat-teln ihre Pferde – damit sie ein Gefühl für das Tier bekommen und selbst überprüfen können, ob der Gurt fest ist, bevor sie aufsteigen.

Derweil verwandelt Requisiteurin Katja Paprzik billiges Zeug vom Trödel mit Goldfarbe in wertvolle Schätze, fertigt aus zersägten Besenstielen Dynamit-stangen und aus einer Papptonne eine Indianertrom-mel. Wenn der Waffenmeister noch nicht da ist, hän-

digt sie mit ihrer Assistentin an die Schauspieler auch Spielzeugwaffen aus. Die echten Schießeisen stehen unter strenger professioneller Aufsicht.

28. Mai 2010 – Winnetou ist der BesteErol Sander bleibt Winnetou. Er hat seinen Ver-

trag bis 2012 verlängert. Geschäftsführerin Ute Thie-nel schwärmt: „Erol Sander hat alles, was ein Winne-tou haben muss: Er spielt ihn kraftvoll und mit einer enormen Ausstrahlung, überzeugt auch bei den lei-sen Tönen und ist ein großer Sympathieträger.“ San-der schwärmt zurück: „Die Rolle des Winnetou ge-hört zu meinen schönsten Erfahrungen. Ich liebe es, für Kinder zu spielen. Wenn man erlebt, wie sie um Winnetou bangen, dann genieße ich es, diese Traum-welt für sie lebendig werden zu lassen.“ Die Zahlen sprechen für ihn: Seit seinem Debüt 2007 kamen über 800 000 Zuschauer, Höhepunkt war „Der Schatz im Silbersee“ 2009 mit 320 399 Gästen. So viel hatte noch keiner vor ihm, nicht mal Pierre Brice, der von 1988 bis 1991 am Kalkberg die Silberbüchse schwang.

Juni 2010 – Nichts für WarmduscherIn der Kostümbildnerei wird ein Statist in Windes-

eile nacheinander in einen Indianer, Medizinmann, Kavalleristen und einen Cowboy verwandelt. „Für das Umziehen zwischen den Szenen bleiben manch-mal nur zehn Sekunden Zeit“, sagt Kostümbildnerin Claudia González Espíndola. Auf einer der Stangen hängt Winnetous Anzug: dickes, weiches Wildleder, in Handarbeit mit Perlen bestickt. Es gibt drei: einen für Werbeauftritte, einen für die Aufführungen und einen als Ersatz. Nicht alle haben es so kuschelig, vie-le Indianer erhalten nur einen harten „Brustpanzer“ aus Hölzern. „Vor allem die Schauspieler dürfen nicht empfindlich sein“, konstatiert die Kostümbildnerin lakonisch. „Das ist nichts für Warmduscher.“ Wie vie-le Kostüme gibt es insgesamt? González rechnet: „45 Statisten, dazu zehn bis zwölf Schauspieler, alles mal drei – da kommt schon was zusammen.“

Die Tage sind lang, meist bis 22, 23 Uhr. Vor der Saison ist der Arenaboden ausgetauscht worden, die oberen 25 Zentimeter sind neu. Der Regen hat sie in Schlamm verwandelt. „Alle müssen durch den glei-chen Matsch, da wächst man zusammen“, kommen-tiert Requisiteurin Katja Paprzik das Leben unter freiem Himmel. „Dabei werden auch die stolzesten Schauspieler demütig“, fügt jemand leise hinzu.

18. Juni – Holt die Wäsche rein!Im Nieselregen werden erste Szenen aus „Halb-

blut“ der Presse gezeigt. „Der Regen gehört zum Sege-berg-Gefühl einfach dazu“, behauptet Regisseur Do-nald Kraemer. In Segeberg gibt es einen Running-Gag: „Holt die Wäsche rein, Karl May fängt gleich an.“

Insgesamt 3,6 Millionen Euro kostet die Produkti-on, ab 200 000 Zuschauern wird hier Geld verdient. „Wenn das Wetter mitspielt, haben wir alle Chancen“, sagt Geschäftsführerin Ute Thienel.

Der Premieren-Plan für den 26. Juni 201010 Uhr: Produktions- und Spielleiter Stefan Tiet-

gen guckt gen Himmel und ins Internet. Regen in Sicht? Wenn das Terrain für Pferd und Reiter zu rut-schig wird, muss er umdisponieren.

16 Uhr: Pyrotechniker und Bühnenbildner rich-ten die Effekte ein. Den Boden mit der scharfgeschal-teten Mechanik darf nur der Stuntman betreten.

18.30 Uhr: Ein Traktor mit angehängter Egge harkt den Bühnensand. Es darf keine Fußspur geben.

19 Uhr: Einlass. 8000 Zuschauer strömen in die Arena. Bevor die Show beginnt, wird immer ein be-stimmter Song gespielt, dieses Jahr wieder „Mr Rock & Roll“ von Amy Macdonald. Das Team kennt ihn be-reits in- und auswendig und reagiert reflexartig. Re-quisiteurin Katja Paprzik: „Wenn ich das Lied im Su-permarkt höre, bin ich sofort in Habachtstellung und will überprüfen, ob jeder seine Dynamitstangen hat.“

20.30 Uhr: Die Show beginnt und die Pferde spit-zen die Ohren. „Wenn sie die Anfangsmelodie hören, wollen sie sofort losrennen“, sagt die Reittrainerin.

Aus einer Holzbude über den Rängen koordiniert Spielleiter Tietgen den Ablauf, per Walkie-Talkie gibt er Anweisungen an den Hinterbühneninspizienten durch, denn hinten hört und sieht man nichts. Ein ty-pisches Kommando: „Achtung für Winnetou und Old Shatterhand plus fünf Reiterstatisten von A4 und Achtung für die Pyrotechnik: Explosion im Camp!“ A ist die Abkürzung für „Auftrittsmöglichkeit“. Wenn Tietgen sagt „Achtung bitte! Einsicht in A 3 frei!“, ist das Tor zwischen Bühne und Hinterbühne offen – die Zuschauer können bis in den Backstage-Bereich se-hen, und niemand darf mehr durchs Bild laufen. Ex-Gaststar Götz Otto hat sich vor den Blicken mal mit einem Hechtsprung in die Küche gerettet.

Pyrotechniker Uwe Preuss drückt seine Knöpf-chen, exakt im richtigen Moment. Die Hitze spürt man bis in die Zuschauerränge, ebenso wie die Be-geisterung des Publikums bis hinter die Bühne: „Es ist nicht still wie im Theater. Das Britzeln in der Luft geht bis nach hinten, wir alle sind ein Teil davon,“ schwärmt Requisiteurin Katja Paprzik.

22.35 Uhr: Nach der Premiere stürmen Kinder an die Balustrade, und das Team klatscht die vielen klei-nen Hände ab. Die eigentlichen Stars bekommen vom Publikum üppige Geschenke: Möhren, säckeweise.

› THEMA DER WOCHE

IV VSonnabend/Sonntag, 26./27. Juni 2010

Winnetou-TV: Wildwest-Flair auch hinter der Kulisse – bis auf den Kontroll-Monitor für die Arena.

Großer Wurf: Der Speer-Ständer hinter der Bühne und Peter Mustafa Daniels, sonst Dozent an der Folk-wangschule, als „Tokvi-Kava, der schwarze Mustang“.

Publikumsmagnete: Erol Sander (o.) ist und bleibt Winnetou, mindestens bis 2012. Gaststar Eva Habermann (u.) ist nur dieses Jahr als Kitty LaBelle dabei.

STEFAN TIETGEN,ProduktionsleiterDer 40-jährige Bad Segeberger, der nebenbei auch große TV-Shows leitet,fing 1984 als Stallbursche an und arbeitete sich hoch – u.a. als Reiter-statist, Requisiteur und Tonassistent.

SYLVIA KASSEL, ReittrainerinDie Frau mit dem Gespür für Pferde arbeitet ganzjährig für die Kalkberg GmbH, seit 1996 ist sie fest angestellt.Sie sucht die Vierbeiner aus, dressiert sie und lebt mit ihnen auf dem Pferdehof Behnk in Groß Rönnau.

UWE PREUSS, PyrotechnikerMit seiner Firma „Preuss Effekte“ ist der Berliner für Special Effects wie Feuer, Explosionen, Rauch und Nebel zuständig. Den Rest des Jahres lässt er es bei Shows wie „Let’s Dance“und Konzerten von Scooter krachen.

KATJA PAPRZIK, RequisiteurinSie hat Kunstglaserin gelernt, Kunst-geschichte studiert und schon für die Puppen der Sesamstraße Requisiten angefertigt. In Bad Segeberg kümmert sie sich bereits zum sechsten Mal um die kleinen und feinen Details.

ULRICH SCHNEIDER,BühnenbildnerDer 68-jährige Filmarchitekt hat vier Otto-Filme ausgestattet und die OPs der „Schwarzwaldklinik“ entworfen.Im Hamburger Engelsaal sorgt er fürs Bühnenbild und führt ab und zu Regie.

THOMAS WAMSER, FalknerMit Seeadlerdame Hera und ihrentierischen Kollegen ist der Chef der mobilen „Eventfalknerei“ zum fünften Mal am Kalkberg. Der 30-Jährige hat auch Nasenbären, Kolkraben, Aras und natürlich Falken im Programm.

Blutsbrüder: Joshy Peters und Erol Sander

als Old Shatterhand und Winnetou, in Wild-

leder und ganz zivil.

Kämpfen, tanzen, Kutsche fahren:32 Tage wird geprobt, reiten und gleich-zeitig sprechen ist besonders schwierig.

