31
Diagnose DAS MAGAZIN DER WISSENSCHAFTS-PRESSEKONFERENZ e.V. Ausgabe I / 2013 Datenjournalismus Die Wissenschaftsjournalisten Der neue Medien-Doktor Umwelt Tesla gegen New York Times Das Versagen der Justiz im Fall L‘Aquila Analyse Auswertung Qualität der Lebertransplantation? Datenfriedhöfe statt Transparenz!

WPK Quarterly 2013-1

Embed Size (px)

DESCRIPTION

„Qualität der Lebertransplantation? Datenfriedhöfe statt Transparenz!“ In der aktuellen Ausgabe des WPK-Quarterly dreht sich alles um Daten, Transparenz und Qualität. Datenjournalismus gilt als neue Wunderwaffe, wenn es darum geht, verborgene Geschichten und überraschende Zusammenhänge aufzudecken. Doch unsere Datenrecherche am Beispiel der Transplantationsmedizin zeigt: Ohne Basisdaten wird der Datenjournalismus zum stumpfen Schwert, ohne Transparenz die Qualität in der Medizin schwer messbar. Apropos Qualitätscheck: Der Medien-Doktor bekommt Nachwuchs. Wir stellen die Kriterien des neuen Medien-Doktor Umwelt vor, der ab sofort den Umweltjournalismus unter die Lupe nehmen wird. Außerdem berichten wir, wie das Unternehmen Tesla die New York Times mit einer Datensammlung unter Druck bringt. Wir präsentieren erste Ergebnisse einer Befragung von Datenjournalisten - und blicken noch einmal zurück auf die Verurteilung von sechs Seismologen durch ein italienisches Gericht

Citation preview

Page 1: WPK Quarterly 2013-1

Diagnose

DAS MAGAZIN DER WISSENSCHAFTS-PRESSEKONFERENZ e.V.

Ausgabe I / 2013DatenjournalismusDie Wissenschaftsjournalisten

Der neue Medien-Doktor Umwelt

Tesla gegen New York Times

Das Versagen der Justiz im Fall L‘Aquila

Analyse

Auswertung

Qualität der Lebertransplantation?Datenfriedhöfe statt Transparenz!

Page 2: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 2I / 2013

EDITORIAL

Qualitäts-Check

„Das deutsche Gesundheitswesen ist eines der besten der Welt“, die-ses Statement hört man immer wie-der – von Politikern, Ärzten, manch-mal auch von Journalisten. Doch wer sich aufmacht, um die echte oder vermeintliche Qualität konkreter Leis-tungen zu untersuchen, der verirrt sich sehr schnell in einem Dschun-gel aus widersprüchlichen Zahlen, Fakten und Einschätzungen. Diese Erfahrung machte zumindest Volker Stollorz, der uns in dem Artikel „Da-tenfriedhöfe in der Medizin“ an seiner bemerkenswerten Recherche zum Thema Lebertransplantationen teilha-ben lässt. Die vermeintlich einfache Fragestellung: Welche qualitativen Unterschiede gibt es zwischen ver-schiedenen Transplantationszentren in Deutschland? Wie unterscheiden sich zum Beispiel die Sterblichkeit im Krankenhaus und die Überlebens-rate ein Jahr nach Transplantation? Was ursprünglich eine Fingerübung in Sachen Datenjournalismus werden sollte, führt am Ende zu einer erschre-ckenden Erkenntnis: „Das System der Selbstverwaltung im Gesundheitswe-

sen setzt in weiten Teilen auf Intrans-parenz“, schreibt Stollorz. Der Artikel zeigt nicht nur die Schwachstellen der Qualitätskontrolle im Medizinbetrieb auf, er verdeutlicht auch die Grenzen unserer neuen Wunderwaffe: Daten-journalismus kann die Qualität der Berichterstattung steigern. Er kann spannende Geschichten zu Tage för-dern und überraschende Zusammen-hänge aufzeigen. Doch er ist nur so gut wie die Grundlagen, mit denen er arbeitet: die Daten. Und da gibt es noch viel zu verbessern – nicht nur im Gesundheitswesen.

Auch in anderen Artikeln dieser Aus-gabe geht es um Qualität. Wir fragen nach den Bedingungen unserer Arbeit und nach den Chancen, Qualität im Wissenschaftsjournalismus zu erken-nen, zu bewerten und zu steigern. Am Dortmunder Institut für Wissenschafts-journalismus bekommt der Medien-Doktor eine kleine Schwester: Der Medien-Doktor Umwelt geht im Mai an den Start. Ähnlich wie beim Medizin-journalismus mischen sich in der Um-weltberichterstattung wirtschaftliche

Interessen, Meinung und Gesinnung mit Fakten und wissenschaftlicher Er-kenntnis. Das Freund-Feind-Schema – hier die guten Umweltschützer, dort die böse Industrie – ist weit verbreitet. Doch anders als in der Medizin, wo die „evidence based medicine“ zumindest einen groben Kriterienkatalog zur Ver-fügung stellt, fehlte es dem Medien-Doktor Umwelt sowohl an internationa-len Vorbildern als auch an etablierten Kriterien. In ihrem Text „Diagnosen zum Umweltjournalismus“ stellen Hol-ger Wormer und Wiebke Rögener das Projekt vor. Und noch einen weiteren Qualitäts-Check haben sich die Kolle-gen in Dortmund vorgenommen: Da immer mehr Pressestellen der Mei-nung sind, dass sie doch selbst die besseren Journalisten seien, will der „Medien-Doktor-PR-Watch“ künftig in einem Pilotprojekt Pressemeldungen bewerten. Zur Anwendung kommen dieselben Kriterien, die auch für jour-nalistische Produkte gelten. Wir sind gespannt auf das Ergebnis!

In einem von der Robert-Bosch-Stiftung finanzierten Projekt der WPK

Page 3: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 3I / 2013

Claudia Ruby

ist freie TV-Wissen-

schaftsjournalis-tin. Sie lebt und arbeitet in Köln.

Editorial

Datenwüsten der Medizin:Ein Rundgang

Tesla gegen die New York Times:Es geht um alles

Befragung:Wie wissenschaftlich ist Datenjournalismus?

Analyse:Das britische Science Media Center und was wir daraus lernen können

Der neue Medien-Doktor: Diagnosen zum Umweltjournalismus

Der alte Medien-Doktor: Ein kurzes Resümee nach 200 Journalisten-Reviews

Die anderen Medien-Doktoren:Unterstützung schon bei der RechercheQualitätscheck von Pressemitteilungen aus der Medizin

L’Aquila Interview:Die italienische Justiz hat versagt

L’Aquila Kommentar: Wissenschaftler auf der Anklagebank

Umfrage:Codes of Conduct in Wissenschaftsredaktionen?

Vor der WISSENSWERTE:Ein Anstoß in eigener Sache

WPKNeue Mitglieder

Impressum

2

4

11

14

16

19

20

21

23

25

26

29

30

31

haben Holger Hettwer und Franco Zot-ta die Bedingungen für ein deutsches Science Media Center untersucht. Die generelle Idee eines solchen Ange-bots: Vor allem in Krisenzeiten – wenn also Ehec oder Vogelgrippeviren die Verbraucher verunsichern, wenn ein Vulkan ausbricht oder ein Reaktor havariert – soll das Science Media Center Zugang zum Stand des Wis-sens und zu hochrangigen Experten garantieren. Was für die sogenannten Leitmedien in der Regel kein Problem darstellt, sieht für die Kolleginnen und Kollegen in Lokal- und Regionalmedi-en ganz anders aus. Vor allem dort könnte ein SMC die Qualität der Be-richterstattung verbessern. In ihrem Artikel nehmen Hettwer und Zotta das erfolgreiche britische SMC unter die Lupe – und stufen es letztlich als Ins-titut für Wissenschafts-PR ein. Genau das dürfe ein deutsches Science Me-dia Center nicht sein, konstatieren die Autoren und definieren Kriterien für ein SMC, das sich tatsächlich an den Bedürfnissen der Journalisten orien-tiert. Wie ein solches Angebot ausse-hen und welche Rolle die WPK dabei spielen könnte, damit beschäftigt sich nicht nur der Artikel in dieser Ausga-be. Etwas ausführlicher stellen wir das Projekt auf unserer Webseite vor: (http://www.wpk.org/upload/down-load/dokumente%20aktuelles/SMC_Executive%20Summary_Abschlussbe-richt%20RBS_het_13-04-17.pdf) Und natürlich wollen wir darüber auch mit unseren Kolleginnen und Kollegen ins Gespräch kommen.

Im Quarterly finden Sie wie immer weitere spannende Geschichten und Analysen rund um den Wissenschafts-journalismus. Viel Spaß beim Lesen!

Claudia Ruby

Inhalt

}

Page 4: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 4I / 2013

Ein Rundgang.

Von Volker Stollorz

Datenfriedhöfe in der Medizin

Ich interessiere mich für den Da-tenjournalismus und ich kenne mich als Wissenschaftsjournalist aus mit Daten in der Medizin. Daher wollte ich ausprobieren, was man mit den Mit-teln des Datenjournalismus über die Qualität der medizinischen Versorgung in Deutschland sagen kann. Als ein Übungsfeld erschien mir die Trans-plantation von Lebern sinnvoll, weil der Bereich umstritten und überschaubar zugleich ist. Meine Antwort nach eini-gen Wochen intensiver Beschäftigung: Über die Qualität der Transplantatio-nen von Lebern kann man durch Stu-dium der öffentlich verfügbaren Daten kaum Sinnvolles lernen, allen Sonn-tagsreden über Transparenz im Ge-sundheitswesen zum Trotz.

Testfeld Lebertransplantationen:

Die Collaborativ Transplant Study

Als ich mich für den Wissenschafts-teil der Frankfurter Allgemeinen Sonn-tagzeitung auf die Suche nach den systemischen Anreizen für die Mani-pulationen von Patientendaten auf den Wartelisten für Lebertransplantationen begab, dachte ich zunächst naiv, die seltene Operation sei sicher ein idea-les Übungsfeld, um einige Methoden des Datenjournalismus zu erproben. Schließlich werden hierzulande kaum mehr als 1000 Lebern von hirntoten

Spendern pro Jahr verpflanzt. Da soll-te sich gut dokumentieren lassen, wie es bei der Organzuteilung zugeht und was nach der Operation mit den Emp-fängern der Organe passiert. Immerhin wird die Qualität der Transplantations-zentren seit Jahren überprüft in der Selbstverwaltung. Ich musste lernen: Ein Irrtum.

Dabei begann meine Suche nach be-lastbaren Daten zu Lebertransplantati-onen verheißungsvoll. Ich stieß auf die „Collaborative Transplant Study“ (CTS) von Gerhard Opelz von der Universität Heidelberg. Der Transplantationsimmu-nologe wertet seit mehr als 30 Jahren vertraulich Daten von weltweit 500 Org-antransplantationszentren aus und ver-öffentlicht die Erfolgsraten aller Organ-transplantationen in wissenschaftlichen Studien und in einer zentralen Daten-bank mit Tausenden von Infografiken. Regionale Unterschiede zwischen ein-zelnen Zentren kennt Opelz natürlich, veröffentlicht sie aber grundsätzlich nicht, da seine Studie auf der freiwilli-gen Kooperation aller Teilnehmer ba-siert. In Deutschland stecken immerhin 80 Prozent aller Transplantationen in der Datenbank, ein Teil der Zentren ver-weigert aber die Teilnahme. Der Medi-ziner spiegelt allen Meldern regelmäßig die eigenen Ergebnisse im Vergleich zu denen der anderen teilnehmenden Zen-tren. Mit der direkten Rückkoppelung lässt sich die Qualität der Versorgung erkennen und verbessern. Auch kön-nen unabhängige Wissenschaftler in den erhobenen Daten Fehlentwicklun-gen frühzeitig registrieren, zur Diskus-sion stellen und wichtige Forschungs-fragen beantworten. So bildet die CTS zum Beispiel als einzige Studie weltweit systematisch Unterschiede zwischen

Ländern und zwischen meldenden Zen-tren ab.

Es ist eine Schatzkammer mit Da-tendiamanten, die man als Journa-list leider nicht betreten, geschweige denn Ergebnisse daraus veröffentli-chen darf. Man ist – ganz klassisch und eben ganz und gar nicht daten-journalistisch – auf die Aussagen und Bewertungen der Quelle Opelz angewiesen. Deren Antworten: Be-zogen auf die Lebertransplantation in Deutschland ist das Fazit scho-ckierend. Die Erfolgsaussichten für Patienten, denen eine fremde Leber transplantiert wurde, entwickelten sich seit einigen Jahren in Deutsch-land rückläufig. Die Überlebensraten seien inzwischen schlechter als in den meisten europäischen Nachbar-ländern. Auch die Unterschiede inner-halb von Deutschland seien erheblich. In manchen Kliniken stirbt offenbar fast ein Viertel aller Lebertransplan-tierten noch im Krankenhaus. Das liege meist nicht an unfähigen Opera-teuren oder mangelhaften Abläufen, sondern vor allem daran, dass immer häufiger ältere und schwerstkranke Patienten mit schlechter Prognose ein Organ zugeteilt bekämen, zum Beispiel Leberkrebspatienten. Weil bei der Organzuteilung in Deutsch-land das Kriterium der Dringlichkeit zu hoch bewertet werde und die Zen-tren um die knappen Organe im har-ten Wettbewerb stünden, bekomme jenes Zentrum häufiger Lebern zu-geteilt, das vermehrt schwerstleber-kranke Patienten auf seine lokalen Wartelisten setze. Am Ende dieser Entwicklung sei es für eine Klinik am lukrativsten, Lebern in Sterbende zu transplantieren.

Page 5: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 5I / 2013

Dieser systemische Fehlanreiz – im Transplantationsgesetz steht, die Or-gane müssten nach den Kriterien der Dringlichkeit UND Erfolgsaussicht ver-teilt werden – führte nun in der Folge offenbar dazu, dass Transplanteure in Göttingen, Regensburg, München und Leipzig Krankenakten ihrer Patienten auf den Wartelisten frisierten, um diese kränker erscheinen zu lassen, als sie waren. Auf diese Weise gelangten sie häufiger an Spenderorgane.

Es gibt kein nationales Transplantationsregister

Ich wollte wissen, was diese Quelle an Daten nicht preisgab. Zum Beispiel: Welche Zentren weisen schlechtere Überlebensraten aus und warum? Warum sterben an einigen Orten mehr Organempfänger im Krankenhaus als an anderen? Wie oft kommt es wo zu Komplikationen? Welcher Patient auf der Warteliste erhält überhaupt eine Leber? Und vor allem: Gibt es bei den unter Verdacht stehenden Transplan-tationszentren verdächtige Werte bei einigen der verfügbaren Qualitätsindi-katoren? Natürlich wollte ich letztlich auch verstehen, ob die bisherigen Kriterien die Qualität der Transplan-tationsmedizin überhaupt abbilden. Einige dieser Fragen, so dachte ich, sollten sich bei knapp 1000 Eingriffen pro Jahr ohne Forschungsaufwand und Informatik klären lassen.

Zunächst Ernüchterung: Anders als in den USA herrscht in Deutschland Datendürre, es gibt KEIN nationales Transplantationsregister, auf dessen Finanzierung und Betrieb sich die Ak-teure hätten einigen können. Weder das Statistische Bundesamt noch Eu-rotransplant sammeln systematisch Erfolgsraten, auch im „European Liver Transplant Registry“ in Paris finden sich keine regionalen Daten son-dern nur allgemeine Trends (http://www.eltr.org/spip.php?rubrique37). So darf jedes Zentrum bei Patienten mit seinen angeblichen Erfolgsraten werben. Unabhängig überprüfen und

vergleichen kann die Daten öffentlich niemand.

Ich gab meine Suche nach zugäng-lichen Daten aber noch nicht auf. In Deutschland werden einige Qualitäts-indikatoren in der medizinischen Ver-sorgung in Krankenhäusern nicht nur von Gerhard Opelz ausgewertet, son-dern auch vom Aqua-Institut in Göttin-gen (http://www.aqua-institut.de). Es wurde vom Gemeinsamen Bundesau-schuss der Ärzte und Krankenkassen (G-BA.de) mit der Qualitätssicherung der Versorgung betraut. Das Institut, Werbespruch „Aqua- richtungsweisen in Qualität“ hat die BQS in Düsseldorf abgelöst, die diesen Job früher ge-räusch- und weitgehend folgenlos er-ledigte. Im Bereich der Lebertransplan-tation müssen Kliniken zum Beispiel melden, wie viele Lebertransplantatio-nen sie durchführen, welcher Anteil der Patienten nach einer Lebertransplanta-tion bereits im Krankenhaus verstirbt, wie hoch der Anteil der Verstorbenen nach operativen Komplikationen ist und wie hoch der Anteil der „1-Jahres-überlebenden“ liegt. Diese und einige wenige weitere Indikatoren gehören zu den veröffentlichungspflichtigen Qualitätsindikatoren aller Organtrans-plantationen. Alle Daten der Qualitäts-sicherung müssen von den Kliniken in Form von Krankenhausqualitätsberich-ten veröffentlicht werden, bisher alle zwei Jahre, nach 2012 sogar jährlich. Im Prinzip kann sich jeder für alle Kran-kenhäuser die Anzahl der Lebertrans-plantationen sowie die Ergebnisse der veröffentlichungspflichtigen Qualitäts-indikatoren von einer Webseite des G-BA herunterladen (http://www.g-ba-qualitaetsberichte.de).

Die Daten des Aqua Instituts

Das klang sehr schön. In mir er-wachte der Datenjournalist. Der letz-te verfügbare Datensatz in den PDFs stammt zwar schon aus dem Jahr 2010, erst im nächsten Jahr werden die Daten des Qualitätsreports 2012 verfügbar. Auch in den älteren Daten aber sollten sich, so dachte ich, z.B.

jene Zentren aufspüren lassen, die be-sonders hohe Sterberaten nach Leber-transplantationen aufweisen. Meine Idee war, dass das ein Indikator dafür sein könnte, dass dort mehr sterbens-kranke Patienten auf den Wartelisten geführt und damit transplantiert wer-den, die dann den operativen Eingriff nicht lange überleben. Eine mögliche These wäre, dass es sich dabei nicht unbedingt um die Zentren handeln muss, die Krankenakten manipuliert hatten, denn dort standen letztlich we-niger kranke Patienten mit besseren Überlebenschancen auf der Warteliste.

Die Weisse Liste

Als ein Hindernis, um solche Hypothe-sen überprüfen zu können, erwies sich, dass die Qualitätsberichte der Kranken-häuser Datenfriedhöfe erster Güte sind. Zum Glück musste ich für meinen Test-fall nicht alle rund 1200 Krankenhausbe-richte durchstöbern. Lebern werden nur in 24 Zentren transplantiert. Schon diese wenigen Qualitätsberichte erwiesen sich aber als eine quälende Lektüre. Die sind nicht gemacht, um gelesen zu werden. Auch das automatische Herauskopie-ren der Daten ist trotz entsprechender Codes eine Kunst für sich, es sei denn, man schreibt die Werte mühsam per Hand ab. Ich frage mich ernsthaft, was der Zweck solcher Veröffentlichungen sein soll. Sie stellen allenfalls Schein-transparenz her. Wie man von der Deut-schen Krankenhausgesellschaft hört, wollen die Krankenhäuser sie am liebs-ten ganz abschaffen.

