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In Dortmund entstehen Gutachten über die Qualität von Medizinberichten Der Fall Sarrazin und die Wissenschaft Das Thema Biodiversität verdient größere Beachtung Urteile Anklage Verdacht Über mündige Patienten und Qualität im Medizinjournalismus Ausgabe III / 2010 Medizinjournalismus Die Wissenschafts-Journalisten In Dortmund entstehen Gutachten über die Qualität von Medizinberichten Der Fall Sarrazin und die Wissenschaft Das Thema Biodiversität verdient größere Beachtung Urteile Anklage Verdacht Im Fokus: Gesundheit Über mündige Patienten und Qualität im Medizinjournalismus DAS MAGAZIN DER WISSENSCHAFTS-PRESSEKONFERENZ e.V.

WPK Quarterly 2010-3

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Qualität im Medizinjournalismus

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In Dortmund entstehen Gutachten über die Qualität von Medizinberichten

Der Fall Sarrazin und die Wissenschaft

Das Thema Biodiversität verdient größere Beachtung

Urteile

Anklage

Verdacht

Über mündige Patienten und Qualität im Medizinjournalismus

Ausgabe III / 2010MedizinjournalismusDie Wissenschafts-Journalisten

In Dortmund entstehen Gutachten über die Qualität von Medizinberichten

Der Fall Sarrazin und die Wissenschaft

Das Thema Biodiversität verdient größere Beachtung

Urteile

Anklage

Verdacht

Im Fokus: GesundheitÜber mündige Patienten und Qualität im Medizinjournalismus

DAS MAGAZIN DER WISSENSCHAFTS-PRESSEKONFERENZ e.V.

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2III/2010 WPK-Quarterly

EDITORIAL

Im Fokus: Gesundheit

Die Patienten von heute sind nicht mehr die von gestern. Und das hat Folgen für den Journalismus, speziell für den, der sich Gesundheitsthemen verschrieben hat. Es beginnt mit ihrer Zahl. Konnte man ehedem die Zahl der Patienten noch unmittelbar mit der der Kranken verknüpfen, ist das heute nicht mehr ohne weiteres möglich. Die Definition, wer Patient ist, hat sich be-trächtlich dadurch verändert, dass ge-rade auch Gesunde zu Patienten oder mindestens Nachfragern medizinischer Dienstleistungen geworden sind, die nicht der Therapie, sondern der Gesun-derhaltung dienen. Zudem sind auch die Vorstellungen von dem, was als „Kranksein“ zu gelten hat, nicht mehr dieselben wie vor vielleicht 30 Jahren. Mutmaßlich einerseits durch gestiegene Ansprüche körperlich-seelischen Wohl-befindens, andererseits durch erfolg-reiche Bemühungen von einschlägigen Anbietern, Nachfrage für ihre Produkte und Dienstleistungen zu schaffen. Da-durch dürfte sich die Größe des an die-sen Themen interessierten Publikums deutlich gesteigert haben.

Für den Journalismus vielleicht noch bedeutsamer und ursächlich für die gewachsene Bedeutung der Gesund-heitskommunikation im Allgemeinen, ist ein weiterer Aspekt: Der Wandel des Selbstverständnisses von Patienten, die heute eben nicht mehr nur dank-bare und passive Empfänger von Be-handlungsangeboten sind, die Ärzte unterbreiten. Ein ehedem (über-)großes Vertrauen in die naturwissenschaftlich fundierte ärztliche Berufsausübung und in die absolute Rechtschaffenheit von Medizinern weicht mehr und mehr dem Bewusstsein, eigenverantwortlicher über Behandlung und Gesunderhaltung entscheiden zu können oder gar zu müssen. Vieles spreche dafür, schrei-ben die Bielefelder Medizinsoziologen Petra Strodtholz und Bernhard Badura, „dass im 21. Jahrhundert Versicherten und Patienten eine einflussreiche Rolle zufallen wird,

(1.) weil Gesundheitswissen keine knappe Ware mehr (ist) und

(2.)(weil) Gesundheitskompetenz durch das hohe Bildungsniveau der Bevölkerung und durch die technisch

gestützte rasche Verbreitung neuer Erkenntnisse zur Alltagskompetenz ge-worden ist und

(3.)(weil) durch ein vergleichsweise hohes Durchschnittseinkommen Bür-gern, Versicherten und Patienten eine erhebliche Käufermacht zukommt“.

Es mag berechtigte Zweifel daran geben, dass die ziemlich optimistischen Einschätzungen der Verfügbarkeit von (verlässlichem) Gesundheitswissen und der Gesundheitskompetenz zutreffend sind. Es kann aber keinen Zweifel da-ran geben, dass ein auch nur partieller oder rudimentärer Vertrauensverlust in das, was die Ärzteschaft verschreibt und vorschlägt, einen enormen Infor-mationsbedarf nach sich zieht, auf den der Journalismus reagieren muss. Die Frage ist, wie?

In dieser Ausgabe stellen wir ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswertes Projekt der Initiative Wissenschafts-journalismus der TU Dortmund vor, den Mediendoktor. Ziel dieses Projek-tes ist es, die Qualität der Medizinbe-richterstattung mit Hilfe von Gutachten transparent zu machen und dadurch

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3III/2010 WPK-Quarterly

Editorial

Evidenz für alle?Über Möglichkeiten und Grenzen evidenzbasierter Medizinberichterstattung

Journalisten zur Visite:Der neue Medien-Doktor

Der Medien-Doktor:Ein Anstoß für eine konstruktive Debatte über Qualität im Medizinjournalismus

Interview: Qualität im MedizinjournalismusWeite, tiefe Täler zwischen himmelstürmenden Gipfeln

X ist ein Gen für Y!Eine Kritik am lustvollen Verbreiten genetischer Ursachen von Volkskrankheiten

Ein Rückblick: Der Fall Sarrazin und die Wissenschaft

Regional, kurz und nüchtern:Das Thema Biodiversität in deutschen Tageszeitungen

Einblicke in das Wissenschaftsreich der Mitte:Die China-Reise der WPK

Impressum

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zu steigern. Alexander Görke und Ju-lia Serong diskutieren für das WPK-Quarterly die Kriterien, von denen sich die zumeist journalistischen Gutachter leiten lassen sollen. Bemerkenswert ist dieses Projekt vor allem deshalb, weil diese Gutachten Einblicke versprechen in die Vertrauenswürdigkeit von ein-schlägigen massenmedialen Informati-onsangeboten.

Diese Gutachten können eins sicher nicht. Sie können das Grundproblem von Patienten nicht lösen, das sich aus dem partiellen Vertrauensverlust in die Ärzteschaft ergibt: Wie soll ich mich ent-scheiden?

Auch oder gerade gute Medizinbe-richterstattung sorgt eher für Beunru-higung, sie kann keine Sicherheit ver-mitteln. Im besten Falle kann sie dazu beitragen, einen vernünftigen Umgang mit Unsicherheit zu befördern. Sie kann Bereiche ausmachen, in denen Vertrau-en in wissenschaftlich geschulte Exper-ten, auf das jeder bei aller Mündigkeit prinzipiell angewiesen bleibt, unange-bracht ist.

Ein Weg dahin mag darin bestehen, wissenschaftliche Evidenz stärker als bisher zum leitenden Prinzip von The-menauswahl und Berichterstattung zu machen. Das schlägt Nicole Heißmann vor. Dies setzt aber erhebliche Investi-tionen in Recherche, Aus- und Weiter-bildung voraus, was letztlich zur ent-scheidenden Frage führt: Sind mündige Patienten bereit, den gewachsenen Be-darf an belastbaren Gesundheitsinfor-mationen zu bezahlen?

Darauf haben wir keine Antwort pa-rat, es fehlen aussagekräftige Befunde.. Wie viele Ausgaben vorher ist dieses Heft deshalb Werkstatt-Bericht, der An-regungen liefern mag, die das eigene Tun bereichern. Wir hoffen, dass es uns gelungen ist.

Markus Lehmkuhl

Markus Lehmkuhl

ist Projektleiter an der FU Berlin,

Arbeitsstelle Wissenschafts-

journalismus, und leitet die

WPK-Quarterly Redaktion.

Inhalt

]

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4III/2010 WPK-Quarterly

Also wozu das Ganze? Was kommt von all der Evidenz überhaupt bei Me-dienkonsumenten an? Und wollen die es überhaupt so genau wissen?

Empirisch lassen sich diese Fragen für den Journalismus bisher nicht be-friedigend beantworten. Es gibt näm-lich – Ironie des Schicksals – bisher keine direkte Evidenz dafür, dass Pati-enten von Journalisten evidenzbasiert über das Für und Wider medizinischer Methoden aufgeklärt werden wollen. Ob sie nach dem Lesen solcher Artikel oder dem Anschauen einer Fernseh-sendung aufgeklärter sind als zuvor, liegt ebenso im Dunkeln. Was nicht heißt, dass die Mühe vergebens ist, sondern nur, dass diese Fragen noch niemand so richtig untersucht hat.

Allerdings befassen sich viele Studi-en etwas weiter gefasst mit „Gesund-heitsinformation“; mit Gesprächen zwi-schen Arzt und Patient, mit Broschüren und Websites von Krankenkassen und Patientengruppen, mit dem Kenntnis-stand von Verbrauchern. Diese Ergeb-nisse sind für Medienmacher durch-aus interessant, weil sie aufzeigen, ob Patienten überhaupt informiert werden wollen, welche Art von Gesundheitsin-formation sie sich wünschen und was am Ende bei ihnen hängen bleibt.

Wollen Patienten mündig sein?

Diverse Umfragen belegen, dass Patienten bei ärztlichen Entscheidun-gen beteiligt werden wollen. Seit eini-ger Zeit befragt die Techniker Kran-kenkasse jedes Jahr 2000 Versicherte zwischen 18 und 70 Jahren – TK-Kunden und solche von anderen Kassen – nach ihren Wünschen und Bedürfnissen im deutschen Gesundheitssystem. Re-gelmäßig geben dabei zwei von drei

Versicherten an, gemeinsam mit ih-rem Arzt über Diagnostik und Thera-pie bestimmen zu wollen. Nur sechs bis zehn Prozent der Befragten wür-den die Entscheidung allein ihrem Arzt überlassen.

Auch in anderen Studien (Bertels-mann Gesundheitsmonitor 2002 bis 2004, European Patient of the Future 2003) liegt der Anteil derer, die zusam-men mit dem Arzt ihren Genesungs-prozess gestalten wollen, bei mehr als 55 Prozent. Die PIA-Studie Ruhrgebiet 2002 kam gar auf 77 Prozent.

Der Wunsch nach Mitbestimmung zieht sich durch alle Altersgruppen. Laut dem Bertelsmann Gesundheitsmonitor will sogar mehr als die Hälfte der chro-nisch Kranken, geplagt von Allergien, Gelenkproblemen oder Rückenschmer-zen, noch aktiv mitentscheiden. „Ärzte behaupten oft, dass vor allem alte Pa-tienten und chronisch Kranke gar kein Interesse an Mitbestimmung hätten, weil ihnen das zu anstrengend sei. Das stimmt aber nicht generell, die wollen durchaus beteiligt werden“, sagt Hardy Müller vom WINEG-Institut der Tech-niker Krankenkasse, der als Sprecher den Fachbereich Patienteninformation und -beteiligung im Deutschen Netz-werk evidenzbasierte Medizin vertritt.