Service» „Halbblut“ im Freilichttheater am Kalkberg in Bad Segeberg läuft vom26. Juni bis 5. September 2010.Die Anfangszeiten der Vorstellungen:Do, Fr und Sa 15 und 20 Uhr, So 15 Uhr.Eintrittspreise: Erwachsene ab 13 Euro,Kinder ab 9,50 Euro. Für Familien ab4 Personen und Gruppen ab 21 Personen gelten ermäßigte Eintrittspreise.Tickets können bestellt werden unter Tel. 01805/95 21 11 (0,14 Euro/Min.; Mobilfunk max. 0,42 Euro/Min.) oder per E-Mail: [email protected] und online unter www. karl-may-spiele.de

» Anreise: Von Hamburg nach Bad Segeberg kommen Sie mit der Bahn im Stundentakt zum HVV-Tarif.Infos: Tel. 04191/93 39 33 oder online unter www.nordbahn.info

» Übernachtungen: Zimmer – auchvon privat – vermittelt Ihnen die Stadtmarketing Bad Segeberg GmbH,Tourist Info, Oldesloer Str. 20, 23795 Bad Segeberg, Tel. 04551/96 49 11,www.badsegeberg.de

TV-Stars im Sand: Ingo Naujoks, Eva

Habermann und Erol Sander geben dem Kalkberg Glamour.

Verbotene Liebe: Eva Habermann und Philip Schwarz als Kitty und

„Halbblut“ Ik Senanda; unten bei der Probe.

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Durchs wildeSegebergTEXT: KIRSTEN RICK

Im Freilichttheater am Kalkberg wird jeden Sommer Cowboy und Indianer gespielt – vor beeindruckender Kulisse und Hunderttausenden Zuschauern. Jetzt geht es mit „Halbblut“ in die neue Saison: ein Produktions-Tagebuch der 59. KARL-MAY-SPIELE in Bad Segeberg.

Die Show beginnt, das Publikum sitzt gespannt auf den Rängen: Plötzlich donnern Hu-fe durch die Arena, Schüsse fallen und Eva Habermann singt „Mein Herz gehört dem Westen“. Dann: eine Ex-plosion, der Saloon geht in Flammen auf, ein Adler kreist über den Köpfen und Halbblut Ik Senanda raunt: „Ich verfluche den Tag, an dem der Große Geist den Menschen ihre Hautfarben gab.“ Old Shatter-hand trifft mit der Kutsche ein, wieder eine Explosi-on, und Winnetou reitet zur Erkennungsmelodie durch den Mittelgang – das ist immer so, das muss so sein. Es ist laut, es ist heiß, es ist mitreißend.

Zwar wird die Premiere von „Halbblut“ erst heute Abend über die Bühne gehen, doch dass die Szenen genauso ablaufen werden, steht außer Zweifel. Denn in Bad Segeberg ist alles von langer Hand geplant:

Oktober 2009 – Was wird gespielt?„Die Geschichte ist ja immer die gleiche: Wir su-

chen nach Gold, Öl oder einem Schatz, Kinder gera-ten in Gefahr, müssen beschützt werden – und am Ende siegen die Guten“, erklärt Stefan Tietgen, Pro-duktions- und Spielleiter. Gemeinsam mit der Ge-schäftsführung der Kalkberg GmbH, dem Autor, dem Regisseur und dem Bühnenbildner bespricht er, wel-ches Stück gespielt wird. „Es gibt vier Grundzutaten: Action, indianische Philosophie, Romantik und Ko-mik“, sagt Ute Thienel. Sie ist Geschäftsführerin der Kalkberg GmbH, die die Karl-May-Spiele veranstal-tet und zu 76 Prozent der Stadt gehört. Neun feste Mitarbeiter hat sie, später schwillt ihr Stab auf 150 an. „Fast jeder Bad Segeberger war mal Statist.“

Zu Beginn der 50er wollte die Stadtverwaltung ihr Freilichttheater, das die Nazis als „Thingstätte“ er-richtet hatten, mit neuem Programm wiederbeleben. Die Frage war bloß: womit – die Nibelungen oder et-was von Karl May? Letzterer setzte sich durch, und als Bürgermeister Kasch im Frühjahr 1952 beim Karl-May-Verlag in Bamberg anrief, stellte man sofort ein spielbares Stück zur Verfügung: „Winnetou“.

Die Segeberger nahmen das Projekt „Eine Stadt spielt Indianer“ begeistert auf: Sie schneiderten Kos-tüme, probten Rollen, rekrutierten Ackergäule und peppten sie zu feurigen Mustangs auf. Das Budget be-trug 25 000 DM, finanziert aus den Einnahmen der Kalkberghöhlen, das Ergebnis war überwältigend: Zu jeder der 15 Vorstellungen kamen 6500 Zuschauer.

November 2009 – Vom Buch zur BühneDie Hauptaufgabe von Autor Michael Stamp lautet

erst einmal: streichen – um die May-Bücher in ein 90-Minuten-Format zu bringen. Dann gilt es, die Lo-gistik zu beachten, damit z.B. den Statisten genug Zeit bleibt, zwischen den Szenen Kostüme zu wechseln. Und schließlich stellt er dem Bühnenbildner die Fra-ge aller Fragen: „Können wir einen Zug entgleisen, eine Lok in ein Haus rasen lassen?“

Sobald er die Handlung kennt, zeichnet Ulrich Schröder das Bühnenbild: Geisterstädte, Bahnstatio-nen, Hängebrücken. „Für mich ist das wie Indianer-spielen“, freut er sich seit 2002 jedes Jahr über den Job. Die Aufträge werden vergeben, aber erst im Mai rücken die Bautrupps an: Bis dahin finden in der Are-na noch Konzerte statt. Der Hintergrund der Bühne steht natürlich fest: der Kalkberg. Nur noch 91 Meter hoch liegt der Gipfel heute, beim Kalkabbau wurde er geradezu skalpiert, ursprünglich waren es 110 Meter.

Januar 2010 – Tierische EffekteAm 15. Januar ist Abgabe für das Buch, dann wird

über die Besetzung entschieden. „Da sind jedes Mal 50 Prozent Neulinge dabei, vor allem bei den Darstel-lern“, sagt Produktionsleiter Stefan Tietgen. Im Hin-tergrund arbeiten dagegen viele Profis: Pyrotechni-ker Uwe Preuss sinniert schon mal, was er im Som-mer so alles in die Luft jagen kann.

Jetzt beginnt auch Heras Job. Wann immer Win-netou in Not gerät, fliegt ein Adler ein, und dafür muss Hera, Weißkopfseeadler mit 2,20 Metern Flü-gelspannweite, trainieren. „Der Autor sagt, was er sich so vorstellt, ich sage ihm dann, was geht“, be-schreibt Thomas Wamser, Chef der „Eventfalknerei“, seine Aufgabe. Dieses Jahr soll auch ein Nasenbär mitspielen. Kein Problem, Wamser hat drei davon.

Februar 2010 – Einzug der HeldenOld Shatterhand hat seinen Vertrag unterschrie-

ben: Niemand spielte Winnetous Blutsbruder so oft wie Joshy Peters – siebenmal schwang er schon die Fäuste, sein Debüt gab er vor 23 Jahren. Die Rolle ist seine „große Liebe“, wenn auch Knochenarbeit. Er zählt die Bruchstellen auf: Finger, Rippen, Nase.

Auch Harald Wieczorek hat bereits einiges mitge-macht: 2009 musste er dreimal sterben – in drei Rol-len. Seit 1979 ist er dabei. „Ich habe fünf Winnetous und fünf Regisseure verbraten“, grinst er. Dieses Jahr spielt er den Bahnarbeiter Clifton und den Indianer-hasser Captain Ratchett, kommt aber mit heiler Haut davon. „Es ist viel angenehmer, die Bühne im Sattel zu verlassen, als rausgeschleift zu werden.“

Häuptling Tokvi-Kava, der Schwarze Mustang, hat ebenfalls sein Kreuz unter den Vertrag gesetzt. Hat Peter Mustafa Daniels, Schauspieler und Dozent an der Folkwangschule in Essen, Bedenken, wie sich ein solches Engagement auf sein berufliches Image aus-wirkt? „Vorurteile gibt es natürlich. Aber das sind hier alles exzellente Leute – das weiß nur kaum jemand.“ Die Gage ist gut, und das Thema nicht ohne Tiefe: „Immerhin geht es um den Genozid eines Volkes.“

„Es gibt einen historischen Hintergrund“, sagt auch Claudia González Espíndola. Die Kostümbild-nerin feiert ihre Premiere und hat dafür gründlich recherchiert. „Dieses Jahr haben wir viele Komant-schen, die haben sich viel westlicher angezogen als die Apachen: wenig Fransen, dafür Trophäen von Über-fällen.“ Im Modejargon heißt das „Crossover-Style“.

23. März 2010 – Stars in der ManegeIns „Indian Village“, das Indianerdorf neben dem

Freilichttheater, reiten die Gaststars zur Pressekon-ferenz ein: Eva Habermann und Ingo Naujoks. Die Saloonlady Kitty LaBelle sei ihr sehr ähnlich, verrät Habermann, „nämlich eine wilde Hummel“. Und Naujoks, Ex-Tatort-Sidekick, stellt markig fest: „Karl Mays Helden sind so, wie wir gerne sein wollen.“

Die Liste der ehemaligen Gaststars ist lang und il-luster, sie reicht von Wayne Carpendale und Freddy Quinn bis zu Elke Sommer und Ingrid Steeger. Und es hält sich das Gerücht, dass auch Dieter Bohlen schon Interesse bekundet hat, in Bad Segeberg aufzutreten.