Ich wurde noch auf einen anderen Weg zu denselben Daten aufmerksam: Die Suche in der „Weissen Liste“ der Bertelsmann-Stiftung (http://www.weisse-liste.de), laut Eigenwerbung der „Wegweiser im Gesundheitswesen“. Patienten und Journalisten sollen hier nach Qualitätsdaten zu Eingriffen in Krankenhäusern suchen können. Die meisten Daten, die sich dort finden, stammen letztlich aus eben erwähnten Qualitätsberichten der Krankenhäuser, werden aber aus den maschinenlesba-ren XML-Dateien erstellt. Wer auf der Startseite der Weissen Liste „Kranken-

Page 6: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 6I / 2013

mark-Bericht“ an jedes Krankenhaus. Diese internen Berichte enthalten er-heblich umfassendere Daten als die veröffentlichten Krankenhausquali-tätsberichte, werden aber von den Kli-niken leider fast nie veröffentlicht. Sie dienen angeblich der internen Quali-tätssicherung der Kliniken. Solange keine Beschwerde aus dem Aqua-Ins-titut kommt, können Kliniken diese Be-richte in den Papierkorb werfen, wenn sie das wollen. Nur wenn eine Klinik bei einem Indikator aus einem zuvor von Experten festgelegten Referenz-bereich fällt, bewertet eine externe Fachkommission im Auftrag des Aqua-Instituts Auffälligkeiten und leitet dann – eventuell – Maßnahmen im Rahmen eines „Strukturierten Dialogs“ ein. In diesen Fachkommissionen sitzen dann auch Vertreter der Kliniken, die selber Lebertransplantationen durch-führen. Beim Aqua-Institut waren das zum Beispiel zuletzt auch Transplan-tationsmediziner aus Regensburg. Das bedeutet: Jene, die Patientenda-ten manipulierten, redeten mit bei der Bewertung von Auffälligkeiten!

Durch Zufall fand ich auf der Web-seite des Uniklinikums Aachen einen der „Benchmark-Berichte“ über das Lebertransplantationsprogramm, weil

haussuche“ und dann als Krankheit „Le-bertransplantation“ eingibt, kann eine Stadt auswählen. Findet man dort das richtige Krankenhaus, landet man bei der Fallzahl der Lebertransplantationen aus dem Jahr 2010. Mit ein paar weite-ren Tricks und Klicks, die man erst nach-vollziehen muss, landet man tatsächlich bei den wenigen verfügbaren Qualitäts-indikatoren.

Zwar ist diese Suche in der Tat komfortabler als die in den PDFs der Krankenhausberichte. Allerdings feh-len in der Weissen Liste neben den Prozentangaben die absoluten Fall-zahlen zu den Qualitätsindikatoren, die ich für meinen „Data-Driven“-Ansatz haben wollte. So wie sie ist, dürften sich nur vereinzelt Nutzer der Weissen Liste bedienen. Selbst für er-fahrene Journalisten bleiben die Da-ten schwere Kost, so dass sich selbst Rechercheure eher selten in diese zudem nicht sonderlich aktuellen Da-tenwüsten verirren dürften.

Macht nix, sagte ich mir, rund 1000 Lebertransplantationen sind nicht „Big-Data“ wie man sie für einen Vergleich der Häufigkeit von Mandeloperationen oder der Implantation von Herzschritt-machern extrahieren müsste. Also notierte ich an einem ruhigen Tag die verfügbaren Qualitätsindikatoren al-ler Lebertransplantationszentren in Deutschland. Der Einfachheit halber beschränkte ich meine Suche auf die postmortale Lebertransplantation (An-zahl 1072 im Jahr 2010 laut Aqua-In-stitut). Damit missachtete ich zum Bei-spiel die Leberlebenspende.

Neugierig, was die Daten hergeben? Zuvor gilt es noch kurz zu klären, wa-rum sie überhaupt erhoben werden. Was passiert normalerweise mit den Daten der Krankenhausberichte? Die Göttinger AQUA-Institut GmbH sam-melt im Auftrag des Gemeinsamen Bundesauschuss` immerhin 430 Quali-tätsindikatoren und will so die Güte der Versorgung der Kliniken in Deutschland auswerten und abbilden. Welche Her-kulesaufgabe die Analyse dieser Daten offenbar darstellt, kann man am Qua-litätsreport 2011 der veröffentlichungs-pflichtigen Daten ablesen, der sich auf Versorgungsdaten von 2010 bezieht und doch erst 2012 erschien (http://www.sqg.de/sqg/upload/CONTENT/Qualitaetsberichte/2011/AQUA-Qua-litaetsreport-2011.pdf) Darin heißt es

etwa unter dem Stichwort „Lebertrans-plantation“, der „Strukturierte Dialog“ bei rechnerisch auffälligen Werten in neun Kliniken im Erfassungsjahr 2010 habe ergeben, dass „nur in einem Fall Struktur- und Prozessmängel die Ursache für Auffälligkeiten waren.“ Diese klare Fehldiagnose wurde vor Bekanntwerden des Transplantations-skandals gestellt und steht damit selt-sam in der Landschaft. Festzuhalten ist, dass die Qualitätssicherung des AQUA-Instituts vor dem Transplanta-tionsskandal keinerlei relevante Quali-tätsmängel erkannt hat, die Spuren in den öffentlichen Berichten hinterlassen hätten.

Die Benchmark-Berichte des Aqua Instituts

Das Aqua-Institut verschickt aber für alle erhobenen Qualitätsindika-toren einen ausführlicheren „Bench-

}

Die Grafik weist die Prozentzahl der Patienten aus, die im Jahr 2010 nach einer Lebertrans-plantation noch im Krankenhaus verstarben. Eingegangen sind die Zahlen von 17 Kliniken, in denen mehr als 20 Lebertransplantationen vorgenommen wurden. Rot umrandet ist das Ergebnis für das Klinikum in Aachen.

Grafik: Aqua-Benchmark-Report 2011, „Modul LTX-Lebertransplantation 2011“

Page 7: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 7I / 2013

Liste oder der Tätigkeitsberichte der Transplantationszentren der Deut-schen Stiftung Organtransplantation (http://www.dso.de/dso/gemein-schaftsaufgabe-organspende/trans-plantationszentren.html), in denen je-des Krankenhaus jedoch ein bisschen anders meldet. Wer ein bisschen Excel beherrscht, kann eine Art „Rangliste“ aller Lebertransplantationszentren zu-mindest für die öffentlich verfügbaren Indikatoren zusammenstellen. Das vorläufige Ergebnis meiner kleinen Da-tensammlung: Man erkennt erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Transplantationszentren, etwa bei der Zahl der noch in der Klinik verstorbe-nen Patienten. Von den Patienten, die die Klinik lebend verlassen konnten, starben in manchen Kliniken im ers-ten Jahr noch einmal deutlich mehr als andernorts. Bei dieser Rate des „1-Jahresüberlebens“ nach Leber-transplantationen werden allerdings

diese Aqua-Auswertungen dort erfreu-licherweise online gestellt werden. Das ist lobenswert, denn anhand der PDF-Datei „Modul LTX-Lebertransplantation 2011“ (http://www.ukaachen.de/go/show?ID=24039997&DV=0&COMP=download&NAVID=21229036&NAVDV=0) konnte ich endlich die Struktur der Aqua-Benchmark-Reports verstehen. In dem Dokument finden sich nicht nur alle Indikationen zu Lebertransplan-tationen, sondern erstmals ein ech-ter Vergleich der Qualitätsindikatoren zwischen allen Transplantationszent-ren, die 2010 Lebern verpflanzt haben (siehe Grafik 1). Wenn ein Zentrum es denn will, kann es sich bei heiklen Be-funden anstrengen, besser zu werden, das ist wohl die Idee hinter dieser Form der Qualitätssicherung. Es ist im Grun-de die Idee von Gerhard Opelz, ein ehemaliger Mitarbeiter hat sie offenbar versilbert. Leider bleiben Öffentlich-keit, Patienten und auch Journalisten

bei diesen heiklen Vergleichen erneut außen vor. Der einsame „Benchmark-Bericht“ erklärt dem Datenjournalisten zwar, wo das Klinikum Aachen 2011 stand im Vergleich, nicht aber, wie gut die anderen Zentren sind. Genau das wollte ich aber herausfinden.

Kein unlösbares Problem, dachte ich. Einfach die „Benchmark-Berichte“ aller 24 Kliniken anfordern und an-hand der roten Punkte den jeweiligen Orten zuordnen. Schon wieder ein Irr-tum; die Berichte dürfen, müssen aber von den Krankenhäusern nicht veröf-fentlicht werden. Und daher werden sie meist nicht herausgegeben. Das Aqua-Institut wiederum darf sie nicht herausgeben. Pech. Also musste ich mir als Datenjournalist mein eigenes „Benchmarking Lebertransplantation“ zusammensuchen, auf der Basis der Datenwüsten in den Krankenhaus-qualitätsberichten und der Weissen

Sterblichkeit in Unikliniken nach Lebertransplantationen in Prozent zwischen 2007 und 2011. Die Grafik zeigt die höchste, niedrigste und den Mittelwert der Sterblichkeit in diesem Zeitraum. Wenn diese Zahlen tatsächlich die Wirklichkeit widerspiegeln, dann hat die Leber-Transplanta-tionsmedizin an einzelnen Standorten ein Erklärungsproblem. Wenn nicht, dann gibt es ein Problem bei der Qualitätsmessung, die den Namen Messung wohl kaum verdient. Basis der Angaben sind die Tätigkeitsberichte, veröffentlicht bei der Deutschen Stiftung Organtransplantation.

0

10

20

30

40

50

60

70

80

Page 8: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 8I / 2013

Versorgung zieht, sollte er die Qualität der Quellen überprüfen.

Ich nahm mir zwei Einzelfälle vor und wurde stutzig. In dem Qualitätsbe-richt des Uniklinikums Aachen werden für das Jahr 2010 acht Lebertrans-plantationen gemeldet, in der Weissen Liste aber stehen nur zwei. Dieselbe Quelle, zwei verschiedene Werte. Wie kann das sein? Einige Emails später lässt sich nur sagen, dass sich keiner die Unterschiede erklären kann. Noch ein Einzelfall: Dieses Mal will ich die Angaben des Uniklinikums Leipzig prüfen, das Anfang des Jahres nach Göttingen, Regensburg und dem Kli-nikum Rechts der Isar in München in die Schlagzeilen geraten war. Nach Presseberichten war es dort bei im-merhin 37 Lebertransplantationen zu Unregelmäßigkeiten bei der Organ-zuteilung gekommen, zwei Oberärzte wurden entlassen, der Leberchirurg beurlaubt. Um die Zahl der Manipula-tionsvorwürfe einordnen zu können,

nur Patienten gezählt, bei denen der Status des Organempfängers aus dem Jahr 2009 im Jahr 2010 bekannt war. Offenbar ist nicht in jedem Fall klar, ob ein Organempfänger ein Jahr nach der Transplantation noch lebt oder schon verstorben ist. Präzise Angaben zur Sterblichkeit kann man so kaum er-warten. Zudem sind die Fallzahlen für eine aussagekräftige Statistik ziemlich klein.

Immerhin. Ich schien meinem ersten Ziel nahe. Ich hatte Daten. Oder? Als ich dem Leiter der CTS meine krude Datenauswertung nicht ohne Stolz schickte, schlief er eine Nacht drüber und antwortete dann kurz und knapp: „Wenn man die Zah-len mit unseren vergleicht, lässt sich feststellen, dass bei AQUA offenbar einige Fälle fehlen, wir haben näm-lich mehr Fälle in unserer Datei.“ Bei der Zahl der Patienten mit „unbe-kannten Status“ gibt es sogar in bei-den Sammlungen Probleme, irgend-wie verschwinden Transplantierte

aus der Nachsorge, was übrigens kein gutes Omen für die Qualität der Dokumentation in Deutschland ist. Gerhard Opelz hält die verfügbaren Aqua-Daten in der publizierten Form für „wertlos“, um die Qualität der Transplantationsmedizin zu verbes-sern. Wertlos? Alle Mühe umsonst?

Die Qualität der Daten ist mangelhaft

Ich bin bei meinem ersten trauri-gen Fazit: Es ist eine Warnung an alle motivierten Datenjournalisten. Bevor jemand weitreichende Schlüsse aus öffentlich zugänglichen Daten der Qualitätssicherung der medizinischen

Anteil der Patienten, die auch ein Jahr nach der Transplantation noch am Leben sind in Prozent. Basis der Angaben sind die Qualitätsberichte der Krankenhäuser 2010.

Page 9: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 9I / 2013

was sollen Patienten dann mit diesem Datenschrott anfangen? Wer trägt die Kosten für die Nebenwirkungen von falschen Entscheidungen, die Pati-enten auf der Basis unsinniger Daten treffen? Wie sollen Journalisten mit solchen „Qualitätsdaten“ umgehen? Besser die Finger davon lassen? Das wünschen sich vermutlich alle Betei-ligten.

Öffentlicher Druck ist nötig, damit die

Dokumentation der Daten sich bessert

Damit bin ich bei meinem zweiten Fazit. Bisher setzt das System der Selbstverwaltung im Gesundheitswe-sen in weiten Teilen auf Intranspa-renz. Selbst dort, wo Daten gesetzlich offen gelegt werden müssen, bereiten Akteure diese in der Regel so auf, dass aussagekräftige Ergebnisse in den Datenwüsten verloren gehen. In dieser Lage werden die meisten Jour-nalisten früher oder später entnervt aufgeben oder sich auf die Auswer-tungen von Krankenkassen verlas-sen, die aber Parteien im Diskurs sind, schon weil sie die Interessen der Versicherten und Patienten ausbalan-cieren müssen. Für einen Journalis-mus über „Public Issues“ im Gesund-heitswesen müsste also zunächst einmal der Zugang zu Daten dringend verbessert werden, dafür bräuchte es mehr öffentlichen, sprich journalisti-schen Druck. Und Datenjournalisten, die Quellen prüfen können. Und Res-sourcen, so einen anspruchsvollen Journalismus zu betreiben.

wollte ich schlicht prüfen, wie viele Lebern in Leipzig denn pro Jahr trans-plantiert werden, also z.B. im Jahr 2010, in dem ein Teil der Manipulatio-nen erfolgt sein soll. Da ich inzwischen wusste, dass Leipzig nicht an der frei-willigen CTS-Studie teilnimmt, war ich besonders neugierig zu erfahren, wie gut das Uniklinikum im Krankenhaus-qualitätsbericht und in der Weissen Liste abschneidet. Nach Telefonaten, Konsultationen und der Entnahme der Daten aus den verfügbaren Qua-litätsberichten der Uniklinik Leipzig (http://www.g-ba-qualitaetsberichte.de/Daten/261401052-00-2010-xml.xml_Referenzbericht.pdf) ergab sich ein verwirrendes Bild. Schon bei der Dokumentation der bloßen Anzahl der Lebertransplantationen fand sich ein ziemlicher Datensalat. So steht im Jah-resbericht des Uniklinikums Leipzig für das Jahr 2010 die stolze Zahl von 85 postmortalen Lebertransplantationen. Unter Abschnitt C-1-1 im Qualitätsbe-richt des Klinikums liest man unter „Er-brachte Leistungen Lebertransplantati-onen“ die Anzahl 63 für dasselbe Jahr („Dokumentationsquote 100 Prozent“). Unter C-5 im Abschnitt zur „Umset-zung der Mindestmengenverordnung“ steht bei Lebertransplantationen die Zahl 94. Schaut man auf die Qualitäts-indikatoren des Aqua-Instituts, findet man bei der Anzahl der im Kranken-haus verstorbenen Lebertransplantier-ten als Bezugsgröße die Zahl 78, die damit der dem zuständigen Aqua-Ins-titut gemeldeten Zahl der postmortalen Lebertransplantationen entsprechen dürfte. Komplett verwirrend wird es für den, der in die Weisse Liste schaut: Dort finden sich für das Jahr 2010 nur 52 Lebertransplantationen.

Wie viele Lebern zum Beispiel in Leipzig

tatsächlich transplantiert wurden, ist rätselhaft

Wie kommt es zu solchem Da-tenmüll? Beim Aqua-Institut erfahre ich auf Nachfrage eine Menge über verschiedene Datenabfrageroutinen.

Krankenhäuser mussten bisher zu-dem nicht 100 Prozent ihrer Behand-lungsfälle dokumentieren. Einige Le-bern durften Kliniken zwar abrechnen, bei der Qualitätssicherung aber weg-lassen. Wie ich inzwischen weiß, soll zumindest dieser Fehler für die Erhe-bungswelle 2013 abgestellt worden sein. Tatsächlich soll laut den neuen „Richtlinien über Maßnahmen der Qualitätssicherung in Krankenhäu-sern“ künftig bei Organtransplantati-onen von den Krankenhäusern eine hundertprozentige Dokumentations-quote verlangt werden. Angesichts der öffentlichen Diskussionen um das deutsche Organtransplantationsver-fahren sei das von „allen Beteiligten als notwendiges Signal angesehen worden“, erklärte Josef Hecken, un-parteiischer Vorsitzende des G-BA dem Deutschen Ärzteblatt. Eine ge-ringere Dokumentationsquote könne den Eindruck erwecken, dass damit ein Anreiz für Verschleierungen ge-schaffen würde. „Eine Toleranz von zwei Prozent reicht ja aus, um das zu verstecken, was man verstecken will“, so Hecken. „Deshalb haben wir ge-sagt: Trotz möglicher technischer Pro-bleme verlangen wir eine hundertpro-zentige Dokumentationsquote.“ Wenn ein Datensatz nicht übersendet wird, soll das künftig bei Organtransplanta-tionen 2.500 Euro Strafe kosten. Zum Vergleich: Die Erstattung einer Leber-transplantation wird bei Schwerkran-ken schon mal mit mehr als 100 000 Euro verrechnet, egal ob der Patient nach der Operation weiterlebt oder noch in der Klinik verstirbt.

Es soll also nach dem Skandal ei-niges besser werden, auch für die nächste Generation der Datenjourna-listen. Was aber war nun eigentlich in Leipzig los? Selbst die Pressestelle der Uniklinik braucht eine ganze Wei-le, um sich im „komplexen Datensalat“ zurechtzufinden. Dann kommt eine schriftliche Antwort: Danach könnten sich „Abweichungen gegenüber ande-ren Zahlen aus anderen Erfassungs-grundlagen“ oder „abweichenden Erfassungszeitpunkten (Entlassungs-zeitpunkt oder Zeitpunkt der Trans-plantation)“ ergeben. Die Zahl 52 in der Weissen Liste könne man „über-haupt nicht nachvollziehen“, womög-lich sei das „ein Zwischenstand für ein laufendes Jahr.“ Schon möglich. Aber

ist freier Wissen-schaftsjournalist und lebt in Köln.

Volker Stollorz

}

Page 10: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 10I / 2013

Mein kleiner Rundgang in den Datenfriedhöfen der Qualitätssicherung war eine herbe Enttäuschung für mich als Medizinjournalisten. In Deutschland werden es Datenjournalisten vorerst schwer haben, die Qua-lität der Versorgung kritisch prüfen zu können, sofern sie sich dabei nicht allein auf die Einsichten interes-sierter Akteure verlassen wollen. Um das zu ändern, müssten clevere Datenjournalisten vermehrt Schätze heben und Geschichten über regionale Unterschie-de der medizinischen Versorgung in Deutschland er-zählen. Je eher aussagekräftige Daten oder krasse Missstände sichtbar werden, desto mehr Aufmerk-samkeit könnte „Medical-Data-Driven Journalism“ gewinnen. Wie das geht, zeigen erste Erfahrungen aus anderen Ländern. Erwähnt sei hier vor allem die amerikanische Journalisten-Organisation „Pro-Publi-ca“ mit ihren Projekten „Dollars for Docs“, „Patient Safety – Exploring the Quality of Care in the US“ oder „Post Mortem – Death Investigation in America“.

Ein zentraler Ansatz, die Qualität der Versorgung im Sinne der Patienten auch in Deutschland zu verbes-sern, läge schlicht darin, vermehrt zuverlässige Quali-tätsmerkmale der medizinischen Versorgung für Dritte messbar und Defizite in einem zweiten Schritt trans-parent zu machen. Der Transplantationsskandal um Lebern hat deutlich gemacht, dass die bisher zaghaf-ten Versuche der Qualitätsmessung á la Aqua-Institut Fehlanreize und Fehlverhalten und auch mangelnde Qualität nicht zuverlässig erkennen können oder wollen. Es fehlten hierzulande Anreize, resümiert die aktuelle Studie der Böll-Stiftung „Wie geht es uns morgen?“, die die für Versicherte „relevanten Qualitätsmerkmale de-finieren, angemessene Informationsformate und Kom-munikationswege beschreiben und die entsprechenden Berichtspflichten für Leistungsbringende und Versi-cherungen zur Marktzugangsvoraussetzung machen“ (http://www.boell.de/downloads/2013_02_Bericht_der_Gesundheitskommission.pdf). Diesem nüchternen Befund ist wenig hinzufügen, außer dass er zur Basis für guten Datenjournalismus über die Fehlentwicklun-gen in der Medizin werden könnte. Dazu bräuchte es vermehrte „Open-Data“-Initiativen in der Medizin und in der Versorgung. Hier sollten sich vermehrt auch Ver-bände von Medizin- und Wissenschaftsjournalisten en-gagieren und einmischen.