Allerdings scheint der Weg vom frommen Wunsch zur aktiven Beteili-gung sehr weit: Selbst in den USA, wo evidenzbasierte Merkblätter und Web-sites für Patienten viel weiter verbrei-tet sind als in Deutschland, legen viele Kranke weiterhin eine passive Haltung an den Tag, sobald sie einem Doktor im Kittel gegenübertreten. Ihre Wert-vorstellungen und Verhaltensweisen seien nach wie vor „verwurzelt in tradi-tionellen Erwartungen an das Arzt-Pa-tient-Verhältnis“ schreiben die Autoren einer Untersuchung auf der Basis von Gruppendiskussionen mit Patienten, Interviews und einer Onlinebefragung, publiziert in der Juli-Ausgabe der Fach-zeitschrift Health Affairs. Dort heißt es weiter: „Viele Verbraucher dürften es schwierig finden, sich in eine aktivere und verantwortlichere Rolle zu bege-ben, in der man von ihnen erwartet, viele Teile der komplexen und teils wi-dersprüchlichen Evidenz zu verstehen und abzuwägen.“

Karen Sepucha vom Massachusetts General Hospital befragte Verbraucher zu 14 verschiedenen medizinischen

Früher waren die Zuständigkeiten klar verteilt: Der Arzt ist der Experte und der Patient vertraut darauf, was der Doktor empfiehlt. Spätestens seit Mitte der 90er Jahre ist dieses Verhältnis in Unordnung geraten. Damals gründete der kanadische Arzt und Epidemiologe David Lawrence Sackett das Centre for Evidence-Based Medicine im britischen Oxford. 1997 veröffentlichte er zusam-men mit Kollegen sein Standardwerk „Evidence Based Medicine“.

Mit der von Sackett und Kollegen vertretenen evidenzbasierten Medizin (ebM) etablierte sich eine Heilkunst, die ihre Entscheidungen auf wissenschaft-lich standardisierte Studien an Patien-ten gründet, statt sie der Erfahrung des einzelnen Arztes zu überlassen. Mit Hilfe von ebM beginnt sich das Verhält-nis von Arzt und Patient umzugestal-ten: vom agierenden Medicus, der den passiv Leidenden behandelt, zu einer Partnerschaft, in der ein Doktor seinen mündigen Patienten über die geplante Maßnahme informiert und beide ge-meinsam eine Entscheidung treffen.

Dass evidenzbasierte Medizin im Interesse der Verbraucher sein könn-te, weil sich damit Qualität im Gesund-heitsbetrieb überprüfen und transpa-rent machen lässt, hat sich längst auch in Journalistenkreisen herumgespro-chen. Viele informieren ihre Leser, Zu-schauer oder Hörer inzwischen mit Hil-fe von Fachartikeln aus Datenbanken wie der amerikanischen Pubmed oder der Cochrane Library.

Evidenzbasierter Journalismus kos-tet allerdings mehr Zeit und Nerven als eben schnell zwei Experten anzurufen. Praktisch nie reichen die Tage oder bestenfalls Wochen bis zur “Deadline“, um die wissenschaftliche Literatur zu durchdringen oder auch nur annähernd auszuwerten. Und nur selten hat man anschließend genug Zeilen oder Sen-dezeit, um Nutzen und Risiken einer Methode erschöpfend darzustellen.

Wenn Medizinjournalisten über Arzneimittel oder Medizin-produkte berichten, berufen sie sich auf Daten und klinische Studien. Was können Leser, Zuschauer und Hörer mit den Erkenntnissen der auf Evidenz basierten Medizin eigentlich anfangen?

Von Nicole Heißmann

Evidenz für alle?

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Entscheidungen und kam zu dem Er-gebnis, dass die meisten Entschlüsse immer noch dem Arzt überlassen wer-den. Außerdem dachten 46 bis 86 Pro-zent der interviewten Patienten (je nach medizinischem Problem unterschiedlich viele), dass es sehr wichtig sei „zu tun, was der Doktor für das Beste hält.“

Wollen Patienten evidenzbasiert

informiert werden?

Voraussetzung für bestmögliche Ent-scheidungen ist Information, zum Bei-spiel über Nutzen und Risiken einer Untersuchung oder Behandlung. Es scheint, als würden Patienten darüber gern besser als bisher informiert wer-den: Rund die Hälfte fühlte sich laut Bertelsmann Gesundheitsmonitor 2003 nicht umfassend durch ihren Arzt auf-geklärt. Gern hätten viele noch besser Bescheid gewusst über Vor- und Nach-teile einer Behandlung, die Therapie-Alternativen oder weitere Informations-quellen jenseits der Arztpraxis.

Auch eine Studie der kalifornischen Campaign for Effective Patient Care auf der Basis von 800 Patienten-Inter-views belegte 2009, dass Bedarf nach evidenzbasierter Information besteht: 92 Prozent der Patienten wollen, dass ihr Arzt klar benennt, welche Untersu-chung oder Therapie wissenschaftli-chen Daten zufolge die beste ist. Und 90 Prozent wollen es genau wissen, wenn der Nutzen einer Methode nicht wissenschaftlich belegt ist.

Macht ebM den Patienten

Angst?Gegen die Befürchtung vieler Ärzte,

Verbraucher würden durch evidenzba-sierte Informationen vor allem verunsi-chert, sprechen viele Ergebnisse der vergangenen Jahre: Ein Cochrane Re-view kam 2003 zu dem Schluss, dass Patienten nach dem Lesen von Merk-blättern über Vor- und Nachteile me-dizinischer Maßnahmen keineswegs

ängstlicher waren als vorher. Zum Teil fühlten sie sich hinterher sogar eher beruhigt, ansonsten waren sie so ent-spannt wie vorher.

Andere Untersuchungen deuten an, dass evidenzbasierte Information über verschiedene Therapieoptionen das Vertrauen in medizinische Entschei-dungen stärken können. Beziehen Ärzte ihre Patienten in Entscheidungen ein, machen die später bei ihrer Thera-pie zuverlässiger mit, sind zufriedener damit und profitieren auch gesundheit-lich eher von einer Behandlung.

Kommt ebM bei Patienten an?

In den USA sind evidenzbasierte Merkblätter, so genannte „decision aids“, schon längere Zeit in Umlauf und viel weiter verbreitet als in Deutsch-land. NGOs und Stiftungen haben sich der Vermittlung von Wissen über evidenzbasierte Medizin an Laien ver-schrieben. Allerdings scheinen die Er-gebnisse bislang eher ernüchternd:

Eine kürzlich in der Zeitschrift Medi-cal Decision Making publizierte Befra-gung von 2575 US-Amerikanern beleg-te, dass sich 36 Prozent der Patienten in Bezug auf ärztliche Entscheidungen für „extrem gut“ und 30 Prozent für „gut“ informiert hielten. Das Gefühl, be-sonders gut Bescheid zu wissen, spie-gelte sich aber kaum in Wissen wider – etwa wenn man die Patienten über Kebsfrüherkennung befragte.

Die bereits erwähnte Untersuchung der Campaign for Effective Patient Care kam zu dem Ergebnis, dass Patienten die wissenschaftliche Fundierung im Gesundheitswesen viel zu positiv ein-schätzen: 65 Prozent der Befragten gingen davon aus, alles oder fast al-les, was Ärzte mit ihnen anstellten, sei evidenzbasiert. Laut dem Institute of Medicine, das die US-Regierungen in Gesundheitsfragen berät, ist das aber nur bei weniger als der Hälfte aller ärztlichen Entscheidungen wirklich der Fall.

Eine „fundamentale Entkopplung zwischen zentralen Grundsätzen evi-denzbasierter Versorgung und Wissen, Wertvorstellungen und Überzeugun-gen vieler Verbraucher“ attestierten die

Autoren des oben genannten Artikels in der Zeitschrift Health Affairs. Die in Gruppendiskussionen, Interviews und via Internet Befragten empfänden Be-griffe wie „medizinische Evidenz“ oder „Leitlinien“ als fremd und verwirrend. Außerdem herrschte große Unsicher-heit darüber, ob Qualität im Gesund-heitswesen teuer sein muss oder nicht: 33 Prozent der online Interviewten glaubten, bessere Therapien müssten auch mehr kosten, 27 hielten das für falsch und 40 Prozent waren sich nicht sicher.

Darin liegt nach Meinung der Auto-ren eine große Gefahr: Kritisieren Wis-senschaftler mit Hilfe evidenzbasierter Methoden eine Maßnahme als teuer aber wenig nützlich, können Patienten das als verkappte Sparmaßnahme auf-fassen: „Natürlich werden die Verbrau-cher revoltieren, wenn evidenzbasier-te Bemühungen nur als Rationierung erlebt werden oder als ein Weg, ihnen notwendige Behandlung vorzuenthal-ten“. Die jahrelange Schlacht nach der Kritik an teuren Insulinanaloga durch das Institut für Qualität und Wirtschaft-lichkeit im Gesundheitswesen deutet an, wie berechtigt diese Sorge auch für Deutschland ist.

Hierzulande gibt es noch nicht so viele evidenzbasierte Informations-quellen für Patienten wie etwa in Groß-britannien oder den USA. Immerhin bemühen sich Krankenkassen, Fach-gesellschaften oder der Gemeinsame Bundesausschuss auch hierzulande seit einigen Jahren um wissenschaft-lich fundierte Gesundheitsinformatio-nen. Wie viel davon bislang die Patien-ten erreicht, ist weitgehend unbekannt. Was man weiß, gibt kaum Anlass zu Euphorie: Eine Arbeitsgruppe um Gerd Gigerenzer vom Berliner Harding Center am Max Planck Institut für Bil-dungsforschung untersuchte 2009, wie realistisch Konsumenten den Nutzen der Krebsfrüherkennung einschätzen.

Dazu befragten sie 10.000 Männer und Frauen in neun Ländern Europas, darunter auch die Bundesrepublik. Die Deutschen erwiesen sich als be-sonders schlecht informiert. So über-schätzten 92 Prozent der Frauen, wie viele Leben durch die Mammographie gerettet werden können, 89 Prozent der Männer schätzten den Nutzen von PSA-Tests auf Prostatakrebs unrealis-tisch hoch ein.

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schaftler Reportern gern empfehlen. Auch in absoluten Zahlen wird für Le-ser und Hörer noch nicht erlebbar, was die Ziffern mit ihnen persönlich, ihrer Krankengeschichte, ihren Hoffnungen oder Ängsten zu tun haben sollen.

Pharmafirmen haben diese Lektion gelernt und sprechen den mündigen Patienten längst auf die emotionale Tour an. Und während eingefleischte Evidenzler ob solcher Gefühlsduselei die Nase rümpfen, klicken Verbraucher munter auf Webseiten wie www.helden-der-liebe.de. Dort berichten Paare an-rührend von Beziehungsproblemen durch die erektile Dysfunktion des Man-nes. Liebevoll zusammengestellt von der Lilly Deutschland GmbH, die das Potenzmittlel Cialis vermarktet. Auf www.cholesterin.de findet sich das Journal „LDL - Lebe Dein Leben“, nebst Ratschlägen mit dem Tenor „...ein ge-sundes Leben kann auch Spaß ma-chen!“ Hinter der Seite steht die Pfizer Pharma GmbH, zu deren Produktpalet-te der Cholesterinsenker Sortis gehört.

Möglicherweise sind genau an dieser Stelle Medizinjournalisten gefragt: Ge-

schichten über Menschen zu erzählen ist schließlich unser täglich Brot. Ohne Panikmache, Werblichkeit, Rührselig-keit oder unangebrachten Optimismus. Dafür mit Anteilnahme, Neugier für persönliche Befindlichkeiten und nah am Patienten. Und hoffentlich noch ge-gründet auf Studien und Zahlen. Gern auch absolute.

Dass die Lage nicht hoffnungslos ist, deuten Umfrageergebnisse aus den USA an: Eine Minderheit von „early ad-opters“ beginnt sich mit den Konzepten und Prinzipien evidenzbasierter Medi-zin zu identifizieren. Vielleicht werden es ja mehr.

„Neun Walnüsse am Tag senken Bluthochdruck“, „Vitamin B könnte gegen Alzheimer helfen“, „Statine verringern das Risiko für Prostatare-zidive“. Täglich versorgen die Medien Leser, Zuhörer und Zuschauer mit den neuesten Meldungen darüber, welche Therapien, Wirkstoffe oder Produkte sie von Krankheiten, Leiden oder Zip-perlein befreien oder vor ihnen schüt-zen könnten. Neben herausragenden journalistischen Beiträgen finden sich mit schöner Regelmäßigkeit auch Artikel und Sendungen, die zwar als Dienst am Kunden daherkommen, sich bei genauer Betrachtung aber immer wieder als Bärendienst erwei-sen: Der Nutzen einer Therapie ist übertrieben dargestellt, auf Nebenwir-kungen wird gar nicht eingegangen, auf die kritische Einschätzung eines weiteren Experten wird verzichtet, die Pressemitteilung war die einzige

Quelle. Journalisten machen sich zum Sprachrohr von Medizinern und Phar-mafirmen, nicht zu ihrem kritischen Betrachter. Wer hat sich nicht schon über schlechte Medizinberichterstat-tung geärgert. Wie viele Menschen sich unnötig falsche Hoffnung durch falsche Berichte gemacht haben, hat leider noch niemand untersucht.