April 2010 – Pferde gehen durchs Feuer Auf dem Pferdehof Behnk in Groß Rönnau, wo die

25 Vierbeiner der Festspiele leben, beginnt Sylvia Kassel, die ganzjährig für die Kalkberg GmbH arbei-tet, mit dem Training der Reiterstatisten. Neue Tiere dürfen sich eine Spielzeit lang den Trubel erst nur an-gucken, mit 17, 18 Jahren gehen sie dann in Rente, meist zu einem Team-Mitglied. „Dieses Jahr wird Ki-to verabschiedet. Damals hieß es, er habe Angst vor Menschen, doch bei mir hat er wieder Vertrauen ge-fasst. Er steht neben Explosionen und geht durch Feuer.“ Wenn sich die Schauspieler nach der Saison von ihren Pferden verabschieden, fließen oft Tränen.

20. Mai 2010 – Besser als KinoDie Kulissen werden eingebaut – in nur vier Tagen

und mit ungleich höheren Ansprüchen als beim Film: „Da muss es nur ein Mal funktionieren – hier aber gleich 72-mal. Und es muss nach einer Stunde wieder einsatzbereit sein“, sagt Bühnenbildner Ulrich Schrö-der. Absoluter Höhepunkt war 2003 eine explodie-rende Hängebrücke, die einen Bösewicht immer wie-der punktgenau ins Wasser schleuderte.

25. Mai 2010 – Proben ohne PauseBürgermeister Dieter Schönfeld empfängt das En-

semble und das künstlerische Team im Rathaus. Die Schauspieler tragen sich ins Goldene Buch der Stadt ein und erhalten als Gastgeschenk ein T-Shirt mit der Aufschrift „Karl-May-Team 2010“.

Dann heißt es 32 Tage lang: Reitproben, Stellpro-ben, Bilddurchlaufproben. Und nach Feierabend sind die Komparsen dran. „Sie sind das Salz in der Suppe, ohne sie sähe es hier ganz schön leer aus“, sagt Pro-duktionsleiter Stefan Tietgen. Doch meist ist sein Blick zum Himmel gerichtet. „Morgens checke ich zuerst Wetter-Online. Vor Ort mache ich einen Rund-gang und hoffe, dass der Boden nicht zu nass ist.“

Hinter und in den Kulissen ziehen die Pyrotechni-ker Leitungen, vor der Kostümbildnerei rattert eine Nähmaschine, und die Schauspieler putzen und sat-teln ihre Pferde – damit sie ein Gefühl für das Tier bekommen und selbst überprüfen können, ob der Gurt fest ist, bevor sie aufsteigen.

Derweil verwandelt Requisiteurin Katja Paprzik billiges Zeug vom Trödel mit Goldfarbe in wertvolle Schätze, fertigt aus zersägten Besenstielen Dynamit-stangen und aus einer Papptonne eine Indianertrom-mel. Wenn der Waffenmeister noch nicht da ist, hän-

digt sie mit ihrer Assistentin an die Schauspieler auch Spielzeugwaffen aus. Die echten Schießeisen stehen unter strenger professioneller Aufsicht.

28. Mai 2010 – Winnetou ist der BesteErol Sander bleibt Winnetou. Er hat seinen Ver-

trag bis 2012 verlängert. Geschäftsführerin Ute Thie-nel schwärmt: „Erol Sander hat alles, was ein Winne-tou haben muss: Er spielt ihn kraftvoll und mit einer enormen Ausstrahlung, überzeugt auch bei den lei-sen Tönen und ist ein großer Sympathieträger.“ San-der schwärmt zurück: „Die Rolle des Winnetou ge-hört zu meinen schönsten Erfahrungen. Ich liebe es, für Kinder zu spielen. Wenn man erlebt, wie sie um Winnetou bangen, dann genieße ich es, diese Traum-welt für sie lebendig werden zu lassen.“ Die Zahlen sprechen für ihn: Seit seinem Debüt 2007 kamen über 800 000 Zuschauer, Höhepunkt war „Der Schatz im Silbersee“ 2009 mit 320 399 Gästen. So viel hatte noch keiner vor ihm, nicht mal Pierre Brice, der von 1988 bis 1991 am Kalkberg die Silberbüchse schwang.

Juni 2010 – Nichts für WarmduscherIn der Kostümbildnerei wird ein Statist in Windes-

eile nacheinander in einen Indianer, Medizinmann, Kavalleristen und einen Cowboy verwandelt. „Für das Umziehen zwischen den Szenen bleiben manch-mal nur zehn Sekunden Zeit“, sagt Kostümbildnerin Claudia González Espíndola. Auf einer der Stangen hängt Winnetous Anzug: dickes, weiches Wildleder, in Handarbeit mit Perlen bestickt. Es gibt drei: einen für Werbeauftritte, einen für die Aufführungen und einen als Ersatz. Nicht alle haben es so kuschelig, vie-le Indianer erhalten nur einen harten „Brustpanzer“ aus Hölzern. „Vor allem die Schauspieler dürfen nicht empfindlich sein“, konstatiert die Kostümbildnerin lakonisch. „Das ist nichts für Warmduscher.“ Wie vie-le Kostüme gibt es insgesamt? González rechnet: „45 Statisten, dazu zehn bis zwölf Schauspieler, alles mal drei – da kommt schon was zusammen.“

Die Tage sind lang, meist bis 22, 23 Uhr. Vor der Saison ist der Arenaboden ausgetauscht worden, die oberen 25 Zentimeter sind neu. Der Regen hat sie in Schlamm verwandelt. „Alle müssen durch den glei-chen Matsch, da wächst man zusammen“, kommen-tiert Requisiteurin Katja Paprzik das Leben unter freiem Himmel. „Dabei werden auch die stolzesten Schauspieler demütig“, fügt jemand leise hinzu.

18. Juni – Holt die Wäsche rein!Im Nieselregen werden erste Szenen aus „Halb-

blut“ der Presse gezeigt. „Der Regen gehört zum Sege-berg-Gefühl einfach dazu“, behauptet Regisseur Do-nald Kraemer. In Segeberg gibt es einen Running-Gag: „Holt die Wäsche rein, Karl May fängt gleich an.“

Insgesamt 3,6 Millionen Euro kostet die Produkti-on, ab 200 000 Zuschauern wird hier Geld verdient. „Wenn das Wetter mitspielt, haben wir alle Chancen“, sagt Geschäftsführerin Ute Thienel.

Der Premieren-Plan für den 26. Juni 201010 Uhr: Produktions- und Spielleiter Stefan Tiet-

gen guckt gen Himmel und ins Internet. Regen in Sicht? Wenn das Terrain für Pferd und Reiter zu rut-schig wird, muss er umdisponieren.

16 Uhr: Pyrotechniker und Bühnenbildner rich-ten die Effekte ein. Den Boden mit der scharfgeschal-teten Mechanik darf nur der Stuntman betreten.

18.30 Uhr: Ein Traktor mit angehängter Egge harkt den Bühnensand. Es darf keine Fußspur geben.

19 Uhr: Einlass. 8000 Zuschauer strömen in die Arena. Bevor die Show beginnt, wird immer ein be-stimmter Song gespielt, dieses Jahr wieder „Mr Rock & Roll“ von Amy Macdonald. Das Team kennt ihn be-reits in- und auswendig und reagiert reflexartig. Re-quisiteurin Katja Paprzik: „Wenn ich das Lied im Su-permarkt höre, bin ich sofort in Habachtstellung und will überprüfen, ob jeder seine Dynamitstangen hat.“

20.30 Uhr: Die Show beginnt und die Pferde spit-zen die Ohren. „Wenn sie die Anfangsmelodie hören, wollen sie sofort losrennen“, sagt die Reittrainerin.

Aus einer Holzbude über den Rängen koordiniert Spielleiter Tietgen den Ablauf, per Walkie-Talkie gibt er Anweisungen an den Hinterbühneninspizienten durch, denn hinten hört und sieht man nichts. Ein ty-pisches Kommando: „Achtung für Winnetou und Old Shatterhand plus fünf Reiterstatisten von A4 und Achtung für die Pyrotechnik: Explosion im Camp!“ A ist die Abkürzung für „Auftrittsmöglichkeit“. Wenn Tietgen sagt „Achtung bitte! Einsicht in A 3 frei!“, ist das Tor zwischen Bühne und Hinterbühne offen – die Zuschauer können bis in den Backstage-Bereich se-hen, und niemand darf mehr durchs Bild laufen. Ex-Gaststar Götz Otto hat sich vor den Blicken mal mit einem Hechtsprung in die Küche gerettet.

Pyrotechniker Uwe Preuss drückt seine Knöpf-chen, exakt im richtigen Moment. Die Hitze spürt man bis in die Zuschauerränge, ebenso wie die Be-geisterung des Publikums bis hinter die Bühne: „Es ist nicht still wie im Theater. Das Britzeln in der Luft geht bis nach hinten, wir alle sind ein Teil davon,“ schwärmt Requisiteurin Katja Paprzik.

22.35 Uhr: Nach der Premiere stürmen Kinder an die Balustrade, und das Team klatscht die vielen klei-nen Hände ab. Die eigentlichen Stars bekommen vom Publikum üppige Geschenke: Möhren, säckeweise.

› THEMA DER WOCHE

IV VSonnabend/Sonntag, 26./27. Juni 2010

Winnetou-TV: Wildwest-Flair auch hinter der Kulisse – bis auf den Kontroll-Monitor für die Arena.