Was den Vertrauensverlust in die deutsche Transplan-tationsmedizin und den wachsenden Wettbewerb um knappe Organe angeht, behaupten inzwischen alle möglichen Akteure in der öffentlichen Diskussion, dass Transparenz das beste Desinfektionsmittel sei. Bei den aktuellen Debatten fällt aber auf, dass einige lautstarke Stimmen von Transplantationsmedizinern stammen, die in der Vergangenheit sehr wenig zur Transparenz der eigenen Zentren beigetragen ha-ben. Manche Wortführer haben die Vorgänge in ihren eigenen Zentren nicht so dokumentiert, dass Dritte erfahren durften, welche Erfolge aus Patientensicht erzielt wurden. Andere haben ihre Transplantations-ergebnisse nicht korrekt an Eurotransplant gemeldet. Das müsste eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein bei der transnationalen, solidarischen Verteilung extrem knapper Ressourcen. Transplanteure in Zent-ren wiederum, die ihre Daten stets ordentlich gemel-det haben, werden hinter den Kulissen konfrontiert mit der Forderung, man solle sie aufgrund schlechter Ergebnisse schließen. Allenthalben wird gefordert, unabhängige Kontrollstrukturen zu schaffen. Dass die aber nur wirken können, wenn die relevanten Da-ten erhoben und zeitnah ausgewertet werden, bleibt meist unerwähnt. Datenfriedhöfe gibt es schon genug in der Transplantationsmedizin. Auch an Kommissi-onen, die Missstände diskutieren, mangelt es nicht. Kürzlich erst richteten Chirurgen und Internisten eine weitere „Task-Force Transplantationsmedizin“ ein mit Vertretern, die in den bisherigen Kommissionen noch nicht vertreten waren. Und das Bundesministerium für Gesundheit schrieb ein „Fachgutachten für ein nationales Transplantationsregister aus.“ Darin soll der „Ist-Zustand der Datenerfassung zusammenge-fasst“ und der „Mehrwert“ einer „darüber hinausge-henden einheitlichen Datenerhebung“ erarbeitet und Vorschläge zur Gestaltung eines Transplantationsre-gisters in Deutschland unterbreitet werden. Das Gut-achten wird wohl erst nach der Bundestagswahl fer-tig werden. Es wird also dauern, bis die Qualität der Transplanteure öffentlich sichtbar wird. Das Schwei-gen über die Daten zu den Organverpflanzungen ist im Grunde der eigentliche Transplantationsskandal.

Volker Stollorz

Wenn Daten schweigen

}

Page 11: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 11I / 2013

Das publizistische Kräftemessen um ein Elektroauto ist ein Lehrstück über die Herausforderungen, denen sich der Journalismus in der digitalen Moderne stellen muss.

Von Leif Kramp

Es geht um alles: Tesla gegen die New York Times

Motorjournalisten wird nicht selten eine problematische Nähe zum Ge-genstand ihrer Arbeit nachgesagt. Da-bei hat die Zusammenarbeit zwischen Redaktionen und der Automobilindu-strie System: Um über neue Modelle berichten zu können, sind Journalisten auf Testfahrzeuge angewiesen. Diese werden ihnen, so die gängige Praxis, kostenlos zur Verfügung gestellt. Wird die kostenfreie Ausfahrt aber, auch dies ist gängige Praxis, mit der Einladung zu einer Reise in ein Urlaubsgebiet verbunden, wo das neue Modell vor malerischer Kulisse in Szene gesetzt werden soll, wird zweifellos die journa-listische Integrität auf die Probe gestellt und die Berichterstattung angreifbar.

Auch John M. Broder von der New York Times ließ sich einladen, um ein Auto zu Testzwecken zu fahren. Nun ist Broder kein gewöhnlicher Motor-journalist und das Objekt seiner Be-richterstattung war kein gewöhnliches Automobil. Als langjähriger politischer Washington-Korrespondent, der zeit-weise auch dem Pressekorps des Weißen Hauses angehörte, verfügt er über eine ausgewiesene Expertise zu energie-, umwelt- und klimapoliti-schen Themen. So stand nicht nur das über 70.000 Euro teure Modell Tesla S – ein Elektroauto – im Mittelpunkt seines Interesses, sondern auch das von der Herstellerfirma aufgebaute Versorgungsnetz mit sogenannten ‚Superchargern’ – Hochleistungslade-stationen für die Luxus-Limousinen. Kurzum: Nach der ersten Testfahrt ei-nes Times-Kollegen an der Westküs-te der USA im September 2012 sollte nun ein Ausflug entlang der Ostküste klären, ob Elektromobilität im Land der weiten Horizonte schon heute tatsäch-lich ohne Abstriche möglich ist.

Ganz anders als der Kollege kam Broder auf seiner Route, die ihn im Januar 2013 von Washington, D.C. nach Norden über Newark und New York City bis hinauf in den Bundes-staat Connecticut führen sollte, zu dem Schluss, dass Teslas Vision von

der Zukunft des Fernverkehrs wenig überzeuge. Er sei auf „Tesla’s Electric Highway“ schlicht und einfach liegen geblieben, so steht es schon in der Überschrift. Die Schlappe des Akkus kam nach Broders Schilderung letzt-lich nicht überraschend: Sein Fahrbe-richt lässt nichts Gutes an der jungen Premium-Marke. Er urteilt hart über die vielfach gelobte Ingenieurleistung des Unternehmens und über den Kunden-service. Broder schürt unverhohlen die Angst vor dem ungewollten Halt auf freier Strecke, vor Stillstand und Kon-trollverlust. Sein Bericht liest sich wie eine Tour de Force, bei der winterliche Außentemperaturen, lange Ladezei-ten, wechselnde Reichweitenangaben und zum Teil widersprüchliche Tipps des Herstellers dem Fahrer zu schaf-fen machen. Dieser Bericht, erschie-nen im Automobilteil der New York Times und illustriert mit einem Foto, das die windschnittige Karosse auf ei-nem Abschleppwagen zeigt, drohte für Tesla zum Fiasko zu werden.

Dank Social Media sind Kritisierte wehrhaft

geworden

Tesla steht für einige Superlative im noch überschaubaren Sektor für Elektroautos und gilt – auch dank der PR- und Lobbyarbeit des CEO und Co-Gründers Elon Musk – als Vorreiter bei der Konstruktion elektrischer Auto-mobilantriebe. Die globale Energiede-batte und wachsende Sensibilität für die Endlichkeit fossiler Energieträger haben das im kalifornischen Silicon Valley ansässige Unternehmen ins-besondere in den USA, Europa und Japan in nur wenigen Jahren bekannt gemacht. Zu seinen Kooperationspart-nern zählen unter anderem Daimler Benz und Toyota. Bislang konnte sich Musk, ebenfalls Gründer des High-

tech-Weltraumunternehmens SpaceX und Co-Gründer des Online-Bezahl-systems Paypal, auf einer Woge der Zustimmung wähnen. Die zumal auch im Ton recht barsche Kritik der New York Times traf ihn also entsprechend hart, wenn auch nicht unvorbereitet, hatte Tesla den Testwagen doch mit allerhand Elektronik ausgestattet, die eine lückenlose Überwachung der Fahrt möglich machte.

Schon wenige Tage nach Broders Abrechnung meldete sich Musk über Twitter und in einem Fernsehinterview zu Wort, bis er schließlich mit einem Eintrag in Teslas Firmen-Blog zum pu-blizistischen Gegenschlag ausholte: Nicht nur versuchte er die Vorwürfe mit den aufgezeichneten Leistungs- und Bewegungsdaten zu widerlegen. Auch stellte er dezidiert die professionelle Integrität des Kritikers in Frage, indem er anmerkte, Broders Meinung sei voreingenommen gewesen, da dieser schon in früheren Artikeln eine ausge-sprochen negative Haltung gegenüber Elektroautos gezeigt habe. Ähnliche Erfahrungen mit der populären briti-schen Autosendung Top Gear, bei der das Tesla Modell aus inszenatorischen Gründen negativ vorgeführt worden sei, gibt Musk als maßgeblichen Grund für den Einbau der Kontrolltechnik an, um in Zukunft besser gegen Kritik ge-wappnet zu sein.

Logfiles beschädigen die Integrität

der New York Times

Die Auflistung der aus den Logfiles extrahierten Orts-, Zeit-, Geschwin-digkeits-, Temperatur- und allen voran Kapazitätsdaten der Lithium-Ionen-Akkumulatoren des Testwagens, kom-plementiert mit einigen ausgewählten Diagrammen, suggerieren dem Leser vor allem eines: dass sie die Wahrheit

Page 12: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 12I / 2013

über den tatsächlichen Verlauf der strit-tigen Testfahrt in sich tragen. In einer zum Teil minutiösen Rekonstruktion der Testfahrt versucht Musk die aufgezeich-neten Daten mit den Angaben in Bro-ders Artikel abzugleichen und kommt dabei zu eindeutigen Schlüssen: Bro-der habe nicht wahrheitsgetreu berich-tet und sogar Tatsachen wissentlich verändert – für Musk ein klares „no win scenario“ für sein Auto. Schnell ging es um scheinbar geringfügige Details, die angesichts der ernsten Anschuldigun-gen gegenüber dem Reporter jedoch offenbaren, wie akribisch ein Journalist heutzutage Aufzeichnungen anfertigen sollte, um sich im Zweifelsfall glaubhaft verteidigen zu können: Hatte der Repor-ter die Innentemperatur des Fahrzeugs reduziert oder gar noch erhöht? Wann genau drehte er den Temperaturregler in welche Richtung? Wie lange fuhr er schneller als erlaubt? Und weshalb ist er in einem Zeitfenster von nur wenigen Minuten ständig im Kreis gefahren?

Dieser Fall zeigt, wie wichtig die Sozialen

Medien geworden sind

Auch diverse Stellungnahmen Bro-ders zu den verschiedenen Vorwürfen beruhigten die Diskussion im Social Web kaum. Hunderte von Kommen-taren sammelten sich unter den Blog-posts von Musk und Broder, bei Twit-ter und Facebook gewann das Thema eine ganz eigene Dynamik. Es entwi-ckelte sich jedoch nicht nur ein reni-tenter ,Shitstorm’, jene schwallartige Beschwerde- und Verleumdungskom-munikation von Nutzern, mit der auch andere Redaktionen und einzelne Autoren immer häufiger zu kämpfen haben. Kritik an der Berichterstat-tung nahm auch kreativ-konstruktive Formen an: Bereits eine Woche nach Veröffentlichung des vernichtenden Fahrberichts initiierten Kunden eine Aktion, bei der die Testfahrt mit sechs privaten S-Modellen wiederholt und dabei die Fahrdaten in Echtzeit über Twitter vermeldet wurden. Von Bat-terieproblemen berichtete keiner der Fahrer.

Bei dem ungewöhnlichen publizisti-schen Kräftemessen zwischen einem gestandenen Journalisten und einem medienaffinen Unternehmer ging es für beide Parteien schnell um alles: um die technologische Integrität eines Zu-kunftsprodukts und damit den Aktien-kurs, aber auch um die journalistische Integrität und damit die Glaubwürdig-keit eines Leitmediums. Hinter der Aus-einandersetzung verbirgt sich weitaus mehr als das klassische Austragen von Kritik und Gegendarstellung, bei dem der Journalismus in der Vergangenheit durch seine publizistische Exklusivstel-lung regelmäßig die Oberhand behielt und es gescholtenen Unternehmen allenfalls übrig blieb zu hoffen, über Umwege mit Presseerklärungen und Werbeanzeigen bei der medialen Kon-kurrenz Aufmerksamkeit für ihre Sicht der Dinge erzeugen zu können.

Zwar berichteten andere Medien über den Streit und unternahmen ver-einzelt auch eigene Testfahrten. Der Fall Tesla jedoch zeigt allen voran, wie wichtig die Sozialen Medien in der Un-ternehmenskommunikation geworden sind und wie effektiv sie mittlerweile eingesetzt werden, um journalistische Urteile anzufechten, alternative Infor-mationsangebote zu lancieren oder aber gar Gegenöffentlichkeiten zu schaffen. Der Fall Tesla zeigt zudem auf eindrucksvolle Art und Weise, wie die Solidarität einer auserlesenen Kund-schaft gestärkt und darüber hinaus auf Nutzer ausgeweitet werden konnte, die mit den Produkten und der Philosophie des Unternehmens sympathisieren. Diese Mobilisierungsprozesse liefen in aggressiver Opposition zur New York Times ab – eine Strategie, die auch deshalb aufging, weil der Ruf der mäch-tigen Nachrichtenmarke als Glaubwür-digkeitsinstanz angeschlagen ist.

Der Fall ist ein Lehrstück dafür, worauf sich

Journalismus einstellen muss

Die New York Times trifft jeder ge-rechtfertigte Zweifel an der journa-listischen Integrität ihrer Mitarbeiter

empfindlich. Die Arbeit der Redaktion wird schon seit Jahren von einer Rei-he kritischer ,Watchblogs’ beobachtet – insbesondere seit mehrere Skandale die Redaktion erschütterten. So stellte sich im Jahre 2003 heraus, dass der aufstrebende Jungredakteur Jayson Blair den Großteil seiner Reportagen und Portraits verfasst hatte, ohne selbst am Ort des Geschehens gewe-sen zu sein, geschweige denn mit den genannten Personen gesprochen zu haben. Folgen für das Selbstverständ-nis der New York Times hatte auch der Skandal um die Reporterin Judith Mil-ler, die im Jahre 2005 überführt wurde, sich in ihren Berichten über angebliche Massenvernichtungswaffen im Irak auf unglaubwürdige Informanten gestützt und damit im Interesse der Regierung George W. Bushs berichtet zu haben.

Die Loyalität des Publikums ist

gefährdeter denn je

Die Skandale der Vergangenheit haben den Ruf der New York Times zweifellos ramponiert und nehmen sie in die Pflicht, sich umso stärker für die Aufrechterhaltung journalistischer Tu-genden von Sorgfalt, Sachlichkeit und Wahrhaftigkeit einzusetzen. Der Jour-nalismus insgesamt ist angreifbar ge-worden. Er hat seine Exklusivstellung verloren. Dies betrifft sowohl seine Rolle bei der gesellschaftlichen Selbstverstän-digung als auch seine Macht, Kampag-nen zu fahren, Stimmung zu machen und Meinungen zu prägen. Tesla-Chef Musk hat bei Twitter rund 190.000 Follo-wer, die auch als neue Form von Abon-nenten gelten können und nicht mehr (allein) die Berichterstattung klassischer Medienmarken verfolgen. Tesla vs. New York Times ist deshalb in mehrfacher Weise ein Lehrstück über die Herausfor-derungen, denen sich der Journalismus in der digitalen Moderne stellen muss:

1. Medien- und Journalismuskri-tik wird öffentlicher, alltäglicher, aber auch substantieller: Das Handeln von Journalisten und die Ergebnisse ihrer Arbeit werden sowohl von Nutzern als auch von Unternehmern mit den pu-blizistischen und diskursiven Mitteln

Page 13: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 13I / 2013

digitaler Medientechnologien öffent-lich hinterfragt, korrigiert und heraus-gefordert. Bei Ungenauigkeiten muss ein Berichterstatter mit scharfem Ge-genwind rechnen, auch und gerade in Bezug auf die in der Regel kompli-zierten Zusammenhänge in Wirtschaft, Wissenschaft und Technik. Unterneh-men, Verbände, öffentliche Einrich-tungen, selbst Behörden rüsten auf im zunehmend im Internet ausgetra-genen Kampf um die Deutungshoheit und machen dadurch journalistischen Angeboten Konkurrenz. Den signifi-kanten Unterschied stellt dabei die Qualität der Wehrhaftigkeit neuer pub-lizistischer Akteure dar, die sich nicht scheuen, Berichte in Frage zu stellen und mitunter auch zu widerlegen.

Journalistische Mentalitäten müssen

sich ändern

2. Die Loyalität von Lesern, Hörern und Zuschauern zu Medienmarken und ihren Journalisten ist gefährdeter denn je: Journalisten befinden sich mit ande-ren publizistisch aktiven Akteuren im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit, aber auch um das Vertrauen der Nut-zer. Medienmarken erschüttern zwar regelmäßig mit ihrer kritischen Bericht-erstattung den Glauben in die Qualität von Konsumgütern. Die Medienmarken selbst wurden in der Vergangenheit aber durch die schwache strukturel-le Verankerung der Medienkritik nur selten zum Stein des Anstoßes. Je selbstverständlicher Journalismus nun kritisch beobachtet, kontrolliert und reflektiert wird, desto mehr müssen Journalisten und ihre Medienhäuser um ihr Ansehen kämpfen und für die Glaubwürdigkeit ihrer Angebote wer-ben. Entscheidend ist hierbei das dia-logische Aufgreifen der Kritik und der Nutzerwünsche: In Zukunft wird der Er-folg einer Redaktion nicht allein an der Qualität ihrer journalistischen Beiträge gemessen werden, sondern auch we-sentlich davon abhängen, wie bereitwil-lig Journalisten mit Kritik umgehen und wie sie sich auf entsprechende Diskus-sionen einlassen.

3. Die Technik-Abhängigkeit von Journalisten verschärft sich: Das sich hartnäckig haltende Klischee des Be-richterstatters, der allein mit einem Zettelblock und Kugelschreiber seinen Recherchen nachgeht, gehört längst der Vergangenheit an. Nicht nur das journalistische Angebot geht mit der Zeit und ist auf immer neuen Kanälen, Plattformen und Endgeräten abruf-bar. Vor allem auch handwerklich sind Journalisten immer nachdrücklicher gefordert, emergente Technologien bei der Recherche, aber auch bei der Ent-wicklung neuer Darstellungsformen zu adaptieren, um ihre Vermittlungsauf-gabe angesichts der Fülle verfügbarer Informationen und Daten besser er-füllen zu können. Die Überrumpelung des Times-Redakteurs mit der Veröf-fentlichung seiner aufgezeichneten Fahrwerte zeugt auch davon, dass der Umgang mit Daten selbst in fortschritt-lichen Redaktionen für viele Journalis-ten noch die Ausnahme denn die Regel darstellt. Zwar ist Datenjournalismus mittlerweile ein in vielen Redaktionen angekommener, aber mitunter nur zu-rückhaltend angenommener Trend. Nun gehören Kenntnisse über statis-tische Verfahren bekanntermaßen zur Achillesverse des Journalistenberufs. Der Berichterstatter muss nicht zum Informatiker werden, um belegen zu können, dass auch rohe Daten ohne journalistische Einordnungsleistung sinnlos walten können und meist viele unterschiedliche Wahrheiten enthal-ten, deren Interpretation nicht selten selbst unter Fachleuten strittig bleibt. Um dies zu leisten, braucht es eine technologische Basis-Kompetenz, die sich Journalisten mit Neugierde und Lernbereitschaft mithilfe digitaler Hilfs-mittel aneignen können.