Seit einigen Jahren gibt es im Aus-land Projekte, die medizinjournalis-tische Beiträge auf Herz und Nieren überprüfen, bewerten und dann öf-fentlich im Internet kritisieren oder lo-ben. „Behind the Headlines“, „Media Doctor“ oder „HealthNewsReview“ heißen solche Projekte. Die einen ver-folgen einen eher deskriptiven Ansatz (Behind the Headlines), die anderen gehen – mehr oder weniger – syste-matisch vor nach einem festgelegten Kriterienkatalog. Im deutschsprachi-gen Raum sind es bisher vor allem

Blogs, die wiederholt vor allem Kritik über schlechten Journalismus äußern – Lob für gute Stücke findet sich eher selten.

Das ändert sich ab November 2010. Dann geht der deutsche Medien-Dok-tor online (www.medien-doktor.de). Angesiedelt ist das Monitoring-Projekt an der TU Dortmund am Lehrstuhl Wissenschaftsjournalismus von Holger Wormer. Unterstützt wird es von der Initiative Wissenschaftsjournalismus – und auch der WPK.

Regelmäßig bewertet ein Team von Gutachtern, darunter auch Mitglieder der WPK Qualitäts-AG, eine bestimmte Ka-tegorie medizinjournalistischer Beiträge: Artikel und Sendungen, in denen neue Therapien, Wirkstoffe, Nahrungsergän-zungsmittel oder auch diagnostische Tests vorgestellt werden. Die Gutach-ter folgen dabei einem Kriterienkatalog, den schon Vorgängerprojekte in Austra-lien, Kanada, Hong Kong (Media Doctor ) und den USA (HealthNewsReview) anwenden. Gemeinsam ist diesen Kri-terien die starke Orientierung an dem, was Leser und Zuschauer, Patienten und ihre Angehörigen an Informationen

Wozu evidenzbasierter Medizinjournalismus?

Wer als Wissenschaftsjournalist sei-ne Leser, Zuschauer, Hörer oder On-line-User halbwegs ernst nimmt, kommt nicht daran vorbei, sie so gut und um-fassend wie möglich zu informieren und dafür auch den Werkzeugkoffer der evidenzbasierten Medizin zu nutzen. Schließlich scheinen Verbraucher sich in Gesundheitsfragen mehr Transparenz und Information zu wünschen. Dass davon bisher wenig in der Öffentlichkeit angekommen ist, kann viele Ursachen haben: Vielleicht liegt es daran, dass Menschen sich eher nach einfachen Wahrheiten sehnen als nach komplexen Botschaften voller Fragezeichen.

Vielleicht kommen ebM und die Be-richterstattung darüber zu trocken und entpersonalisiert daher: Es ist nicht damit getan, in Artikeln absolute Häu-figkeiten statt relativer Wahrschein-lichkeiten zu verwenden, wie Wissen-

Von Marcus Anhäuser

]

arbeitet als Redakteurin

beim Stern in Hamburg.

Nicole Heißmann

Journalisten zur VisiteDer neue Medien-Doktor. Eine Vorstellung.

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7III/2010 WPK-Quarterly

zehn medizinjournalistischen Kriterien erfüllt und fünf Sterne bekäme, muss rein journalistisch betrachtet nicht un-bedingt Jubelstürme auslösen.

Präsentiert wird das Gutachten auf der Webseite des Projektes www.medien-doktor.de. Zu jedem Kriterium wird kurz begründet, warum wir es als „erfüllt“ oder als „nicht erfüllt“ betrach-ten. In einer Zusammenfassung wird die gesamte Bewertung (ausgedrückt in bis zu fünf Sternen) eingeordnet.

Das Prinzip Öffentlichkeit gehört zum Konzept der Monitoring-Projekte. Mit jeder Bewertung werden Journalisten daran erinnert, was ein medizinjour-nalistischer Beitrag unserer Meinung nach benötigt, damit Leser, Zuschauer und Zuhörer vollständig, ausgewogen und angemessen informiert werden. Wir hoffen, durch die Präsentation auf der Webseite Lerneffekte zu er-zielen, die nachhaltiger sind als man-ches Zwei-Tages-Seminar. Zugleich wollen wir den Kollegen eine zentrale Plattform für Medizinjournalismus be-reitstellen, auf denen sie Ressourcen

Ein Logo gibt es bereits. Die Website soll in Kürze online gehen.

finden, die ihnen z.B. dabei helfen, gute von schlechten Studien zu un-terscheiden oder schnell verlässliche Quellen für ihre Recherche zu finden. Und nicht zuletzt: medien-doktor.de soll gerade auch besonders guten und beispielhaften Beiträgen eine Platt-form bieten und zu mehr Aufmerksam-keit verhelfen.

Einen tollen medi-zinjournalisti-schen Artikel zu schreiben, kann eine große Herausforderung sein. Studien

und ihre Statistik zu verstehen, den Nutzen realistisch darzustellen, einen geeigneten Exper-ten zu finden, die Bedeutung für das tägliche Leben ei-nes Betroffenen zu erfassen. Doch wer ein paar Dinge berücksichtigt, der hat es leichter als mancher vermuten

mag. Mit dem Medien-Doktor wollen wir Journalisten helfen, ihre Leser und Zuschauer besser zu informieren.

benötigen, um sich ein vollständiges Bild zu machen. Dazu gehört, dass der Nutzen einer Therapie eben nicht über-trieben dargestellt wird, indem etwa nur die Senkung eines relativen Risikos für eine Erkrankung präsentiert wird, nicht jedoch das absolute. Dazu gehört auch, dass Nebenwirkungen, Kosten und Al-ternativen thematisiert werden, dass es eine Einschätzung gibt, wie neu ein Ansatz wirklich ist, dass klar wird, wann ein Mittel verfügbar ist oder wie gut die Evidenz der Studien ist. Wichtig für das Urteil eines Lesers oder Zu-schauers ist auch die Einschätzung von Medizinern, die nicht an der Studie beteiligt sind oder die Information, dass es sich um eine firmengespon-serte Untersuchung handelt.

Diese medizinjournalistischen Kri-terien ergänzt der deutsche Medien-Doktor durch allgemeinjournalistische Kriterien. Diese berücksichtigen stär-ker den redaktionellen Alltag von Jour-nalisten und die Faktoren, die ihre Ent-scheidung beeinflussen, ob ein Beitrag ins Blatt kommt oder über den Sender geht. Faktoren wie Aktualität und Re-levanz, Richtigkeit der Fakten oder die Art der Vermittlung fließen damit – an-ders als bei den internationalen Pro-jekten – stärker mit in die Bewertung ein. Damit lösen wir auch folgendes Problem: Ein Beitrag, der formal alle

Marcus Anhäuser

]

ist leitender Redakteur des Medien-Doktor.

Ein Anstoß für eine konstruktive Debatte über Qualität im Medizinjournalismus

diese kann ja durchaus beides sein: schmerzlich und spannend. In diesem Sinne startet mit dem Medien-Doktor.de in diesen Tagen ein gleich mehrfach spannendes Monitoring-Projekt, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, den deutschen Medizinjournalismus syste-matisch zu beobachten. Angesiedelt ist das Projekt am Lehrstuhl für Wissen-schaftsjournalismus der TU Dortmund

Wer beobachtet die Beobachter? Mit dieser Frage lässt sich nicht nur in Kriminalromanen trefflich operieren und in Arztpraxen eine Menge profes-sionelles Unbehagen stiften, sie hat auch mit Blick auf die Legitimität jour-nalistischer Selektionsentscheidungen und die Qualität der so entstandenen journalistischen Orientierungsangebo-te eine gewisse Tradition – und auch

Von Julia Serong und Alexander Görke

Der Medien-Doktor

. Gefördert wird es mit einer Anschub-finanzierung von 60.000 Euro von der Robert Bosch Stiftung, dem Stifterver-band für die Deutsche Wissenschaft und der BASF, die gemeinsam die „Initiative Wissenschaftsjournalismus“ tragen. Kernziel des Medien-Doktor ist es, die Qualität im Wissenschaftsjour-nalismus transparent zu machen und zur Diskussion zu stellen. Hierzu sollen

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täglich Berichte über medizinische The-men aus deutschen Medien ausgewählt und von externen Gutachtern bewertet werden. Die Gutachter sind selbst im Medizinjournalismus tätig, hinzu kom-men Gutachter aus der Wissenschaft (Warum nicht auch Gutachter aus der Gesundheitspolitik?). Entscheidend für den Erfolg des Medien-Doktors dürfte es vor diesem Hintergrund sein, ob und inwiefern es gelingt, Qualitätskriterien zu etablieren, die gleichermaßen im Journalismus als auch in der Journa-listik als Reflexionsdisziplin und in der Wissenschaft Zuspruch finden.

Beobachter beobachten – schön und gut, aber nach

welchen Kriterien?

Medien-Doktor.de verwendet – ge-mäß Absichtsbekundung – ein Set von insgesamt 13 Qualitätskriterien. Die zehn medizinjournalistischen Kriterien entsprechen denjenigen, die in ähnlich gelagerten Gutachterprojekten in den USA, Kanada und Australien verwendet werden. Da es den Dortmunder Medi-endoktoren aber auch ganz allgemein um die Qualität der Berichterstattung in Deutschland geht, haben sie weitere drei allgemein journalistische Kriterien in das Prüfungsraster mit aufgenom-men; Themenauswahl (für Faktoren wie Aktualität, Relevanz und Origina-lität (Kuriosität); Vermittlung (Form der Darstellung, Überschriften, Teaser Ver-ständlichkeit) sowie Quellentreue (Rich-tigkeit).

Warum eigentlich diese Differen-zierung? Soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass guter Medi-zinjournalismus nach anderen Beob-achterkriterien funktionieren muss als guter Politik-, Wirtschafts- oder gar Reisejournalismus? „Sauberer“ wäre es, wenn man zwischen allgemei-nen Qualitätskriterien (Unabhängig-keit, Transparenz, Neutralität etc) und fachspezifischen Anwendungs- bzw. Problemfeldern (Therapiekosten und – nutzen, Medikalisierung als Son-derform des Sensationalismus) unter-schieden hätte. Die Dortmunder haben die Kriterien allerdings übernommen, um Vergleichbarkeit herzustellen, was

durchaus eine gewisse Berechtigung hat. Immerhin soll nicht nur begutach-tet, sondern auch geforscht werden. Trotzdem wirkt die Ergänzung um drei allgemein journalistische Kriterien ir-gendwie halbherzig.

Die medizinjournalistischen Kriteri-en prüfen, ob der journalistische Bei-trag den Nutzen sowie die Risiken und Nebenwirkungen thematisierter Inno-vationen (z.B. Anwendungen, Medika-mente) benennt und möglichst quanti-fiziert; ob die Kosten diskutiert werden; ob die Methode oder das Produkt ver-fügbar sind und welche Alternativen es gegebenenfalls gibt. Weiterhin wird be-urteilt, wie valide und evident (ein Wort, das man zu mögen, lernen muss) die Studien sind; wie neu die Ergebnisse bzw. Verfahren sind; welche Interes-senkonflikte bestehen oder zu erwar-ten sind; schließlich, ob es sich bei dem behandelten Problem tatsächlich um eine ernstzunehmende Krankheit handelt oder ob nicht viel eher die pri-mär pekuniär interessante (Berichter-stattung über) Behandlung erfundener (Volks-)Krankheiten im Fokus steht. Schließlich lässt sich mit der Pathologi-sierung von Normalzuständen, die das Leben oder das Alter mit sich bringen, zwar einerseits eine Menge Geld ver-dienen. Andererseits ist beispielsweise nicht jede normale Mittvierzigerin allein schon deshalb krank, weil sie nicht dieselbe Knochendichte aufweist wie eine gesunde Frau mit Mitte zwanzig. In dem Maß, wie die Knochendichte altersbedingt abnimmt, wäre unse-re Beispielfrau nicht vergleichsweise krank, sondern ganz simpel 20 Jahre älter. Hierüber sachgerecht und ohne fremdinteressengeleitete Panikmache unter dem (vermeintlichen) Gütesiegel der (Volks-)Gesundheit aufgeklärt zu werden, ist eine sinnvolle Erwartung an seriösen Medizinjournalismus. Da-rauf zu achten, dass dieses Klassen-ziel nicht mehrheitlich verfehlt wird, ist lobenswert.