Großer Wurf: Der Speer-Ständer hinter der Bühne und Peter Mustafa Daniels, sonst Dozent an der Folk-wangschule, als „Tokvi-Kava, der schwarze Mustang“.

Publikumsmagnete: Erol Sander (o.) ist und bleibt Winnetou, mindestens bis 2012. Gaststar Eva Habermann (u.) ist nur dieses Jahr als Kitty LaBelle dabei.

STEFAN TIETGEN,ProduktionsleiterDer 40-jährige Bad Segeberger, der nebenbei auch große TV-Shows leitet,fing 1984 als Stallbursche an und arbeitete sich hoch – u.a. als Reiter-statist, Requisiteur und Tonassistent.

SYLVIA KASSEL, ReittrainerinDie Frau mit dem Gespür für Pferde arbeitet ganzjährig für die Kalkberg GmbH, seit 1996 ist sie fest angestellt.Sie sucht die Vierbeiner aus, dressiert sie und lebt mit ihnen auf dem Pferdehof Behnk in Groß Rönnau.

UWE PREUSS, PyrotechnikerMit seiner Firma „Preuss Effekte“ ist der Berliner für Special Effects wie Feuer, Explosionen, Rauch und Nebel zuständig. Den Rest des Jahres lässt er es bei Shows wie „Let’s Dance“und Konzerten von Scooter krachen.

KATJA PAPRZIK, RequisiteurinSie hat Kunstglaserin gelernt, Kunst-geschichte studiert und schon für die Puppen der Sesamstraße Requisiten angefertigt. In Bad Segeberg kümmert sie sich bereits zum sechsten Mal um die kleinen und feinen Details.

ULRICH SCHNEIDER,BühnenbildnerDer 68-jährige Filmarchitekt hat vier Otto-Filme ausgestattet und die OPs der „Schwarzwaldklinik“ entworfen.Im Hamburger Engelsaal sorgt er fürs Bühnenbild und führt ab und zu Regie.

THOMAS WAMSER, FalknerMit Seeadlerdame Hera und ihrentierischen Kollegen ist der Chef der mobilen „Eventfalknerei“ zum fünften Mal am Kalkberg. Der 30-Jährige hat auch Nasenbären, Kolkraben, Aras und natürlich Falken im Programm.

Blutsbrüder: Joshy Peters und Erol Sander

als Old Shatterhand und Winnetou, in Wild-

leder und ganz zivil.

Kämpfen, tanzen, Kutsche fahren:32 Tage wird geprobt, reiten und gleich-zeitig sprechen ist besonders schwierig.

Service» „Halbblut“ im Freilichttheater am Kalkberg in Bad Segeberg läuft vom26. Juni bis 5. September 2010.Die Anfangszeiten der Vorstellungen:Do, Fr und Sa 15 und 20 Uhr, So 15 Uhr.Eintrittspreise: Erwachsene ab 13 Euro,Kinder ab 9,50 Euro. Für Familien ab4 Personen und Gruppen ab 21 Personen gelten ermäßigte Eintrittspreise.Tickets können bestellt werden unter Tel. 01805/95 21 11 (0,14 Euro/Min.; Mobilfunk max. 0,42 Euro/Min.) oder per E-Mail: [email protected] und online unter www. karl-may-spiele.de

» Anreise: Von Hamburg nach Bad Segeberg kommen Sie mit der Bahn im Stundentakt zum HVV-Tarif.Infos: Tel. 04191/93 39 33 oder online unter www.nordbahn.info

» Übernachtungen: Zimmer – auchvon privat – vermittelt Ihnen die Stadtmarketing Bad Segeberg GmbH,Tourist Info, Oldesloer Str. 20, 23795 Bad Segeberg, Tel. 04551/96 49 11,www.badsegeberg.de

TV-Stars im Sand: Ingo Naujoks, Eva

Habermann und Erol Sander geben dem Kalkberg Glamour.

Verbotene Liebe: Eva Habermann und Philip Schwarz als Kitty und

„Halbblut“ Ik Senanda; unten bei der Probe.

Page 6: Wirsind Winnetou! - static.apps.abendblatt.destatic.apps.abendblatt.de/flips/magazin/magazin2010_26/files/magazin... · 26 2010 SONNABEND / SONNT G,A26. / 27 .JUNI 2010 Unterwegs:

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TEXT: JOACHIM MISCHKE • FOTOS: THOMAS LEIDIG

Reih und Glied:Sonst geht es in der „Bullerei“ mit bodenständiger Küche eindeutig entspannter zu.

Kurz-BiografieHagen Schäfer, 32, ist

Chefkoch in der Bullerei. Der Münsteraner entdeckte

seine Liebe zum Kochen, als er mit Küchen-Jobs sein

Studium finanzierte – und sattelte kurzerhand um.Nach der Ausbildung auf

Sylt verfeinerte er sein Handwerk u.a. in Hamburg im Tafelhaus, bei Cornelia Poletto und im Süllberg-

Restaurant, außerdem bei Auslandsaufenthalten in Südafrika und Österreich.

Sein Stil? „Aus dem Bauch heraus!“

Schatz im Schanzenviertel

Zwilling! Schon klar“, meint Heidi, „die kön-nen sich einfach nicht entscheiden.“ Dass Sternzeichen etwas mit dem Tempo meiner

Bestellung zu tun haben könnten, ist mir neu. Und außerdem: Skorpion. „Okay, dann aber Aszendent Zwilling ...!“ Noch interessanter wird die Diskussion dadurch, dass Heidi eine beeindruckende Tattoo-Galerie vorweisen kann. Von da an ist für mich klar: Das ist mein Laden. Oder er könnte es werden, wenn es hier etwas weniger bahnhofshallenlaut wäre. Doch die Künste von Tim Mälzers Chefkoch Hagen Schäfer machen dieses kleine Manko wieder wett.

Bei der Wahl der Speisen entscheidet sich der Zwilling in mir zur Kann-man-nix-falsch-machen-Kombi: Als Eröffnung ein Burrata-Frischkäse für zwei Personen (17 Euro) – Delikatess-Proteine aus der Familie der Mozzarellas – auf einem Salatbett. Dazu einerseits eine ausgewachsene Portion Calama-retti (14 Euro), leider auf einem weitgehend bauglei-chen Salatbett, und andererseits ordentlich Fleisch an die Gabel: Filetsteak (28 Euro), mittelgebirgshoch, ein Leckerbissen für den ganzen Kerl. Das Beilagen-Wettrennen zwischen „Schnüsch“ (in Flensburg, wo ich herkomme, wäre das eine Gemüse-Milchsuppe, hier ist es Rahmgemüse) und „Kartoffelröstzwiebel-stampf“ gewinnt das Erdapfelmus. Schon, weil so viel Fantasie beim Menütexten belohnt gehört.

Beim Warten zeigt ein Blick in den Saal, dass Haus-herr Tim Mälzer vor der Eröffnung 2009 seine TV-

Prominenz und wohl auch viel Bares gut investiert hat. Rappelvoll ist es hier, und das an einem Montag, und man sieht eben nicht nur gentrifizierte Nachbarn aus dem hippen Schanzenviertel, sondern auch gut-bürgerliches Publikum mit ordentlichen Berufen. Reservieren ist Pflicht, aber es gibt immer auch Rest-plätze für Spontanbesucher, beruhigt Heidi.

Der Schanzen-Schick, mit dem die Bullerei wirbt, ist clever inszeniert: dekorativ heruntergerockte Wän-de, die Bedienungen tragen Holzfällerkaros, es wird geduzt. „Soul Kitchen“ lässt grüßen. Zwischen Bistro und Restaurant-Bereich zeigt ein Schaufenster dem Ankömmling, was gleich Sache ist: Schön ausgeleuch-tet hängt dort eine Schweinehälfte am Haken, als Hinweis darauf, dass das hier mal eine Viehhalle vom Schlachthof war. Auf dem Hinweisschild zu den WCs grinst einem das Wortspiel „Pullerei“ entgegen, und auch die Rechnung hat eine Pointe mit frechdachsi-gem Charme: „Für Sie rannte Susanne“.

Doch so weit ist es noch nicht, Susanne muss er-neut rennen. Nach dem Hauptgang bekommt auch das schlechte Gewissen Futter: ein Erdbeer-Crumble und eine Brioche, auf der sich Rhabarberkompott und Roquefort treffen. Nachdem sie uns den Abschied versüßt und Glückshormone in die Blutbahn ge-pumpt haben, ist eines klar: Es wird garantiert nicht unser letzter Abend in der Bullerei gewesen sein. So viel zum Thema Zwilling.

» Bullerei, Lagerstraße 34b, Tel. 33 44 21 10, Restaurant tägl. ab 18 Uhr, Deli tägl. ab 11 Uhr, www.bullerei.com

Die „Bullerei“ von Gastro-Rocker Tim Mälzer: coole Kellner, gediegene Gerichte, lässiges Flair.

RESTAURANT

Löffelchen EssbarDer Name klingt albern, passt aber: Im Lokal und auf der Holzterrasse dampfen Suppen in großen Töpfen, mindestens acht stehen zur Wahl. Der eigentliche Renner wird aber nicht gelöffelt, sondern mit der Hand gegessen: Goshis – außen Reis, innen was dem Koch in den Sinn kommt, ob Frischkäse, Hack oder Apfel.Nachmittags wird Kuchen serviert.

