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Würde als Bestimmung der Natur des Menschen? Theologische Reflexionen zu ihrem (nach-) metaphysischen Horizont Elisabeth Gräb-Schmidt Im Titel meines Beitrags tauchen gleich drei problemati- sche Begriffe auf: Würde des Menschen, Natur und Meta- physik. Insbesondere nimmt er im Folgenden Bezug auf die Fragen einer naturrechtlichen Begründung von Men- schenwürde. 1 Es gibt verschiedene Ansprüche auf die Urheberschaft des Gedankens der Menschenwürde. Zu diesen Kandidaten solcher Ansprüche gehört auch der Gedanke der Gotteben- bildlichkeit. Der Streit um die christliche Urheberschaft oder Inanspruchnahme des Begriffs der Menschenwürde soll hier nicht Gegenstand der Untersuchung sein. Die Ent- wicklungen diesbezüglich sind nachgezeichnet worden. Hier an dieser Stelle und in dem hier formulierten Inte- resse geht es allein um die Frage der Begründung und Be- stimmung von Menschenwürde. In diesem Zusammen- hang spielt die Idee oder vielmehr der mit dem Naturrecht angesprochene Sachverhalt eine unverzichtbare Rolle. Das aktuelle Problem des Naturrechts ist dabei auch und wohl vor allem seine Infragestellung in der Moderne, zu der auch der Protestantismus nicht unwesentlich bei- getragen hat. Kennzeichnend für die Neuzeit war bekannt- lich die tendenzielle Umstellung von einem vorgegebenen, durch die Vernunft erkennbaren Naturrecht auf positives, 134

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Würde als Bestimmung der Natur desMenschen?Theologische Reflexionen zu ihrem(nach-) metaphysischen Horizont

Elisabeth Gräb-Schmidt

Im Titel meines Beitrags tauchen gleich drei problemati-sche Begriffe auf: Würde des Menschen, Natur und Meta-physik. Insbesondere nimmt er im Folgenden Bezug aufdie Fragen einer naturrechtlichen Begründung von Men-schenwürde.1

Es gibt verschiedene Ansprüche auf die Urheberschaftdes Gedankens der Menschenwürde. Zu diesen Kandidatensolcher Ansprüche gehört auch der Gedanke der Gotteben-bildlichkeit. Der Streit um die christliche Urheberschaftoder Inanspruchnahme des Begriffs der Menschenwürdesoll hier nicht Gegenstand der Untersuchung sein. Die Ent-wicklungen diesbezüglich sind nachgezeichnet worden.Hier an dieser Stelle und in dem hier formulierten Inte-resse geht es allein um die Frage der Begründung und Be-stimmung von Menschenwürde. In diesem Zusammen-hang spielt die Idee oder vielmehr der mit dem Naturrechtangesprochene Sachverhalt eine unverzichtbare Rolle.

Das aktuelle Problem des Naturrechts ist dabei auchund wohl vor allem seine Infragestellung in der Moderne,zu der auch der Protestantismus nicht unwesentlich bei-getragen hat. Kennzeichnend für die Neuzeit war bekannt-lich die tendenzielle Umstellung von einem vorgegebenen,durch die Vernunft erkennbaren Naturrecht auf positives,

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durch Entscheidung und Verträge in Geltung gesetztesRecht. Da aber unser Grundgesetz in Art. 1 auf einem Be-kenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Men-schenrechten aufbaut sowie alle staatliche Gewalt zu Ach-tung und Schutz der Menschenwürde verpflichtet undGrundrechte als unmittelbar geltendes Recht etabliert hat,ist der Übergang von Naturrecht und positivem Recht wie-der fließend geworden.2 D. h. der Hiat vom Naturrechtzum positiven Recht, den die Neuzeit aufgebaut hat,scheint hier wieder durchlässig geworden zu sein. DieseDurchlässigkeit verdankt sich auch der Einsicht, dass daspositive Recht selbst einer Begründung in einer Vorstellungvon Gerechtigkeit bedarf, an der es sich sowohl in seinenRahmenbedingungen als auch in seiner Ausübung, etwain richterlichen Entscheidungen, orientiert.

Sofern in der Bestimmung von Naturrecht und positivemRecht einem nachmetaphysischen Horizont Rechnung ge-tragen werden muss, im Sinne der Problematisierung vonMetaphysik, werden eine kurze Bestimmung der erkennt-nistheoretischen Ausgangsposition und das Problem derVerschärfung des Begründungsproblems von Menschen-würde und Naturrecht vorgenommen werden müssen.

Das bleibende Problem, eigentlich schon seit der Antikeaber vor allem in der Gegenwart, ist die Frage einer Krite-riologie für das positive Recht. Ohne Rekurs auf einen Be-gründungshorizont, sei dieser die Idee Platons, das Telosdes Aristoteles, der Logos der Stoa, der Wille Gottes odernur eine blinde Entscheidungsmacht, ist dieser nicht zu ge-winnen und zu erhalten. Eine solche Kriteriologie orien-tiert sich an Prinzipien, etwa der Gerechtigkeit oder Frei-heit oder eben der puren Macht. Solche Prinzipien sindjedoch die angestammten Themen des Naturrechts. Zudieser Thematik in ihrer modernen Problematik möchteich Stellung nehmen unter der Fragestellung: Kann das pro-testantische Verständnis etwas zur Klärung der gegenwärti-

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gen Fragen um die Bestimmung von Menschenwürde bei-tragen, und zwar so, dass deren Auflösung in Beliebigkeitweder hilflos zugesehen wird noch autoritär ignoriert wer-den muss?

Ein diesbezüglicher Beitrag des Protestantismus ist umsoschwieriger, da das Naturrecht ein Stiefkind des Protestan-tismus ist. Denn seitens des Protestantismus findet sicheine doppelte Infragestellung des Naturrechtsgedankens:1.Weder die Natur, noch die Vernunft, die die Natur erkenntoder erkennen soll, wurden im Protestantismus als eigen-ständige, wahrheitsbezogene oder wahrheitsfähige Größenneben der Offenbarung anerkannt. Auf der einen Seite isthier die antischolastische Abkehr von einer natürlichenTheologie zu nennen, in Form einer Kritik des lumen natu-rale. Die protestantische Theologie rechnet mit einerinfralapsarischen – also sündenfallbedingten – Störung derNatur des Menschen, die nicht nur den Willen, sondernauch die Vernunft betrifft. Damit entschwand die Naturund mit ihr auch der Gedanke des Naturrechts aus dem Re-flexionshorizont protestantischer Theologie.3 2. Auf der an-deren Seite durchlief der Protestantismus eine neuzeittheo-retische Umformung der Theologie, die im Unterschiedzum Katholizismus in einer Abkehr von traditioneller Me-taphysik,4 wie sie dann auch durch die Philosophie geltendgemacht wurde, folgte. Von daher unterstützte sie auch diepositivistische Wende in der Rechtsdogmatik.

Den Infragestellungen, denen das Naturrecht in der Ge-genwart ausgesetzt ist, möchte ich mit einer These begeg-nen, die in protestantischer Verantwortung für eine Reha-bilitierung des antiken Gedankens des Naturrechtsplädiert, dies jedoch in neuzeitlicher Reformulierung.

Meine These lautet: Der Gedanke des Naturrechts istfür die Bestimmung der Würde des Menschen nach wievor unverzichtbar. Für die rechtliche Relevanz der Men-schenwürde (und der Menschenrechte) kann auf eine na-

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turrechtliche Dimension ihrer Begründung kaum verzich-tet werden. Die protestantisch-theologische Begründungvon Würde schließt diese mit ein, ist aber nicht mit ihridentisch. Darum kann sie den Brüchen im Denken vonMetaphysik, die zur Abkehr vom Naturrecht führten,Rechnung tragen, ohne deren Anliegen verabschieden zumüssen.