Naheliegend ist es daher auch für den Medien-Doktor vom Medizinjour-nalismus journalistische Unabhängig-keit in Bezug auf Informationsquellen einzufordern und diese auch zu prüfen. Bei Lichte betrachtet handelt es sich dabei aber nicht um ein ressort- oder gar themenspezifisches, sondern, wie schon angedeutet, um ein allgemein journalistisches Qualitätsmerkmal. Auch

ein Politikjournalismus, der sich einsei-tig vor den einen oder anderen Karren spannen lässt, verdient Kritik.

Die drei allgemeinjournalistischen Kriterien beziehen sich zum einen auf die Themenauswahl und nehmen die Aktualität sowie Relevanz bzw. Origina-lität eines Themas in den Blick, wobei anzumerken ist, dass es sich bei Rele-vanz und Originalität in gewisser Hin-sicht um divergierende Kriterien han-delt, wenn man sie an der Anzahl der betroffenen Rezipienten misst. So kann ein Beitrag zu einem sehr speziellen Thema zwar sehr originell, für die meis-ten Rezipienten aber irrelevant sein. Umgekehrt sind die relevantesten The-men meist nicht zwingend diejenigen, mit denen man Originalitätspreise ge-winnt – was nicht heißen soll, dass sich nicht auch ein hochrelevantes Thema originell erschließen lässt. Weitere Prüf-kriterien rücken zudem die journalisti-sche Darstellungsweise von Themen in den Fokus. Hierbei geht es dann um die sprachliche und strukturelle Verständ-lichkeit eines Beitrags sowie die Ver-mittlung eines Sachverhalts, also u. a. die Faktentreue, die Vollständigkeit und die Angemessenheit der Informations-leistung. Was aber tun, wenn auch die-se Qualitätskriterien sich am Ende als beobachterrelativ erweisen? Welchen Leser hat ein Beobachter des Medizin-journalismus im Kopf, wenn er seine Kriterien in Anschlag bringt? Etwa die Leser der Süddeutschen oder der Zeit oder die Leserinnen der Bildzeitung, die eine andere (aber nicht von vorneher-ein mindere) Relevanz, Originalität und sprachliche Verständlichkeit erwarten?

Auf den Schulternvon…: die Vorbilder

Medien-Doktor.de orientiert sich an dem US-amerikanischen Vorbild He-althNewsReview.org. Unter der Leitung von Gary Schwitzer (vgl. Interview) be-wertet ein Team von 28 Gutachtern täg-lich bzw. wöchentlich Berichte über me-dizinische Themen in mehr als zwanzig ausgewählten US-amerikanischen On-line-Angeboten von Zeitungen, Zeit-schriften und Nachrichtenagenturen so-wie einigen wenigen Rundfunksendern. HealthNewsReview.org beruft sich wie-

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Das Medizin-Monitoring der TU Dort-mund wirft eine Reihe von wichtigen Fragen in der Debatte über Qualität im Wissenschafts- und Medizinjourna-lismus auf. Eine zentrale Frage ist, ob bzw. inwiefern Leitwerte wie „accura-cy“ und „completeness“ vom (Fach-)Journalismus geleistet werden können und sollen. Betrachtet man den Wis-senschaftsjournalismus gleichsam als Transmissionsriemen der wissenschaft-lichen Forschung, so ist die Forderung nach Akkuratheit und Vollständigkeit der Information und Darstellung zwei-felsohne nachvollziehbar und sogar geboten. Allerdings stehen diese For-derungen im Widerspruch zur Funkti-on des Journalismus, Themen für die Öffentlichkeit (und eben nicht für die Wissenschaft) her- und bereitzustellen und auf diese Weise etwa eine autono-me Beobachtung der Medizin und der Wissenschaft in der Gesellschaft zu leisten. Die Nachrichtenwert-Forschung in der Publizistik- und Kommunikations-wissenschaft liefert bereits seit Jahr-zehnten einschlägige Studien über die Regeln der Nachrichtenauswahl und -darstellung im Journalismus, und der Wissenschaftsjournalismus bildet hier-von prinzipiell keine Ausnahme. Inso-fern ist es sicherlich sinnvoll, dass bei Medien-doktor.de im Unterschied zu HealthNewsReview.org eher Journalis-ten die Beurteilung von Beiträgen vor-nehmen und dies im Bewusstsein tun, dass wissenschaftliche und journalisti-sche Genauigkeit bzw. journalistische und wissenschaftliche Vollständigkeit a) nicht ein und dasselbe sind, es aber b) auch nicht sein müssen.

Ebenso auf der Hand liegt indes auch, dass sich die Frage nach der Qualität im Medizinjournalismus nicht in den journalistischen Einzelakteuren entscheidet. Wie in anderen Bereichen auch sind politische, rechtliche, tech-nologische und organisatorische Rah-menbedingungen zu beachten, die den Medizinjournalismus und seine vorhan-dene oder fehlende Qualität (mit) beein-flussen: Gesundheits- und Wirtschafts-politiker etwa, die Entscheidungen treffen, um die Zulassung bzw. Definiti-on neuer Medikamente auch unter Be-rücksichtigung von Standortfragen für die pharmazeutische Industrie neu zu regeln. Auch die Frage, ob Medizinjour-nalismus nicht ein redaktionelles Um-feld braucht, um Qualitätssicherung zu

derum auf das 2004 gestartete austra-lische Webangebot MediaDoctor.org.au und verfolgt nach eigenem Bekunden vor allem zwei Ziele: „Improving the ac-curacy of news stories about medical treatments, tests, products and proce-dures. Helping consumers evaluate the evidence for and against new ideas in health care.” (http://www.healthnewsre-view.org/who-we-are.php)

Die drei Leitwerte der Beurteilung sind „Accuracy, Balance, Comple-teness“ (http://www.healthnewsreview.org/who-we-are.php). HealthNews-Review.org verfolgt dabei eindeutig einen pädagogischen Ansatz. Es geht schließlich um die richtige Erziehung der Verbraucher: „We hold the bar high for quality in health care journalism be-cause it plays a major role in educating consumers. Consumers need to be well informed to make sound choices that affect their health and well being.” (http://www.healthnewsreview.org/how-we-rate-stories.php) Es verwundert da-her nicht, dass die meisten Gutachter von HealthNewsReview.org so wie von Media Doctor Australia und Media Doc-tor Canada selbst in der medizinischen Praxis tätig sind, nur die wenigsten ha-ben journalistische Berufserfahrung. Die Vorrangstellung der wissenschaftlichen Rationalität kommt in der Verpflichtung auf wissenschaftliche Qualitätskriterien zum Ausdruck. Von dieser einseitigen Festlegung auf den wissenschaftlichen Gutachterstatus abrücken zu wollen und sich für Stimmen aus dem Jour-nalismus zu öffnen, spricht für den in-novativen Ansatz des Medien-Doktors aus Deutschland, ist damit doch die Aussicht verbunden, das Monitoring näher an die journalistische Praxis und ihre Probleme zu rücken. Ebenso klar dürfte aber auch sein, dass das Qua-litätsurteil von Medizinjournalisten über Medizinjournalisten unter Konkurrenz-gesichtspunkten nicht unproblematisch ist, wie es übrigens immer dann der Fall ist, wenn Journalisten die eigene Zunft ins Visier nehmen (z.B. Medien- oder Krisenjournalismus).

Zu Risiken und Neben-wirkungen fragen Sie

Ihren Arzt oder …

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Alexander Görke

ist Professor für Wissenschafts-journalismus und Wissenskommu-nikation an der FU Berlin..

betreiben, gehört an diese Stelle (siehe hierzu unlängst die Debatte zwischen B. Schwentker und V. Stollorz in WPK- Quarterly III/2009, „Standpunkt: Pro Ressort / Contra Ressort“). Monitoring-Projekte wie der Medien-Doktor können vor diesem Hintergrund gewiss nicht alle Probleme lösen, die den Medizin-journalismus umtreiben und von ihm vielleicht sogar mit verursacht werden. Im Erfolgsfall kann der Medien-Doktor aber dazu beitragen, dass die Debatte um Qualität im (Medizin-)Journalismus nicht verebbt, sondern weiter geführt und vernetzt wird. Entscheidend sollte dabei wohl nicht sein, ob die Beurteilun-gen der einzelnen Beiträge konsensfä-hig sind oder nicht. Sie werden es nicht sein und das ist auch gut so. Wichtig ist vielmehr, dass die Beurteilungen fair und transparent erfolgen und dass sie geeignet sind, einen konstruktiven und mitunter vielleicht sogar spannenden Dialog anzustoßen: nicht nur zwischen Journalisten und Gutachtern, sondern auch zwischen Wissenschaftlern, Medi-zinern, Journalisten und ihren Publika.

Julia Serong

ist wissenschaft-liche Mitarbeiterin

am Lehrstuhl für Wissenschafts-

journalismus und Wissenskom-

munikation der FU Berlin.

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10III/2010 WPK-Quarterly

Zeilen-Stück, in dem Zusammenhän-ge aufgezeigt werden, in dem kritische Fragen gestellt werden, die Leser auf-klären darüber, wie Behauptungen über neue Therapien in die Welt kommen, ich würde wetten, dass mehr Leser das zuletzt genannte Stück wählen würden. Aber das ist letztlich ein Bereich, in dem sich große Forschungslücken auftun. Viele redaktionelle Entscheidungen sind durch das Fehlen von Erkenntnissen über die Leserschaft charakterisiert. Sie sind von den Instinkten der Redakteu-re geleitet, die ihr Publikum nicht so gut kennen wie sie sollten.

Trotzdem: Ist der einzelne Artikel überhaupt die Einheit, die für Quali-tätsbeurteilungen relevant ist? Oder doch eher die redaktionelle Einheit, die solche Artikel produziert?

Ich möchte zum Vergleich voran schi-cken, dass der Mediendoktor Australien und auch der Mediendoktor in Kanada die Leistungen von Redaktionen verfol-gen. Diese Webseiten ermöglichen es, die Performance von Redaktionen im Zeitverlauf zu vergleichen. Wir in den USA haben das aus unterschiedlichen Gründen noch nie gemacht. Der wich-tigste ist, dass wir eine möglichst große Anzahl unterschiedlicher Berichte aus unterschiedlichen Häusern begutachten wollen. Natürlich verfügen wir in diesem Land auch über eine sehr große Aus-wahl. Aber so häufig wir bisher auch begutachtet haben – wir zählen fast 1300 Gutachten in knapp fünf Jahren – so klein ist dennoch immer noch un-sere Stichprobe von Reviews, die sich auf eine einzelne Redaktion beziehen. Es wäre irreführend, auf dieser Basis irgendwelche Schlüsse zu ziehen, die sich auf die Arbeit der Redaktion allge-mein anwenden ließen. Allerdings den-ke ich schon darüber nach, ob dieser Aspekt einer der Probleme von Health News Review ist, der unserem breiten Ansatz geschuldet ist. Wir wollen nun einmal Artikel aus einer Vielzahl unter-schiedlicher Massenmedien begutach-ten. In kleineren Ländern mit kleinerer Zahl von Redaktionen mag man ver-lässlicher bestimmen können, wie gut oder schlecht einzelne Redaktionen im Zeitverlauf arbeiten.

Wie wählen Sie denn aus dieser Viel-zahl Artikel aus, die Sie begutachten lassen?

Kennen Sie den so genannten Me-diendoktor, der dieser Tage in Dort-mund seinen Dienst aufnimmt?