» LÖFFELCHEN ESSBAR, Poßmoor-weg 2, Mo–Fr 11–19.30 (bei gutem Wetter bis 22 Uhr), Sa 11–16 Uhr,www.loeffelchen-essbar.de

Sonnabend/Sonntag, 26./27. Juni 2010

LOKAL-TERMIN

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REZEPT VON HAGEN SCHÄFERSenfkartoffeln mit gegrilltem PulpoFür 4 Personen:500 g kleine Frühkartoffeln6 Knoblauchzehen4 Schalotten, geschnitten2 EL Senf800 ml Geflügelfond8 EL Olivenöl1 Pulpo, ca. 600 g4 Jakobsmuschelnje 50 g Fenchel, Karotte und Sellerie, gewürfelt1 Knolle Knoblauch

Zitrone, halbiert12 Schalotten, halbiert200 ml Weißweinessig400 ml Gemüsefond100 g Zucker12 kleine Rote Bete mit GrünOlivenöl Weißweinessig4–5 Blätter Rauke,Radicchio, FriséeOlivenöl

1 Kartoffeln ca. 10Min. bissfest kochen, pellen, inScheiben schneiden. Schalotten undKnoblauch imÖl anschwitzen, mit Geflügelfond ablöschen.MitSenf, Salz, Pfeffer, Zucker aufkochen, abschmecken.Kartoffelscheiben hinzugeben, erneut abschmecken.

2 Den Pulpomit demGemüse, Knoblauch, Pfeffer undZitrone imgroßenTopf ca. 45Min.weichkochen (keinSalz! Pulpo ggf. mit Deckel beschweren). Danachabgießen und nur die Pulpo-Arme inOlivenöl braten.

3 Zucker in einer Pfanne karamellisieren, Schalottenzugeben.MitWeißweinessig ablöschen. Alles mitGemüsefond bedecken, danach weich kochen.

4 RoteBete schälen,mitGrün längs vierteln. InOliven-öl anbraten, salzen, zuckern undweich schmoren.MitWeißweinessig undOlivenöl abschmecken.

5 Jakobsmuscheln waschen, in Olivenöl anbraten undalles mit Zitronenbutter garniert servieren.

RESTAURANT

Sushi LôDraußen steht noch der Schirm des Vorgängers „Carpe Diem“. Innen arbeiten nun aber Quyet Thang Lo und Quynh Chi Bui. Leise, zuvorkommend, kreativ: Flambierten Lachs mit jungem Spargel hüllen sie in Reis, Butterfisch oder Bonito.Wer sich nicht entscheiden mag, wählt die Spezialplatte, die steht nicht auf der Karte, ist aber eine Empfehlung wert. Wie das kleine Lokal: günstig und sehr gut.» SUSHI LÔ, Rothenbaumchaussee 105,Tel. 41 49 88 04, tgl. 11.30–15 und 17–23.30 Uhr, www.sushilo.de

Samurai-Sudoku

Lösungsweg:Beim Samurai-Sudoku sind vier Eck-Sudokus so um ein Zentral-Sudoku angeordnet, dass jedes der vier Eck-Sudokus sich je

einen Block mit dem Zentral-Sudoku teilt! Dabei gelten für jedes der 5 Sudoku-Diagramme die klassischen Spielregeln: Alle Diagramme sind mit den Zahlen

1 bis 9 aufzufüllen. Dabei darf jede Zahl in jeder Zeile und jeder Spalte sowie in jedem 3 x 3 - Feld nur einmal vorkommen.Lösung: siehe unten …

Irgendwo in Hamburg. Nur wo?Erholung und Hygiene, Bildung und Verwaltung,Bibliothek und Standesamt – das alles fand 1914 unter dem Mansardendach mit Türmchen Platz.Der Stadtplaner und Architekt Friedrich Wilhelm (genannt Fritz) Schumacher sah sich als Architekt der sozialen Kultur: Er wollte Großstadtmenschen eine neue Heimat schaffen, inklusive Badezimmer.Dafür verwandte er das damals moderne Material Beton, verkleidete die Wände aber mit in Bändern angeordnetem Backstein und Klinkern. Hinter den Wänden schlagen heute noch die Wellen hoch.

Für scharfe Denker

Waagerecht:1 Etwas angestaubter Leitertitel, müsste heute General Manager heißen. 16 Beinkleider für Ver-sager? 17 Schande und Blamage sind die dunkle Seite der Medaille. 18 Er klettert und klettert und ist ziemlich gemein. 19 Ungehalten, wie es ein Strafstoß nie sein kann. 20 Sie warnt Wotan vor dem Besitz des Rheingoldes. 21 Es ist morgen wie heute: gestern in Italien. 22 Konsumengage-ment. AUSGABE 23 Literarisches Mauerblüm-chen. POET 24 Saarlouiser führen das im Schil-de. SLS 26 Fleischscheibe zum Braten für Eilige.29 Sportinstrument für gezielten Aufschwung.32 Liegt genau gegenüber von SSW. 34 Fett gibt er nicht her, oder doch? 40 Geschrumpfte Medaille; könnte man dann mit Medizin verwech-seln. 42 Heulen, flennen oder weinen – ein ande-res Wort dafür ist ... 43 Sie macht aus einem Hei-ligen eine Leuchte. 44 Die Planierraupe ist genau dafür gemacht. 45 Beginnen Sie, Vergessenes ins Gedächtnis zurückzurufen. 46 Westlicher Teil von Taiwan. 47 Ein recht kurzes Abonnement wird hier gesucht. 48 Fertiggekochtes aber rück-wärts. 49 Fehlte dies, wäre das Kleinanbaugebiet fertig gekocht. 50 Schuldner mit bester Bonität tragen diese drei Buchstaben in ihrem Rating-code. 51 Das ist eine wirklich kurze Umsetzung.52 Der letzte Teil vom Propagandamachen.

Senkrecht:1 Gestein mit frostigem Anteil. 2 Das dicke Ende vom Zweifel. 3 Strudel; jedoch kein Gebäck.4 Diese Futterale kennen Sie doch allemale.5 Das endlose Büchergestell fließt durch Polen in die Ostsee. 6 Das würden Kontaktscheue niemals tun. 7 Stadt voller Tibeter mit ehemaligem Palast des Dalai Lama. 8 Den nehmen Vietnamesen für bare Münze. 9 Tatsächlicher Bestand eines Flächenmaßes. 10 Ein ideales Gerät zum Süß-holzraspeln. 11 Ihr fehlt es an Weite. 12 So sagt der Seemann zur Kerbe, der Engländer möchte es behalten. 13 Sitzgelegenheit für Emporkömm-linge. 14 Wer den verliehen bekommt, darf ihn tragen. 15 Alte Schuld in der Rechtsprechung.25 Jargon sagt der Franzose dazu. 27 Früherer Lotto-Dreier. 28 Grenzt an den Sudan, Äthiopien,Somalia, Tansania, Uganda und den Indischen Ozean und wird vom Äquator zerteilt. 30 „Götter,Gräber und Gelehrte“ schrieb er. 31 Wo der sich befindet, geht es rund. 33 Halle, aber nicht die an der Saale. 34 „Aida“ ist eine, „My Fair Lady“ ist keine. 35 Eiland in einer Nebelbank. 36 Der „Acker“, an dem Kleingärtner sich erfreuen.37 Eine epochale Erscheinung. 38 Vornämlich die Turner. 39 Beim Ballett findet man dieses Röckchen nett. 40 Mit IT wird’s zum Berliner Stadtteil. 41 Hamburgs fließendes Tor zur Welt.

Irgendwoin Hamburg: Holthusenbad,Goernestraße21,gegenüber U-BahnKelling-husenstraße.

IMPRESSUMChefredaktion: Claus Strunz (V.i.S.d.P.)Redaktion: Anika Riegert (verantwortlich)Art Direction: Julia WagnerMitarbeiter dieser Ausgabe: Albrecht Barke,Christopher Beschnitt, Simone Buchholz, Ursula Gros, Oliver vom Hofe, Irene Jung, Karola Kostede,Thomas Leidig, Karin Lübbe, Peter Maus, Julia Marten, Joachim Mischke, Petra Nickisch, Norman Raap, Kirsten Rick, Maike Schiller, Vanessa Seifert,Josephine Warfelmann, Klaus WitzelingKonzeption & Realisation:mar10 media GmbHGeschäftsführer: Nikolas MartenAnzeigen (verantwortlich): Dirk Seidel,Tel. 040/34 72 25 56Verlag & Druck: Axel Springer AG,Axel-Springer-Platz 1, 20350 Hamburg

Auflösungen:

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GENERALDIREKTORNIETENHOSENEHREEFEUGRANTIGERDAIERIAUSGABEPOETSLSSTEAKRECKNNOOELBEHAELTERMEDPLAERRENAUREOLEEBNENERINTAIABORAGTENAAAUMSBEN

Essen und ausgehen

› BROT & SPIELE

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ten, die menschenblinden Kosten-Controller, die Workaholics und Wertpapierhändler ohne Wertsinn – es ist, als hätte Exupéry sie alle schon gekannt.