4. Mentalitäten im Journalismus müssen sich wandeln: Die Zukunft wird viele Formen, Kombinationen und Arbeitsmöglichkeiten im Journalismus kennen. Die digitale Moderne ist ein Segen für den Journalismus: Nie gab es mehr Betätigungs-, Ausdrucks- und Vertriebsmöglichkeiten für Journalis-mus als heute. Wie eindrucksvoll hätte der Autor der New York Times sein Pu-blikum informieren und sicherlich auch überzeugen können, hätte er die Mög-lichkeiten des Daten- und Sensoren-journalismus ausgeschöpft, um seinen streitbaren Bericht über die vermutete

Unzuverlässigkeit der Elektromobilität nicht nur mit Worten, sondern mit selbst generierten Daten zu untermauern? Welchen Reiz hätte John M. Broders Elegie geweckt, wenn er – statt sich in einem konventionellen Bericht auf das Look & Feel seines Road Trips zu kon-zentrieren – die Öffentlichkeit in actu an seiner Fahrt hätte teilhaben lassen und von vornherein die Diskussion mit Nutzern und dem Unternehmen ge-sucht hätte? Stattdessen überließ er dieses Interaktionspotenzial Tesla und dessen Kunden. Der Journalismus der nahen Zukunft verspricht flexibler, in-teraktiver und dialogischer zu werden. Dazu braucht es in erster Linie einen Wandel von althergebrachten Mentali-täten; denn wer Zukunftskonzepte wie Open Newsroom, Crowdsourcing oder Liquid Journalism zu antizipieren wagt, um Journalismus in der Mitte einer Gesellschaft zu praktizieren, die zu-nehmend eine digitale wird, muss sich auch seiner in Teilen marginalisierten Rolle als Agent der Öffentlichkeit be-wusst werden und dadurch die Dring-lichkeit zur Öffnung, Kollaboration und Partizipation erkennen. Dabei geht es nicht darum, sich blind den Wünschen der Nutzer zu unterwerfen, sondern vielmehr um die Bereitschaft, offen für Anregungen und Kritik zu sein, und das nicht nur im Nachhinein, sondern schon während des journalistischen Arbeitsprozesses. Dieser Weg mag beschwerlich sein, doch wird er dabei helfen, sich das Vertrauen der Nutzer immer wieder neu zu verdienen.

Gerade erschien der von Leif Kramp mitherausgegebene Sammelband „Journalismus in der digitalen Moderne. Einsichten – Ansichten – Aussichten“ bei Springer VS (gem. mit Leonard Novy, Dennis Ballwieser und Karsten Wenzlaff).

Leif Kramp

ist Kommunika-tions- und Medi-enwissenschaft-ler am ZeMKI der Universität Bremen.

}

Page 14: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 14I / 2013

Ergebnisse einer bundesweiten Befragung

Von Stefan Weinacht und Ralf Spiller

Wie wissenschaftlich ist Datenjournalismus?

Die ZEIT bringt sie regelmäßig, die Süddeutsche Zeitung immer häufiger und auch die taz mischt manchmal mit. Die Rede ist von datenjournalis-tischen Projekten der Onlineableger deutscher Leitmedien. Dabei visua-lisieren Journalisten gemeinsam mit Programmierern und Grafikern große Datenmengen und zeigen neue Bezie-hungen auf. Häufig kann sich der User selbstständig in den präsentierten Da-ten orientieren, so z.B. beim bekann-ten „Zugmonitor“ der Süddeutschen Zeitung, der Verspätungen der Deut-schen Bahn visualisiert (zugmonitor.sueddeutsche.de).

Einige Datenjournalisten rühmen sich ihrer „wissenschaftlichen Methoden“, mit denen sie ihre Datensätze bearbei-ten. Die Wissenschaft hat’s bisher we-nig interessiert. Doch was steckt wirklich hinter dem Schlagwort? Wie wissen-schaftlich ist er, der Datenjournalismus, und sollte er das überhaupt sein?

Kooperationsprojekte zwischen Da-tenjournalisten und Wissenschaftlern sind bisher nur vereinzelt und lediglich aus Nachbarländern bekannt. Wissen-schaftliche Studien zum Datenjour-nalismus sind rar. Und eine kritische Diskussion des Spezialaspekts der „Wissenschaftlichkeit des Datenjour-nalismus“ hat bis dato weder unter Datenjournalisten noch unter Wissen-schaftlern in bemerkenswertem Rah-men stattgefunden.

Antworten auf diese Frage gibt eine Studie, die wir am Institut für Journalis-mus und Public Relations der Westfä-lischen Hochschule sowie an der Ma-cromedia Hochschule für Medien und Kommunikation in Köln durchgeführt wurde. Sie beleuchtete erstmals das Feld, indem wir 33 Datenjournalisten in Deutschland befragt haben.

Zunächst einmal irritiert die geringe Zahl von 33 qualitativ befragten Ex-perten aus methodischen Gründen. Ein Phänomen, das in Journalismus und Ausbildung viel Aufsehen erregt hat, soll durch 33 Erfahrungsberich-te, Einstellungen und Meinungen ab-

bildbar sein? Tatsächlich aber erwies sich die empirische Sachlage als er-nüchternd: Neben den 33 Befragten fanden sich nur wenige weitere Men-schen in Deutschland, die sich selbst als Datenjournalisten bezeichnen. Also wurden ausgehend von der einschlägi-gen Berichterstattung in Branchenzeit-schriften per Schneeballsystem Da-tenjournalisten identifiziert. Weil man sich ganz offensichtlich durch Stamm-tische, Konferenzen und intensive Wettbewerbsbeobachtung innerhalb der Community recht gut kennt und weil alle wiederholt genannten Perso-nen befragt wurden, dürfte das Sam-ple quantitativ und qualitativ belastbar sein. Diese fragwürdig anmutende Identifikation der Grundgesamtheit er-wies sich als unumgänglich, so lange es noch keine weithin anerkannte No-minaldefinition für das Phänomen Da-tenjournalismus gibt.

Unsere gesammelten Ergebnisse ergeben eine deutlich konturierte Mo-mentaufnahme:

Nur wenige der Befragten arbeiten heute im Rahmen einer Festanstellung. Die Mehrzahl ist entweder „festange-stellt und betreibt den Datenjournalis-mus als Hobby nebenbei“ oder arbeitet als „freier Journalist, der auch daten-journalistische Projekte realisiert.“

Wer sich heute „Datenjournalist“ nennt, hat studiert. Mehrfach wird In-formatik als Studienfach genannt, meist eine der Sozialwissenschaften, häufig speziell Journalismus oder Journalistik. Das Wort der „Wissen-schaftlichkeit“ des Datenjournalismus sollte also aus berufenem Munde kom-men. Und es wird häufig verwendet, wenn Datenjournalisten über den Da-tenjournalismus reden.

Das fängt an bei der historischen Be-trachtung: Einer sieht den „Datenjour-nalismus losgetreten durch Leaking-Geschichten und untermauert durch allgemeine Zweifel an der Glaubwür-digkeit der Medien.“ So sei der Trend entstanden, dass Journalisten wissen-schaftlicher arbeiteten und ihre Quellen

und Daten offenlegen müssten. Deutlich häufiger wird der Datenjournalismus aus dem Computer Assisted Reporting (CAR) abgeleitet, das beschrieben wird als „sozialwissenschaftliche Methode, computergestützt und auf Journalismus angewendet“.

Noch häufiger wird dem Daten-journalismus eine Wissenschaftlich-keit unterstellt, wenn schlicht danach gefragt wird, was Datenjournalismus eigentlich ist. Irgendwo zwischen Definition und geflügeltem Wort be-wegt sich ein Ausspruch von Steve Doig, Professor für CAR an der Wal-ter Cronkite School of Journalism and Mass Communication der Arizo-na State University. Seiner Meinung nach ist Datenjournalismus „social science done on deadline”. Soweit geht kein deutscher Datenjournalist. Aber die Richtung ist beliebt: „Daten-journalismus ist ein Journalismus, der auf einer großen Menge von Rohda-ten basiert, die mit wissenschaftlichen Methoden ausgewertet werden.“ Die hier implizite Abgrenzung zum „nor-malen“ Journalismus wird auch gerne expliziert: „Normalerweise werden im Journalismus keine sozialwissen-schaftlichen oder statistischen Metho-den und deren Werkzeuge angewen-det“, im Datenjournalismus aber eben schon.

Wie kann dieser Selbstanspruch interpretiert werden? Aus der nüchter-nen Sicht des Wissenschaftlers kann die These von der Wissenschaftlich-keit des Datenjournalismus sogar ge-stützt werden: Datenjournalismus ist intersubjektiv nachvollziehbar, wenn die Veröffentlichung begleitet wird von einem Text zur Entstehung. Im Einzel-fall ist dann unter Umständen auch die Validität der zu Grunde liegenden Pri-märerhebung einschätzbar.

Andererseits scheinen Datenjourna-lismus und Wissenschaft ebenso plau-sibel abgrenzbar. „Ein Statistiker ist noch kein Datenjournalist, auch reines Computer Assisted Reporting (CAR) ist noch kein Datenjournalismus. Jour-

Page 15: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 15I / 2013

nalistisch am Datenjournalismus ist, dass er Themen aufspürt, Relevanz im Sinne von Nachrichtenwerten entdeckt oder erzeugt und mit journalistischen Darstellungsformen aufbereitet. Ver-nachlässigen Datenjournalisten eines dieser Kriterien, dann sind sie keine Journalisten, sondern Sozialwissen-schaftler, Statistiker oder Infografiker,“ schreibt Annette Leßmöllmann, Pro-fessorin für Wissenschaftsjournalis-mus an der Hochschule Darmstadt, http://journalistik-journal.lookinginto-media.com/?s=Annette+Le%C3%9Fm%C3%B6llmann&sbutt=Find.

Für die strikte Trennung von Daten-journalismus und Wissenschaft spre-chen drei Argumente:

1) Datenjournalismus hält sich sel-ten an den idealtypischen Forschungs-prozess, der üblicherweise mit einer Forschungsfrage beginnt und für die Antwort nach Daten sucht. Im Daten-journalismus steht am Anfang nicht selten ein Datenberg und eine For-schungsfrage wird zur überflüssigen Nebensache, wenn man nur eine spektakuläre Information in den Daten gefunden hat. „Jeder hat so seine Art, entweder mit der Hypothese oder dem Datensatz anzufangen”, erklärte einer der befragten Datenjournalisten.

2) Die Reliabilität eines datenjour-nalistischen Projekts mag bei Ein-zelarbeiten naheliegend sein. Bei Teamarbeiten und insbesondere beim Crowd-Sourcing im Sinne der arbeits-teiligen Interpretation von Datensätzen wird sie allerdings nie gemessen.

3) Vereinzelt entstand in den In-terviews der Eindruck, Wissenschaft-lichkeit sei gegeben, sobald das Programm Excel verwendet wird. Mehrheitlich aber ergibt sich Wissen-schaftlichkeit durch die sachgerechte Anwendung von Erhebungsmetho-den. Nur in Einzelfällen ziehen sich Datenjournalisten auch den großen Schuh der „statistischen Auswertung“ an. In der Praxis reichen dem Verneh-men nach rein deskriptive Auszählun-gen. Man sucht nach Extremwerten und regionalen Häufungen. Man wer-tet nach journalistischen Kriterien aus: Kann ich skandalisieren? Interessiert das jemanden? Man wertet nicht nach wissenschaftlichen Kriterien aus.

Die Datenjournalisten schreiben sich also gerne Wissenschaftlichkeit auf die Fahnen. Die harten Kriterien des wis-senschaftlichen Arbeitens werden aber nur bedingt erfüllt. Was auf den ersten Blick verwerflich scheint, ist auf den zweiten Blick sinnvoll.

Wieso sollten Journalisten – und nur für diese Funktion werden Daten-journalisten von Medienunternehmen bezahlt – nach den Kriterien des Wis-senschaftssystems arbeiten? In jedem Fall wäre das wirtschaftlich unrentabel, weil Forschung nun mal zeit- und res-sourcenaufwändiger angelegt ist als die journalistische Recherche. Auch normativ erwartet die Gesellschaft vom Journalisten kompaktere Informationen als das ausdifferenzierte Ergebnis einer wissenschaftlichen Studie.

Schließlich spricht folgender Ver-gleich für die strikte Trennung von Da-tenjournalismus und Wissenschaft: Würde man von Datenjournalisten eine Arbeit nach den Qualitätsmaßstäben der Wissenschaft auf Kosten der Effizi-enz verlangen, wäre das wie die Forde-rung an einen Wissenschaftler, er möge doch Forschungsberichte mit journalis-tischer Eleganz und auf Kosten der de-finitorischen Genauigkeit formulieren.

Die meisten Datenjournalisten, die ihre Arbeit in irgendeinen Zusammen-hang mit Wissenschaft brachten, wol-len auch gar nicht den Wissenschaft-lern die Arbeit abnehmen. Sie nehmen ja nur die Verwendung „wissenschaft-licher Methoden“ in Anspruch. Ab-gesehen davon, dass viele Wissen-schaftsbereiche unter „Methoden“ völlig unterschiedliche Dinge verste-hen, überbieten sich Wissenschaftler auf Tagungen in aller Regel auch im Methoden-Wettbewerb: „Wie haben Sie diese Daten denn genau erhoben? Das soll eine ordentliche Befragung gewesen sein?“ Ein guter Methodiker weiß eigentlich immer, wie man eine noch bessere Datenbasis hätte erzie-len können. So besehen haben Da-tenjournalisten, zumal wenn Sie Daten online und zumeist ohne definierbare Grundgesamtheit generieren, wissen-schaftlich keinen wirklich guten Stand.

Bevor nun also Journalisten versu-chen, hohe wissenschaftliche Stan-dards zu erfüllen, und bevor Wissen-schaftler versuchen, Journalisten auf der Autobahn der populären Medien zu überholen, gäbe es noch den gangba-

reren Mittelweg der projektbezogenen Kooperation. Es ist mehr als erstaun-lich, dass nur ein einziger befragter Da-tenjournalist von einer solchen Zusam-menarbeit berichtet hat. Denn: Wo der Wissenschaftler die notwendigen Vo-raussetzungen für eine sinnvolle Da-tensammlung und Datenauswertung beherrscht, haben Datenjournalisten in aller Regel die bessere Qualifikati-on für die Darstellung der Ergebnisse, um Aufmerksamkeit beim Publikum zu erregen.

Was wäre die Zusammenarbeit doch für eine WinWin-Situation! Gemeinsam werden Themen gesucht, die die Wis-senschaft voranbringen und ein breites Publikum informieren und unterhalten können. Journalisten sammeln trick-reich Daten, die dank wissenschaftli-cher Beratung nicht von Anbeginn an Verzerrungen in sich tragen. Wissen-schaftler bekämen Daten, die sie sonst nicht hätten, etwa weil Datenjourna-listen neue Datenquellen erschließen. Journalisten bekämen sinnvolle und abgesicherte Auswertungen. Und Wis-senschaftler könnten schließlich im wissenschaftlichen Wettkampf reüs-sieren mit Darstellungen, insbesonde-re Visualisierungen, die eine differen-zierte Ergebnisdiskussion beflügeln und diese nicht derart erschlagen, wie das manch dröge Ergebnis-Vorlesung noch heute mit sich bringt. }

Ralf Spiller

unterrichtet im Studiengang Medienmana-gement an der Hochschule für Medien und Kommunikation, Köln.

Stefan Weinacht

lehrt an der Westfälischen

Hochschule Kommunikati-

onswissenschaft im Institut für

Journalismus und Public Relations.

Page 16: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 16I / 2013

Mit einer viermonatigen „Explorationsphase“ wollte die WPK herausfinden, ob die Gründung eines Science Media Center (SMC) nach britischem Vorbild in Deutschland sinnvoll und machbar ist. Das Projekt wurde von der Robert Bosch Stiftung gefördert, im März haben wir die Ergebnisse der Stiftung in Stuttgart vorgestellt. Für das Quarterly beschreiben Holger Hettwer, Simone Rödder und Franco Zotta ihre Sicht auf das britische SMC – und was sich daraus für die Situation in Deutschland ableiten lässt.

Von Holger Hettwer, Simone Rödder und Franco Zotta

Das britische Science Media Centre (SMC) und was wir davon lernen können

Vor zehn Jahren ist das britische „Science Media Centre“ (SMC-UK) als weltweit erstes SMC gegründet wor-den. Wie arbeitet das SMC in London, wie ist es organisatorisch und finanziell aufgestellt und was lässt sich aus sei-ner Entstehungsgeschichte und sei-nem gegenwärtigen Standing lernen? Für unsere Analyse haben wir neben Dokumenten- und Literatur-Recher-chen Interviews mit Protagonisten, Be-obachtern und Kritikern geführt.

Neben Ansatz, Ausrichtung und Angeboten des britischen SMC stan-den seine spezielle Funktion an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Medien sowie seine Reputation nach zehn Jahren Bestandszeit auf unserer Agenda. Insbesondere inter-essierte uns der Impact des SMC-UK auf den Wissenschaftsjournalismus – und welche Erkenntnisse sich daraus für die mögliche Implementierung und das Selbstverständnis eines deut-schen SMC ableiten lassen: Hat das britische SMC auch Modellcharakter für die Situation in Deutschland – oder gibt es Gründe, das UK-Modell in Deutschland nicht zu kopieren?

Das SMC-UK in London

2002 mit drei Mitarbeitern gestartet, arbeitet das SMC im Jubiläumsjahr 2012 mit neun Vollzeitkräften. Das aktuelle Jahresbudget beläuft sich auf 617.000 € (£ 530.000). Außer dem Wellcome Trust, in dessen Räumen das SMC auch beheimatet ist und der 30% des Jahresbudgets finanziert,

darf kein Sponsor mehr als 5% des Jahresbudgets beitragen. Diese fi-nanzielle Deckelung soll die operative Unabhängigkeit von einzelnen Spon-soren garantieren. Auf seiner Website weist das SMC-UK insgesamt 97 Fi-nanziers aus (www.sciencemediacen-tre.org/about-us/funding).

Das erklärte Ziel des SMC in UK ist, die Öffentlichkeit mit evidenzbasier-ten Informationen vor irreführender Berichterstattung zu schützen. Es will der Wissenschaft als „press office for science“ eine Stimme geben, wenn Wissenschaftsthemen auf dem Weg in Schlagzeilen sind – und zwar „unasha-medly pro-science“ (Baroness Green-field). Mit seinem Ziel “to get the news right“ orientiert sich das SMC insbe-sondere an den Schlagzeilen der wich-tigsten Newsmedien und adressiert speziell Nachrichten- und Leitmedien-Journalisten mit seinen Angeboten. Die Angebote sind genau auf den Be-darf dieser Journalisten zugeschnitten: rapid reactions bzw. round-ups (Exper-tenkommentare zu aktuellen Themen innerhalb kürzester Zeit), Pressekon-ferenzen (news briefings und back-ground briefings), daneben fact sheets und crib sheets („Spickzettel“).

Der Output ist beachtlich: Pro Mo-nat werden 23 rapid reactions publi-ziert, ca. 8 press briefings organisiert und 42 Medienanfragen beantwor-tet – was einer Verzehnfachung des Outputs innerhalb von zehn Jahren gleichkommt. (Wobei zeitgleich das Personal von 3 auf 9 Vollzeitkräfte ausgebaut wurde.)

Damit trifft das SMC auf eine hohe Zustimmung in der scientific communi-

ty. Wissenschaftler nehmen das SMC als außerordentlich nützlich wahr: „enourmously beneficial mechanism of connecting science with the me-dia“. Es minimiert aus Sicht der Wis-senschafter das Risiko, an schlecht informierte Journalisten zu geraten, und erhöht die Chance, das eigene Forschungsthema ‚risikoarm‘ in den Medien darzustellen. Zudem loben sie die höhere Effizienz der durch das SMC vermittelten Medienkontakte.

Kritik am britischen SMC

Die beim SMC registrierten Jour-nalisten werden täglich mit Informa-tionen bedient. Mit dem breit gefä-cherten Angebot erreicht das SMC praktisch die gesamte relevante Medienlandschaft: Die rapid reac-tions und press briefings erreichen Journalisten in Qualitäts- und Tablo-idpresse, in öffentlich-rechtlichem und privatem TV, in Fachzeitschriften und Agenturen (über letztere auch die Regionalpresse). Das Angebot wird insbesondere von eher unerfah-renen und nicht-spezialisierten Jour-nalisten als hilfreich bewertet, weil es zur Minimierung von Faktenfeh-lern und Fehleinschätzungen in der Berichterstattung beiträgt. Aus Sicht der Journalisten hat das SMC das Standing von Wissenschaftsthemen in den Nachrichtenmedien verbes-sert. Überdies habe es die Bericht-erstattung über Wissenschaft erhöht, „a lot of silly anti-science“ verhindert und zu einem positiven Bild von Wis-

Page 17: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 17I / 2013

senschaft in der Öffentlichkeit beige-tragen. Offenkundig gelingt es dem SMC-UK auch, Debatten zu aktuellen Ereignissen oder wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu versachlichen.