Diese These werde ich in folgenden Schritten entfaltenund begründen. Zunächst sollen I. die gegenwärtigen Prob-leme der naturrechtlichen Begründung des Rechts formu-liert werden. Die Weichenstellung der Moderne und dieaktuelle Infragestellung zu berücksichtigen, bedeutet je-denfalls, dass eine substantialistische Fassung des Natur-rechtsgedankens nicht mehr adäquat ist. II. soll in einemphilosophie- und theologiehistorischen Rekurs aufgezeigtwerden, dass unterschiedliche Bedeutungsfacetten des Be-griffs des Naturrechts möglich waren und sind. Unter die-sem Gesichtspunkt soll III. eine neuzeitliche Weichenstel-lung des Naturrechts besonders hervorgehoben werden,nämlich diejenige Pufendorfs. Sein Ansatz ermöglichtm. E. eine Neuinterpretation, die auf substantial-ontologi-sche Anleihen verzichten kann. Sodann werden IV. Kon-sequenzen für die gegenwärtige Bestimmung von Natur-recht und Menschenwürde sichtbar, die sich V. in ihrerKompatibilität mit protestantisch-theologischen Voraus-setzungen bewähren sollen.

I. Aktuelle Probleme der naturrechtlichen Begründung

Das Naturrecht steht für den Rückhalt des Rechts in einerAllgemeinverbindlichkeit moralischer Prinzipien. Die on-tologisch-metaphysikkritischen Entwicklungen führtenbekanntlich zu einem positivistischen Rechts- und Wahr-heitsverständnis. Die Einheit von Recht und Moral, wie

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sie in Antike und Scholastik durch die naturrechtlicheGrundlage des Rechts gewährleistet war, war durch denRechtspositivismus als Weg für gegenwärtige Interpretatio-nen versperrt worden. Nun geht es um die Frage, ob eineVerbindlichkeit des Rechts ohne ontologischen, metaphy-sischen oder religiösen Horizont zu sichern ist, der Rechtund Gerechtigkeit aufeinander bezieht.

Probleme zeigen sich also punktgenau, wenn es um Le-gitimität, um Begründungsfragen geht, die letztlich auf po-sitivistischer Ebene nicht zu beantworten sind. Diese Prob-leme markieren die Schwierigkeiten eines angemessenenVerständnisses der Grundlagen des Rechtes. Bemerkbarmachen sie sich dabei nicht nur auf grundlagentheoreti-scher Ebene in Fragen des Verhältnisses von Gerechtigkeitund Recht, sondern auch im Umgang mit akut auftreten-den Problemen menschlichen Zusammenlebens in der Ge-sellschaft, die rechtliche Regelungen erfordern, wie dasAuftauchen kultureller und religiöser Vielfalt, oder dasProblem technischer Risiken, die mit Forschung verbun-den sind, deren Folgen und Anwendungsmöglichkeitenethische Probleme hervorrufen, heute besonders auf demFeld bio- und gentechnischer Forschung. Solche ethischenProbleme stellen sich immer dann, wenn es um Sachver-halte geht, die das Selbstverständnis des Menschen undder Gesellschaft im Ganzen betreffen.

Rechtliche Richtlinien hinsichtlich solcher ethischenProblemlagen verlangen eine Orientierung, die ohne Inan-spruchnahme so genannter metaphysischer Horizonte, Ho-rizonte der Geltung, schwerlich zu erbringen ist. Dasmacht sich gegenwärtig vor allem im Umgang mit derFrage nach Stellung und Bedeutung der Menschenwürdeim Verhältnis zu den Grundrechten bemerkbar. Was daherbei aktuellen Problemen des Naturrechts und der Men-schenwürde vor allem in Frage steht und debattiert werdenmuss, ist die Frage der Verabschiedung von traditioneller

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Metaphysik und den daraus resultierenden Konsequenzenfür das Naturrecht.

Hier soll nun gezeigt werden, dass die Wirkungsgeschichteneuzeitlicher Verabschiedung dieser Sachverhalte eine ein-seitige ist, die nicht das ganze Spektrum philosophie- undtheologiegeschichtlicher Entwicklungen umfasst.5 Sie be-rücksichtigt nicht in angemessener Weise Leistung und Stel-lung der Freiheit in der Geschichte der Neuzeit.

Eine Neuorientierung im Blick auf diese Problemlageerforderte daher eine Konzeption, die die wissenschafts-theoretische Entwicklung nicht ignoriert, die aber derenEinseitigkeit durchbricht, die in der Missachtung dergrundlegenden Bedeutung der Freiheit liegt. Mit der Beach-tung dieser philosophie- und kulturgeschichtlichen Bedeu-tung der Freiheit wird man auch vorsichtiger mit der Infra-gestellung des Naturrechts sein müssen.

Freiheit als solche ist das Signum des neuzeitlichen Ver-ständnisses vom Menschen, das schließlich jenen Metaphy-sik- und Ontologiebruch auch vorbereitet hat, gerade da-durch jedoch zu einem reflektierteren Verständnis undSelbstverständnis geführt hat. Dies liegt an der mit der Ent-deckung der Freiheit einhergehenden Entdeckung der Sub-jektivität. Voraussetzung eines solchen reflektierten Ver-ständnisses der conditio humana ist nämlich, dass wir unsselbst als solche freie Wesen wahrnehmen, dass wir uns alssolche verstehen wollen. Dies Verstehen erfordert dann aberwiederum: das menschliche Sein, im Horizont mensch-licher Freiheit so zu bestimmen, dass auf die Ideen des Gu-ten und Gerechten als denjenigen, die der Freiheit6 ihrenGrund sichern, nicht verzichtet werden kann. Es wird sichdabei auch die Frage stellen, ob denn die Menschenwürdesich unabhängig von deren Gründung im Naturrecht über-haupt wird halten können und damit verbunden, ob denndie Menschenrechte sich ohne naturrechtliche Begründunggarantieren lassen können.

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Dass solche Fragen erneut und verschärft notwendigsind, darauf verweisen nicht nur die erwähnten Fragen reli-giöser Wahrheitsansprüche, sondern auch Unsicherheitenauf dem Gebiet der medizinischen und biologischen For-schung, und ebenso die Fragen der Gerechtigkeit angesichtsder Konsequenzen der Globalisierung mit ihren steigendenUngleichheiten und dem damit einhergehenden Gefahren-potential für das gesellschaftliche Zusammenleben.

Inwiefern nun bereits in der vorneuzeitlichen natur-rechtlichen Tradition eine freiheitstheoretische Linie desNaturrechtsgedankens entwickelt wurde, soll anhand fol-gender theologie- und philosophiegeschichtlicher Unter-suchungen nachgezeichnet werden. Unter Umständenkönnte die Tradition den Blick freigeben auf ein Natur-rechtsverständnis, das die neuzeitliche Weichenstellungnicht fürchten müsste und damit auch anschlussfähigwäre für die Gegenwart.

II. Philosophiegeschichtliche Stationen des Verständnissesvom Naturrecht7

Die für das moderne Zeitalter problematische Bestimmungdes Naturrechts geht auf den stoischen Naturrechtsgedan-ken zurück. Dort ist im Naturrecht ein universal verbind-liches Normensystem vorgezeichnet. So haben denn auchdie Stoiker die Verbindlichkeit des positiven Rechts nach-drücklich von dessen Vereinbarkeit mit den Normen desNaturrechts abhängig gemacht. „Es ist weder gestattet, andiesem Gesetz etwas ändern zu wollen, noch kann es inseiner Gesamtheit außer Kraft gesetzt werden.“8 Vergessenwerden darf aber für den Begründunghorizont des Natur-rechtes nicht, dass dieses immer eine doppelgleisige Linieverfolgt, es ist zum einen in einer ewigen Weltordnung be-gründet, zum anderen aber in der Erkennbarkeit durch die

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Vernunft. Alle Menschen können als Vernunftwesen diewahre Rechtsordnung erkennen. Allerdings verhindernwidrige Umstände in verschiedenster Hinsicht, dass die po-sitiven Rechtordnungen immer mit dem Naturrecht über-einstimmen. Für das teleologische Naturrecht der grie-chischen Philosophen (wie es auch Eingang in dasrömische Recht gefunden hat) gilt jedenfalls, dass die ewigeOrdnung der Natur die Grundlage alles universal verbindli-chen Rechts ist und die menschliche Vernunft dieses Rechterkennen kann.9

Die Grundlage der verpflichtenden Rechtsordnung wirdin der Natur gesucht.10 Für die Theologie ist bedeutsam,dass bereits die Patristik dieser Tradition gegenüber ein ei-genes Verständnis entwickelt, das damit überhaupt auf dieBesonderheit des christlichen Gedankenguts in der Weltder Antike hinweisen kann.