Geahnt hat er sie sicher. „Ich bin tief traurig für meine Generation, die jeder menschlichen Substanz entleert ist. Die nur Bars, Mathematik und Rennwagen als Form des geistigen Lebens kennengelernt hat und gegenwärtig in eine ausgesprochene Herdenaktion eingespannt ist – eine Aktion, die keinerlei Farbe mehr hat“, schrieb Exupéry in einem Brief nach Kriegsbe-ginn. „Man kann nicht mehr leben von Eisschränken, von Politik, von Bilanzen und Kreuzworträtseln.“

Die Wüste, in die er den kleinen Prinzen schickt, ist eine Menschenwüste, wie er sie selbst empfunden hat: als öden Raum, in dem die Seele buchstäblich versandet. Als Gegengewicht zu der fundamentalen Weltkritik enthält „Der kleine Prinz“ aber eine der anrührends-ten Definitionen von Liebe und Freundschaft. „Wenn du mich zähmst, fällt in mein Leben ein Sonnenstrahl“, sagt der Fuchs dem kleinen Prinzen. „Ich werde den Klang deines Schrittes ken-nen, der sich von allen anderen unterscheidet. … Deiner wird mich aus meinem Bau hervorlocken wie eine Melodie“, sagt der Fuchs. „Du wirst für mich einzig sein in der Welt. Ich werde für dich einzig sein in der Welt.“ Das deutsche Wort zähmen drückt nicht das aus, was Exupéry mit dem französi-schen apprivoiser meinte: für sich gewinnen, sich vertraut machen.

Liebe erzwingt nichts und ent-mündigt nicht, Freundschaft kann man nicht fertig im Laden kaufen. Sie entfalten sich nur mit Geduld und Vertrauen zum Kern und Kraftquell, sagt Exupé-ry mit dieser wunderbaren Umschreibung. Sie sind das Wesentliche, das für die Augen unsichtbar ist. Man erkennt sie nur mit dem Blick der Liebe.

In seinem eigenen Leben genügte nur eine Hand-voll Menschen dem hohen Ideal unverbrüchlicher Freundschaft: seine Schwestern, sein Fliegerfreund

Henri Guillaumet und der Schriftsteller Léon Werth, dem er den „kleinen Prinzen“ widmete.

Der Theologe und Psychotherapeut Eugen Dre-wermann hat sich 1984 in seiner Deutung des „klei-nen Prinzen“ („Das Eigentliche ist unsichtbar“, Her-der Verlag) auch mit Exupérys Persönlichkeit befasst. Das Märchen, sagt Drewermann heute, sei immer noch „Exupérys beste Autobiografie, in verschlüssel-ter Form“. Exupéry, der empfindsame, reflektierte Schöngeist, habe im Kampf gegen die frühere mütter-liche Verwöhnung nach männlicher Selbstbestäti-gung gesucht. Er habe alles versucht, um „dem Getto eines verwöhnten Außenseitertums zu entrinnen“, er wollte ein Gleicher unter Gleichen sein, sich mit sol-datischen Idealen gegen zu viel Weichheit wappnen, schreibt Drewermann. Aber seine Sehnsucht nach Freundschaft blieb „ein unerfülltes Desiderat“, eben-so die Sehnsucht nach dauerhafter Liebe.

Eine Verlobung ging enttäuschend in die Brüche. Die Fliegerei und das Schreiben wurden zu den Pfeilern seiner Existenz. 1931 heiratete er die

Argentinierin Consuelo Suncin Sandoval, eine tem-peramentvolle junge Künstlerin. Die Ehe wird als stürmisch beschrieben, das Paar lebte oft getrennt. Er verlange von einer Frau, „dass sie meine Unruhe stillt“, schrieb Exupéry an seine Mutter. Consuelo war diese Frau sicher nicht, auch wenn sie sich nach sei-nem Tod als seine Muse stilisierte – als seine „Rose“.

Viel augenfälliger gleicht die Rose aber der Mutter selbst. Aus Exupérys Briefen an sie spricht eine merk-würdige Ausschließlichkeit: Immer wieder beteuerte

er, dass sie „das Allerliebste auf der Welt“ sei, wie sehr er sich bemühe, als Sohn ihren Erwartungen zu ge-nügen, wie sehr er sie brauche und beschützen wolle. Es klingt, als hätte er sie am liebsten unter eine Glashaube gesetzt, so wie es der kleine Prinz auf seinem Heimat-Asteroiden tat. In diesem Verhält-nis, glaubt Drewermann, gab es keine wirkliche Emanzipation.

Der Abschied des kleinen Prin-zen am Ende des Buchs – seine Rückkehr zu seinem Stern – wirkt wie eine Metapher für Exupérys eigenen, unangekündigten Tod. „Wenn du nachts zum Himmel hinaufschaust, dann wird es für dich sein, als ob alle Sterne la-chen“, sagt der kleine Prinz. Ein

Happy End wie in Grimms Märchen gibt es nicht. „Auch der kleine Prinz wird nicht in dieser Welt hei-misch“, sagt Drewermann. „Der Flieger und das Kind finden letztendlich zu keiner Synthese.“

Schon in den Fünfzigern hatte Exupéry-Biograf Maxwell Smith prophezeit, dass „Der kleine Prinz“ genauso unsterblich werden könnte wie La Fontaines „Fabeln“, Swifts „Gullivers Reisen“ oder Carrolls „Alice im Wunderland“. Er behielt recht.

W o die Erde wüst ist, kom-men die Wunder vom Himmel. Ein Pilot ist in der Sahara notgelandet, sein Trinkwasser reicht für kaum acht Tage. Zu ihm gesellt sich wie aus dem Nichts ein Kind, ein

kleiner, blond gelockter Junge von einem anderen Stern, und bittet ihn: „Zeichne mir ein Schaf.“

Antoine de Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“ be-ginnt wie ein Erwachsenentraum mit ganz eigenem Zauber. Das Kind, Sinnbild des Anfangs und der Un-schuld, hat noch unbeirrbares Vertrauen in die Güte und Größe der Welt. Der Pilot, vielleicht am Ende al-ler Reisen, ist weltmüde. Aber in dem kleinen Prinzen erkennt er ein Stück von sich wieder, das Kind, das er selbst einmal war.

1943 erschien „Der kleine Prinz“ in englischer Sprache in New York, 1945 in Paris, am 30. Juni 1950 kam die deutschsprachige Ausgabe im Karl Rauch Verlag heraus. Mehr als neun Millionen Leserinnen und Leser allein in Deutschland haben es verschlun-gen. Und für viele gehört es zu den Büchern, die man nie vergisst. So geht es auch Claudia Roth, Bundes-vorsitzende der Grünen. Für sie ist Exupérys Ge-schichte eine „wunderbare Verbindung von Poesie und philosophischem Tiefgang“, sagt sie. „Ein Satz, der mir besonders nahegeht, lautet: ‚Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.‘ Das ist für mich die ethische und poetische Grundaussage des Buches, das in der dunkelsten Zeit des 20. Jahrhunderts entstanden ist.“

Exupéry, geboren 1900 in Lyon, war bereits mit Romanen wie „Südkurier“ „Nachtflug“ und „Wind,

Sand und Sterne“ bekannt geworden. Der langjährige Marine- und Berufspilot hatte selbst mehrere Abstür-ze und Notlandungen in der Sahara und in Südameri-ka erlebt. Freunde beobachteten, dass er häufig einen kleinen, blonden Jungen an den Rand von Texten zeichnete. In seinem letzten Buch wurde daraus eine Hauptfigur. Aber vom Erfolg des „kleinen Prinzen“ hat Exupéry kaum noch etwas erlebt. Im selben Mo-nat, in dem das Buch erschien, verließ er die USA, um sich in Algier als Pilot den angloamerikanischen Truppen anzuschließen. Schon ein Jahr später, im Ju-li 1944, wurde er bei einem Aufklärungsflug in der Nä-he von Korsika abgeschossen und blieb verschollen.

Das Nachkriegspublikum sog sein philosophi-sches Märchen auf wie ein Vermächtnis. Viele Kriegsteilnehmer fühlten sich tief berührt.

Der Autor war Soldat gewesen wie sie, er teilte ihre traumatischen Erfahrungen. Und seine Symbolik verstanden sie sofort. Es bedarf nach dem vernich-tenden Krieg der Reinheit eines Kindes, um die Menschen wieder auf die entscheidenden Fragen zu stoßen: Wofür leben wir? Wer ist die Rose meines Lebens? Welchen Fuchs habe ich zu meinem Freund gemacht? Und wohin gehe ich?

Mühelos erkannten die Leser auch die Prototypen der modernen Gesellschaft wieder, denen der kleine Prinz auf seiner Reise begegnet. Da ist ein machtver-liebter König, der in jedem Menschen nur den Unter-tanen sieht; der Eitle, der nur Bewunderer kennt; der Säufer, der trinkt, um Enttäuschungen und Selbst-hass zu vergessen; der Geschäftsmann, der Sterne besitzen will wie Aktien.