Aber es gibt auch deutliche Kritik am SMC-UK: Beobachter aus Wis-senschaft und Journalismus mo-nieren, dass es als “press office for science” eine tendenziell einseitige und wissenschaftsfreundliche Be-richterstattung fördere: „The SMC has effectively set the agenda, what you are getting is a very one-sided view.“ Der Output sei eindimensional: Es gehe einseitig um Erfolgsmeldungen aus der Wissenschaft, um neue For-schungsergebnisse. Damit bediene das SMC vor allem den traditionellen Wissenschaftsjournalismus, der sich vor allem für Fortschritte aus der La-borwelt interessiere. Der Fokus liege auf der wissenschaftlichen Main-stream-Meinung, die Auswahl der Ex-perten sei entsprechend verzerrt.

Ein weiterer Kritikpunkt: Die Finan-zierung durch Industrieunternehmen führe zu diversen ‚conflict of inte-rests‘, die nicht transparent gemacht werden: “Bias for GM, for nuclear po-wer, for certain other things. Difficult to say when Monsanto gives you mo-ney – that is a conflict of interest that is not declared.” Kritisiert wird auch der elitistische Ansatz: Zu den Brie-fings seien nur die Redakteure und Korrespondenten der Nachrichtenme-dien eingeladen. Insbesondere profi-lierte Wissenschaftsjournalisten üben

Kritik am “spoon-feeding”-Verfahren des SMC: Der Journalismus werde so zum passiven Abnehmer der SMC-Outputs.

Trotz dieser Kritikpunkte wird das britische SMC offenbar von der Mehr-zahl seiner journalistischen ‚Kunden‘ überwiegend unkritisch genutzt. Dies mag daran liegen, dass ein Teil der Nutzer keine wissenschaftliche Aus-bildung aufweist – besonders bei den Nachrichtenagenturen, an deren Out-put die Regionalpresse hängt. Eine unkritische Nutzung findet sich aber auch bei jenen Journalisten, die dem traditionellen Paradigma des Wissen-schaftsjournalismus anhängen, u.a. in den Redaktionen der Qualitätspresse und des öffentlich-rechtlichen TV, und in dem es nicht vorgesehen ist, Wis-senschaftler zu kritisieren oder ihre po-litische Intentionen zu problematisie-ren: „I am just trying to think what does anti-science mean? It is like anti-life. […] To be anti-that would be quite odd.“

Lessons learned: Was folgt daraus für das

Konzept eines möglichen deutschen SMC?

Unser Fazit: Das SMC-UK hat er-folgreich einen Bedarf im Journa-lismus identifiziert und seinen Out-

put perfekt darauf eingestellt. Damit werden aber keine journalistischen, sondern wissenschaftspolitische und Wissenschafts-PR-Ziele angestrebt und wohl auch erreicht. Aus journa-listischer Perspektive ist daher eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem SMC-UK angebracht, die sich nicht primär an einzelnen Angebo-ten oder Aktivitäten entzündet, son-dern die sich daraus ergibt, dass ein neuer Akteur, dessen PR-Wurzeln unverkennbar sind, auf den Plan tritt und zur zentralen Vermittlungsstelle zwischen Wissenschaft und Journa-lismus wird – man könnte von einem „systemischen Generalverdacht“ sprechen, unter dem das SMC-UK steht. Wenn man darüber nachdenkt, das britische Modell auf Deutschland zu übertragen oder gar zu kopieren, muss man sich bei der Konzeption aus journalistischer Perspektive mehr Gedanken um Funktion und Rollen-bild eines SMC machen.Ein tragfä-higes Alternativmodell sollte an die erfolgreichen Formate des britischen SMC anknüpfen, aber auf die berech-tigten Kritikpunkte reagieren und aus journalismus-praktischer und demo-kratietheoretischer Perspektive an der Steuerung der journalistischen Themen- und Sprecherselektion an-setzen:

Ein solches SMC sollte sich nicht als „press office for science“, sondern vielmehr als „editorial department for science“ verstehen – um eine vielsei-

Das Science Media Center in London bringt es mittlerweile auf einen beachtlichen Output.

Page 18: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 18I / 2013

arbeitet in der Arbeitsgruppe Under-standing Science in Interaction am

KlimaCampus der Universität Hamburg.

tige, kompetente und auch kritische Berichterstattung fördern: Es liefert nicht Vorlagen für „copy & paste“, sondern Fragen, Perspektiven und Aufhänger, kurzum: es recherchiert Material, mit denen Journalisten ar-beiten und mit dessen Hilfe sie ihre je eigenen Beiträge produzieren und ihre eigenen Fragestellungen weiter verfolgen können.

Es wäre also immanentes Ziel eines solchen SMC, die Einord-nungs- und Kritikfähigkeit von (Wis-senschafts-)Journalisten zu stärken und sie vor vermeidbaren Fehlurtei-len zu schützen. Die Aufgabe wäre also nicht „spoon-feeding“, sondern „brain-feeding“, indem das SMC durch evidenzbasierte Basisrecher-chen den Journalisten vor allem jene Zeit „schenkt“, die nötig ist, um aus-gehend von diesem Material vertie-fende Fragen zu beantworten oder größere Sinnzusammenhänge sicht-bar zu machen.

Das SMC-Alternativmodell sollte

unterschiedliche Sichtweisen von Experten auf die Dinge präsentieren, etwa im Fall echter inter- oder trans-disziplinärer wissenschaftlicher Kon-troversen – im Sinne einer journalis-tischen Metaredaktion: Die Auswahl von Themen und Sprechern müsste auf der Basis wissenschaftlicher Ex-zellenzkriterien, aber zugleich mit den Qualitätsroutinen wissenschafts-journalistischer Beobachtung der Wissenschaften erfolgen. Die dazu notwendigen Kompetenzen der Se-lektion, Bewertung und Bereitstellung von Expertise wären der Kern eines SMC unter journalistischer Federfüh-rung.

Dabei darf nicht ausschließlich die wissenschaftliche Mainstream-Meinung zu einem Thema präsentiert werden – auch „dissenting voices“, d.h. Wissenschaftler mit begründeten abweichenden Ansichten, müssen zu Wort kommen. Die vom SMC angebo-tene Auswahl an Experten sollte sys-tematisch als umfassender Blick auf das jeweilige Themenfeld angelegt werden.

Dabei darf sich ein ideales SMC nicht darauf beschränken neue For-

schungsergebnisse zu referieren, sondern sollte auch Wissenschaft als Prozess thematisieren: „problems with peer review, retractions, misconduct“ wären ebenso Bestandteil der The-menwahl.

Ein SMC sollte „conflicts of interests“ von Experten transparent machen.

Die Materialien des SMC müssen prinzipiell allen Journalisten kostenlos offenstehen, die über Wissenschaft berichten. D.h. auch Online- und Freie Journalisten sollten in der Konzeption berücksichtigt werden.

In der bisherigen Diskussion in Deutschland, etwa bei der WISSENS-WERTE 2012, wurde vereinzelt die Sorge artikuliert, dass ein SMC dazu beitragen könnte, den Arbeitsmarkt für Journalisten zu verschlechtern – Stellenabbau, weil man künftig auf das kostenfreie Angebot des SMC zu-rückgreifen könne. Andere gaben zu bedenken, dass der Markt für Freie Journalisten bedroht werden könnte. Allerdings gibt es in UK bislang keine Belege dafür, dass das SMC solche Effekte nach sich zieht. Auch Agen-turjournalisten, die ein SMC als unmit-telbare Konkurrenz erleben könnten, sind in UK vehemente Befürworter des SMC, weil sie insbesondere dessen rapid reactions als Entlastung erleben.

Von den Angeboten des britischen SMC ließen sich einige für ein mög-liches deutsches SMC übernehmen – etwa die Info-Packages zu topaktu-ellen Wissenschaftsthemen mit O-Tö-nen von Experten, Summary Reports und Fact Sheets für Redaktionen und Linklisten mit weiterführenden Infor-mationen. Darüber hinaus sollte das Portfolio aber dahingehend modifiziert werden, dass es stärker den techno-logischen Möglichkeiten des WWW Rechnung trägt, z.B. in Form von virtuellen Pressekonferenzen/Exper-tengesprächen inkl. Transkription und Online-Archivierung der zitierfähigen (!) Statements nach Vorbild der NIH.

Wichtigstes internes Instrument wäre eine auf den journalistischen Be-darf zugeschnittene Experten-Daten-bank – als (nicht-öffentliche) Quelle, aus der das SMC seine Briefings er-stellt und an die Medien sendet. Dort kann das Team fachkompetente Wis-senschaftler im jeweiligen Themen-

feld recherchieren. Dabei sollte die Eignung der Experten für die jeweili-gen Mediengattungen in die Briefings aufgenommen werden – vor allem für Hörfunk und TV.

Weitere Angebote könnten Hinter-grundgespräche zu innovativen neuen Wissenschafts-themen oder zu Ent-wicklungen und Problemstellungen der Wissenschafts-systems und Tools für Journalisten sein – Leitfäden, die bei der Berichterstattung weiter hel-fen: Wie finde ich rasch einen kom-petenten Experten? Wie überprüfe ich die Seriosität eines Wissenschaftlers oder einer Pressemitteilung? Wie er-kenne ich die Qualität von Studien und Statistiken? Eine neue Idee wä-ren Follow-Ups, die bei kontroversen Themen gezielt darüber informieren, wenn sich die Kontroversen aufge-löst haben und Klarheit herrscht – als Update mit „lessons learned“, Weiter-dreh und neuem Aufhänger.

Wir plädieren also für eine klare Ausrichtung als SMC unter journa-listischer Federführung. Dies wäre unseres Erachtens ein zentraler Un-terschied zum Gros der bisherigen Angebote der Wissenschaft, die oft wissenschaftsimmanenten Eigenlogi-ken folgen. Eine solche Ausrichtung wäre aber auch ein fundamentaler Unterschied zum britischen SMC, dessen Bias als „press office for sci-ence“ immer wieder kritisiert wird.

Auf der WPK-Website finden Sie ein 15-seitiges Summary des Ergebnisbe-richts zur Explorationsphase (insg. 140 Seiten): www.wpk.org/aktuelles/de-tails/science-media-center-executive-summary-der-explorationsphase.html

}

Holger Hettwer & Franco Zotta

sind Projektleiter der WISSENSWERTE im gemeinsamen Projektbüro von TU Dortmund und WPK. Darüber hinaus arbeiten sie als Freie Mitarbeiter für die WPK.

Simone Rödder

Page 19: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 19I / 2013

Der neue Medien-Doktor UMWELT geht im Mai online

Von Wiebke Rögener und Holger Wormer

Diagnosen zum Umweltjournalismus

„So etwas müsste es auch für an-dere Bereiche geben!“ – Das bekam das Medien-Doktor-Team immer wie-der zu hören, seit das am Dortmunder Lehrstuhl Wissenschaftsjournalismus angesiedelte Qualitätsmonitoring für Medizinjournalismus im November 2010 online gegangen war. Auch in anderen Themenfeldern des (Wis-senschafts-)journalismus sei ein kritischer Blick auf die Qualität der Berichterstattung dringend geboten, fanden viele Kolleginnen und Kolle-gen. Die Standardantwort der Medi-en-Doktoren: Wir arbeiten daran. Von Mai 2013 an ist nun auf der neuen Webseite medien-doktor.de/umwelt zu sehen, was dabei heraus gekom-men ist; wer sich für Medizin- und Umweltberichterstattung interessiert, findet beide Monitoringprojekte nun gleichzeitig auf der Startseite medi-en-doktor.de.

Tatsächlich war ein Ausbau der systematischen Qualitätsbewertung von Anfang an eingeplant, beschäf-tigt sich der Dortmunder Lehrstuhl doch nicht nur mit Medizin-, sondern der ganzen Bandbreite der Wis-senschaftsberichterstattung. Dabei fiel die Wahl auf Umweltthemen als nächstes Projekt zum einen sozu-sagen wegen der Quote: Dem Um-fang nach steht „Umwelt“ zumindest in vielen Printmedien auf Platz zwei der Wissenschaftsthemen-Hitparade, gleich nach Medizin und Gesundheit. Zum anderen haben diese Themen erhebliche gesellschaftliche Rele-vanz (man denke nur an Energie-wende, Klimawandel, Landwirtschaft & Ernährung…). Ähnlich wie bei Me-dizinthemen geht es hier häufig um Fragen, die eine breite Öffentlichkeit unmittelbar bewegen, die Ängste und Hoffnungen auslösen. Nicht selten sehen sich Mediennutzer bei Umwelt-problemen zudem direkt oder indirekt zum Handeln aufgefordert, nicht nur in politischen Auseinandersetzungen, sondern auch bei ganz alltäglichen Entscheidungen, etwa in den Berei-

chen Konsum, Ernährung und Mobili-tät. Und schließlich zeigten Vorarbei-ten am Lehrstuhl, dass dieses – auch wegen seiner Interdisziplinarität be-sonders interessante – Themenfeld sich gut eignen könnte, um Beiträge mit einem ähnlichen Instrumentarium zu bewerten, wie es für den Medizin-journalismus erprobt ist.

Wir gingen dabei von der Annahme aus, dass einige der Kriterien, wie sie im Medien-Doktor MEDIZIN in An-lehnung an international eingeführte Standards entwickelt wurden, auf den Medien-Doktor UMWELT übertragbar sein würden, während andere neu zu erarbeiten wären. Eine Literatur- und Internetrecherche ergab, dass weder im deutschen Sprachraum noch inter-national (englischsprachig) ein dem Medien-Doktor MEDIZIN und seinen Vorbildern entsprechender Kriterien-katalog für die Bewertung der Qualität umweltjournalistischer Beiträge auf-zufinden war. Es galt also, ein Instru-mentarium neu zu erstellen, das über allgemeine Qualitätsstandards für den Journalismus hinaus spezifische Kriterien für die Umweltberichterstat-tung formuliert. Dabei konzentrieren wir uns auf Beiträge, die zumindest in Teilen wissenschaftliche/technolo-gische Aussagen enthalten. Dieses Segment macht, wie sich aus einer kleinen Erhebung in ausgewählten Medien zumindest abschätzen lässt, wahrscheinlich mehr als ein Drittel der umweltjournalistischen Berichterstat-tung aus.

In der explorativen Phase des Pro-jekts, das von der Dortmunder Caspar Ludwig Opländer Stiftung finanziell unterstützt wird, baten wir zum einen rund 30 Umweltjournalistinnen und -journalisten aus Print, Hörfunk und TV regionaler und überregionaler Me-dien, spontan jeweils drei Punkte zu nennen, die ihrer Meinung nach „gute Umweltberichterstattung“ ausma-chen. Unter den top ten fanden sich – neben allgemeingültigen Forde-rungen nach „Verständlichkeit“ oder

„Relevanz“ – Punkte wie „Lösungs-möglichkeiten und Handlungsoptio-nen nennen“ oder „neben naturwis-senschaftlichen/ökologischen auch kulturelle, ökonomische, soziale und politische Dimensionen einbeziehen“. Zum anderen haben wir bei der Krite-rienentwicklung geprüft, was sich aus dem bewährten Katalog des Medien-Doktor MEDIZIN übernehmen ließ.

Das Ergebnis war eine Zusam-menstellung von Kriterien, die sich am Interesse der Mediennutzer ori-entiert, unabhängig, zuverlässig und verständlich über Umweltthemen informiert zu werden. Bewertet wird beispielsweise, ob Beiträge Umwelt-probleme aufbauschen oder ver-harmlosen, die Darstellung der Evi-denz, die Quellentransparenz und die Berücksichtigung unterschiedlicher Standpunkte.

Die Kriterien wurden während des Sommersemesters 2012 im Rahmen eines studentischen Seminars erprobt, wobei die Studierenden die Gutach-terrolle übernahmen und je zehn Bei-träge bewerteten – und gleichzeitig ihr eigenes Bewusstsein für Qualität im Wissenschaftsjournalismus schär-fen konnten. Das Resultat: Einzelne Kriterien (etwa „kein Greenwashing“) waren für sich allein offensichtlich zu speziell und daher zu selten anwend-bar. Andere (etwa zum „Nutzen“ von Lösungsvorschlägen) wurden häufig falsch interpretiert und mussten neu formuliert werden. So entstand ein Katalog aus zehn umweltjournalisti-schen, ergänzt um die drei bisherigen, aus der journalistischen Qualitätsfor-schung abgeleiteten allgemeinjour-nalistischen Kriterien – eine Struktur, die aus dem Medien-Doktor MEDIZIN übernommen werden konnte (siehe „Die Kriterien“ in diesem Heft).

Nun waren wieder die Profis am Zuge: Ein Expertenkreis aus im Um-weltjournalismus erfahrenen Kollegin-nen und Kollegen erörterte die Kriteri-en in zwei Diskussionsrunden an der TU Dortmund. Während der „WIS-SENSWERTE“ im November 2012 wurde der Entwurf des Kriterienkata-loges außerdem den Gutachtern des Medien-Doktor MEDIZIN vorgestellt5. Im Laufe dieses Prozesses hat sich der Katalog weiterentwickelt, Missver-ständnisse wurden ausgeräumt und Formulierungen geschärft, bis der dis-

Page 20: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 20I / 2013

kussionsfreudige Kreis der Geburts-helfer der Meinung war, mit dieser Version könne man es probieren.

Im März 2013 schließlich ging der Medien-Doktor UMWELT in eine Er-probungsphase unter Realbedingun-gen. Dabei zeigte sich: Zwar sind – erwartungsgemäß – nicht immer beide Gutachter über die Bewertung jedes Kriteriums einig. Doch der ge-legentlich auftretende Dissens ist ge-ring und nicht größer als bisher beim Medien-Doktor MEDIZIN. Er führt außerdem zu durchaus produktiven Diskussionen, an deren Ende die Re-daktion bisher immer einen Konsens zwischen den jeweils zwei Gutachtern herstellen konnte.

Damit liegt nun vor, was bisher wohl international einmalig ist: Ein begründeter und klar definierter Ka-talog von Kriterien zur systemati-schen und transparenten Bewertung umweltjournalistischer Beiträge in Zeitungen, Magazinen, Online-Me-dien, im Fernsehen und Radio, der

im Laufe des Projekts auch Hinweise liefern soll, zu welchen dieser Kri-terien vielleicht der größte Bedarf für die Aus- und Weiterbildung von Journalisten besteht. Dabei sind die Kriterien selbst aber auch nur als erster Vorschlag zu betrachten, mit dem wir die Diskussion um Qualität im Umweltjournalismus anregen wol-len. Wir sind daher sehr gespannt auf Kritik und Anregungen. Und: Wir su-chen auch noch weitere qualifizierte umweltjournalistische Gutachter und Gutachterinnen!

Der Medien-Doktor UMWELT wird vom Lehrstuhl Wissenschaftsjournalismus am Institut für Journalistik der Tech-nischen Universität Dortmund und der Caspar Ludwig Opländer Stiftung finan-ziert. Ferner wird das Gesamtprojekt von der Wissenschafts-Pressekonferenz unterstützt. Der VMWJ unterstützt den Medien-Doktor MEDIZIN.

}

Nach fast 200 Medien-Doktor-Bewertungen deutet sich an, dass der Medizinjournalist im eigenen Haus die Berichterstattung merklich verbessert

Von Holger Wormer

Überweisung an den Spezialisten

Der Medien-Doktor, ein Ort für Journalisten-Bashing? Diese Sorge, so viel lässt sich nach fast zweiein-halb Jahren Monitoring von Medizin-beiträgen in deutschen Medien sagen, ist wohl unbegründet. Zwar finden sich unter den bald 200 Stücken, die jeweils zwei der rund 25 Medien-Doktor-Journalisten nach dem Vorbild eines „Peer-review-Verfahrens“ bis-her begutachtet haben, auch solche Beispiele, die jedes Bewusstsein für guten Medizinjournalismus vermissen lassen. Aber ebenso oft finden sich „5-Sterne-Beiträge“, die gut informie-ren – und das sogar auf unterhaltsa-me Art und Weise.