Zwar harmoniert der stoische Naturrechtsgedanke, (wieer in ausgearbeiteter Form bei Chrysip11 entfaltet ist) mitdem christlichen Schöpfungsverständnis, das mit der vonGott geschaffenen Ordnungsstruktur des Kosmos rechnete.Aber mit dem anderen Traditionsstrang des Christentums,nämlich der Auffassung der Korrumpiertheit der mensch-lichen Natur, ihrer Sündhaftigkeit, war in der Tat ein demgriechischen Denken fremder Gedanke entstanden, dernun – so scheint es zunächst – auch radikal mit jeglichemNaturrechtsdenken brechen müsste. Das wurde jedochlange nicht erkannt, da 1. die philosophische Begrifflich-keit des Christentums keine andere war als die der grie-chischen Philosophie, in deren Rahmen sie ihre gedank-lichen Explikationen vornahm und weil 2. bereits imNeuen Testament selbst letztlich auch griechische Natur-rechtsanschauungen Eingang gefunden hatten.12

Trotz dieser Anpassung an das griechische Denken giltjedoch: Das Naturrecht ist nicht nur und nicht erst durchden metaphysischen Bruch, sondern bereits durch die

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christliche Theologie und ihre Infragestellung einer natür-lichen Erkenntnis der Wahrheit bzw. der ewigen Ordnungproblematisch geworden.

Dennoch bleibt der Gedanke des Naturrechts in derTheologie weiterhin wirksam. Für unsere Fragestellungvon Bedeutung sind vor allem die Überlegungen des DunsScotus.

1. Das voluntaristische Verständnis von Naturrecht beiDuns Scotus

Die Weichenstellung des Duns Scotus ist für die Natur-rechtsdebatte vor allem deswegen von Interesse, weil er da-bei eine Argumentationslinie verfolgt, die auch nachkriti-sche und nachmetaphysische Bezugnahmen auf dasNaturrecht möglich zu machen scheinen. Er zeichnet einevoluntaristische Linie in den Logos-orientierten Gedankendes Naturrechts ein. Das Neue bei Scotus ist das ins Spielbringen einer neben der Vernunft weiteren bestimmendenKraft des Menschen. Dieses Neue ist nicht, wie man mei-nen könnte, die Loslösung der Vernunft aus der Naturord-nung, sondern es besteht vielmehr in der Qualifizierungder Natur des Menschen. Diese besteht in der Vernunft, da-rüber hinaus aber auch im Willen. Die Bestimmung desMenschen ist daher nicht länger nur an die Vernunft ge-bunden, sondern sie ist durch den Willen zu bestätigen.Hervorzuheben ist nun aber: Diese Betonung des Willensführt Duns Scotus nicht zur Aufhebung des Gedankens ei-nes Naturrechts, dessen Teilhabe der Mensch durch dieVernunft gesichert war. Für Duns Scotus erfordert das Na-turrecht vielmehr die Bindung des Willens an Normen. Da-mit aber wird das Naturrecht normativ nicht nur in ratio-nalem, sondern in freiheitlichem Sinne.

Duns Scotus nimmt mithin in seiner logisch-analyti-schen Durchforstung der Tradition und ihrer Argumente

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eine Klärung vor, die den Schnitt zwischen Naturrecht undpositivem Recht tiefer legt, bzw. die beiden Spielarten desRechts, des Naturrechts und des positiven Rechts bereitsauf der Grundlagenebene intrinsisch miteinander ver-schränkt. Dies gelingt ihm dadurch, dass er die Gründungdes Naturrechts nicht im Logos Gottes, sondern in der vo-luntas oder im Willen ansiedelt. Damit wäre das Natur-recht nicht in der ratio, sondern in der Freiheit Gottes be-gründet!

So wird bei Duns Scotus bereits vorgedacht, dass das Na-turrecht normativ wird, nicht im Sinne eines Naturgeset-zes, sondern in freiheitlichem Sinne.13

Diese voluntaristisch-freiheitliche Linie führt meinesErachtens dann auch ins Zentrum einer möglichen evan-gelischen Position in der Begründung des Naturrechts.Um diese Verbindung deutlich werden zu lassen, ist eineErinnerung an Luthers Zwei-Reiche-Lehre hilfreich.

2. Die Qualifizierung des traditionellen Naturrechts-gedankens durch Luthers Zwei- Reiche-Lehre

Es wird immer wieder überlegt, ob Luther im Mittelalteroder in der Neuzeit anzusiedeln ist. Wenn wir seine Zwei-Reiche-Lehre14 betrachten, ist Luther eindeutig der Neuzeitzuzurechnen mit ihrer Betonung der Freiheit und Individua-lität des Menschen. Luther unterscheidet bekanntlich eingeistliches und ein weltliches Regiment.15 Der Auftrag derweltlichen Regierung gilt der Aufrechterhaltung der Schöp-fung Gottes vor der zerstörerischen Macht der Sünde. Sie istder Ort des weltlichen Rechtes und dieses hat ganz in Hob-besscher Manier wesentlich die Aufgabe, den Menschen zunötigen. Luther nimmt die bereits bei Laktanz hervortre-tende Linie des Verständnisses von positivem Recht auf,das zwischen dem Nützlichen der staatlichen Gesetze undder auf natürlichem Gesetz beruhenden Gerechtigkeit un-

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terscheidet. In seiner Lehre von den zwei Reichen, demweltlichen Regiment, das Macht hat zu zwingen, das nütz-lich ist, um das Böse, Gewalt und Ungerechtigkeit ein-zudämmen und dem göttlichen Regiment, das die Herzenzu führen und zu regieren vermag im Glauben, ist genaudiese Doppelung und Unterscheidung zwischen Nützlich-keit und Gerechtigkeit aufgenommen. Damit entsteht einebei den Griechen undenkbare Abtrennung zwischen derNützlichkeit der staatlichen Gesetze und der auf dem natür-lichen Gesetz beruhenden Gerechtigkeit. Die Trennung vonstaatlichem Recht und religiöser Moral ist so prinzipiellvollzogen. Darüber hinaus ist eben damit auch die Positivi-tät des Rechts in ihrer Eigenberechtigung und in ihrer Ab-trennung vom Naturrecht wirksam.16

Das geistliche Regiment ist demgegenüber das, worindas Wort wirkt. Das geschieht aber gerade im Unterschiedzum weltlichen Regiment, das allein durch die Kraft desWortes wirkt – sine vi sed verbo. Dem geistlichen Regi-ment entspricht die religiös-moralische Sphäre, in der derMensch auf Wahrheit und Gerechtigkeit aus ist. Wenn wirdieses Verhältnis von Moral und Politik nun übertragen aufdas Verhältnis von Naturrecht und positivem Recht, dannherrschte Zwang auf der Seite des positiven Rechts undFreiheit auf der Seite des Naturrechts. Moral und Natur-recht sind nicht einfach gleichzusetzen, aber im Zuge einesvoluntaristischen, freiheitlichen Verständnisses von Na-turrecht können sich die Horizonte entsprechen, indemdie Moral sich nun an Gerechtigkeitsprinzipien orientiert.Und dieser Zusammenhang ist sowohl für die Unterschrei-tung der Geltungsbereiche von positivem Recht und Na-turrecht als auch für die Beibehaltung des Gedankens desNaturrechts (unter modernen Bedingungen) von Bedeu-tung. Die Unterscheidung von Moral und Naturrecht istmöglich und nötig gerade um der Tragfähigkeit und Wirk-samkeit beider willen.