Das Panoptikum wirkt erschreckend aktuell. Die manischen Selbstdarsteller, die Formularbürokra-

„Poesie kann die Stimme des Herzens und der

Humanität sein.“ Claudia Roth, 55, Bundesvorsitzende

Bündnis 90 / Die Grünen

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Sonnabend / Sonntag, 26. / 27. Juni 2010

SERVICE

» Die Multimedia-Version von „Der kleine Prinz“ gehört zu den bezauberndsten Produktionen des Hamburger Planetariums. Der bekannte Schauspieler und Hörbuch-Erzähler Rudolf H. Herget spricht und spielt Saint-Exupérys Text unter einem Sternenhimmel und nimmt die Zuhörer mit auf eine poetisch-funkelnde Reise.Planetarium Hamburg, Hinden-burgstr. 1b, Tel. 42 88 65 20,Termine: So, 25.7., 19.30 Uhr;Di, 31.8., 19.30 Uhr und Do, 23.9.,17 Uhr. Eintritt: 15 Euro,www.planetarium-hamburg.de

» Zahlreiche Jubiläums-Editionenvon „Der kleine Prinz“ erscheinen zum 60. Jahrestag der deutschen Veröffentlichung im Karl Rauch Verlag. Die neue Übersetzung von Elisabeth Edl will „die ironische,spielerische Seite“ des Werkszur Geltung bringen – ein Aspekt,den der Schauspieler Jan Josef Liefers in der neuen Hörbuch-Version ebenfalls anklingen lässt. Buchund CD kommen auch gemeinsam als Box heraus, zudem eine Version mit Pop-up-Illustrationen, ein Hörspiel, ein Film auf DVD u.m.Jubiläumsausgabe: 104 Seiten, mit Originalzeichnungen, 14,90 Euro.Hörbuch: 2 CDs, ca. 145 Min.,14,95 Euro.Geschenkbox mit Buch und CD: 19,95 Euro.Das Pop-up-Buch: 29,90 Euro.Mehr zu „Der kleine Prinz“ unter:www.karl-rauch-verlag.de

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DER KLEINE PRINZ SEIT 1950

Der Klassiker: Märchenhafte Figuren, zarte Farbzeichnungen,existenzielle Fragen – mit „Der kleine Prinz“ schuf Exupéryein Kinderbuch für Erwachsene.FOTO: KARL RAUCH VERLAG

Der Mensch: Exupéry 1936 in seinem Pariser Haus mit Ehefrau Consuelo Suncin Sandoval – eine stürmische Liebe verband das Paar.

Die Ikone: In Frankreich wurde der sensible Sinnsucher ausgerechnet mit einem Geldschein geehrt.FOTOS: ULLSTEIN BILD/AP, PICTURE-

ALLIANCE/DPA

Der Überflieger: Das Flugzeug heißt „Die Kompromisslose“ – und so mimt der Autor und Pilot Exupéry 1938 den starken Mann.FOTO: ULLSTEIN BILD/DPA

imManneVor 60 Jahren erschien „Der kleine Prinz“ –

nur 104 Seiten, aber wer sie liest, wird sie nie vergessen. Der Autor Antoine de Saint-Exupéry ging mysteriös verschollen.IRENE JUNG begibt sich auf seine Spuren.

› GESTERN & HEUTE

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Sonnabend / Sonntag, 26. / 27. Juni 2010

Die Wochenvorschau 28. JUNI–4. JULI

KINO: Das 2. Indonesische Film-fest zeigt bis 1.7. im Abaton Filme indonesischer Regisseurinnen im Original mit englischen Untertiteln.Um 19 Uhr läuft „Arisan!“.

KINDER: Herbei, ihr Königstöch-ter! Die Wuppertaler Puppenbühne spielt „Der Froschkönig“ für Kinder ab 4. Kinderbühne Große Wallan-lagen (Holstenwall 30, bei der Roll-schuhbahn), 15 Uhr, Eintritt frei.

KLASSIK: Klavierabend aus Anlass der Masterprüfung von Velasco Sanchez. Kleiner Saal der Laeiszhalle. 20 Uhr, Eintritt frei.

WEITSICHT: Beim „Nachtmichel“ sind abends die Plattformen der Hauptkirche geöffnet. Rundblick aus 109 m Höhe über die Stadt. An-melde-Tel. 28 51 57 91, Infos unter www.nachtmichel.de, ab 19.30 Uhr.

VERNISSAGE: „Verschwomme-nes Bildarchiv meiner Erinnerungen“ nennt Béatrice Klein die Fotos ihrer Ausstellung „De unde vin – Woher ich komme“. Galerie Hilaneh von Kories, bis 16.9., Vernissage 19 Uhr.

TOUR: Auf den Energieberg Georgswerder führt die IBA-Tour „Schöne Aussichten für Wilhelms-burg“. Treffpunkt: S-Bahn Veddel,Ausgang Busbahnhof, 14 Uhr, 5 Euro.

FEST: 28 Winzer aus verschie-denen deutschen Anbaugebieten schenken beim 19. Pinneberger Weinfest ein. Drosteivorplatz,bis 4.7.: Do 18 – 23, Fr 18 – 24,Sa 14 – 24, So 12 – 20 Uhr.

KONZERT: Konstantin Wecker & Hannes Wader. Die Liedermacher-Legenden singen auf der Freilicht-bühne im Stadtpark, 19 Uhr.

LESUNG: „Dumme Gedanken hat jeder – Das Beste von Wilhelm Busch“. Frank Roder und Felix Schepp mit einer Auswahl komi-scher Satiren. Das Schiff, Holz-brücke 2 / Nikolai fleet, 19.30 Uhr.

BASKETBALL: Bei der FIBA U 17 WM kämpfen 12 Teams um den Titel der „Herren“. An 8 Spieltagen werden über 30 000 Zuschauer erwartet. Sporthalle Alsterdorf, 9 Uhr.

FEST I: Trainieren und tanzen,grillen und chillen – beim Som-merfest im Chon-Jie-In-Haus gibt es Mitmachtraining der koreanischen Bewegungskunst Shinson Hapkido,Vorführungen, Buffet und Cocktail-bar. Seewartenstr. 10, ab 14 Uhr,www.bewegungamhafen.de

FEST II: „KulturBewegt!“ Das Stadtteilfest beim Bürgerhaus Barm-bek bringt Leben ins Viertel, 11 Uhr.

KLASSIK: Unter dem Motto „Summertime – Vive la France!“ stellt Simone Young mit dem Phil-harmonischen Staatsorchester HH poetische und raffinierte Klänge aus Frankreich vor. Laeiszhalle, 11 Uhr.

COMEDY: Einen lustvollen „Männerabend“ versprechen Kristian Bader und Martin Luding.Schmidts Tivoli, 20 Uhr.

SCHILLERSSTADTGEFLÜSTER

Wenn man so durchs Netz bummelt auf der Suche nach nichts Bestimmtem oder

nach einem originellen Kolumnen-thema, was bisweilen ja das gleiche ist, könnte man den Eindruck be-kommen, das Internet sei schwanger. Knoblauchgurken mit Erdbeereis, Gewürz-brötchen mit Schoko-sahne, Gummibärchen mit Mayo. Will sagen: un-vermutete Zusammenhänge. Jedenfalls stolpert man über die seltsamsten Themen-grüppchen, immer höchstens einen Klick weit voneinander entfernt. „Gar-tenbau quo vadis?“, fragt da einer, da-neben steht die Behauptung „Kinder-wunsch: Sex wird überbewertet“, und ein Fußballer wird zitiert mit dem schönen Rechenexempel: „Wenn der Lahm durchgeht, dann steht es 2�:�2 und wir gewinnen das Spiel.“ Äh, ja.

Solche Sätze werden dieser Tage ja übrigens wieder sehr viel in die Repor-termikrofone diktiert, und vor dem WM-Bildschirm kichert man sich eins über die sinnentleerten Fußballerant-worten wie sonst nur noch über die neue Körperfülle von Olli Kahn (wann genau ist der so mopsig geworden?!).

Sportler am Mikrofon also. Die Fra-gen sind ja – mit Verlaub, liebe Sport-kollegen – schon keine intellektuellen Höchstleistungen („Und? Mit dem Sieg

gerechnet?“), wie schlau kann da die Antwort ausfallen? Man stelle sich vor, wie andere Berufsgruppen nach jedem Feierabend zu ihrem Arbeitstag befragt werden. Busfahrer zum Beispiel: „Sie sind heute wieder bis! an! die! Endhal-testelle gefahren, hatten Sie mit diesem Ausgang immer gerechnet?!“ – „Ja, gut, äh, ich hatte mir das Ziel gesetzt.“ Oder Bäcker: „Hefe rein, sauber abgewartet und mitten in den Ofen, hatten Sie die-se Hitze mit dem Trainer besprochen?“ – „Ja, gut, äh, rein vom Gefühl her ist das ja ne emotionale Sache.“

Oder Journalisten: „Knoblauchgur-ken, Gartenbau und Olli Kahn in einem Text, ist das überhaupt regelkonform?“ – Ja, gut, äh, eigentlich wollte ich ja nur kurz im Netz bummeln.

Netzwerk

URSULA GROS, 75, wanderte vor 55 Jahren in die USA aus und fand in Hollywood die große Liebe. Heute lebt sie im kalifornischen Camarillo.

Als ich an meinem 21. Geburtstag – am 25. November 1955 – in Hamburg an Bord der „Italia“ nach New York ging, wusste ich nicht im geringsten, was mich dort erwartet. Und heute weiß ich gar nicht mehr, wie ich damals den Mut haben konnte, Familie und Freunde in Norddeutschland einfach hinter mir zu lassen – aber ich habe es nie bereut.

Mein erstes Weihnachten in Amerika verlebte ich bei einer Tante in New York, im Januar folgte der erste Flug meines Lebens – nach Los Angeles. Dort

erwartete mich eine andere Tante in Westwood. Ich

war beeindruckt: von schönen teuren Häusern,von prächtigen Bougain-villeen (Drillingsblumen) an den Wänden, von

Palmen und vom herr-lichen Sonnenschein im

Januar. Damals wie heute gab es kaum öffentlichen Nahverkehr, zumindest fahren heute Busse und ein Zug nach San Diego, wo meine beiden Kinder mit ihren Familien leben. Ohne Auto ging und geht hier fast nichts.

Wie gut, dass mein späterer Mann Jan (†1997), den ich im deutschenHollywood-Klub im Beverly HiltonHotel beim Tanzen kennenlernte, damals schon einen Führerschein hatte. Und ein Auto! 1959 haben wir geheiratet, ein Jahr später kam unser Sohn Edward und 1964 unsere Tochter Renata zur Welt.