Auch jenseits dieser Extreme sind allmählich erste Trends und Muster erkennbar, die andeuten, wie gut Jour-

nalisten über Therapien, Arzneimittel, Medizinprodukte oder diagnostische Tests berichten; wo Fallstricke liegen und welche Lösungen man in Journa-listenweiterbildungen aufzeigen könn-te, um Leser, Zuschauer und Zuhörer besser zu informieren. Über alle be-gutachteten Beiträge betrachtet gibt es Defizite vor allem bei drei Kriterien – die viele zugleich für die wichtigs-ten halten: In zwei von drei Beiträgen (69%) wird der mögliche Nutzen eines medizinischen Verfahrens nur unbe-friedigend beschrieben (häufig sind die Angaben nur allgemein, es fehlt jede Zahl, die den Nutzen konkreter skizziert). Ebenso gehen die meisten Beiträge (71%) zu knapp oder gar nicht auf Risiken und Nebenwirkungen ein – fast so, als wollten Journalisten nur die Überbringer guter Nachrichten

sein. Und am häufigsten versagen die Autoren in unserer Stichprobe bei der Einordnung der Belege. In drei von vier Beiträgen gibt es zu wenige Infor-mationen dazu, wie gut ein Verfahren in Studien untersucht oder wie aus-sagekräftig eine vorgestellte Studie überhaupt ist.

Die Defizite drücken sich vor allem im Lokal- und Regionaljournalismus aus, die durchschnittlichen Ergebnis-se liegen dort mit 2,2 Sternen unter dem der anderen Medienkategorien (2,9). Dies scheint sich mit dem Ein-druck zu decken, dass Beiträge von spezialisierten Wissenschafts- und Medizinjournalisten oder aus Wis-sensressorts im Großen und Ganzen besser abschneiden als andere. Denn explizite Medizinjournalisten oder Ressorts gibt es in Regional- und Lo-kalredaktionen selten.

Auf der anderen Seite sind wir in

zweieinhalb Jahren auch auf nach-ahmenswerte Lösungen für Probleme gestoßen – etwa für die Einordnung von Studien etc. (Kriterium Belege), die selbst für aufmerksame Leser offenbar leicht als „zu sperrig“ ange-sehen werden. So lagert das Ge-sundheitsressort bei Spiegel Online Detail-Informationen über solche Stu-dien oft in einen Infokasten aus („Die Studie im Detail“). Im Fließtext erhal-ten Leser zwar bereits Hinweise, wie aussagekräftig eine Untersuchung ist. Im separaten Kasten lesen sie dann aber Antworten zu konkreten Aspek-ten wie „Ziel“, „Studiendesign“, „Er-gebnissen“ und explizit den „Schwä-chen“ einer Studie. Somit sorgt die Redaktion dafür, dass die sperrigen, aber wichtigen Infos die Leser errei-chen können, ohne sie im Lesefluss der Hauptgeschichte zu stören. – Ge-nau solche beispielhaften Lösungen einem breiteren Kreis von Journalisten vorzustellen, bleibt – jenseits seiner Kritik- und Warnfunktion – ein wesent-liches Ziel des Medien-Doktor.

Eine ausführlichere Auswertung der Medien-Doktor-Gutachten erscheint voraussichtlich Ende 2013 in: Lilienthal/Reineck/Schnedler (Hg.): „Qualität im Gesundheitsjournalismus“, VS-Verlag.

}

Page 21: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 21I / 2013

Medien-DoktorPR-Watch untersucht Pressemitteilungen aus der Wissenschaft

Von Marcus Anhäuser und Holger Wormer

Auf der Suche nach der verlorenen Qualität

„Wir machen Journalismus!“ – Es gibt wohl kaum einen Journalisten, der bei solchen Aussagen aus den Presse-stellen wissenschaftlicher Einrichtungen nicht zusammenzuckt. Auch Medienthe-oretiker und Juristen dürften schnell ein-wenden, dass die Gleichsetzung von PR und Journalismus kaum in Einklang zu bringen ist mit gängigen Erkenntnissen ihres Fachs. Die Idee vom Pressespre-cher als Journalisten scheint in der Wis-senschafts-PR indes weiter verbreitet zu sein, als man denkt. Mehr noch: Manch einer ist sogar überzeugt, Mitteilungen aus der eigenen Wissenschafts-Instituti-on seien der bessere Wissenschaftsjour-nalismus, enthielten sie doch weniger sachliche Fehler als Artikel und Beiträge der Journalisten in den Massenmedien.

So sehr man aber darauf hinweisen mag, dass eine Pressestelle vor einer Veröffentlichung wohl kaum die Meinung eines konkurrierenden Instituts als zweite Quelle einholen wird; so sehr man dar-auf hinweisen mag, dass Pressestellen schon bei der Themenwahl vor allem den Partikularinteressen ihrer Institution ver-pflichtet sind (während an den Journa-lismus der demokratische Auftrag einer möglichst unabhängigen Berichterstat-tung geht) – zwei Entwicklungen sind unübersehbar: Die Wissenschaftskom-munikation von Forschungsinstituten und -organisationen hat im Zeitalter der neuen Medien immer mehr den direkten Kanal zum Endnutzer im Blick. Warum etwa solle man nicht wenigstens versu-chen, seine Presseinformation gleich (ohne Umweg über den Filter der journa-listischen Redaktionen) auch via Internet, Facebook et al. direkt an den Mann und die Frau auf der Straße zu bringen? Und auch rein handwerklich betrachtet schei-nen Qualitätskriterien wie beispielsweise „Nachrichtenwert“, „Originalität“, „Rele-vanz“ oder „Verständlichkeit“ in Wissen-schaftsjournalismus und Wissenschafts-PR gleichermaßen akzeptiert zu sein.

Gerade wenn die Medizin-PR Pa-tienten und andere Endnutzer direkt ansprechen will, kommt ihr aber eine neue, besondere Verantwortung zu: Auch eine verantwortungsvolle Presse-mitteilung über eine neue Therapie soll-te bei Betroffenen keine unnötige Hoff-nung wecken, verständlich über Nutzen und Risiken berichten und viele weitere Kriterien erfüllen, wie sie der Medien-Doktor auf medizinjournalistische Bei-träge anwendet.

Vor diesen Hintergründen lässt sich der Medien-Doktor auf ein Gedanken-experiment ein: Mal angenommen, die Produkte aus den Pressestellen der deutschen Wissenschaft wären tatsäch-lich gleichzusetzen mit Wissenschafts-journalismus, dann müssten sie sich auch nach solchen journalistischen Qua-litätskriterien beurteilen lassen. Genau das wird der neue „PR-Watch“ in den nächsten Monaten versuchsweise tun: Was passiert, wenn man Wissenschafts-Pressemitteilungen aus Medizin- und Umweltforschung anhand jener Kriterien analysiert, die wir für die Begutachtung journalistischer Beiträge nutzen? Und stimmt es, dass viele Pressestellen an Qualität verloren haben, weil sie immer weniger als zuverlässiger Informations-broker für wissenschaftliche Erkennt-nisse arbeiten können und dafür immer mehr ihre Institution vermarkten sollen?

Medien-Doktor PRO unterstützt Journalisten schon bei der Recherche

Wenn Medien begeistert über den Wunderheiler berichten, der mit Weltraummedizin von Schnupfen bis Krebs jede Krankheit therapieren kann, dann ist eine Menge schief gelaufen. Die Gründe für solche medizinjournalistischen Unfälle sind vielfältig: Zeitmangel, Unkenntnis, Überforderung, fehlendes Bewusstsein. Oft aber hätte der rechtzeitige Recherche-Tipp eines erfahrenen Kollegen schon helfen können, um einen Beitrag zu verbessern.

Genau diese Hilfe bietet das Medien-Doktor-Team seit kurzem allen Journalisten an: Medien-Doktor PRO heißt das Angebot, das sich insbesondere an weniger spezialisierte Redaktionen und Autoren richtet, die über Medizin- und Gesundheitsthemen berichten. Jeder, der einen solchen Beitrag plant, kann sich an uns wenden. Wir helfen bei der Einschätzung der Studienlage, geben Tipps für besonders wichtige Fragen beim Interview oder nennen Stellen und Ansprechpartner, wo man weitere Experten für eine Einschätzung finden kann. Das alles ist für die anfragenden Journalisten (dank Unterstützung der Robert Bosch Stiftung) kostenfrei – und die Anfrage natürlich vertraulich.

Kollegen mit konkretem Recherchebedarf wenden sich einfach an: [email protected] Wormer

Marcus Anhäuser

ist Professor für Wissenschaftsjour-nalismus und lehrt am Institut für Journalistik der TU Dortmund.

ist leitender Redakteur des Medien-Doktor

}

Page 22: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 22I / 2013

Die Kriterien des Medien-Doktors für Medizin- und Umweltjournalismus – eine Gegenüberstellung

Medien-Doktor Medizin – Medizinjournalistische Kriterien Medien-Doktor Umwelt – Umweltjournalistische Kriterien

1. NutzenWie ist der Nutzen einer Behandlungsart/eines Tests/eines Produkts oder eines Verfahrens dargestellt?

1. Keine Verharmlosung / PanikmacheProbleme werden weder bagatellisiert noch übertrieben dargestellt.

2. RisikenWerden bzw. wie werden Risiken und Nebenwirkungen dargestellt?

2. Belege /Evidenz Studien, Fakten und Zahlen zu Umweltrisiken und -gefahren werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft („Evidenz“) deutlich wird

3. BelegeVersucht die Geschichte die Qualität der Belege/der Evidenz einzuordnen?

3. Experten/ Quellentransparenz Die Quellen für Tatsachenbehauptungen und Einschätzungen werden benannt, deren Abhängigkeiten und Interessenlagen für Rezipienten deutlich gemacht.

4. ExpertenGibt es eine weitere Quelle und wurden im Artikel irgendwelche Interessenkonflikte offen gelegt?

4. Pro und Contra Es werden die wesentlichen relevanten Standpunkte angemessen dargestellt.

5. Mehr als eine Pressemitteilung Basiert der Beitrag ausschließlich oder überwiegend auf einer Pressemitteilung?

5. Mehr als eine Pressemitteilung Der Beitrag geht in seinem Informationsgehalt und in der Darstellungsweise deutlich über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus.

6. Neuheit Macht der Beitrag klar, wie neu ein Ansatz wirklich ist?

6. Neuheit Der Beitrag macht klar, ob es sich um ein neu aufgetretenes beziehungsweise neu entdecktes Umweltproblem, eine innovative Umwelttechnik oder einen neuartigen Lösungsvorschlag/ Regulierung o.ä. handelt, oder ob diese schon länger existieren.

7. Alternativen Werden alternative Optionen für die vorgestellte Behandlungsart/Test/Produkt/Verfahren erwähnt?

7. Lösungshorizonte und Handlungsoptionen/ kein Greenwashing Der Beitrag nennt Wege, ein Umweltproblem zu lösen oder zu vermeiden, wo dies möglich und angebracht ist.

8. Verfügbarkeit Wie ist die Verfügbarkeit einer Behandlungsart/Tests/Produkts/Verfahrens?

8. Räumliche Dimension (global – lokal) Die räumliche Reichweite eines Umweltproblems und der Zusammenhang zwischen lokalen und globalen Perspektiven werden dargestellt.

9. Kosten Werden Kosten – und wenn ja – wie werden Kosten in der Geschichte angesprochen?

9. Zeitliche Dimension (Nachhaltigkeit) Die zeitliche Reichweite eines Umweltproblems oder Phänomens wird dargestellt.

10.Krankheitserfindungen Gibt es Anzeichen für „Disease mongering“ (Krankheitserfindungen/-übertreibungen)?

10. Kontext/ Kosten Über naturwissenschaftliche, gesundheitliche und technische Aspekte hinaus werden politische, soziale, kulturelle oder wirtschaftliche Aspekte eines Umweltthemas einbezogen.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1.Themenauswahl Ist das Thema aktuell, relevant oder originell gewählt?

2. Vermittlung Ist die journalistische Umsetzung des Themas gelungen oder sogar vorbildlich für das gewählte Format?

3. Faktentreue Gibt der Beitrag die wesentlichen Fakten richtig wieder?

Page 23: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 23I / 2013

Das Ereignis hat hohe Wellen geschlagen. Im Oktober letzten Jahres wurden sechs Geowissenschaftler zusammen mit dem Vize-Direktor des

nationalen Katastrophenschutzes von einem italienischen Gericht zu sechs Jahren Haft und Entschädigungszahlungen in Millionenhöhe verurteilt. Im

Februar wurde die schriftliche Begründung des Urteils vorgelegt. Das WPK-Quarterly sprach mit dem italienischen Wissenschaftsjournalisten und

Dozenten Fabio Turone über die Hintergründe des Falles.

„Die italienische Justiz hat versagt“

Wie geht es den Wissenschaftlern?Sie sitzen jedenfalls nicht im Ge-

fängnis, falls Sie das meinen. Die Ver-urteilung durch die erste Instanz hat in Italien keine unmittelbaren Rechtsfol-gen, wenn man Berufung einlegt. Das ist der Grund, warum einige Beobach-ter davon ausgehen, dass das Urteil nicht eigentlich das repräsentiert, was es repräsentieren soll. Theoretisch sollte ein Urteilsspruch so etwas sein wie das Resultat einer sorgfältig ab-gewogenen juristischen Klärung des Sachverhaltes und der ebenso abge-wogenen Zuschreibung der Schuld von Angeklagten. Aber weil in Italien erst die zweite Instanz unmittelbare Rechtsfolgen zeitigt für die Verurteil-ten, meinen manche, das Gericht hät-te ein Urteil gefällt, dass der Schuld der Beteiligten nicht gerecht wird.

Und was meinen Sie? Es gibt Ungereimtheiten! Alle sechs

Wissenschaftler, die in dem Meeting waren, in dem über das Erdbebenri-siko beraten wurde, haben dasselbe Urteil bekommen. Und das, obwohl dort auch ein Wissenschaftler saß, der formell gar nicht Mitglied dieser Kommission war, sondern von seinem Chef geschickt wurde, um mit seiner Expertise beizutragen. Der wusste nicht, was da gemacht werden sollte aus seiner Expertise, weil er keiner-lei Verantwortung hatte. Er dachte, er ginge dort gewissermaßen freiwillig hin ohne formelle Mitgliedschaft, um

seine Pflicht zu erfüllen als Seismo-loge in einer komplizierten Situation. Der wurde genauso verurteilt wie die anderen. Was für mich nach wie vor schwer zu verstehen ist: Wie kann allen dasselbe Ausmaß an Verantwor-tung zugeschrieben werden? Jenen, die mit den Medien sprachen, jenen, die nicht mit den Medien sprachen, jenen, die offiziell Mitglieder waren in der Risikokommission und dem, der es nicht war. Es gab keinen Kommu-nikationsplan, keine offizielle Strate-gie, wir, die Massenmedien, bekamen keine klaren Mitteilungen. Der einzi-ge, der über das Mandat verfügte, of-fiziell für die Regierung zu sprechen, war der Vize-Direktor des nationalen Katastrophenschutzes, ein Vulkanolo-ge, und der wurde zur gleichen Strafe verurteilt wie alle übrigen. Die Verur-teilten haben Berufung eingelegt. Ich gehe davon aus, dass das Urteil kei-nen Bestand hat.

Im Februar wurde die Begründung des Urteils veröffentlicht. Es ist hier in der Berichterstattung nicht im-mer ganz klar, wofür das Gericht die Wissenschaftler eigentlich verurteilt hat. Können Sie uns da aufklären?

Also, das ist kompliziert: Ihnen wird vorgeworfen, dass sie unzutref-fenden, beruhigend wirkenden öffent-lichen Aussagen politisch Verantwort-licher nicht widersprochen haben. Die Wissenschaftler waren davon ausgegangen, dass Sie keine Ver-

antwortung tragen für das, was von Offiziellen gesagt wird. In der ersten Instanz haben die Verteidiger immer wieder betont, dass Wissenschaftler Erdbeben nicht vorherzusagen ver-mögen. Aber das Gericht schrieb in einem Absatz der Begründung, dass die Wissenschaftler ja sicher waren, dass die einflussreiche Vorhersage von Gianpaolo Giuliani, ein selbst ernannter Seismologe ohne wissen-schaftlichen Hintergrund, falsch sei. Als Antwort auf den Alarmismus, den diese Vorhersage entfachte, sind die Wissenschaftler vielleicht über das hinaus gegangen, was Wissenschaft eigentlich sagen kann, indem sie sag-ten, diese Vorhersagen wären falsch. Das Gericht interpretierte das nämlich so, als hätten sie damit gesagt, dass es kein Erdbeben geben würde.

Was hatte es denn mit dieser Vor-hersage von Giuliani auf sich?

Dem verheerenden Erdbeben wa-ren einzelne kleinere Beben voraus-gegangen. Es gab eine Kontroverse zwischen dem selbst ernannten Seis-mologen Giuliani ohne wissenschaft-liche Qualifikation und den seriösen Seismologen. Giuliani bestand da-rauf, dass er Erdbeben voraussa-gen könnte, und zwar basierend auf Radon-Emissionen der Erde. Radon-Emissionen werden seit vielen Deka-den analysiert. Seriöse Wissenschaft-ler wissen, dass es Korrelationen gibt. Die sind aber nicht ausreichend, um

Page 24: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 24I / 2013

darauf eine Vorhersage zu stützen. Der Punkt ist, dass die Öffentlichkeit schon einer unseriös fundierten Alar-mierung ausgesetzt war durch Giuli-ani. In der Region gab es Freiwillige, die mit Aufklebern auf ihren Autos Einwohner aufforderten, ihre Häuser zu verlassen. Insofern hatten die Offi-ziellen ein vitales Interesse daran, die Situation zu beruhigen.

Es gab ein Verfahren gegen Giulia-ni wegen des Verdachtes, einen un-gerechtfertigten Alarmismus zu beför-dern, etwas, wofür man in Italien – ich denke auch in Deutschland – verurteilt werden kann. Aber dieses Verfahren brachte keinen Schuldspruch, obwohl er insistierte, dass die Leute ihre Häu-ser räumen sollten. Diese Alarmierung war natürlich gefährlich, tatsächlich hat er auch nichts wirklich Zutreffendes vor-hergesagt, jedenfalls nicht im Detail. Er hatte vorausgesagt, dass das Erdbe-den eine andere Stadt treffen würde, er hat nicht vorausgesagt, wann es sich ereignen würde und in welcher Stärke. Das Gericht aber kam im Verfahren ge-gen Giuliani in diesem speziellen Fall zu dem Ergebnis, dass – obwohl sei-ne Vorhersage nicht präzise war – sie gleichwohl gerechtfertigt gewesen sei. Deshalb wurde er nicht verurteilt.

Wie interpretieren Sie die beiden Verfahren mit Blick auf die Justiz?

Für mich stehen wir vor einem Ver-sagen der italienischen Justiz, die sich letztlich nicht in der Lage sah, wissenschaftliche Aussagen zu ver-stehen. Sie war nicht in der Lage, jemanden zu verurteilen, der so tut, als könne er Erdbeben vorhersagen. Auch in der mehrere hundert Seiten dicken Begründung der Verurteilung der sechs Geowissenschaftler geht aus mehreren Passagen hervor, dass das Gericht den eigentlichen wissen-schaftlichen Gegenstand nicht ver-standen hat. Insofern verweist das Ur-teil auf ein größeres Thema, nämlich das Spannungsverhältnis zwischen wissenschaftlicher Unsicherheit und der juristischen Notwendigkeit, Ein-deutigkeit herzustellen.

Wie meinen Sie das? Das Thema ist kompliziert: Es gibt

aus meiner Sicht ein Problem in der Verständigung zwischen Wissen-schaftlern und der Bürgerschaft, das

eben nicht einfach lediglich Laien be-trifft, sondern eben solche Teile der Bürgerschaft, die in Positionen sind, in denen Sie bindende Entscheidun-gen zu treffen haben, also namentlich Richter und Politiker. In diesem spezi-ellen Fall haben auch die Medien eine Verantwortung. Es gibt hier Probleme zwischen legitimer wissenschaftlicher

Sicherheit bzw. Unsicherheit auf der einen, und Leuten, die nur vorgeblich im Namen der Wissenschaft Vorher-sagen machen auf der anderen. Dies hat seinen Ursprung vermutlich dar-in, dass das Verständnis der wissen-schaftlichen Methode sehr unterentwi-ckelt ist. Das schlägt sich schon bei so basalen Dingen nieder wie dem, dass eine vermeintliche Vorhersage wie die von Giuliani nicht schon deshalb wis-senschaftlich ist, weil sie zufällig ein-getroffen ist, jedenfalls zum Teil.