Ja, natürlich. Ich war im September in Dortmund und habe die Gutachter getroffen. Ich finde es sehr interessant, dass dieses Team hauptsächlich aus spezialisierten Journalisten besteht. Da-durch gewinnen sie in Dortmund eine andere Perspektive auf die Zeitungs-berichte als wir. Bei uns begutachten hauptsächlich praktizierende Medizi-ner die journalistischen Texte. Es wird interessant sein zu verfolgen, ob die deutschen Reviews die journalistischen Herausforderungen mehr würdigen als wir und ob sie zu konsistenteren Urtei-len kommen. Allgemein wird es interes-sant sein zu verfolgen, ob das deutsche Team anders urteilt.

Wenn man die Liste Ihrer Gutachter durchgeht, kommt die Frage auf, ob besonders die Mediziner die Unter-schiede der redaktionellen Ausstat-tung angemessen berücksichtigen bei ihren Urteilen. Man wird doch Artikel der New York Times anders beurteilen müssen als die in einer kleinen Zeitung, oder?

Ich bin da sehr strikt: Ich bitte die Reviewer, genau diese Unterschiede eben nicht in Rechnung zu stellen. Ich vertrete die Auffassung, dass man an-gesichts des Schadens, den schlech-te Medizinberichterstattung anrichten kann, nur eine Wahl hat: Entweder ich stelle Journalisten die notwendigen Ressourcen zur Verfügung, um adäquat

zu berichten, oder ich lasse es lieber ganz. Wer als Redaktion daran zwei-felt, in der nötigen Qualität über neue Behandlungsformen, ihren potentiellen Nutzen und ihre Risiken, berichten zu können, der sollte es einfach lassen. In der Konsequenz entschuldigen un-sere Gutachter nichts mit dem Mangel an redaktionellen Ressourcen. Deshalb unterscheiden wir nicht zwischen der New York Times und einer Regionalzei-tung, die meinetwegen in Minneapolis-Saint Paul erscheint, wo ich lebe. Viele meiner Nachbarn haben die New York Times, die Washington Post oder das Wall Street Journal nie gesehen. Sie entnehmen ihre Nachrichten und Neu-igkeiten aus der Medizin den Lokalzei-tungen. Deren Verantwortung ist daher groß. Unsere Erwartungen an sie soll-ten deswegen nicht kleiner sein.

Das Health Journalism Review ver-teilt bis zu fünf Sterne für Gesund-heitsberichte. Glauben Sie, dass sich ein fünf Sterne Bericht besser ver-kaufen lässt als einer mit einem oder keinem?

So weit ich sehe, gibt es keine gute Forschung darüber. Wäre ich ein Spie-ler, ich würde darauf wetten, dass Leser, die die Wahl hätten zwischen einem 120 Zeilen Bericht, der ausschließlich die Segnungen einer neuen Therapie besingt, ohne Risiken zu benennen, der keine Kosten thematisiert, keinen möglichen conflict of interest der Quel-len, keine Alternativen beschreibt und einem 500 oder meinetwegen 300

Wie gut ist die Medizinberichterstattung in den USA? Aus Anlass des Starts des deutschen„Mediendoktors“ sprach das WPK-Quarterly mit Gary Schwitzer, dem Herausgeber der Website Health News Review, der ein Team von etwa zwei Dutzend Gutachtern leitet. Seine Diagnose: es existiert eine erhebliche Kluft zwischen einigen wenigen Höchstleistungen investigativer Recherche und einer Fülle von desorientierenden Botschaften. 70 Prozent der knapp 1300 Berichte US-amerikanischer Massenmedien, die in den zurückliegenden viereinhalb Jahren von dem Team Health News Review begutachtet wurden, erfüllen Kriterien guter Medizinberichterstattung nur teilweise oder gar nicht.

Qualität im Medizinjournalismus: Weite, tiefe Täler zwischen himmelstürmenden Gipfeln

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zu berichten. Die Berichte zeigen nicht auf, welche Risiken einer Behandlung anhaften, egal, wie klein deren Nutzen auch sein mag. Und sie schaffen es nicht, die Kosten einer medizinischen Intervention in die Berichterstattung zu integrieren. Das sorgt zum Beispiel in den USA dafür, dass der Öffentlichkeit medizinische Interventionen vorgestellt werden als könnten Patienten wie Kin-der in einen Spielzeugladen gehen und ungeachtet der Kosten einpacken, was sie haben möchten. Diese Perspektive

macht es dem Publikum zum Beispiel schwer, über die Gesundheitsreform in-telligent nachdenken zu können.

Welchen Einfluss hat Health News Review?

Ich wünschte, ich könnte auf diese Frage eine verlässliche Antwort geben. Kann ich aber nicht. Wir schauen bei den Gutachten immer auf die Evidenz, deshalb muss ich meine Antwort einlei-ten mit dem Satz: Ich habe als Antwort auf diese Frage Anekdoten zu bieten, keine Evidenz. Ich stelle seit einem Jahr fest, dass dieses Projekt eine Zugkraft entfaltet, dass wir uns den Respekt und die Anerkennung von vielen Gesund-heitsjournalisten und auch Redaktionen erwerben. Das mache ich unter ande-rem daran fest, dass ich im vergangenen Jahr 70.000 Meilen zurückgelegt habe, um auf Tagungen von Journalisten über das Projekt zu sprechen. Außerdem

werde ich in Fortbildungen eingebun-den, um Nachrichtenjournalisten besser für Gesundheitsthemen zu rüsten, wer-de von mir unbekannten Journalisten kontaktiert, die mir versichern, unser Projekt hätte einen großen Einfluss auf ihre Arbeit. Aber nochmals: Wir wissen bisher wenig über unsere Wirkungen. Daher arbeite ich derzeit daran, ein ver-lässlicheres Feedback zu bekommen sowohl von den Journalisten als auch von den Nicht-Journalisten, die unsere Plattform nutzen.

Aber Sie werden doch wissen, wie viele Menschen Ihre Seite anklicken?

Ja, natürlich! Seit der Umstellung des Pools von Medien, die wir begutachten, haben wir eine auffallende Veränderung festgestellt. Vor Dezember 2009 war ich froh, wenn wir zwischen 700 und 1000 „unique visitors“ hatten, also einzelne Besucher der Seite. Seitdem haben sich diese Zahlen deutlich erhöht. Wir kommen heute auf etwa 4000 Besucher pro Tag auf der Seite. Ich weiß, dass diese Zahlen nicht viel sind verglichen mit kommerziellen Seiten. Aber für mich ist das eine unglaublich hohe Zahl. Wir machen keine Werbung, keine Promo-tion oder PR, trotzdem haben wir 4000 Besucher täglich.

Was wünschen Sie denn dem deut-schen Mediendoktor?

Ich wünsche den deutschen Kollegen einen so großen Impact, dass sie sich selbst überflüssig machen. Wenn wir unser Ziel erreichen und die Qualität im Medizinjournalismus in adäquater Wei-se befördern können, dann braucht man uns nicht mehr. Meine ehrliche Überzeu-gung ist zudem die, dass die Mission ei-nes solchen Projektes nicht nur auf den praktischen Journalismus gerichtet sein sollte, sondern vielmehr auch darauf, daran mitzuwirken, dass den Bürgern verlässliche Informationen über Medizin angeboten werden. Die können so ver-wirrt werden von sich widersprechenden Botschaften, die sie heute erhalten, dass sie nicht wissen, wohin sie sich eigentlich noch wenden sollen, wenn sie nach ver-trauenswürdigen Informationen suchen.

Mit Gary Schwitzer sprach Markus Lehmkuhl

http://www.healthnewsreview.org

Seit viereinhalb Jahren leitet Gary Schwit-zer das Health News Review in den USA.Es diente dem deutschen Mediendoktor als Vorbild.

Es muss sich um Artikel handeln, die Aussagen über die Wirksamkeit bzw. Sicherheit einer medizinischen Interven-tion enthalten. Das heißt, es muss um die Frage gehen, ob eine Behandlung, ein Test, ein medizinisches Produkt oder ein Verfahren wie etwa eine Diät wirken. Oder darum, wie sicher diese Interven-tionen sind.

Okay, aber wie können Sie überschau-en, was da tagtäglich veröffentlicht wird, das diesen Kriterien genügt?

Wir haben eine Stichprobe gebildet von Organisationen, deren Medizinbe-richterstattung wir überschauen können. Derzeit beobachten wir das, was die größten Zeitungen der USA berichten, zusätzlich haben wir drei Nachrichten-agenturen und mehrere populäre Web-seiten in der Stichprobe, zum Beispiel die von Time Magazine oder National Public Radio sowie CNN. Wir haben dieses Sample im vergangenen Jahr aus Variabilitätsgründen geändert. Vor-her hatten wir ausschließlich Zeitungen im Sample und die drei Fernsehsender mit der größten Reichweite. TV-Berichte begutachten wir seit einem Jahr nicht mehr. Einerseits waren die Fernsehbe-richte durch die Bank furchtbar. Und die wurden nicht besser. Zugleich aber war der technische Aufwand, den wir betrei-ben mussten , um diese Berichte begut-achten zu können, extrem hoch. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir das Interesse am Fernsehen verloren hät-ten. Im Gegenteil äußere ich mich nun in meinem Blog häufiger über die Qua-lität im Fernsehen als davor. Allerdings mache ich das nicht mehr auf der Basis von Gutachten, in denen unsere zehn Kriterien angelegt worden sind.

Wenn Sie ihre 1300 Gutachten über-blicken. Wie beurteilen sie denn die Qualität der Gesundheitsberichter-stattung in den USA?

Das ist selbstverständlich extrem schwierig zu sagen. Ich beobachte im Grunde zweierlei. Zum einen sehen wir Beispiele für investigativen Medizinjour-nalismus in einer Qualität, die niemals höher war als heute. Unglücklicherweise sehen wir aber zwischen diesen Gipfeln, die in den Himmel ragen, ausgedehnte, tiefe Täler. 70 Prozent der knapp 1300 Artikel, die wir begutachtet haben, schaf-fen es nicht, in einer angemessenen Weise über medizinische Interventionen

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das Y greife man sich ein Syndrom aus dem Füllhorn der Erkrankungen und Verhaltensweisen.

Mit Blick auf die X-ist-ein-Gen-für-Y-Forschung werden jetzt jedoch Stim-men laut, die da rufen: An den Befun-den ist in Wahrheit ja nicht viel dran!

Die Rufer stoßen sich an den Ergeb-nissen aus der Erforschung der so ge-nannten polygenen Krankheiten; Volks-leiden, die mit einer ganzen Fülle von Faktoren zusammenhängen. Die aller-meisten Assoziationen, die der Öffent-lichkeit als Krankheitsgene dargeboten werden, entpuppen sich bei näherer Betrachtung als geschickte und klinisch unbedeutende Hervorbringungen der Statistik. Dass Forscher Risikogene gefunden hätten, die diese Bezeich-nung auch verdienen, beschränkt sich auf wenige Beispiele, die man an einer Hand abzählen kann.

Die Gruppe um den Epidemiologen John Ioannidis hat sämtliche verfüg-baren genomweiten Assoziationsstu-dien zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen ausgewertet. Bis zum Stichtag (20. September 2008) hatten Forscher 95 verschiedene Assoziationen angehäuft. Ioannidis prüfte davon nun jene 28 Zu-sammenhänge, die statistisch noch am besten abgesichert waren. Es ging um genetische Assoziationen, die Forscher für Herzinfarkt, Arteriosklerose, Kör-pergewicht, Blutfette, Typ-2-Diabetes mellitus und die Nikotinsucht gefunden haben wollten.