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Nun ist Freiheit bei Luther aber eine gebrochene Frei-heit, die durch den Sündenfall mit dem Verlust der Freiheitaus Freiheit rechnet. Doch gerade diese Problematik spie-gelt sich in der Unterscheidung der beiden Regimente wi-der. Denn aufgrund der Gebrochenheit der Freiheit kannkeine Einheit im Sinne der stoischen Überführung von Na-turrecht und der daran orientierten Moral in Recht (alsohier von geistlichem zum weltlichen Regiment) führen.Dazwischen liegt der Fall, der die Verdunklung eben nichtnur unseres Wollens, sondern auch der Vernunft, unsererEinsicht, bewirkt. Diese Gebrochenheit der Freiheit durchden Sündenfall zeigt sich nach Luther nämlich gerade da-rin, dass nicht nur der Wille, sondern auch die Vernunftaufs Höchste verdunkelt ist. Gerade dadurch können wirdas Gute nicht wissen. Das aber heißt: Der Grund der Ein-heit der Wirklichkeit oder m. a. W. das Gute, das Gerechte,ist aus unserem Blick entschwunden. Wir haben qua ratiokeinen Zugang dazu. D. h. ein Horizont des Naturrechts instoischem Sinne ist uns verschlossen.

Es war dieser Zusammenhang der Verdunkelung vonVernunft und Willen durch den Sündenfall, der die protes-tantische Verabschiedung des Naturrechts beförderte.Lange vor Auftreten der neuzeitlichen und metaphysikkri-tischen Rationalität hat Luther also in seiner Gedankenfor-mation der Zwei-Reiche-Lehre diesen metaphysischenBruch, der als solcher ein Bruch mit dem traditionellen Na-turrecht ist, vorweggenommen.

Dieser Bruch bedeutet: Wahrheit ist jetzt nicht mehrverallgemeinerungsfähig, sie ist nicht ontologisch fest-zuzurren im Sinne der statischen Seinsontologie. Dennochmüssen wir ihrer nicht entbehren, allerdings werden wirihrer nicht qua ratio, sondern nur freiheitlich und individu-ell qua Erfahrung im Gewissen und qua Offenbarung ge-wahr. Freiheit und Subjektivität, die beiden Merkmale, diedas Wirklichkeitsverhältnis jenseits des metaphysischen

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Bruchs kennzeichnen, treten hier bei Luther im Gottesver-hältnis als adäquate Beziehung zur Wahrheit auf. Das pro-testantische Verständnis dieser neuzeittheoretischen Um-formungen wäre damit nicht Metaphysikverlust undOntologieverlust, sondern Umformung der Metaphysik ineine reflexive Vergewisserungsdimension und der Ontolo-gie in eine Existentialhermeneutik.

So ist in Luthers Lehre von den zwei Reichen, dem welt-lichen Regiment, das Macht hat zu zwingen, das nützlichist, um das Böse, Gewalt und Ungerechtigkeit einzudäm-men, und dem göttlichen Regiment, das die Herzen zu füh-ren und zu regieren vermag, bereits eine Doppelung und Un-terscheidung zwischen nützlichem, positivem Recht undder Idee der Gerechtigkeit aufgenommen, die in sich einenaturrechtliche und moralische Dimension enthält. Luthervollzieht in seiner Lehre eine Trennung von politischem/po-sitivem Recht und religiöser Moral. Das positive Recht ge-winnt damit eine Eigenberechtigung, die gerade in ihrer Ab-trennung von Moral wirksam ist. Die stoische Verbindungvon positivem Recht und Naturrecht, die von einer ungebro-chenen Übereinstimmung von Moral und Naturrecht aus-ging, ist hier zerbrochen. Damit schafft er nun aber gleich-zeitig Raum für eine mögliche moderne Qualifizierung destraditionellen Naturrechtsgedankens. Diese Qualifizierungin seiner freiheitstheoretischen Interpretation unterschei-det jedoch wegen ihres gebrochenen Moralverständnissesweiterhin Naturrecht und Moral. Ein Zusammenfallen vonMoral und Naturrecht ist dem Christentum verschlossen,damit aber auch eine Auflösung des Naturrechts in die Mo-ral. Gleichwohl ist damit bereits einer Moralisierung desNaturrechts Bahn gebrochen, die dann bei Pufendorf weiter-geführt werden wird. Um diese säkularen Engführungen zudurchbrechen und zu überwinden, wird man sich allerdingsan der Unterscheidung von Moral und Naturrecht orientie-ren müssen.

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Fazit: Bereits die mittelalterliche Tradition hat ein Ver-ständnis von Naturrecht im Sinne einer als Hinterwelt gül-tigen, naturgegebenen Ordnung, in Frage gestellt. DieserWeg wird bei Pufendorf weiter geführt, m. E. ohne diestoische Naturrechtslehre in ihrem Kern zu diskreditieren.Sie behält gerade in ihrer Funktion einer normativen Ge-genüberstellung allen positiven Rechts ihr Recht.

III. Die Umbestimmung des Naturrechtsgedankens –seine Voraussetzungen in den wissenschaftlichenUmwälzungsprozessen der Neuzeit

Angelegt war ein solches freiheitstheoretisches Modell be-reits bei Hobbes. Hobbes eigentliche Leistung ist es, denUrsprung des Staates als freie schöpferische Tat zu begrei-fen.17 Damit weist er dem Raum der Freiheit die für dieNeuzeit konstitutive Funktion zu, die den Weg für dieWandlung des Metaphysikverständnisses und der Substan-zontologie begründet. Hobbes selbst hat dies noch nicht indieser Tragweite sehen und entfalten können, und auchnoch nicht Locke, der auf ihn aufbaut und vieles von ihmübernimmt und weiterzuentwickeln versucht. Dies lagnun aber an der in der Neuzeit sich entwickelnden, ver-änderten Weise der Naturbetrachtung, welche ihrerseitszu den modernen Schwierigkeiten im Umgang mit demNaturrechtsgedanken geführt hat.

1. Die Voraussetzungen des Wandels des Naturrechts-gedankens im neu aufkommenden naturwissenschaft-lichen Weltbild

Einhergehend mit einem Wandel der Funktion der Meta-physik war nun auch zunächst ein verändertes Naturver-ständnis, das sich im Zuge der aufkommenden Naturwis-

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senschaft ausgebreitet hat.18 War in der Antike der Natur-begriff, die Physis,19 das dem Nomos, dem Gesetzten, denNormen, die durch die menschliche Vernunft entstandensind, gegenübergestellt als dasjenige, was die Ordnung, dasUnveränderliche und Vorgegebene – auch der Vernunft –anzeigt, so änderte sich das durch die neuzeitliche Betrach-tung. Insbesondere auf dem Gebiet der Naturwissenschaf-ten wurde eine Änderung der Blickrichtung im Hinblickvon der Wesens- zu Funktionsbestimmung initiiert.20 Indiesem Desinteresse der Wesensbestimmung zeigt sichgrundlegend der Bruch mit der antiken, insbesondere derstoischen Naturkonzeption. Mit der neuzeitlichen Natur-wissenschaft wird der Bruch im Denken des Wesens voran-getrieben. So sind es also nicht nur die Konsequenzen derErgebnisse der Naturwissenschaft, die die Infragestellungder Grundannahmen der bisherigen Philosophie und Theo-logie vorantrieben. Diese sind zunächst vielmehr auf dieMethode der Betrachtung zurückzuführen. Es ist diese Me-thode, die zur Vernachlässigung der metaphysischen Fra-gestellung führt.21

Die Voraussetzungen der Naturwissenschaft in der For-mulierung von Galilei sind eine Abstraktion von der Frage,was eigentlich der Funktion der Naturgesetze zugrundeliegt. Dass sich wissenschaftliche Reflexion im Horizontvon Funktionen zu erschöpfen scheint, ist heute „commonsense“ und von den Sozialwissenschaften geadelt. Jedoch,man liegt falsch, wenn man meint, diese wissenschafts-geschichtliche Entwicklung rückgängig machen zu kön-nen. Ihr muss zweifellos Rechnung getragen werden, undin ihrer Entwicklung ist ein durchaus sinnfälliges philoso-phisches Moment mit enthalten. Dass diese aber mensch-liche Erkenntnis- und Verständnisbemühungen nicht be-friedigt, wird da noch geahnt, wo man weiß, dassWissenschaft sich zwar auf die Welt bezieht, die der „Fall“ist, dass sich aber damit das Fragen des Menschen nicht er-

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schöpft, sondern das, worum es ihm eigentlich geht, in ei-ner Sphäre liegt, die durch diese funktonale Aussagenmen-talität gerade nicht abgedeckt wird.22 Dieses liegt vielmehrin der Sphäre der Freiheit.