Gab es denn auch Verständigungs-probleme auf Seiten der Wissen-schaft?

Ja, unbedingt! Ich glaube, dass die Wissenschaftler nicht kapiert haben, dass sie beschuldigt worden sind, der Regierung als Sprachrohr gedient zu haben. Die offiziellen Stellen hatten die klare Intention, die Lage zu beruhigen und eben nicht, die Situation zu evalu-ieren. Das kommt schon darin zum Aus-druck, dass das entscheidende Mee-ting nicht in Rom, sondern in L’Aquila anberaumt wurde, wo ausgelöst durch den Alarm Giulianis Unruhe herrschte. Später hat die wissenschaftliche Com-munity nicht akzeptiert, dass ihre Rolle

bei der Sache kritisch hinterfragt wurde. Stattdessen haben die Wissenschaftler insistiert, im Verfahren ginge es dar-um, dass sie keine Beben vorhersagen könnten. Die wissenschaftliche Com-munity weltweit wurde aufgerufen, dies zu bestätigen, obwohl das eigentlich gar nicht das Thema war. Worauf es an-kommt ist: Was muss man von Wissen-schaftlern in dieser Situation erwarten, in der es darum geht, gegenüber der Bevölkerung und den Medien über Un-sicherheit zu sprechen. Und was muss man von Regierungsstellen erwarten?

Was sagen Sie denn zu der These, die verurteilten Wissenschaftler sei-en Sündenböcke für Versäumnisse anderer?

Das Verfahren bisher drehte sich natürlich um die Verantwortung, die den Angeklagten juristisch zugerech-net werden kann. Es gibt aber wichti-ge Themen, die in so einem Rahmen in den Hintergrund treten. Zum Bei-spiel die Frage, ob es überhaupt Eva-kuierungspläne gibt oder gab, soweit ich sehe, gab es die nicht. Zum ande-ren die Tatsache, dass nach wie vor in gefährdeten Regionen nicht erdbe-bensicher gebaut wird, und zwar mit Kenntnis und Genehmigung der loka-len Behörden. Es ist deshalb tatsäch-lich ein bisschen eine Geschichte wie die von dem, der das Pech hatte, ge-schnappt zu werden und nun für alle Schuldigen zahlen soll.

Sie haben eine Menge Aspekte des Themas genannt, das prob-lematische Zusammenspiel zwi-schen Wissenschaft und Politik, die Schwierigkeiten, wissenschaftliche Unsicherheit angemessen zu kom-munizieren; Hat denn dieser Fall dazu beigetragen, dass sich die ita-lienische Gesellschaft dieser Proble-me jetzt bewusster ist als zuvor?

Ich fürchte, nein. Ich glaube, dass die Kluft zwischen Wissenschaft und Gesellschaft im Gegenteil größer ge-worden ist durch diese Ereignisse. Denn es hat Raum geschaffen für jene, die Wissenschaft nur wegen der Limitationen ihrer Aussagekraft atta-ckieren.

Mit Fabio Turonesprach Markus Lehmkuhl

Beklagt die Unfähigkeit der italienischen Justiz, wissenschaftliche Sachverhalte angemessen zu erfassen, Fabio Turone, Präsident des italieni-schen Verbandes von Wissenschaftsjournalis-ten und Direktor der Erice International School of Science Journalism in Sizilien.

}

Page 25: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 25I / 2013

Der Prozess von L‘Aquila, in dem im Oktober 2012 sechs Erdbebenexperten und ein hoher Beamter zu sechs Jahren Haft und Strafzahlungen in Millionenhöhe verur-teilt wurden, stellt deutsche Beobachter vor Rätsel. Es scheint, als habe man in Italien Seismologen angeklagt, weil sie keine Erdbeben vorhersagen konnten. Absurd! Vielleicht war es aber anders. Nur: Was zum Teufel soll dann das Vergehen der Wissenschaftler gewesen sein? Die komplette Geschichte ist lang und verzwickt. Die Kurz-version: Anfang 2009 wackelt in L‘Aquila mehrmals leicht die Erde. Ein Amateurforscher gibt diffuse Warnungen vor einem schweren Beben heraus. Manche Einwohner verlassen die Stadt. Für den 31. März 2009 organisiert der Katastrophenschutz eine Sitzung der italienischen „Kommission für Großrisiken» in L‘Aquila. Während der Sitzung sagen Kommissionsmitglieder, der Erdbeben-schwarm sei ein normales geologisches Phänomen, doch sie erwähnen auch, dass die Region bekanntermaßen ein vergleichsweise hohes Bebenrisiko hat. Vor und nach der Sitzung geben Mitglieder der Kommission Interviews. Bernardo de Bernardinis, Vize-Direktor des Kata-strophenschutzes, sagt beruhigend, der Erdbebenschwarm habe laut Kommission das Risiko für Beben gesenkt. Eine Woche später kommen bei einem Beben in L‘Aquila mehr als 300 Menschen ums Leben. Etwa 30 von ihnen sind mutmaßlich wegen der fachlichen Entwarnung in die Stadt zurückgekehrt oder haben wegen der Entwarnung nicht im Freien geschlafen, wie sie das sonst getan hätten. Die Urteilsbegründung des Richters Marco Billi ist über 800 Seiten lang. Das Vergehen der Fachleute, so Billi, hat mit der Aufgabe der Risikokommission zu tun. Das Gremium soll Risiken analysieren und der Öffentlich-keit vermitteln. Diese Aufgabe hat die Kommission in L‘Aquila dem Richter zufolge verfehlt. Stattdessen habe sie unklare, unvollständige und widersprüchliche Infor-mationen herausgegeben. Darum verurteilte der Richter die Fachleute der Kommissionssitzung wegen fahrlässi-ger Tötung. Den Vorwurf, sie hätten das starke Beben vorhersehen müssen, erhebt Billi nicht.Nun ist zu differenzieren. Verurteilt wurden sowohl Mitglie-der des Katastrophenschutzes als auch Wissenschaftler. Billi hat sie über einen Kamm geschoren, weil alle an der Sitzung der Risikokommission teilnahmen. Darum müssen sie aus seiner Sicht gemeinsam die Verantwortung für das Resultat der Sitzung tragen, also für die fatale Entwarnung. Doch es waren nicht die Seismologen, die in L‘Aquila Entwarnung gaben. Für die Entwarnung waren in erster Linie Mitarbeiter des Katastrophenschutzes verantwort-lich. Einer ist sogar nie angeklagt worden: Anberaumt hatte die Kommissionssitzung nämlich Guido Bertolaso, der damalige Chef des Katastrophenschutzes. Aus ei-nem mitgeschnittenen Telefonat geht hervor, dass er mit der Veranstaltung in L‘Aquila explizit das Ziel verfolgte, mit Hilfe von Experten Entwarnung zu geben. Viele Seismologen weltweit sehen die verurteilten Kol-

legen nun als Sündenböcke. In der Tat wirkt die Ur-teilsbegründung konstruiert. Aus vielen wackligen Ar-gumentationsgliedern hat der Richter eine verblüffende Kausalkette zwischen dem mutmaßlichen Fehlverhalten der Fachleute und dem Tod von Einwohnern der Stadt L‘Aquila geschmiedet. Viele Beobachter erwarten, dass das Urteil in zweiter Instanz aufgehoben wird.Was lehrt der Fall? Haben sich die Seismologen doch ta-dellos verhalten? Werden in Italien jetzt wieder Wissen-schaftler verfolgt wie im Mittelalter? Nur nicht so schnell.Sicher: Es wirkt obskur, wenn Wissenschaftler für ihre Expertise in Haftung genommen werden, nur weil sie sich missverständlich ausgedrückt haben und dann noch mutwillig falsch interpretiert werden. Italienische Wissenschaftler fordern zu Recht eine Klarstellung und Verbesserung der Rechtslage für beratende Experten. Sonst besteht künftig die Gefahr, dass überwarnt wird oder dass sich verängstigte Experten gar nicht mehr zur Beratung bereit erklären. Zurzeit ist die wissenschaftli-che Politikberatung in Italien ein riskantes Geschäft. Allerdings: Selbst wenn die Äußerungen der Seismolo-gen in der Kommissionssitzung wissenschaftlich vertret-bar gewesen sind – geschickt und verständlich genug waren sie nicht. Die Seismologen hätten gut daran ge-tan, sich in den Tagen nach der ominösen Kommissions-sitzung in L‘Aquila öffentlich von dem Eindruck der Ent-warnung zu distanzieren (sofern sie davon überhaupt wussten). Aber ist diese Unterlassung justiziabel?Gegen Bernardo de Bernardinis, eines der beiden verur-teilten Mitglieder des Katastrophenschutzes, hätte man vielleicht je nach Rechtslage auch in anderen Ländern Anklage erhoben. Schließlich hat er die Ergebnisse der Kommissionsitzung in einem Interview sinnentstellend wiedergegeben und den Einwohnern sogar empfohlen, nun ruhig ein Glas Wein zu trinken. Wenn Mitarbeiter des Katastrophenschutzes von Entspannung reden, wo Wissenschaftler keine sehen, dann kann man das durchaus als fahrlässig bezeichnen. Am bedauerlichsten an dem skandalösen Fall ist aller-dings die Tatsache, dass viele Italiener immer noch da-rauf warten müssen, dass ihre Häuser erdbebensicher gemacht werden. Von diesem essenziellen Anliegen len-ken Prozesse wie in L‘Aquila bloß ab.

Wissenschaftler auf der Anklagebank

Sven Titz

arbeitet als freier Wissenschafts-

journalist für Zeitungen und

Magazine

}

Von Sven Titz

in Berlin.

Page 26: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 26I / 2013

Von Christian Eßer

Compliance?

Compliance, wo man hinschaut: Nimmt ein Patient die Medikamente nicht ein, wie der Arzt es ihm vorge-schrieben hat, sprechen Mediziner von einer schlechten Compliance-Rate. Nimmt ein Arzt Geld von einer Pharmafirma an und verschreibt vor allem Medikamente dieser Firma, hat die Compliance innerhalb der Ärzte-schaft versagt. Berichtet ein Medi-zinjournalist über die Vorzüge eines Wirkstoffs und verschweigt die Ne-benwirkungen, weil er vom Hersteller zu einer Luxusreise eingeladen wur-de, hat er sich nicht an die Compli-ance seines Medienhauses gehalten. Komplikation mit der Compliance: In allen drei Fällen geht es um die Nichteinhaltung eines bestimmten Regelwerks, um Fehlverhalten – im Fall des Mediziners und des Jour-nalisten geht es um Bestechlichkeit.

„Der deutsche Journalist braucht nicht bestochen zu werden, er ist so stolz, eingeladen zu sein, ein paar Schmeicheleien… Er ist schon zufrie-den, wie eine Macht behandelt zu wer-den“, hat Kurt Tucholsky einmal ganz ohne Ironie geschrieben. Heute wissen wir es besser. Fast jede Woche tauchen Berichte über Autojournalisten auf, die mit besonderen Zuwendungen gefügig gemacht wurden oder über Wirtschafts-journalisten, die sich zu First Class und Luxussuite einladen ließen.

Compliance [engl. „Zustimmung“, „Einhaltung“, aber auch: „Konformität“ und „Unterwürfigkeit“]

Man darf annehmen, dass Wissen-schaftsjournalisten generell weniger in Versuchung kommen sollten als bei-spielsweise Politik-, Wirtschafts-, Rei-se- und Motorjournalisten, persönlich von einer einvernehmlichen Bericht-erstattung zu profitieren. Dennoch: Schwarze Schafe gibt es überall und die Grauzone ist groß. Darum haben viele Verlags- und Medienhäuser –

verstärkt in den letzten Jahren – ei-gene Compliance-Richtlinien erstellt. So genannte „Code of Conducts“ (CoC), Verhaltenskodizes, geben den Mitarbeitern Anhaltspunkte, wie das hauseigene verantwortungsvol-le Handeln zu verstehen ist. In eini-gen Verlagen gibt es sogar spezielle CoC-Beauftragte, die über Transpa-renzregeln wachen und bei möglichen unmoralischen Angeboten von außen Einschätzungen liefern. Denn wo und ab wann Befangenheit beginnt, ist oft gar nicht so klar. Sind Presserabat-te schon zu viel des Guten? Darf ich mich am Rande einer Konferenz von einem Gesprächspartner zum Getränk einladen lassen? Sollte ich es in ir-gendeiner Weise transparent machen, wenn ich Rechercheergebnisse auf einer Reise erzielt habe, die teilwei-se von einem Unternehmen gespon-sert wurde? Wir haben Redaktions-leiter von Wissenschaftsressorts und -sendungen um ein wenig Transpa-renz gebeten und sie gefragt, wie ihre Redaktion mit dem Thema Compli-ance umgeht.

Antworten von vier Ressortleitern

Codes of Conduct in Wissenschaftsredaktionen?

Gibt es in Ihrer Redaktion ein schrift-liches Regelwerk, das den Umgang mit Zuwendungen von Interview- und sonstigen Gesprächspartnern regelt (Compliance-Regeln, Code of Conduct o.ä.)?

Götz-Sobel: Ja, es gibt Com-pliance-Regeln (schriftliches Re-gelwerk) http://www.zdf.de/Com-p l i a n c e - R e g e l n - 2 6 7 0 1 2 0 8 . h t m l .

Koch: Selbstverständlich. Den Gruner + Jahr CoC und redaktionelle Richtlinien.

Könneker: Der Verlag Spektrum der Wissenschaft ist Teil der Nature Publishing Group mit Sitz in London

und unterliegt damit dem UK Bribary Act, einem der wohl härtesten Antikor-ruptionsgesetze weltweit. Alle Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter, also auch alle Redakteurinnen und Redakteure, mussten 2011 eine Online-Schulung zum Thema Korruptionsvermeidung machen und 2012 einen allgemeiner gehaltenen Kurs zum Thema Com-pliance. Der entsprechende „Code of Conduct“ von Macmillan ist im In-ternet hinterlegt http://international.macmillan.com/uploadedFiles/About_Us/Macmillan_in_the_Community/Code%20of%20Conduct.pdf.

Sentker: Es gibt einen Code of Ethics, der die redaktionelle Unabhängigkeit der

ZEIT ebenso sicherstellen soll, wie die journalistische Qualität des Blattes.

Kommt es vor, dass Recherchereisen ex-tern finanziert werden? Gibt es sonstige finanzielle Unterstützung von außen?

Götz-Sobel: In meiner Redakti-on werden weder Recherchereisen von Dritten finanziert, noch gibt es finanzielle Unterstützung von Dritten für Programme. Grundsätzlich gel-ten die in den Compliance-Regeln formulierten Rahmenbedingungen.

Koch: Nein, bisher hat sich die Fra-ge mangels Mangel für uns gar nicht gestellt, erlaubt ist es auch nicht.

}

Page 27: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 27I / 2013

Könneker: Einzelne Redakteu-re haben in der Vergangenheit an Journalistenreisen teilgenommen, organisiert etwa von EuroNatur, an deren Ende journalistische Artikel über Naturschutzprobleme auf dem Balkan oder in Spanien standen. Fi-nanziert wurden diese Reisen über die Lufthansa-Umweltstiftung. Wir haben auch schon Beiträge von frei-en Journalisten publiziert, welche bei ihren Recherchen von einem Recherchestipendium profitierten. Die finanzielle Unterstützung von Autoren durch ein Recherchesti-pendium machen wir transparent für unsere Leserinnen und Leser. Beispiel: http://www.spektrum.de/alias/biotechnologie/unser-kleines-gen-labor/1153300 (Autorenhinweis am Ende). Angebote der Übernahme von Reise- oder Unterbringungskos-ten etwa aus der industriellen For-schung lehnen wir grundsätzlich ab.

Sentker: Es kommt nur in absolu-ten Ausnahmefällen vor, dass Reisen oder Teile von Reisen finanziert wer-den. Eine weitere finanzielle Unter-stützung gibt es nicht.

Wenn ja: Machen Sie dies dem Leser/Hörer/Zuschauer gegenüber trans-parent?

Könneker: s. Bsp. oben

Sentker: Wir lassen uns nur sehr selten und sehr ungern einladen. Aus-nahmen müssen gut begründet sein. Etwa dadurch, dass eine Einladung Zugänge eröffnet, die wir selbst nicht organisieren könnten. Unsere beson-

dere Konkurrenzsituation als Wochen-zeitung auf einem Markt mit vielen ak-tuellen Anbietern macht Pressereisen gemeinsam mit aktuell schreibenden oder sendenden Kollegen ohnehin we-nig attraktiv. Werden wir eingeladen, machen wir das transparent. Fahren wir der Inhalte wegen bei einer vorbe-reiteten Pressereise mit, übernehmen wir in der Regel die ausweisbaren Kos-ten für Flüge oder Unterkünfte. Würden Sie einen Unterschied ma-chen, ob die Recherchereise von beispielsweise Bayer oder der Max-Planck-Gesellschaft finanziert wird?

Götz-Sobel: Nein, s.o.

Koch: Nein.

Könneker: Ja. Eine bezahlte Recherchereise eines Industrieun-ternehmens ist ein Tabu. Im Fall einer Recherchereise auf Einla-dung der Max-Planck-Gesellschaft würden wir den Einzelfall prüfen.

Sentker: Tatsächlich betrachten wir die Einladung durch ein Industrieunter-nehmen noch deutlich kritischer als die Einladung etwa durch eine gemeinnüt-zige Stiftung. Aber auch Forschungs-organisationen wie die MPG oder Mi-nisterien wie das BMBF verfolgen mit ihrer Pressearbeit eigennützige Ziele. Sie liegen in diesem Spektrum mögli-cher Interessenskonflikte oder Risiken für die Unabhängigkeit der Berichter-stattung vermutlich eher im Mittelfeld. Welchen Zuwendungswert würden Sie als kritisch betrachten? Was

gilt in Ihrer Redaktion als unbe-denklich?

Götz-Sobel: s.o.

Koch: Zuwendung an Einzelne? Ich toleriere Kleinstgeschenke, die lang-jährige Bekannte einander aus eige-nem Antrieb machen, z.B. eine Blume.

Könneker: Unsere Redakteure sind angewiesen, keine Zuwendun-gen im Zusammenhang mit der Er-stellung von Beiträgen anzunehmen. Unabhängig davon sind gemäß laut unserer Compliance-Regeln Ge-schenke oder Kostenübernahmen ab einem Gegenwert von 75 Britischen Pfund zwingend registrierpflichtig. Je nachdem betrachten wir aber auch deutlich geringere Gegenwerte als kri-tisch. Es kommt darauf an, um welche Art der Zuwendung es konkret geht. Wenn etwa ein Forscher seine Buch-neuerscheinung einem Redakteur in die Hand drückt, sehen wir das un-kritisch – selbstverständlich bedeutet die Annahme des Buches keinesfalls, dass die Redaktion eine Rezension machen wird! Und natürlich behal-ten wir uns auch in solchen Fällen Verrisse vor, sofern die Bücher bei näherer Betrachtung nichts taugen.

Sentker: Zuwendungen an Redak-teure, etwa Geschenke, werden ab einer Größenordnung von 40 Euro ge-sammelt und für gemeinnützige Zwe-cke versteigert.

Darf man sich von einem Informan-ten zum Abendessen / Getränk ein-laden lassen?

Christoph Koch ist seit 2002 Ressortleiter Stern Wissenschaft, Me-dizin und Technik.

Carsten Könneker ist Chefredakteur von Spektrum der Wissenschaft und Gehirn und Geist.

Andreas Sentker ist Ressortleiter Wissen DIE ZEIT und Herausgeber des Ma-gazins ZEIT Wissen.