Die Zusammenhänge mochten ma-thematisch „signifikant“ sein – einen praktischen Nutzen haben sie nicht. John Ioannidis drückt es so aus: „Ver-besserungen in der Vorhersage, die auf den derzeit verfügbaren Markern beruhen, sind klein, wenn sie denn überhaupt vorhanden sind. Ein klini-sches Omen ist noch nicht ausreichend abgesichert. Obwohl man sich über die neuen Möglichkeiten für mehr Entde-ckungen begeistern könnte, kann man es gegenwärtig nicht rechtfertigen, die-se Marker in der täglichen klinischen Praxis und in der Gesundheitsvorsorge einzusetzen.“

Doch in den Medien werden solche Befunde kaum vermeldet, lieber werden immer neue Entdeckungen der Geneti-ker unkritisch unters Volk gejubelt. Vor kurzem war es das Kettenraucher-Gen, das Aufsehen erregte. In gleich drei Stu-dien mit mehr als 140 000 Menschen

Es vergeht kaum eine Woche, in der Forscher nicht die Entdeckung eines neuen Krankheitsgens verkünden. Mehr als 850 sogenannte DNA-Assoziationen haben sie ausgemacht, die angeblich mit mehr als 70 häufigen Krankheiten zusammenhängen. „Eine erfolgsver-sprechende Methode hält weltweit Ein-zug in die Labore der Humangenetiker und genetischen Epidemiologen“, sagen Mitarbeiter der Technischen Universität München. „In genomweiten Assoziati-onsstudien identifizieren sie Gene, die das Risiko für Volkskrankheiten erhöhen“ – für die Gelehrten „ein Forschungsan-satz mit Erfolgsgarantie“.

Mit Erfolg kann klinischer Nutzen allerdings nicht gemeint sein, sondern wohl eher die Kunst, das Datenmate-rial so lange zu bearbeiten, bis ein statistisch relevant erscheinender Zu-sammenhang herauskommen mag. Es ist nur eine Frage der Mathematik, eine Assoziation herbeizuzaubern, die dann in der Öffentlichkeit das Gen der Woche abgibt. Ein Blick in Tageszei-tungen und Nachrichtenportale offen-bart, wie lustvoll Journalisten mitma-chen, wenn es gilt, die vermeintlichen Fundstücke der Genforscher im Volk bekannt zu machen.

So gibt es angeblich das Gen für Herzinfarkt, für Übergewicht, für unru-hige Beine, für Legasthenie, für locki-ges Haar, für Haarausfall, für vorzeiti-ges Altern, für weiblichen Bauchspeck, für Schweißgeruch, für Narkolepsie (Schlummersucht), für das biologische Altern, für Gallensteine, für Verfolgungs-wahn, für Transsexualität, für Treue, für Langzeitgedächtnis, für drei Prozent Intelligenz, für Starrsinn, für schlechtes Autofahren.

Es ist eine Liste, die sich nach einer einfachen Formel verlängern lässt: „X ist ein Gen für Y.“

Für das X setzte man einen Abschnitt aus dem menschlichen Erbgut ein; für

glauben Forscher eine biologische Wurzel für das Qualmen gefunden zu haben: Die Gene würden entscheiden, wie viele Zigaretten sich ein Mensch am Tag ansteckt.

Rauchen sei ein „genetisch beding-tes Laster“, „Gene geben den Rau-chern den Takt vor“, „Forscher finden Kettenraucher“ und „Gene schuld an Rauchverhalten“ – diese Schlagzeilen haben die Runde gemacht. Nachfra-gen bei einem der beteiligten Wissen-schaftler, beim Mediziner Hans-Jörgen Grabe von der Universität Greifswald, ergeben ein anderes Bild. Entscheiden die Gene, ob ein Mensch zum Raucher wird? „Bei aller Liebe“, räumt Grabe ein, „da hat man wohl nichts gefunden.“ Was ist mit dem Einfluss der Gene auf die Menge der täglich gerauchten Ziga-retten? Hier verweisen die Forscher auf einen „signifikanten“ Effekt: Wer zwei bestimmte Genvarianten (von Mutter und Vater) hat, der raucht am Tag 0,75 Zigaretten mehr als ein Mensch mit ei-ner dieser Varianten und 1,5 Zigaretten mehr als ein Mensch ohne „Risiko-Va-rianten“.

Dieses Ergebnis ist ein Witz: Zwei Raucher haben in der Kneipe jeweils zwei Schachteln weggequalmt. Der eine drückt die letzte Kippe aus, der andere hingegen öffnet eine weitere Schach-tel, zündet noch Zigarette Nummer 41 an, raucht sie und sagt entschuldigend: „Was soll ich machen? Ich habe doch dieses blöde Kettenraucher-Gen.“

Lustvoll werden von Jour-nalisten immer wieder vermeintlich genetische Ursachen von verbreiteten Krankheiten unters Volk gebracht. Eine Kritik!

Von Jörg Blech

X ist ein Gen für Y

Jörg Blech

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ist Mitglied der „Spiegel“-Redaktion.

Der Text ist ein gekürzter Auszug

aus Jörg Blechs Buch „Gene sind

kein Schicksal“ (18, 95 Euro, 286 Seiten),

das kürzlich im S. Fischer Verlag

erschienen ist.

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risch die Mühe gemacht, Sarrazins Behauptungen auf ihren Wahrheits-gehalt zu prüfen. Sind seinen Quellen gefolgt. Sind en detail in die Diskus-sion eingestiegen, ob Intelligenz denn nun vererbbar ist, zu 50 oder zu 80 Prozent. Haben sogar mitunter ver-sucht zu interpretieren, was der „Gen-Laie“ Sarrazin in seinem verbalen Feldzug gegen die Sarrazenen denn gemeint haben könnte. Vielen Texten war anzumerken, dass es den Auto-ren nicht nur darum ging, das Thema zu „bedienen“, sondern gegen den gar nicht mehr so subtilen Rassismus anzuschreiben, der auf den Internet-seiten aus so manchem Kommentar-Thread quoll.

Doch je mehr in den Wissenschafts-ressorts über Sarrazin geschrieben wurde, umso deutlicher drängte sich die Frage auf: Welche Relevanz ha-ben wissenschaftsjournalistische Texte über Genetik und Intelligenzforschung überhaupt für die politische Debatte um die Integration kulturell und eben nicht genetisch definierter Bevölke-rungsgruppen wie „den Muslimen“? Die wissenschaftliche Debatte um die Vererbbarkeit von Intelligenz, die Su-che der Forscher nach nie gefundenen Intelligenz-Genen, die Schwierigkeit der Messbarkeit von Intelligenz – das ist alles interessant. Aber selbst wenn die Forschung belastbare Fakten prä-sentieren könnte (was keineswegs der Fall ist), kann und darf doch Genetik keine Rolle für politische Erwägungen spielen. Schon gar nicht in einem Land, das die Folgen einer solchen vermeint-lich wissenschaftlichen Eugenik kennt (weshalb Sarrazin in seinem Buch auch nie von Eugenik, sondern schlau verschleiernd nur von Dysgenik, dem Gegenteil, spricht).

Der Wissenschaftsjournalismus ist in der Sarrazin-Debatte an eine Gren-ze gestoßen, die er gegenüber dem

Der Wissenschafts-journalismus ist in der Sarrazin-Debatte an eine Grenze gestoßen

Von Sascha Karberg

Einen Text zu schreiben, in dem die Worte „Juden“ und „Gene“ vorkom-men, sollte man nie auf die leichte Schulter nehmen. Das war mir durch-aus bewusst, als mich Mitte Juni die Jüdische Allgemeine überredete, auf die Schnelle über die jüngsten geneti-schen Studien zu berichten, die die ge-schichtlich überlieferte Diaspora des jü-dischen Volkes bestätigen (http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/7637). Allerdings konnte ich nicht ah-nen, dass dieser Text Wochen später teilweise als vermeintlicher „Beleg“ für die Äußerungen von Thilo Sarrazin (ins-besondere den „Alle Juden haben ein Gen“-Spruch) von Bloggern, Journalis-tenkollegen und Lesern zitiert werden würde. Ich hatte eher damit gerechnet, dass der Nachweis gemeinsamer ge-netischer Wurzeln von weltweit ver-streuten Juden und arabischen Volks-stämmen im Nahen Osten als politische Legitimation für den Staat Israel heran-gezogen werden könnte. Vorsorglich hatte ich in dem Text also darauf hin-gewiesen, dass es „die Verantwortung der gegenwärtigen Generation“ sei, die genetischen Analysen „politisch nicht zu missbrauchen.“ Doch genau eine solche politische Instrumentalisierung von Genforschung fand dann im Zuge der Sarrazin-Debatte statt.

Hat der deutsche Wissenschafts-journalismus darauf adäquat reagiert? Es ist allein aufgrund der Masse der Texte unmöglich, die Berichterstattung in Deutschland zu Sarrazins Thesen nachzuzeichnen. Viele Kollegen ha-ben sich gewissenhaft und aufkläre-

Der ehemalige Finanzsenator Berlins und ehemalige Bundesbank-Vorstand, Thilo Sarrazin, hat eine so gewaltige Debatte entfacht, dass jedes weitere Wort ganz kraftlos, ganz müde daherkommen mag. Viele Wissenschaftsjournalisten haben sich verdient darum gemacht, zentrale, scheinbar naturwissenschaftlich fundierte Behauptungen Sarrazins als falsch oder mindestens unzulässig verkürzt zu entlarven. Wir haben drei von Ihnen gebeten, zurück zu blicken und uns ihre Sicht auf diese Debatte zu schildern.

Der Fall Sarrazin und die Wissenschaft: Ein Rückblick

Leser nicht deutlich genug klargemacht hat. Das bloße Führen der im Grunde akademischen Debatte um Gene und Intelligenz oder um die Existenz vor- bzw. nachteiliger Genvarianten bei „Ju-den“ oder „Muslimen“, lässt nämlich sonst den Eindruck entstehen, dass die Politik „richtig“ handeln könnte, sobald die Forscher das komplexe Geflecht von Genen, Intelligenz und Genpool besser verstanden haben. Natürlich müssen Wissenschaftsjournalisten zu-nächst erklären, dass Sarrazins biolo-gistische Begründungen für seine im Kern eugenischen Empfehlungen an die Politik gar keine biologische Grund-lage haben. Aber sie müssten auch da-rauf hinweisen, dass die Integrations-Politik selbst dann keinen eugenischen Prinzipien folgen darf, wenn es denn tatsächlich so etwas wie ein Defizit an „Intelligenz-Genen“ bei irgendeiner Be-völkerungsgruppe geben würde. Gen-unterschiede hin oder her, per Men-schenrecht sind Menschen gleich.

Genetik und Kultur sind unterschied-liche Kategorien, denn Menschen sind oder werden nicht wegen ihrer gene-tischen Herkunft isoliert, sondern auf-grund ihrer kulturellen Identität, also erlernten Traditionen und Moralvor-stellungen. Um diese kulturellen Un-terschiede im gesellschaftlichen Mit-einander zu integrieren, gibt es viele sinnvolle politische Ansätze. Aber po-litisch mit Genen zu argumentieren ist immer falsch.

Über die Erblichkeit von Intelligenz muss man immer wieder aufklären

Von Jörg Albrecht

Wir fühlten uns erst einmal nicht zu-ständig für das Thema Migration. Als

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14III/2010 WPK-Quarterly

dann Sarrazins Ausführungen zur Erb-lichkeit von Intelligenz in den Mittelpunkt rückten, war unsere erste Reaktion: Oh nein, nicht schon wieder. Wer ein paar Jahre im Wissenschaftsjournalismus zugebracht hat, weiß, dass dieselbe Debatte mit denselben Argumenten ungefähr alle zehn Jahre geführt wird. Aber wie schon Wolfram Siebeck ge-sagt hat, als ich ihm mal vorwarf, schon wieder zu erklären, wie ein Kartoffelgra-tin geht: Das muss man immer wieder machen, weil ja immer wieder neue Le-ser nachwachsen.

Volker Stollorz und ich haben uns dann darauf beschränkt, drei Behaup-tungen Sarrazins unter die Lupe zu nehmen, die unserer Ansicht nach in den Zuständigkeitsbereich des Wissen-schaftsressort fallen. Erstens: Deutsch-lands Intelligenz sei kollektiv im Sink-flug, weil muslimische Migranten einen immer größeren Prozentsatz der Bevöl-kerung stellen. Zweitens: Intelligenz sei nicht nur eine Frage des gesellschaftli-chen Umfelds, sondern „zu fünfzig bis achtzig Prozent erblich.“ Drittens: Es sei schließlich bewiesen, dass „alle Ju-den ein bestimmtes Gen teilen“.