2. Zu den Voraussetzungen der freiheitlichen Grundlagendes Rechts

Am Begriff der Freiheit unterscheidet sich der Geist derZeiten. Er ist das Heureka der Neuzeit. Aber um das zu be-greifen, muss man nun den Begriff der Freiheit auch genauin diesem neuzeitlichen Verständnis herausarbeiten. DerAnfang dazu ist gemacht bei Hobbes, wenn er das Recht(den Staat) als freie Schöpfung des Menschen begreift. Esist die eigene Tat des Menschen. Wie der Mensch sein Le-ben gestaltet, wie er gemeinschafts- und staatsbildendwirkt, das beruht auf seiner freien Entscheidung. Der An-fang eines qualifiziert neuen Verständnisses von Freiheitist hier deswegen gemacht, weil jetzt Freiheit nicht mehrin physischem Sinne als Abwesenheit von äußeremZwang, sondern in ethischem Sinne als Handlungsfreiheitverstanden wird. Den Unterschied beider Arten von Frei-heit kann man sich daran deutlich machen, dass die Hand-lungsfreiheit gerade darin zum Ausdruck kommen kann –nicht unbedingt muss – physische Freiheit zu begrenzen,zurückzudrängen, Handlungsfreiheit gerade zu beschrei-ben als Umgang mit physischer Freiheit. Handlungsfreiheitist Freiheit darin, dass sie Spielräume gewährt aber auchnegiert. Der so bestimmte Freiheitsbegriff steht quer zu ei-nem rein physisch orientierten Freiheitsverständnis, demLocke und auch Hobbes verhaftet waren. Bei Locke sahman eindeutig – und zwar bei seinem noch so detailliertenVerstandesbegriff – dass der praktische Freiheitsbegriff des-halb nicht zum Zuge kommt, weil er die Freiheit des Men-schen in den mechanisch-physischen Zusammenhang ein-

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ordnete und letztere nur als Abwesenheit von Zwang ver-stehen konnte.

Leuchtend abgehoben gegenüber solchen physisch ori-entierten Verständnissen zeigt sich nun das Natur- undFreiheitsverständnis Pufendorfs, und zwar gerade in sei-nem Naturrechtsverständnis. Inwiefern?

3. Das Naturrechtsverständnis Pufendorfs

Pufendorfs Begründung des Naturrechts kommt m. E. eineeminente Bedeutung zu, weil er explizit eine freiheitstheo-retische Begründung des Naturrechts entwickelt. Diese er-möglicht es, der Metaphysikkritik im Sinne der Kritik aneinem autoritätsgläubigen und substanztheoretischen Mo-dell und demnach auch im Sinne der Idee des Naturrechtsals Orientierungsrahmen für das Handeln zu folgen. Einsolches Modell des Naturrechts scheint mir für die Mo-derne Möglichkeiten bereitzustellen, die über die gegen-wärtigen verfahrenstheoretischen Gerechtigkeitsmodellehinaus, die ursprüngliche Fundierungs- und Horizontfunk-tion des Naturrechtsgedankens im Sinne der Idee der Ge-rechtigkeit für das positive Recht bewahren könnte.23

Pufendorf übernimmt die durch Hobbes entwickeltequalitative Wandlung im Naturrechtsbegriff. Hobbes siehtdie Grundlage des Rechts – wie bereits beschrieben – nichtmehr in der vorgegebenen Natur oder Schöpfungsordnung,sondern im Willen von Personen.24 So wird bereits bei ihmFreiheit zur Grundlage des Rechts.

Die nicht zu überschätzende große Leistung Pufendorfsist nun aber 1. in seiner vollkommenen Überwindung desNaturalismus und 2. in seiner moralischen Grundlegungdes Naturrechts zu sehen. Was kennzeichnet sein Pro-gramm?

Pufendorf ist herausgefordert durch den Wandel des Na-turbegriffs. Ihm wird zum Vorwurf gemacht, dass er Natur-

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recht nicht von Moral unterscheidet. Das liegt m. E. abergerade in seiner beeindruckenden Unterscheidung von„ens morale und ens naturae“,25 und zwar gerade in einerZeit, wo die „ens naturae“ sich anschickten, das was Wirk-lichkeit ist, in einem usurpierenden Sinne zu bestimmen.Unter dieser Ägide ist es ja nicht mehr diejenige Natur, inder auch in stoischem oder in aristotelischem Sinne dieVernunft unterzubringen wäre. Vielmehr handelt es sichum diejenige Natur, die auf dem Wege ist, Objekt zu wer-den, beobachtbar zu sein, Faktum zu werden, und zwarmit dem spezifischen Anspruch, dass nur noch die Faktenzählen. Man ist zwar noch weit von einem positivistischenWeltbild entfernt, dennoch leuchtet bereits Vicos Grund-satz der Moderne: „Factum et verum convertuntur“ alsLeuchtstreifen am Horizont auf. Es kann daher bei Pufen-dorf nicht mehr die Natur sein, die als Abbild einer wahrenWirklichkeit in die Welt der Erscheinungen gerückt wird.Natur wird vielmehr zu dem, was fassbar und greifbar ist.Ihre Wahrheit besteht in der Funktionsfähigkeit, die wirihr entlocken und dann benutzen können.26

Pufendorf nun plädiert für eine andere Sicht auf die Na-tur, eine andere Umformung, die genau der Entscheidungdes Menschen zur naturwissenschaftlichen Methodik unddem daraus resultierenden veränderten Naturverständnisund damit dem Umdenken in der metaphysischen Begrün-dung Rechnung tragen kann. Er nimmt nämlich dieGrundlage ins Visier, die es dem Menschen überhaupt er-möglicht, die neuzeitliche Naturwissenschaft mit ihrerspezifischen Methodik zu entwickeln. Und diese Grund-lage ist nun nichts anderes als die Freiheit, die Freiheit desDenkens. Und hier kommen beide Stränge, die naturwis-senschaftliche und die freiheitstheoretische Entwicklungder Neuzeit zusammen. Nur durch Freiheit ist es möglich,sich aus den Fesseln der Tradition zu lösen und eine andereBlickrichtung, hin auf den Wandel von der Wesens- zur

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Funktionsbestimmung zu vollziehen. Ja, es findet sich inder Bestimmung von Natur und Freiheit die Reflexionüberhaupt auf die Bedingung der Kultur. Mit Pufendorfsneuen Weichenstellungen ist klar: Was es dem Menschenermöglicht, seine Welt und sein Denken zu verändern, dasist sein Handeln, das ist seine Freiheit. Diese Freiheitmeint aber nicht Freiheit in physischem Sinne nach demMuster der Kausalität, d. h. etwa die Fähigkeit sich vonder Naturkausalität zu distanzieren. Vielmehr geht es da-rum, nach eigenen Zielen, nach eigenen Wertschätzungen,ziel- und zweckorientiert zu handeln. Damit ist mandurchaus auf Kausalität angewiesen. Sie ist geradezu Vo-raussetzung für rationales Handeln. Die Freiheit im Sinneder Kompetenz zur Moralität, d. h. zu ziel- und wertorien-tiertem und auf Kausalität aufbauendem, also rationalemHandeln – das ist es, was Pufendorf dem Menschen zu-schreibt, und zwar – das ist die Pointe – nicht additiv, son-dern als sein Sein. Die Freiheit ist sein Wesen, sie kenn-zeichnet das „ens morale“. Diese Freiheit bezeichnet eineeigene Qualität des Seins, nämlich die des menschlichenDaseins, das seine Seinsart in der Handlungsfähigkeit be-stimmt sieht. Mit dieser Bestimmung des Menschen be-fasst und beschreibt Pufendorf den eigentlichen Schritt,den der Mensch in der Neuzeit macht, der ihm das Reichder Möglichkeiten eröffnet. Diese Freiheit ist es, die seineNatur ausmacht. Von ihr wird der Mensch ebenso be-stimmt, wie andere Dinge von ihrer Natur bestimmt wer-den. Und insofern meint „ens morale“: Die Natur desMenschen ist seine Freiheit. Insofern können der Naturhier Rechte verliehen werden. Die Unterscheidung zwi-schen „ens morale“ und „ens naturae“ darf mithin nichtstatisch verstanden werden, sondern sie ist im ens beimMenschen aufeinander bezogen.27

Eine pauschale Kritik des Naturrechts im Sinne einerMetaphysikkritik fällt somit hinter die bereits bei Pufen-

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dorf getroffene Qualifizierung des Naturrechts als Qualifi-zierung einer bestimmten Natur des Menschen, nämlichzu Moral und Freiheit bestimmt zu sein, zurück.