Christiane Götz-Sobel ist Leiterin der Redaktion Natur-wissenschaft und Technik im ZDF.

Page 28: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 28I / 2013

Götz-Sobel: In Ausnahmefäl-len ja, ggf. Genehmigung erfor-derlich (s. Compliance-Regeln).

Koch: Zum „Abendessen“ allen-falls in seltenen Ausnahmefällen, wenn es recherchetaktisch unbe-streitbare Vorteile bringt und vom Vorgesetzten geprüft wurde. Besser, man lädt selber ein. Gefragt wurde explizit nach „Informanten“, nicht nach Organisationen. Bayer oder die MPG sind keine „Informanten“. „Informanten“ sind Personen, zu de-nen ein Vertrauensverhältnis aufge-baut werden muss. Ihnen gegenüber sind recherchetaktische Flexibilitä-ten nach Einzelfallprüfung denkbar. Ein einzelnes Getränk oder etwas Selbstgekochtes abzulehnen könnte hingegen auf einen Fanatismus hin-deuten, der mit der für diesen Beruf unerlässlichen Horizontweite und Alltagsweisheit nicht zu vereinba-ren ist. Besser, man lädt selber ein.

Könneker: Dieser Fall tritt bei uns allein aus Zeitgründen kaum auf. Gelegentlich kommt es vor, dass ein Redakteur mit einem interviewten Wissenschaftler nach dem Interview noch kurz gemeinsam zu Mittag isst, falls die Rückreise des Redakteurs dies zulässt. Dann zahlt jedoch ent-weder der Redakteur die gemeinsa-me Zeche und reicht sie hinterher ein, oder jeder zahlt sein Essen selbst.

Sentker: Wir möchten etwas wis-sen – wir laden ein.

Nutzt Ihre Redaktion Presserabatte?

Götz-Sobel: Nein. Ob Einzel-ne den Presseausweis an ande-rer Stelle nutzen, ist nicht bekannt.

Koch: Nein. Die Rabatte, die wir nutzen, sind Großkundenra-batte, weil wir ein Großunterneh-men sind. Presserabatte i.e.S. sind wohl eher für einzelne Journalisten als Individuen gedacht, denen man dringend raten, aber nicht befeh-len kann, Zurückhaltung zu üben.

Könneker: Als Redaktion nutzen wir keine Presserabatte. Ob einzelne Re-dakteure die Vorteile ihres Presseaus-weises privat nutzen, ist nicht erhoben.

Sentker: Wir empfehlen Redak-teurinnen und Redakteuren der ZEIT dringend, keine Journalistenrabatte in Anspruch zu nehmen. Auch von der privaten, außerdienstlichen Nutzung von Journalistenrabatten wird abge-raten. Insbesondere ist es nicht ge-stattet, bei privater Beantragung von Journalistenrabatten auf die ZEIT als Arbeitgeber zu verweisen.

Wie groß ist die Lücke zwischen Un-abhängigkeitsanspruch und Realität im Redaktionsalltag?

Götz-Sobel: Unabhängigkeit ist ein wichtiger journalistischer Grund-satz. Die Rahmenbedingungen sind durch ein enges Regelwerk gesetzt. Auch ohne dies ist die erforderliche Sensibilität gegeben. In der Praxis zeigt es sich durch die Herange-hensweise an die Themen, die un-abhängig und sachorientiert erfolgt.

Koch: Ich habe nicht den Eindruck, dass die angesprochenen materiellen Incentives dabei eine Rolle spielen.

Könneker: Chefredakteure und Redaktionsleiter sind bei uns sensibilisiert dafür, mögliche In-teressenkonflikte, die unsere re-daktionelle Unabhängigkeit beein-trächtigen könnten, schon in der Themenplanungsphase offen an-zusprechen und zu vermeiden. Wo dies nicht möglich ist, wird für unse-re Leserinnen und Leser eindeutig nachvollziehbar darauf hingewiesen.

Sentker: Das bisher Beschriebene ist nicht Anspruch, sondern Realität.

Gelten diese Regeln gleichermaßen für feste und freie Mitarbeiter? Wie wird die Einhaltung kontrolliert?

Götz-Sobel: Regeln gelten für feste und freie Mitarbeiter gleichermaßen.

Koch: Es gibt keine Regeln, die „gleichermaßen“ für beide Grup-pen gelten, weil sie aufgrund des Arbeitsrechtes fundamental ver-schieden sind. Wir können unseren Angestellten Weisungen erteilen, bei unseren Freien aber nur auf Vertragseinhaltung bestehen. De facto lassen wir keine Einladungen

und Pressereisen der Freien zu, sondern finanzieren sie aus dem Etat. Generell gibt es für den CoC Beauftragte und Ombudsleute, so dass sich jeder Mitarbeiter bei Ver-stößen gegen den CoC an eine unabhängige Stelle wenden kann.

Könneker: Unsere strengen Richt-linien zur redaktionellen Unabhän-gigkeit betreffen ausnahmslos alle Redaktionen des Verlags, also die festen Mitarbeiter – aber auch freie Mitarbeiter, die fallweise die Redak-tion unterstützen. Durch die enge Zusammenarbeit innerhalb der Re-daktionen ergibt sich automatisch eine gute Selbstkontrolle, da etwai-ge heikle Einladungen, angebotene Zuwendungen oder sonstige Inter-essenkonflikte offen und kritisch in der Redaktionskonferenz diskutiert werden. Das geschieht übrigens auch allein schon deshalb, weil un-sere Leser höchst sensibel und kri-tisch in diesen Fragen sind. Einen etwaigen Fehltritt, gleich wie unab-sichtlich er auch wäre, würden wir von ihnen um die Ohren geschmet-tert bekommen – und zwar völlig zu Recht! Unsere freien Autoren sind ebenfalls verpflichtet, mögliche Un-terstützungen etwa durch Recher-chestipendien oder Crowd Funding klar zu benennen, damit wir dies unseren Lesern anzeigen können.

Sentker: Bei freien Mitarbeitern ist die Einhaltung solcher Regeln in der Realität nicht zu kontrollieren. Sie gel-ten aber nicht nur für Redakteurinnen und Redakteure, sondern für alle Au-toren. Freie Mitarbeiter müssen zu-dem Tätigkeiten in den Journalismus nahen Bereichen – Marketing, PR – offen legen. Eine Tätigkeit in einem dieser Bereiche schließt in der Regel die redaktionelle Bearbeitung inhalt-lich verwandter Themen bei ZEIT für den Zeitraum eines Jahres aus.

Mit Christoph Koch,Carsten Könneker,

Andreas Senkterund Christiane Götz-Sobel

sprach Christian Eßer

}

Page 29: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 29I / 2013

Manchmal braucht es nur einen klei-nen Schubs. Letzten November saß ich gerade in der ersten Session meiner ers-ten WISSENSWERTE (Thema: Braucht Deutschland ein Science Media Center?) als ich bei Twitter die Nachricht einer Kol-legin in einer anderen Session las: „Wenn mehr Journalisten twittern würden, wüss-ten wir jetzt, was nebenan in der Science Media Center-Session passiert.“

Das war Ansporn genug, Twitter einmal für mehr zu nutzen als interessante Artikel zu verbreiten dabei zwei Sachen festge-stellt: Dass das wirklich Spaß machen kann und dass der Diskussion zu folgen und gleichzeitig zu twittern, mich bei vie-len Themen wahrscheinlich überfordern würde. Das war keine große Erkenntnis, aber die Art von Erfahrung, die ich mir von der WISSENSWERTE erhofft hatte.

Auch sonst waren die zwei Tage in Bremen interessant. Ich habe Kollegen, mit denen ich schon häufig telefoniert oder E-Mails ausgetauscht hatte, zum ersten Mal die Hand gegeben. Veran-staltungen zu H5N1-Forschung, Seralini-Studie und Organspende-Skandal ha-ben einige der großen Aufregerthemen des Jahres abgedeckt.

Trotzdem war ich ein wenig unzufrie-den! Ich weiß nicht, was ich mir erhofft hatte. Vielleicht zwei Tage der jour-nalistischen Selbstreflexion und auch Selbstvergewisserung. Zwei Tage, an denen ich mit Kollegen darüber diskutie-re, warum wir eigentlich erst dann über Forschung berichten, wenn sie in einem Journal erschienen ist, wer die Themen bestimmt, über die wir schreiben und wie sich der Wissenschaftsjournalismus in Zeiten hervorragend gemachter Wissen-schafts-PR behaupten kann. Zwei Tage, in denen ich mit Apps konfrontiert wer-de, die den Journalismus in eine neue Richtung steuern, oder Programme ken-nenlerne, die mir die Arbeit erleichtern oder sie in Zukunft jedenfalls verändern werden. Kurz: Ich habe mir ein bisschen mehr Grundsätzliches und zugleich ein bisschen mehr Praxis gewünscht.

Tatsächlich habe ich alle diese Dinge in Bremen auch erlebt, aber eben meist im Gespräch zu zweit oder zu dritt, in Kaf-feepausen oder beim Mittagessen. Und ich glaube, dass die WISSENSWERTE eine bessere Veranstaltung wäre, wenn wir es schaffen würden, diese Diskussio-nen von den Fluren und den Stehtischen in die Sessions zu verlagern.

Ein grundsätzliches Problem ist, dass die WISSENSWERTE wie fast alle Ver-anstaltungen dieser Art das Konzept des Frontalunterrichts verinnerlicht hat. Auf einem erhöhten Podium sitzen drei oder vier Diskutanten, die – meistens, aber bei weitem nicht immer – verschiedene Posi-tionen vertreten. Am Ende dürfen Fragen gestellt werden.

Das ist sinnvoll, wenn die Zuhörer Laien sind, die sich zu einem bestimm-ten Thema eine Meinung bilden wollen. Doch ist bei der WISSENSWERTE der Raum voll mit Menschen, um deren Er-fahrungen in und mit Redaktionen es ge-rade geht. (Und Journalisten ohne Mei-nung sind nach meiner Erfahrung noch seltener als Journalisten ohne Ahnung.)

Das Ziel sollte also sein, so viele Teil-nehmer wie möglich in die Diskussion einzubeziehen, anstatt einer Stellver-treterdiskussion zu lauschen. Vielleicht wäre es den Versuch wert, einen Raum bei der WISSENSWERTE einmal an-ders aufzubauen, kein Podium, kein Pa-nel, sondern alle Stühle auf einer Ebene im Kreis oder Halbkreis. So ein Format braucht natürlich gute Moderatoren, aber im Idealfall kann es dazu führen, dass all das Wissen und all die Meinungen, die in dem Raum versammelt sind auch in die Diskussion einfließen.

Damit so etwas funktioniert, damit Teilnehmer ihre Erfahrungen teilen und ihre Kritik anbringen, müssen aber auch Hürden abgebaut werden. Das können Kleinigkeiten sein: Expeditionen am An-fang der Konferenz statt am Ende könnte den Teilnehmern eine Chance geben, sich vor den Sessions kennenzulernen und ein Kaffeekreis für „Erstis“ könnte Neuzugängen bei der WISSENSWER-TE helfen, Kollegen kennenzulernen und sich wohlzufühlen. Man könnte auch das Saalmikro im Gang abschaffen, das vielen Menschen schon Schweißperlen auf die Stirn treibt, wenn Sie nur darüber nachdenken, aufzustehen und etwas zu sagen. Zwei Mikros, die im Saal rumge-reicht werden, sind für viele weniger ab-schreckend.

Es gibt andere Dinge, die ich sinnvoll fände, etwa Sessions, in denen Journa-listen unter sich sind. Wenn über Re-daktionsprobleme und journalistische Ethik diskutiert werden soll, wäre so ein „geschützter Raum“ hilfreich. Dann könnten wir vielleicht ehrlicher über un-sere Schwachstellen und Einfallstore für PR sprechen, als wenn Pressespre-cher und Wissenschaftskommunikato-ren von Anfang an mit debattieren. Und nach der Konferenz könnten wir ein Wiki anlegen, in dem Feedback gesam-melt wird und Themenvorschläge fürs nächste Jahr.

Ich möchte nicht undankbar er-scheinen. Dass es in Deutschland ein großes Branchentreffen wie die WIS-SENSWERTE gibt, ist toll und das Ver-dienst vieler Menschen, die dafür hart gearbeitet haben. Doch nun, da die WPK offizieller Träger der WISSENS-WERTE ist, haben wir die Chance, das Treffen noch moderner und relevanter für uns Journalisten zu machen. Wir haben die Chance, ein bisschen zu ex-perimentieren.

Die meisten der Ideen und Vorschlä-ge in diesem Text sind im Übrigen nicht von mir. Einige Monate nach der WIS-SENSWERTE haben sich eine Hand-voll Berliner WPK-Mitglieder noch einmal zusammengesetzt. Wir haben unsere Eindrücke von der WISSENS-WERTE verglichen, Erfahrungen bei anderen Konferenzen ausgetauscht und Vorschläge diskutiert. Ich weiß nicht, wie man so eine Session auf der WISSENSWERTE nennen würde, aber ich habe dabei viel gelernt und viele Denkanstöße bekommen. Es könnte der Anfang einer interessanten Diskussion darüber sein, was für eine WISSENSWERTE wir uns wünschen. Und manchmal braucht es eben nur einen kleinen Schubs.

Hinweis: Die Programmplaner im WPK-Projektbüro an der TU Dortmund – Holger Hettwer und Franco Zotta – sind übri-gens für neue Ideen zur WISSENSWERTE jederzeit ansprechbar ([email protected]). Darüber hinaus wollen wir den WPK-Mitgliedern die Möglichkeit geben, konkrete Ideen und Anregungen systematisch einzubringen. Dazu sind im Januar 2014 spezielle Brainstormings in Berlin und Köln geplant.

}

Ein Anstoß in eigener Sache.

Von Kai Kupferschmidt

Vor der nächsten WISSENSWERTE

Page 30: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 30I / 2013

Neue Mitglieder

Köln

Stuttgart

Berlin

Freiburg

Köln

Berlin

Berlin

Als Teenager war der ARD-Weltspiegel für mich Pflicht, mich plagte das Fernweh. Dann entdeckte ich, dass man in der Wissenschaft auch reisen kann, notfalls auch nur im Kopf. Also ein Biologiestudium. Nach dem Studium war ich als Biologin in Kolumbien und als Journalistin in Stuttgart und der Schweiz, schließlich als Wissenschaftsvolontärin beim Deutschlandfunk – und damit beim Radio. Dem bin ich seitdem als freie Autorin treu geblieben. Wenn ich reise – zu Maisfeldern in Sambia, zu Meeresforschern in Schwe-den oder zu Botanikern in Freiburg, dann ist das einfach nur genau richtig. In der WPK hoffe ich auf gute Gesell-schaft und viel Austausch.

Nach einem Studium der Biologie mit den Schwerpunkten Humangenetik, Immunologie und Pharmakologie habe ich über Parkinsongenetik promoviert. Es folgte ein Aufbaustu-dium Journalistik sowie Praktika in Zeitungs-, Zeitschriften- und Onlineredaktionen, unter anderem bei „Bild der Wissen-schaft“ und einem medizinischen Fachverlag. Anschließend arbeitete ich als Wissenschaftsreferentin in der Hochschul-kommunikation und seit etwa einem Jahr als freie Journa-listin. In der WPK freue ich mich über regen Austausch mit Kollegen sowie über interessante Workshops.

Schon während meines Physikstudiums hatte ich neben-her ein wenig Philosophie betrieben und dabei Blut geleckt für das Schreiben über Wissenschaft. Im Anschluss an das Diplom promovierte ich deshalb zunächst in Wissenschafts- und Erkenntnistheorie. Nach ein paar Jahren Erfahrung in der Politikberatung bei acatech wechselte ich dann über ein Praktikum bei der WELT in den freiberuflichen Wissen-schaftsjournalismus. Zurzeit arbeite ich hauptsächlich für Wissenschaft-aktuell und pro-physik, auch als Redakteur. Letztes Jahr ist das Sachbuch „Das Nukleare Zeitalter“ von mir erschienen, das sich mit den geopolitischen und gesell-schaftlichen Konfliktfeldern der Kernenergie befasst.

Ein Standbein bei der Zeitung und gleichzeitig neue Freude am Beruf als freier Wissenschaftsjournalist – seit Ende 2012 versuche ich mal, auf beiden Hochzeiten zu

tanzen. Nach Medizinstudium, Volontariat und sieben Jahren als Redakteur bei der Badischen Zeitung ver-bringe ich nur noch die Hälfte meiner Arbeitszeit in der Redaktion in Freiburg und habe endlich mehr Zeit, über mein Lieblingsthema Medizin zu schreiben. Und mehr Zeit, bei der WPK zu diskutieren, wie man heute noch guten Journalismus macht.

Als freier Wissenschaftsjournalist arbeite ich derzeit meist im Hörfunk und seltener auch für Printmedien. Mein Hauptgebiet ist die Biologie – das Fach, in dem ich mein Diplom gemacht habe. Nach meinem Abschluss an der Uni Bielefeld habe ich Praktika absolviert, u.a. bei „wissenschaft.de“ und war Stipendiat im Mentoring-Pro-gramm der „Initiative Wissenschaftsjournalismus“. Da-nach habe ich ein Volontariat im Bereich „Wissenschaft und Bildung“ des Deutschlandradios gemacht. Seitdem arbeite ich als freier Autor, Redakteur und Moderator, meist für die Programme des Deutschlandradios. Als neues Mitglied der WPK freue ich mich auf produktive Workshops sowie den Austausch mit Kollegen.

Ich bin Diplompsychologin, war nach einem Volon-tariat bei der taz Redakteurin und Chefin vom Dienst, dann Pressesprecherin von Greenpeace Deutschland. Seit 2004 arbeite ich frei, unter anderem für Stern, Süd-deutsche Zeitung, Zeit Wissen und Geo Saison. Anlass für meinen Beitritt zur WPK ist die Beobachtung, dass in Psychologie und Psychotherapie immer mehr unwis-senschaftliche Anbieter auf den Markt drängen. Zum Teil gelingt es ihnen dabei, fundierte Verfahren zu unter-wandern und wissenschaftliche Standards in Frage zu stellen. Journalismus muss diese Tendenzen kritisch be-obachten und einordnen, und Institutionen wie die WPK spielen da eine wichtige Rolle. In dem Sinne freue ich mich auf einen spannenden Austausch.

Ich bin freier Wissenschaftsjournalist in Berlin. Meine Lieblingsthemen haben meist mit Biologie, Psychologie oder Technik zu tun. Redaktionserfahrung habe ich bei der Welt, dem Spiegel, Spiegel online, der Zeit und der Washington Post gesammelt. Das Dasein als Wissen-schaftler habe ich am Dresdner Max-Planck-Institut für Zellbiologie kennengelernt, wo ich mich jahrelang mit dem Cholesterinstoffwechsel von Fadenwürmern befasst habe. Ich habe ein Diplom in Biologie von der TU Dres-den und einen Master in Journalismus von der Complu-tense Universität Madrid.

Katrin Zöfel

Helmine Braitmaier

Dirk Eidemüller

Michael Brendler

Michael Böddeker

Heike Dierbach

Hristio Boytchev

Page 31: WPK Quarterly 2013-1

WPK-Quarterly 31I / 2013

Layout, Design und Titelbild

Katja LöscheTitelbild unter Verwendung der Grafik „Male Organs – Liver“ © by decade3d – Fotolia.com

Redaktion

Markus Lehmkuhl (V.i.s.d.P.), Antje Findeklee, Volker Stollorz, Claudia Ruby, Nicole Heißmann und Christian Eßer

Adresse

WPK-QuarterlyWissenschafts-Pressekonferenz e.V.Ahrstraße 45D-53175 Bonn

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung der WPK wieder.

Telefon & Fax E-Mail & Web

Tel ++49 (0)228-95 79 840 Fax ++49 (0)228-95 79 841

[email protected]

Autoren

Claudia Ruby, Volker Stollorz, Leif Kramp, Stefan Weinacht, Ralf Spiller, Holger Hettwer, Simone Rödder, Franco Zotta, Wiebke Rögener, Holger Wormer, Marcus Anhäuser, Sven Titz, Christian Eßer und Kai Kupferschmidt

Impressum