Letzteres ließ sich schnell gerade rücken: Es gab ein paar aktuelle und viele ältere Abstammungsstudien und die bekannten Häufungen bestimmter Erbkrankheiten in manchen jüdischen Bevölkerungsgruppen, die allerdings nichts mit der Verteilung von Intelligenz zu tun haben. Die interessante Frage, ob es irgendwo in der jüdischen Dia-spora tatsächlich einen Anpassungs-druck in Richtung höherem IQ gege-ben hat, haben wir ausgespart; einige Autoren behaupten das, aber dazu hätte man einen eigenen Artikel schrei-ben müssen.

Die Frage nach der Aussagefähigkeit von Intelligenztests und dem, was Zwil-lingsstudien aussagen, haben wir etwas ausführlicher behandelt, in der Hoff-nung, zur Verständlichkeit des Begriffes Heritabilität beigetragen zu haben. Die Behauptung, es gebe klar definierte na-tionale oder ethnische IQ-Unterschiede konnten wir durch Offenlegung der Quellen ad absurdum führen.

Inzwischen scheint vorerst wieder Ruhe an dieser Front zu herrschen. Aber ich bin sicher, die Frage nach der Erblichkeit von Intelligenz taucht irgend-wann wieder auf. Und dann müssen wir und andere eben wieder ran.

Sarrazins zentrale Be-hauptungen zur Biologie, Genetik und Intelligenz sind irreführend und unsinnig

Von Jörg Blech

Das Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin enthält provo-kante Behauptungen zu Biologie und Genetik – doch stimmen sie überhaupt? Für die Berichterstattung im SPIEGEL (Nr. 36/2010) habe ich die wesentlichen Behauptungen einem Faktencheck un-terzogen. Auf Seite 316 des Buches heißt es etwa: „Ganze Clans haben eine lange Tradition von Inzucht und entsprechend viele Behinderungen. Es ist bekannt, dass der Anteil der an-geborenen Behinderungen unter den türkischen und kurdischen Migranten weit überdurchschnittlich ist. Aber das Thema wird gern totgeschwiegen. Man könnte ja auf die Idee kommen, dass auch „Erbfaktoren“ für das Versagen von Teilen der türkischen Bevölkerung im deutschen Schulsystem verantwort-lich sind.“ Anders als behauptet, wird das angebliche Phänomen nicht tot-geschwiegen, sondern es gehört zum Allgemeinwissen der Humangenetik. Im Bericht von 2008 zu „Migration und Gesundheit“ des Robert Koch-Instituts etwa steht: Genetische Erkrankungen würden „gehäuft bei türkischstämmi-gen Kindern, aber auch bei Kindern aus dem Mittleren und Nahen Osten und aus Nordafrika (Marokko) beobachtet“. Der Grund sind Ehen in Großfamilien. Bei ihnen steigt die Wahrscheinlichkeit für Erbleiden beim Nachwuchs, und zwar auf acht Prozent, wenn der Cou-sin mit der Cousine ein Kind zeugt. Zum Vergleich: Bei Eheschließungen mit Nicht-Verwandten liegt das Risiko bei vier Prozent. Rechtfertigt das Sar-razins Versuch, solche Krankheitsfälle als Beispiele für „Erbfaktoren“ ins Spiel zu bringen, die angeblich zu schlechten Leistungen von Teilen der türkischstäm-migen Schüler führen? Für unseren SPIEGEL-Bericht (Nr. 36/2010) habe ich Bernhard Horsthemke vom Institut für Humangenetik des Universitätskli-nikums Essen angerufen und gefragt, was er davon hält. Er sagt: „Das ist Quatsch. Man kann nicht von extrem seltenen angeborenen Erkrankungs-fällen auf die Intelligenz einer ganzen

Gruppe schließen.“ Dass Sarrazin zwi-schen Volksgruppen gerne relevante genetische Unterschiede sähe, zeigt wiederum seine Äußerung in einem Interview in „Welt am Sonntag“: „Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen, Bas-ken haben bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden.“ Diese Aussa-ge enthält ebenfalls eine Tatsachenbe-hauptung, die aus wissenschaftlicher Sicht eindeutig bewertet werden kann. Und sie ist falsch. Die genetische Aus-stattung aller Menschen geht nämlich auf eine Gründerpopulation von rund 10000 Individuen zurück. Das sagt auch von Diethard Tautz, der Präsident des Verbandes Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland, den ich angerufen habe und im SPIEGEL zitie-re: „Alle Gene des Menschen gab es bereits in dieser Population, und diese Gene sind in sämtlichen heutigen Volks-gruppen zu finden.“ Nicht nur die gene-tischen Unterschiede zwischen Ethnien gibt Sarrazin falsch wieder. Auch seine Hauptthese, die Ausführungen zur In-telligenz, hält der Überprüfung nicht stand. „Menschliche Intelligenz ist zu 50 bis 80 Prozent erblich“, schreibt er – und unterstellt damit, es sei eine Illusion zu glauben, die geistigen Fähigkeiten ließen sich durch Förderung wesentlich verändern.

Diese Aussage hat aber keinen wis-senschaftlichen Sinn. Angaben zur Erblichkeit beziehen sich nämlich nicht auf die Intelligenz eines Individuums, sondern auf die Unterschiede in der Intelligenz zwischen Personen. Wenn man Kinder aus der Oberschicht tes-tet, machen die Gene etwa 50 Prozent der Intelligenzunterschiede aus. Ganz anders sieht es aus, wenn man Kinder aus der Unterschicht testet: IQ-Unter-schiede gehen nahezu vollständig auf sozioökonomische Faktoren zurück, ein Effekt der Gene ist fast nicht zu messen. Die Erklärung, wie ich sie im SPIEGEL formuliere: Die von Armut und Stress geprägten Familienverhält-nisse haben das genetische Potential unterdrückt. Die schwächeren dieser Kinder werden also mitnichten dumm geboren – gerade sie würden von För-derprogrammen besonders stark pro-fitieren. Fazit: Es braucht keinen hal-ben Tag Recherche, um zu erfahren: Sarrazins zentrale Behauptungen zur Biologie, Genetik und Intelligenz sind irreführend und unsinnig.] ]

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15III/2010 WPK-Quarterly

Täglich sterben weltweit vermutlich mehr als 130 Tier- und Pflanzenarten aus. Das Klima verändert sich, Lebens-räume werden unwiederbringlich zer-stört. Doch während der Klimawandel und seine Folgen in den Medien einen prominenten Platz eingenommen ha-ben, ist die Berichterstattung über die schwindende Artenvielfalt oft gerade mal eine Randnotiz wert, findet auf Lokalseiten statt und schafft es nur selten auf die Titelseiten deutscher Printmedien.

Nie starben in der Geschichte der Menschheit so viele Arten aus, wie heu-te. Schätzungen gehen davon aus, dass die Aussterberate 100- bis 1000-mal hö-her liegt, als in den Jahrhunderten vor der Industrialisierung. Weltweit nimmt die Biodiversität ab, also nicht nur die reine Anzahl der Spezies, sondern auch die genetische Variabilität innerhalb ein-zelner Arten. Und das mit bislang nicht absehbaren Folgen. Wie Ökosysteme, in denen wichtige Tiere und Pflanzen ausgestorben sind, auf extreme Wetter-eignisse und ein sich veränderndes Kli-ma reagieren, ist weitgehend ungeklärt. Doch in den Medien spielen diese Unsi-cherheiten oft nur eine untergeordnete Rolle. Weniger die Wissenschaftsres-sorts, sondern vielmehr die Lokal- und Regionalseiten greifen die Bedrohung einzelner Arten auf, thematisieren mög-liche Folgen jedoch oft nicht. Von der Darstellung als Katastrophe und einer emotionalen Berichterstattung kann nicht gesprochen werden.

Das hat eine Analyse der Berichter-stattung über die Biodiversität gezeigt, für die Artikel aus sieben deutschen Printmedien ausgewertet worden sind. Darunter Leitmedien wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Süddeutsche Zeitung (SZ), Spiegel und Zeit sowie die Regionalzeitungen Westfalenpost (WP) und Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) und – als Vertreter der Boule-vardmedien – die Bild-Zeitung. Mittels Stichworten wie Biodiversität, Arten-vielfalt, Artensterben und Artenreichtum wurden 223 Artikel im Zeitraum von April bis Juni 2008 ausgewählt und mit einer quantitativen Inhaltsanalyse aus-gewertet. Um die zeitlichen Trends von April bis Juni mit langfristigen Entwick-lungen abzugleichen, wurde zudem das Statistik-Tool „Google-Trends“ hinzu ge-zogen. Im Untersuchungszeitraum fand in Bonn die 9. UN-Vertragsstaatenkon-ferenz des Übereinkommens der Biolo-gischen Vielfalt“ statt (engl.: Convention on Biological Diversity, CBD).

Die Analyse zeigt, dass die Bericht-erstattung in dem genannten Zeitraum stark ereignisorientiert war: Die meisten Artikel zum Themenfeld Biodiversität erschienen in den Wochen während der CBD-Konferenz. Auch der Vergleich mit längeren Zeiträumen (mittels Google-Trends) macht deutlich, dass der Ar-tenvielfalt im Mai 2008 ein überdurch-schnittliches Maß an Aufmerksamkeit entgegen gebracht worden ist. Die Be-richterstattung über die Biodiversität fin-det jedoch nicht primär auf den Wissen-

schaftsseiten der Printmedien (lediglich 10 Prozent aller Artikel) statt, sondern vielmehr auf Lokal- und Regionalsei-ten – das Thema wird also seltener von spezialisierten Journalisten behandelt als von Lokalredakteuren. Besonders umfangreich war die Berichterstattung auf den Landkreis- bzw. Regionalsei-ten der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Deutlich wird diese Konzentration der Berichterstattung auf die Lokalteile auch bei der Analyse der Anlässe und Themen. Der wichtigste Anlass ist bei etwa einem Viertel aller Artikel die UN-Konferenz. Zwar spielen lokale Veran-staltungen in verschiedenen Formen eine noch größere Rolle (zusammen sind dies 26,9 Prozent), doch haben zahlreiche dieser lokalen Veranstal-tungen die UN-Konferenz selbst zum Anlass. Vorträge, Diskussionsrunden, Exkursionen und Ausstellungen sind in der Untersuchung verhältnismäßig häu-fig als Anlass festgestellt worden.

Die Bedrohung einzelner Tier- und Pflanzenarten vor Ort war dementspre-chend häufig Thema der untersuchten Artikel, genauso wie Veränderungen durch den Rückgang der Biodiversität (z.B. wirtschaftliche Veränderungen). Diese Ergebnisse überraschen, da wesentlich publikumswirksamere Tiere oder Pflanzen vom Aussterben bedroht sind als heimische Spezies, die kaum jemand kennt. Beispielhaft sei an dieser Stelle das flauschige Eisbär-Baby auf einer schmelzenden Eisscholle genannt oder der Panda im Bambuswald.

Im gesamten Untersuchungszeit-raum traten Institutionen und Verbän-de sowie Wissenschaftler und Politiker etwa gleich häufig als Akteure in den Artikeln auf. Biologen und auch Politiker konnten ihr Standing vielfach dazu nut-zen, Appelle oder Bedrohungsszenarien

Die Berichterstattung über die Abnahme der Biodiversität ist regional, kurz und nüchtern. Das mutmaßliche Gefähr-dungspotential dagegen ist hoch.

Von Simon Wiggen

Sumpfhuhn in Gefahr

leitet das Ressort Wissenschaft

der Frankfurter Allgemeinen

Jörg Albrecht Sascha Karberg

ist freier Wissen-schaftsjournalist und lebt in Berlin.

Jörg Blech

ist Mitglied der „Spiegel“-Redaktion.

Sonntagszeitung

Page 16: WPK Quarterly 2010-3

16III/2010 WPK-Quarterly

durch eine schwindende Artenvielfalt in den Artikeln zu platzieren, nicht jedoch Naturschutzverbände wie Naturschutz-bund (NABU) oder der Bund für Um-welt und Naturschutz (BUND). Warum diese Verbände von den Medien nicht als warnende Institutionen wahrgenom-men worden sind, konnte im Rahmen der Analyse nicht festgestellt werden, mehr Einfluss seitens des Naturschutz auf die Artikel wäre jedoch sicher mög-lich gewesen.