Und nun ist es genau diese Unterscheidung von Naturund Freiheit, auf der die Würde des Menschen basiert, diein spezifischen Rechten zum Ausdruck kommt, in denMenschenrechten. So ist der Begriff des Naturrechts beiPufendorf letztlich eine sich gegenseitig erklärende Be-stimmung des Seins des Menschen. Der Mensch hat eineNatur, die Rechte hat. Das kennzeichnet seine Würde. DieUnantastbarkeit der Würde ist in der spezifischen freiheit-lich-normativen Natur des Menschen begründet.

Mit dieser freiheitlichen Neuorientierung des Natur-rechts ist aber für die Bestimmung des Naturrechts einespezifische Verschränkung aufgebrochen bzw. sichtbar ge-worden:

In der Natur des Menschen verschränken sich Moralitätund Naturalität, Natur und Freiheit. Und genau das zieltletztlich auf den Begriff des vom antiken Denken her ei-gentlich widersprüchlichen Begriffs des Naturrechts. Na-tur als das, was qua physei und Recht als das, was auf the-tischer Setzung beruht, gehören unterschiedlichen Sphärenan. Nach Pufendorf kommen diese Sphären im Menschenzusammen, insofern als das Setzen das ist, was die Naturdes Menschen ausmacht. Aus diesem Naturverständnis er-klärt sich auch, weshalb Pufendorf sich keine Gedankenum das Verhältnis von Naturrecht und Moralität gemachthat. Er sah in der Natur des Menschen als Moralität denAusdruck des Naturrechts. Die Natur des Menschen alsmoralische ist die Grundlage dafür, dass es so etwas wieein Naturrecht überhaupt geben kann. Naturrecht kann indieser Sicht bestimmt werden als das Erfordernis der Naturauf einen Raum der Freiheit. Für gewöhnlich stehen Frei-heit und Natur in der philosophischen Tradition einandergegenüber, insofern die Natur gerade das ist, woran die

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Freiheit ihre Grenze findet. Bei Pufendorf wird deutlich,dass gerade mit dem Begriff des Naturrechts sich diese Li-nie verschiebt. Natur ist in diesem Begriff nicht Grenze derFreiheit des Menschen, sondern ihr Ausdruck. Es ist dieNatur des Menschen, Freiheit nicht nur zu haben, sondernzu sein. Damit ist der Mensch das Wesen, das von Naturaus Rechte hat. Seine Natur besteht in der Freiheit und –um mit Hanna Arendt zu reden – seine Freiheit besteht imRecht, Rechte zu haben.28

Pufendorfs Leistung besteht im Zusammenhang der Na-turrechts- und Metaphysikdebatte also gerade darin, dass erdie Moralität als „ens“ und damit auch das Recht als zumSein gehörig bestimmen kann. In der Bestimmung der Mo-ralität und Freiheit des Menschen zeigt sich das, was seinSein ausmacht, das was mithin als seine Natur bezeichnetwerden kann. Damit naturalisiert er aber nicht das Rechtim Sinne der Positivierung und ebenso wenig naturalisierter damit Moral und Freiheit. Vielmehr nimmt er – durch-aus in Entsprechung zur neuzeitlichen Funktionsbestim-mung der Natur, aber eben als deren Kehrseite – die Natu-ralität und die Seiendheit, das Sein in die Freiheit undVollzugsdimension hinein. Damit hat Pufendorf nicht nureine Lesart einer Seinsbestimmung geliefert, die den beiDavid Hume konstatierten naturalistischen Fehlschlussals von falschen Voraussetzungen getragen kennzeichnet,29

sondern er hat überhaupt ein Denken zugrunde gelegt, daserst mühsam in den verschiedenen geistigen Strömungendes 19. und 20. Jahrhundert, in der Lebensphilosophie,dem Neukantianismus, Hermeneutik und dem Pragmatis-mus aus dem Hiat der zwei Kulturen bzw. dem Reich derNotwendigkeit und dem Reich der Freiheit wieder frei-gestellt werden musste.

Aber leider ist diese Denklinie nicht weiterverfolgt wor-den. Bereits Thomasius und noch stärker Christian Wolfhaben das Naturverständnis wieder im physischen Sinne

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als Gegenüber des gesetzten Rechtes verstanden. Damitwar die Konstitutionsfunktion von Freiheit für das, wasüberhaupt als menschliche Natur (und ihre Würde) geltenkann, wieder verwischt und zunichte gemacht worden. Inihrem Bemühen der Klärung des Verhältnisses von Moralund Naturrecht versuchen beide, über eine Politisierungdes Naturrechts dessen Verbindlichkeit zu sichern. Damitunterliegen sie aber einer bereits positivistischen Annah-me, nur politischer Zwang könne dem Recht zur Machtverhelfen. Verbindlichkeit wird somit durch Zwang sicher-gestellt, was diese schließlich gerade aufhebt.

Es zeigt sich hier die Tendenz zur Politisierung gegen-über einer Moralisierung des Naturrechts in der Neuzeit.In der dann aufkommenden Verbindung von Politik undNaturrecht liegt der eigentliche Vormarsch des Rechtsposi-tivismus begründet. Das ist eine andere Auflösung des Ver-hältnisses von Moral und Recht wie sie durch LuthersZwei-Reiche-Lehre anvisiert war.30 Auch der Strang derMoralisierung des Naturrechts, wie er bei Pufendorf ange-setzt ist und wie er dort in einer qualifizierten Freiheit be-steht, hat sich verflüchtigt.

Damit hat der Naturrechtsgedanke aber eine Richtunggenommen, die gerade von der freiheitlichen Position, dieihn bei Pufendorf mit der Moralität verbindet, wegführt.Dieser Gedanke kulminiert in Fichtes radikaler Trennungdes Naturrechtsgedankens von der Ethik.31 Recht wird aufseine Funktion zu zwingen eingeschworen. Damit wirdaber das Naturrecht selbst positiviert. Dadurch verliert esseine fundierende und kriteriologische Funktion für das po-sitive Recht.

Für die Gegenwart von Relevanz wäre es also, das sichbei Pufendorf neu entwickelnde Freiheitsverständnis, dasFreiheit nicht mehr in physischem Sinne als Abwesenheitvon äußerem Zwang, sondern als Handlungsfreiheit ver-steht, wieder aufzunehmen.

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IV. Konsequenzen einer freiheitlichen Bestimmung desNaturrechts für den gegenwärtigen Umgang mit derFrage nach Menschenwürde und Menschenrechten

Die gegenwärtige Frage ist, wie unter der Ägide des positi-ven Rechts weiterhin Recht und Moral ineinandergreifenkönnen, also wie eine Verbindung, von Gerechtigkeit undRecht zu gewährleisten ist.