Was mir am meisten gefällt: Die Kalifornier sind viel freundlicher und weniger förmlich als Nord-deutsche. Schon nach dem ersten Kennenlernen spricht man sich mit Vornamen an, so als ob man per Du wäre. Typisch ist auch, dass man alles Mögliche anziehen kann, ob modisch oder nicht – und niemand rümpft die Nase. „Anything goes“, wie wir sagen.

Immer wenn ich nach Hamburg komme, um meine Zwillings-schwester und meinen Neffen zu besuchen, freue ich mich beson-ders auf die Fleetfahrt und den frischen Fisch. In Kalifornien haben einige Fische fast gar keinen Geschmack. Dafür ist das Wetter besser: fast kein Regen von Juni bis Oktober und nie Schnee, dafür manchmal fast zu viel Sonne. Der Nieselregen in Hamburg ist eigentlich ganz angenehm ...

MADE IN HAMBURGEine Sammlung von außergewöhnlichen Ko- lumnen – Hamburger Momente aus der „Welt“ und Stadtgeflüster aus dem „magazin“ –, die von der Zeichnerin Claire Lenkova illustriert sind, wird im August erscheinen.

Buch Hamburger Momente, 9,95 Euro. Zu bestellen:www.abendblatt.de/shop oder überTel. 342 65 66.

Camarillo

Haar-Styling-Gel „Ultra Strong“ von Nivea, gesehen bei Budni, Schanzenstr. 55,um 2,50 Euro.

Apfelteiler (Edelstahl),Eisen- und Haushaltswaren Harms, Hoheluftchaussee 17,um 6 Euro.

Tropen-Shorts, Khaki,gesehen bei Ernst Brendler,Große Johannisstraße 15,um 40 Euro.

Kolumne» An dieser Stelle schreiben im wöchentlichen Wechsel die Abendblatt-Redakteure Maike Schiller und Joachim Mischke.

MEIN STYLE-TRIO

Gesunde Ernährung, aber mit wenig Aufwand: Was fällt Ihnen dazu ein?Für mich gehört ein Apfelteiler in jeden guten Haushalt, in dem der Arzt nicht gern gesehen ist. Statt Äpfeln aus Übersee bevorzuge ich allerdings Früchte, die vor der Haustür wachsen, beispielsweise den Apfel des Jahres 2010: „Juwel aus Kirchwerder“.

Ihr Modetipp für diesen Sommer?Der Mann von Welt kauft natürlich im coolsten Geschäft der Stadt seit 1879 ein: Ernst Brendlers Tropenkleidung ist ein Ausflug in die Welt des Abenteuers. Obwohl ich Krampfadern habe, wage ich mich jedes Jahr in meine

1�a-Khaki-Shorts.

Ihre Frisur ist ein Markenzeichen – wie halten Sie Ihre Haare im Zaum?Aufgrund des furchtbaren Fluchs einer Hexe, die auch schon Günter Netzer verwunschen hat, bin ich gezwungen, jahr-zehntelang dieselbe Frisur zu tragen. Dabei hilft mir ein heimisches Produkt von Beiersdorf: Mit diesem tadellosen Haargel kann man zur Not auch Fliesen verfugen.

Lou Richter, 49, Moderator und Comedian,trotzt mit Apfelstückchen, kurzen Hosen und Haargel dem Hamburger Schmuddelwetter.

Von Kopf bis Knie

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Bis zu seinem Urlaub im Dezember sind es noch ein paar Monate hin, denn der Sommer bedeutet für Axel Steen nicht Ferienzeit, sondern Schwerst-

arbeit. Sein Geschäft heißt Eis. „Paradies Eis“, um genau zu sein. Seine zuckersüße Welt in Langenfelde besteht aus ei-ner gehörigen Portion Kreativität, viel Milch, gefrorenem Obst und Schneebesen, die so groß sind, dass Bibi Blocks-berg darauf reiten könnte. Doch dafür müsste sie früh auf-stehen, denn ein Arbeitstag beginnt für Speiseeis-Manufak-teur Steen und seine Mitarbeiter schon um sechs Uhr. Dann heißt es als erstes die Bestellfaxe zu sichten, die über Nacht von Eisdielen und Hofläden aus Hamburg und ganz Deutsch-land eingegangen sind. Danach plant er die täglichen Liefer-touren, die zwei eigene Kühlwagen und eine Tiefkühlspedi-tion ausführen. Und ab elf Uhr beginnt der Fabrikverkauf im Shop an die zahlreichen Otto-Normalverzehrer, die hierher pilgern – denn nicht nur Großkunden fühlen sich mit einem „Paradies Eis“ wie im siebten Himmel.

„Wir produzieren sehr kurzfristig“, sagt Steen. Jeden Morgen entscheidet er neu, welche Eissorten an diesem Tag angerührt werden – bis zu 15 können es sein, 48 Geschmacks-richtungen hat er im Programm. Der Trend in diesem Jahr? Na klar: „Fußballeis“ – schwarz-weiß gestreiftes Sahneeis, das als Kugel aufgerollt einem Fußball ähnelt. Und ganz op-timistisch: „Weltmeister-Eis“ in Schwarz-Rot-Gelb, eine Kombination aus Sahneeis (schwarz eingefärbt), Erdbeer-sorbet und Vanilleeis. Die Rezepte dafür hat der gelernte Hotelfachmann alle selbst geschrieben. „Im Groben ent-steht das Grundrezept am Computer“, dann wird in der Pro-duktion weitergetüftelt, bis der Geschmack passt.

Fertige Eismischungen und pflanzliche Fette kommen bei Steen nicht in die Waffel. „In unserem Eis ist noch das drin, was drauf steht, also Himbeeren, Erdbeeren oder Ha-selnussmark.“ Farbstoffe wie beim Weltmeister-Eis benutzt er selten, nur wenn Waldmeistereis nach Grün und sein „Blauer Engel“ nach Himmelblau verlangt. „Die Kids wollen das heute.“ Und Firmen, die die Herzen ihrer Kunden zum

Der Eis-Prinzim Paradies Nur aus besten Zutaten rührt Axel Steen von„Paradies Eis“ himmlische Schleckereien an wie die Weltmeister-Kugel in Schwarz-Rot-Gold.

TEXT: PETRA NICKISCH • FOTOS: THOMAS LEIDIG

Schmelzen bringen wollen: Für einen Autohersteller hat er einmal ein graues Eis angefertigt und musste dafür einen exakten Farbcode einhalten. Auch auf Messen oder Eröff-nungsfeiern greifen Unternehmen gern auf die Spezial-Kre-ationen des 39-Jährigen zurück und lassen sich werbewirk-same Eisbecher mit ihrem Logo liefern.

Von der Eispraline bis zur 300-Liter-Eisbombe hat Steen seit der Firmengründung vor zehn Jahren schon so manch exotischen Kundenwunsch erfüllt wie das Haselnuss-Eis aus Ziegenmilch für einen Hofladen oder Cocos-Eis mit Mango-Curry-Sauce für einen Edelimbiss. Über eine Super-marktkette in Hamburg verkauft der Eisdealer seine „Gour-met-Variation“: neun verschiedene Sorten von Marzipan bis Nougat, umhüllt von einer schwarzen Pappschachtel, jeder 80-Milliliter-Becher darin per Hand abgefüllt, jedes Etikett einzeln aufgeklebt. „Früher hat meine Freundin die Verpackungen abends noch mit einem Goldstift per Hand beschriftet.“ Mittlerweile sind die Bezeichnungen unter den Eisbechern in Goldbuchstaben aufgedruckt.

HANDGEMACHT

Elf Uhr, der rot-weiß gestreifte Paradies-Eis-Shop öffnet zum Fabrikverkauf. „Vorher geht es nicht, das ist hier unsere Anlieferzone.“ 1500 Liter Milch täglich kommen allein von Kruses Hof aus Rellingen. „Ich arbeite gern mit kleinen Fir-men aus der Region zusammen“, sagt Steen, der natürlich jeden Tag Eis isst, „aber nur löffelweise, keine Kugeln“. Die überlässt er seinen Endkunden, für 60 Cent das Stück. „Der Preis ist schön, aber nicht entscheidend.“ Steen möchte nicht möglichst billig produzieren, sondern Qualität liefern. Das hat sich herumgesprochen und zur Mittagszeit ist Fran-zi, die im Shop steht und nebenbei die „Gourmet-Variatio-nen“ packt, umringt von fünf Herren in knalligem Orange – die Stadtreinigung macht eine süße Pause.

Unterdessen wird im Produktionsraum fleißig Sahneeis aus der Eismaschine in Fünf-Liter-Schalen gepresst und mit Schokosplittern zu Stracciatella verfeinert. Steen arbei-tet derweil im Büro. „Wenn richtig Vollgas-Sommer ist, bin ich selten in der Produktion.“ Ach ja, der Vollgas-Sommer. Auf den warten wir alle. Darauf erst mal ein Eis.

Kontakt» Paradies Eis, Warnstedtstr. 16,Tel. 54 70 98 10, Mo – Sa 11 – 17 Uhr (April – September),www.paradies-eis.de

Cooler Typ: Axel Steen, 39, führt 45 Eissorten im Programm, 15 rührt

er jeden Tag an – wie das weiße Schokoladeneis mit Himbeersauce und

ganzen gerösteten Haselnüssen.Coole Sache: Die Eis-Manufaktur hat auch einen Hausverkauf – zu 60 Cent die Kugel.

› STIL & LEBEN

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MONTAG DIENSTAG MITTWOCH DONNERSTAG FREITAG SONNABEND SONNTAG