Bei der Präsentation der Ergebnisse der Untersuchung vor einigen Natur-schützern zeigte sich, dass sie sich von Journalisten oft nicht ernst genommen fühlten. Fachliche Kompetenz sei ihnen zudem in der Praxis oft abgesprochen worden. Interessant ist auch, dass die Partei Bündnis 90/Die Grünen im Un-tersuchungszeitraum in 223 Artikeln so gut wie gar nicht als Akteur auftrat. Zwar war die Partei sowohl auf Bundesebe-ne als auch in den Ländern Nordrhein-Westfalen (Erscheinungsort von WAZ und WP), sowie in Bayern (SZ) und Hessen (FAZ) in der Opposition, doch war eine rege Beteiligung der Grünen an der Biodiversitätsdebatte eigentlich zu erwarten.

Trotz der Warnungen der Biologen und einiger Politiker blieben viele Arti-kel recht oberflächlich und beleuchteten oft nur einen Aspekt des Schutzes der Biodiversität. Interessen am Erhalt der Artenvielfalt wurden nur selten thema-tisiert. Meist spielten naturschutzfach-liche Interessen, also der Erhalt einer Spezies wegen ihrer Einzigartigkeit, die Hauptrolle. Wirtschaftliche Interessen blieben dahinter zurück. Wenn wirt-schaftliche Interessen genannt wurden, dann in den meisten Fällen das phar-mazeutische Potenzial vieler Pflanzen bzw. Pilze als Wirkstofflieferanten für Medikamente.

Einen Zusammenhang zwischen dem Schwund der Artenvielfalt und dem Klimawandel stellten nur die we-nigsten Beiträge her. In mehr als acht von zehn Artikeln wird der Klimawandel überhaupt nicht genannt oder ohne Zu-sammenhang mit der Biodiversität the-matisiert. In jedem zehnten Artikel zeig-te der Autor eine mögliche Verbindung zwischen der globalen Erwärmung und der schwindenden Artenvielfalt auf. Al-lerdings wird in diesem Fall häufig der Einfluss der Artenvielfalt im tropischen Regenwald auf das globale Klima the-

matisiert, weniger der Einfluss des Kli-mawandels auf die Biodiversität. Eine Bedrohung für die Artenvielfalt stellte der Klimawandel in der Berichterstat-tung so gut wie überhaupt nicht dar, vielmehr bedrohen Flächenversiege-lung und Nutzungsintensivierung in der Landwirtschaft die Artenvielfalt.

Insgesamt wurde die Berichterstat-tung im Untersuchungszeitraum als sehr nüchtern klassifiziert. Von einer Emotio-nalisierung der Thematik kann nicht ge-sprochen werden. Auf stark emotionali-sierende Bilder (wie der oben genannte Eisbär) wurde weitgehend verzichtet, stattdessen wurden eher unbekann-te Arten vor der Haustüre des Lesers genannt. Weder Autoren noch Akteure zeichneten ein Katastrophenszenario, wie es vielfach bei Berichten über den Klimawandel geschehen ist.

Auch die Bildzeitung, der eine starke Emotionalisierung in vielen Themenbe-reichen nachgesagt wird, informierte zum einen nur sehr spärlich über dieses Thema und zum anderen – gerade im Vergleich zum Klimawandel – erstaun-lich sachlich.

Warum ein Großteil sehr nüchtern gehalten war, konnte im Rahmen der Analyse nicht geklärt werden. Wissen-schaftliche Fakten, die eine stark emo-tionalisierende Berichterstattung zulas-sen würden – manchmal geradezu auf der Hand liegen – gibt es genügend.

Als Beispiele sollen hier nur das Po-tenzial vieler bislang unbekannter Ar-ten zur Herstellung von Medikamenten oder die Bedeutung der Bienen als Be-stäuber für viele unserer Nahrungsmit-tel genannt werden. Dass die Experten in Gesprächen, Vorträgen, Interviews und Pressemitteilungen nicht auf diese Fakten hingewiesen haben könnten, ist genauso wenig verständlich wie Jour-nalisten, die diese Zusammenhänge erfahren haben und nicht in ihren Arti-keln verwerten. Gerade Fachjournalis-ten können aufgrund ihres Hintergrund-wissens sicher mehr Aufmerksamkeit auf ihre Artikel lenken, wenn sie die (vermutlich) negativen Folgen einer schwindenden Artenvielfalt stärker in den Fokus ihrer Artikel rücken. Weni-ger Nüchternheit und mehr Emotionen könnten ein breiteres Interesse der Öffentlichkeit an der Berichterstattung über die Biodiversität hervorrufen.

Simon Wiggen

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ist Volontär bei der WAZ-Mediengruppe und hat Biologie und Geographie studiert.

Einblicke in dasWissenschafts-reich der Mitte

China ist auf dem Weg zur wirtschaft-lichen und politischen Supermacht. Das ist täglich Thema in den Medien. Doch wie ist es mit der Bedeutung der Wis-senschaft im „Reich der Mitte“ bestellt? Weil es darüber in Deutschland nur spärliche Informationen gibt, machte sich die Wissenschafts-Pressekonfe-renz (WPK) mit einer Gruppe von 19 Mitgliedern im September zur Recher-che-Tour auf nach China. Auf der Reise auf Einladung der Chinesischen Akade-

mie der Wissenschaften (CAS) vom 17. bis 28. September 2010 wurden insge-samt 20 Forschungsinstitute und Uni-versitäten in Shanghai, Kanton und Shenzen besucht. Schwerpunkte waren die Natur- und Ingenieurwissenschaften, aber auch Chinas größte Solarfabrik Suntech in Wuxi stand auf dem Be-suchsprogramm.

Nicht nur für die WPK war der China-Trip die bisher fernste Auslandsreise ihrer Geschichte. Auch für die Chine-sische Akademie der Wissenschaften (CAS) war der Besuch aus Deutschland eine Premiere.

Die CAS verfügt über 90 Forschungs-institute in den Bereichen Mathematik, Physik, Chemie, Lebenswissenschaften und Medizin, Geowissenschaften, Infor-mationstechnik und Ingenieurwissen-schaften, in denen 43.000 Mitarbeiter

Die China-Reise der WPK.

Von Manfred Ronzheimer

Page 17: WPK Quarterly 2010-3

17III/2010 WPK-Quarterly

S.12, Jörg Blech © Andreas Labes

Layout, Design und TitelbildKatja Lösche, www.gestaltika.de

beschäftigt sind, davon 30.000 Wissen-schaftler. 34 Prozent der Forschungs-kapazitäten sind auf die Grundlagen-forschung ausgerichtet, 58 Prozent auf angewandte Forschung und acht Prozent auf experimentelle Produkt-entwicklung, meist in Form von techni-schen Prototypen für die Wirtschaft. Die CAS, die im Bereich der Grundlagenfor-schung mit der deutschen Max-Planck-Gesellschaft enge Kontakte unterhält, ist dem Ministerium für Wissenschaft und Technik (MOST) unterstellt.

Zweitgrößter Standort der CAS ist – nach der Zentrale Peking – Chinas internationalste Stadt: Shanghai, in der in diesem Jahr auch die Weltausstel-lung Expo stattfindet. Hier besuchte die WPK-Delegation das Institut für Mee-resforschung, den Botanischen Garten, das Institut für Neurowissenschaften, die gemeinsame Forschungseinrich-tung mit der MPG für rechnergestützte Biologie, die Institute für Keramikfor-schung und Mikrosystemtechnik so-wie das vom BMBF geförderte Future Megacities-Projekt, das sich in einem Entwicklungsgebiet am neuen Flugha-fen von Shanghai engagiert.

Das umfangreiche Programm führte der WPK-Delegation vor Augen, wel-chen wachsenden Rang Wissenschaft und Technik im modernen China ein-nehmen. Jährlich steigen die chine-sischen Forschungsausgaben um 20 Prozent. Ziel der Staatsführung ist es, China bis 2050 zur führenden Wissen-schaftsmacht der Welt zu machen. Der-zeit indes beträgt die FuE-Quote am Bruttoinlandsprodukt lediglich 1,5 Pro-zent, während sich Deutschland dem 3-Prozent-Ziel nähert.

Unübersehbar ist der Wille zur In-ternationalisierung der chinesischen Forschung, sei es durch Kooperation mit Instituten anderer Ländern oder als neuester Trend, durch Rückholung chinesischer Wissenschaftler, die im Ausland tätig sind. Großes Augenmerk wird zudem auf den Transfer von Wis-sen in die Industrie gelegt. Wie schnell Hightech-Erfolge in China möglich sind, zeigt das Beispiel von Suntech, dem heute weltweit größten Hersteller von Solarmodulen. Vor knapp zehn Jahren wurde es von dem chinesischen Solar-Unternehmer Zhengrong Shi gegrün-

det, der nach Wissenschaftsjahren in Australien in seine Heimatprovinz Wuxi zurückgekehrt war.

Erkennbar war für die deutschen Be-sucher aber auch, dass in der Breite der wissenschaftlichen Einrichtungen Chi-nas noch ein teils erheblicher Aufhol-prozess nötig ist. Selbstkritisch bemerk-te ein Fusionsforscher in Hefei, dass sein Land bis zur wissenschaftlichen Weltspitze „noch 100 Jahre brauchen“ werde. Immerhin war es seinem Institut für Plasmaphysik gelungen, innerhalb weniger Jahre in das Konsortium für das ITER-Projekt, dem Bau des inter-nationalen Fusionsreaktors, aufgenom-men zu werden.

Ein besonderer Termin für die WPK-Journalisten war die Begegnung mit chinesischen Fachkollegen in der Journalisten-Schule an der Fudan-Uni-versität in Shanghai. Delegationsleiter Klaus Dartmann berichtete, dass nach einer aktuellen Studie der Heinrich-Böll-Stiftung von 9000 untersuchten deut-schen Zeitungsberichten über China nur 0,5 Prozent die Wissenschaft zum Thema hatten. Jia Hepeng, Heraus-geber der Pekinger Zeitschrift Science Weekly (www.science-weekly.cn) und Vorstandsmitglied der World Federa-tion of Science Journalists, stellte den Wissenschaftsjournalismus in seinem Land als noch nicht existierendes Res-sort vor. Die Forschung tauche in den chinesischen Zeitungen nur am Rande auf – und wenn, dann mit „einem hohen Anteil an nicht-akkurater Berichterstat-tung“. Derzeit dominierten als Themen mit Wissenschaftsbezug Gesundheit und Umwelt, würden aber häufig in hys-terisierender Weise abgehandelt. Diese würden, so Jia, ohne den Hintergrund wissenschaftlicher Fakten dargestellt. Grund dafür sei, dass es in den Zeitun-gen keine eigenen Wissenschaftsre-dakteure gebe.

Die chinesischen Kollegen waren erstaunt, dass von den deutschen Gäs-ten jeder ein wissenschaftliches Fach studiert hatte. An den chinesischen Journalismus-Hochschulen wird indes Wissenschaftsjournalismus noch nicht einmal im Nebenfach unterrichtet. Viel-leicht ergibt sich hier eine Gelegenheit zur weiteren Vertiefung der deutsch-chinesischen Kooperation.

Mehr über diese Reise gibt es in ei-nem Videoblog auf www.wpk.org.

RedaktionMarkus Lehmkuhl (V.i.s.d.P.), Antje Findeklee, Volker Stollorz, Claudia Ruby, Nicole Heißmann, Björn Schwentker und Christian Eßer

AdresseWPK-QuarterlyWissenschafts-Pressekonferenz e.V.Ahrstraße 45D-53175 Bonn

Telefon & FaxTel ++49 (0)228 - 95 79 840 Fax ++49 (0)228 - 95 79 841

E-Mail & [email protected], www.wpk.org

Impressum

AutorenMarkus Lehmkuhl, Nicole Heißmann, Marcus Anhäuser, Julia Serong, Alexander Görke, Jörg Blech, Sascha Karberg, Jörg Albrecht, Simon Wiggen und Manfred Ronzheimer

Bildnachweis

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Page 18: WPK Quarterly 2010-3

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