Immerhin gilt für das positive Recht weitgehend alsanerkannt: Jede Rechtsauslegung ist immer auch eineFortentwicklung des Rechts.32 Bei der Rechtsanwendungmüssen wertorientierte Abwägungen getroffen werden.Diese sind an Prinzipien orientiert. Rechtlich geltendePrinzipien (zu denen die Menschenwürde und Menschen-rechte gehören) sprengen mithin kraft ihrer Struktur denpositivistischen Rechtsbegriff. Solche Prinzipien gibt esnur aufgrund eines Schöpfens in einem Fundus mora-lischer, d. h. an Gerechtigkeit orientierter Überzeugungen.Damit ist aber auch im Rechtspositivismus eine natur-rechtliche Dimension vorausgesetzt. Unter den bei Lutherund Pufendorf entwickelten Voraussetzungen könnte Na-turrecht nun verstanden werden, nicht in substanzontolo-gischem Sinne, als vorgegebenes Recht oder Sittengesetz,sondern sozusagen als Freiheitsraum der Idee der Rechts-entwicklung.

Wichtig ist hier, dass man berücksichtigt, dass an dieStelle der substanzontologischen Gerechtigkeitstheorienicht nur eine Verfahrenstheorie der Gerechtigkeit rückenkann, sondern dass der ontologische Horizont als Freiheits-raum gedeutet werden muss. Dieser Freiheitsraum, wie erin der Idee für die Rechtsentwicklung festgehalten wird,tritt so an die Stelle eines inhaltlich bestimmten Natur-rechts. Das Naturrecht ist jetzt die Freiheits-, Kultur- undRechtsfähigkeit des Menschen. Das ist die neuzeitlicheWende zum „ens morale“, die selbst ontologisch, jedoch

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im Raum der Freiheit nicht substanzontologisch, sondernals Möglichkeitsraum gedeutet werden kann und muss.

Diesem gerechtigkeitsorientierten Freiheitsraum ent-spricht die Interpretationsoffenheit der Menschenwürde.Kein Begriff lebt so stark von der Verflechtung naturrecht-licher Bestimmungen und positiv rechtlicher Konsequen-zen wie der Begriff der Menschenwürde.33 Die Interpretati-onsoffenheit der Menschenwürdeklausel im Grundgesetzverweist dabei auf die Bedeutung des genannten Freiheits-raums für die Idee der Rechtsentwicklung. Offenheit meintdabei keine Beliebigkeit und keine Relativierung des An-spruchs des Begriffs der Menschenwürde, sondern im Ge-genteil eine gewisse Stärkung seines Unbedingtheits-anspruchs, seines Anspruchs auf unbedingte Gültigkeit,und zwar weil diese Offenheit genau den Freiheitsraum ab-bildet, der schließlich die Tradition des Naturrechts wei-terführt. In dieser Gestalt bietet das Naturrecht aberRaum für unterschiedliche Wertorientierungen. Die Inter-pretationsoffenheit ist auf dieser Grundlage also nichtgleichzusetzen mit einer „Leerformel“. Der Grundsatz derMenschenwürde ist also keine verfahrenstechnische Klau-sel, sondern vor dem Hintergrund der Interpretationsoffen-heit eine zu interpretierende These. Das Grundgesetz trägtinsofern mit der Interpretationsoffenheit gerade der prinzi-piell strittigen, weil weltanschaulich bzw. religiös gebun-denen Bestimmung des Menschbildes Rechnung. Interpre-tationsoffenheit signalisiert also gerade nicht Beliebigkeit,sondern ein Wissen um die Verschiedenheit der Überzeu-gungen. Darüber besteht dann aber öffentlicher Diskussi-onsbedarf. Genau dies liegt in der Konsequenz des freiheit-lichen Naturrechts. Der Fundus moralischer und religiöserVorstellungen muss im öffentlichen Austausch präsent ge-halten werden. Akzeptiert man das, und soll es darüber hi-naus zu Entwicklungen und Fortbildungen des Rechtskommen, ist man also von der Freiheit des Menschen,

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vom Menschsein als ens morale, von der Würde des Men-schen überzeugt, dann muss der genannte Freiheitsraumgeschützt und gefördert werden. Der Bezug zum so verstan-denen Naturrecht als Freiraum solchen Austauschs erfor-dert die Pflege, gerade um eine Kultur der Anerkennungfür die rechtliche Verankerung der Menschenwürde alsGrundprinzip der Auslegung des Rechts zu gewährleisten.

Ein Ort, wo naturrechtliche Horizonte für das Rechtbleibend ins Spiel kommen, sind zunächst die Richtlinienfür die Kodifizierung von Recht. Darüber hinaus ist aberein weiterer Ort zu benennen: der Spielraum der Urteilsfin-dung. Solange an einem Spielraum, d. h. eben genau an ei-nem Freiheitsraum der Urteilsfindung festgehalten wird,spielt die naturrechtliche Dimension in das positive Rechthinein. Genau in dieser Bezogenheit des Rechts auf Frei-heit als dem Spielraum von Entscheidungen definiert sichschließlich nach Pufendorf die Menschenwürde. Würde istdie Bestimmung, die die Natur des Menschen dadurch qua-lifiziert sein lässt, dass sie sich dadurch auszeichnet, ihreeigene natürliche Freiheit durch Normen eingrenzen zulassen, mit anderen Worten, die entia naturalia als entiamoralia qualifiziert zu begreifen. Oder, um mit HannaArendt zu reden: Die Würde des Menschen besteht in demRecht, Rechte zu haben. Naturrecht wäre dann unter die-sen Bedingungen der Horizont, der die Achtung dieses An-spruchs aufrecht erhält.

Und hier kommt das neuzeitliche Verständnis auch mitdem protestantischen Verständnis von Menschenwürdeüberein. Das soll nun zusammenfassend im Blick auf einemögliche protestantische Grundlegung eines modernenVerständnisses des Naturrechts vorgenommen werden.

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V. Protestantische Perspektiven eines (nach-)meta-physischen Horizonts von Naturrecht und der darinbegründeten Menschenwürde

Eingangs wurde konstatiert, dass der Protestantismus einNaturrecht nicht kenne, bzw., dass dieses ein Stiefkinddes Protestantismus sei. Zur Einschätzung dieser Diagnoseist zu berücksichtigen, dass der Protestantismus beide dieNeuzeit und Moderne konstituierenden Umformungspro-zesse im philosophischen Denken mitbestimmt, wennnicht gar bahnbrechend initiiert hat, nämlich die Hervor-hebung des Individuums und den Gedanken der Freiheit.Beide Faktoren waren für die Infragestellung des Natur-rechtes maßgeblich, denn durch beide kommt es zumBruch mit der traditionellen Ontologie und Metaphysik.Nun haben wir gesehen, dass für die Umformung des Na-turrechts bei Pufendorf letztlich beide Momente eine Rollespielen. Spannend ist daher die Frage, ob nicht über die pa-rallelen Freiheits- und Individuumsbestimmungen imBlick auf das Verhältnis von Naturrecht bzw. Moral undRecht bei Luther und Pufendorf sowohl die gebrochene Be-ziehung des Protestantismus zum Naturrecht als auch diegegenwärtige rechtspositivistische Infragestellung des Na-turrechts eine Revision erfahren könnte.

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Der Satz „Würde als Bestimmung der Natur des Men-schen“ wurde in der Themenstellung mit einem Fragezei-chen versehen, weil 1. ausgeschlossen sein sollte, dieWürde im Sinne eines naturalistischen Fehlschlusses ausanthropologischen Bestimmungen abzuleiten. Würde istnicht zu verstehen als Grundnorm, die aus deskriptivenund anthropologischen Bestimmungen abzuleiten wäre.Die Würde des Menschen besteht in seiner Freiheit, und

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zwar in seiner Natur als Freiheit!34 Dieses Verständnis vonWürde und Freiheit als Ausdruck des Naturrechts ließesich an Pufendorf anknüpfen, der versucht hat, das Natur-recht weder im Rückgriff auf die stoische allgemeine Men-schennatur noch auf Hobbes Gleichheit menschlicher Fä-higkeiten, aber auch ohne Rückgriff auf die theologischeTradition zu begründen.

2. Würde ist aber auch nicht der biologischen Natur desMenschen anhaftend, die die Bestimmungsaussage zu ei-ner speziesistischen Aussage machen würde.

Daraus folgt, Naturrecht bzw. Menschenwürde ist keineQualität der „Natur“ des Menschen im Sinne einer Wert-qualität der biologischen Natur, d. h. im Sinne der Spezies,wohl aber der Natur des Menschen als ens morale. Als sol-che hat die Natur einen Rechtsanspruch. Dabei heißt dasnicht, dass der Mensch einen Anspruch auf ein Recht hat,sondern dass ihm als ens morale der Anspruch zukommt,Recht zu „schöpfen“ und somit dadurch Rechte zu haben,dass er sie schöpft. Damit ist aber zugleich der Anspruchverbunden, sich als verantwortliches Rechtssubjekt zu ver-stehen. Das Naturrecht bestünde mithin in der Anmutung,eine positive Rechtssphäre zu schaffen, und die Menschen-würde darin, sich rechtlichen Verpflichtungen und Normenfreiheitlich zu unterziehen, sich als Rechtssubjekt zu be-trachten. Die Würde des Menschen käme darin zum Aus-druck, das Naturrecht als Horizont der Bestimmung desMenschen, am moralischen Impuls- und Horizontgeber despositiven Rechts überhaupt orientiert zu sein und die et-waige Etablierung eines Rechts selbst als Ausdruck derRechtlosigkeit und Willkür mithin als eigentliche Unge-rechtigkeit nicht zuzulassen. Die Verbindung des positivenRechts zum Naturrecht verleiht gerade dem positiven Rechtseine verstärkte Kraft, und zwar indem auf die Schöpferqua-lität des Menschen abgehoben wird, nämlich positiveRechte schöpfen zu können. Somit könnte am positiven

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Recht überhaupt die Qualität der Würde des Menschen ab-gelesen werden, wobei gerade die Einschränkung der natür-lichen Freiheit durch die Grundnormen des Naturrechtsdem Menschen die eigentümliche Würde verleihen würde.

2. Die modernen protestantischen Prinzipien der Freiheitund des Gewissens im Lichte der Revision des Verständ-nisses von Naturrecht

Durch die Begriffe Freiheit und Gewissen ist ein bleibenderBezugspunkt der Selbstverständigung des Menschen zumetaphysischen und ontologischen Horizonten gegeben,der, wenn auch in gebrochener Weise, an Wahrheit festhält.So sind durch die Horizonte der Freiheit und des Gewissensdie Bezüge auf eine naturrechtliche Dimension – verstan-den als Raum der Freiheit – präsent. Daher kann in einerfreiheitlichen Bestimmung der Begriff des Naturrechtsseine Berechtigung behalten. Eine direkte Überführungdes Naturrechts in das positive Recht – dieser Weg ist aller-dings verschlossen und auch nicht wünschenswert. Die-sem entspräche eine Politisierung des Naturrechts, dieletztlich totalitäre Züge annehmen muss. Davon zu unter-scheiden ist eine Moralisierung des Naturrechts, die ihrer-seits aber auch nicht einfach gleichzusetzen ist mit Moral.Die moralische Dimension des Naturrechts ist nicht ein-fach durch Moral abzudecken. Vielmehr bedarf die Moraleines Horizontes, den das Naturrecht einnehmen kann.Gerade so könnte das Naturrecht die Gebrochenheit unse-rer Freiheit, die der Protestantismus geltend macht, ver-gegenwärtigen. Die dafür nötige Differenzierung zwischenMoral und Gerechtigkeit könnte durch die Dimension„Natur“ im Naturrecht als dem bleibenden Widerpart un-serer Freiheit widergespiegelt werden. Das „Fremde“ derNatur repräsentierte das passive Moment, das in der Fak-tizität unserer Freiheit verborgen ist.35

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Zusammenfassend gilt: Das protestantische Verständnisvon Menschenwürde als „Bestimmung der Natur“ desMenschen würde in der Vollzugsdimension ihrer Bestim-mung das Verhältnis von Naturrecht und positivem Rechtabbilden. Zentral dabei ist der Bestimmungsgedanke. Denndieser konfiguriert die freiheitliche Vollzugsdimension, diefür die Würde des Menschen und für die Gerechtigkeit desRechts (bzw. einer Orientierung des positiven Rechts amNaturrecht) ausschlaggebend ist.

Dieses Verhältnis von Bestimmung und Vollzug als Ge-stalten des Bezugs des positiven Rechts auf die naturrecht-liche Dimension konnte durch die Rahmenbedingungender Zwei-Reiche-Lehre veranschaulicht werden. Inwie-fern? Rekapitulieren wir den systematischen Kern derZwei-Reiche-Lehre. Die Zwei-Reiche-Lehre nimmt bereitsden metaphysischen Bruch vorweg, der eine einseitige Ver-mittlung eines harmonischen Übergangs des Naturrechtsin das positive Recht in Frage gestellt hat. Zugleich bildetsie das moderne Verständnis des Zwangscharakters des po-sitiven Rechts ab, der notwendig ist, um ein friedliches Zu-sammenleben zu garantieren. Das politische und das posi-tive Recht sind damit aber nach Luther zugleich vomWahrheitsanspruch bzw. von metaphysischen Ansprüchenabgekoppelt und befreit. Das verhindert seinen totalitärenAnspruch bei Sicherung seiner allgemeinen Geltung, dieoffen ist 1. für gewissensbegründete und daher nur partiku-lare, gleichwohl aber wahrheitsbezogene Revision der äu-ßeren Gestaltung des Rechts und 2. für Entscheidungs-spielräume der Anwendung des Rechts in richterlichenEntscheidungen.

Das heißt aber, der Naturrechtsgedanke bleibt in derZwei-Reiche-Lehre als Horizont des Spielraums für dieRichtlinien der Verfassung des Rechts in seiner äußerenForm und auch für die Handhabe seiner Durchsetzung er-halten. Das Naturrecht, verstanden als Freiheit, kommt

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mithin in den Rahmenbedingungen der Zwangsbestim-mungen zum Tragen. Es selbst repräsentiert Freiheit nichtals Zwang des Rechts. Deshalb wird Natur auch nichtmehr als zwingendes Naturgesetz, sondern als freiheitlicheVollzugsdimension verstanden, als das, was nicht faktischist, sondern was sich je und je vollzieht, was im Werden ist.Im Unterschied zur Antike, der Stoa und der Scholastik istdieses Werden allerdings nicht teleologisch, sondern alsFreiheit bestimmt. Und genau diese Bestimmung zur Frei-heit, d. h. zum Vollzug, die als Charakter des neuzeitlichenVerständnisses der Natur des Menschen ausgemacht ist,kennzeichnet das protestantische Würdeverständnis.

Somit kämen das neuzeitliche und das protestantischeWürdeverständnis überein in der Konfiguration eines mo-dernen Verständnisses von Naturrecht: Die Würde desMenschen ist die freiheitliche Bestimmung der Natur desMenschen. Die traditionelle Spannung zwischen Naturund Freiheit wird dahin gehend beibehalten, dass die Frei-heit in aller Selbstbestimmung nicht autonom ist. Sie istangewiesen auf die passive Konstitution ihres immer erstBestimmtwerdens. Die Natur ist nicht in die Freiheit ein-zuholen, sondern nur je und je und immer im Vollzug zubewähren.

Dieses passive Freiheitsverständnis, das Freiheit nichtals Eigenschaft, sondern als Vollzug bestimmt sieht, istdas neuzeitliche Freiheitsverständnis, das allerdings in sei-ner passiven Konstitution metaphysische Durchlässigkeitzeigt. Es ist auch das protestantische Freiheitsverständnis,das in seinem externen und passiven Begründungsbezug ei-gene Überzeugungen für revisionsoffen und revisions-bedürftig hält. Diese gedankliche Figur der passiven, revisi-onsoffenen und revisionsbedürftigen Freiheit kennzeichnetden spezifischen Kern der protestantischen Rechtfer-tigungslehre. Damit ginge die Rechtfertigungslehre mitder individualitäts- und freiheitstheoretischen Grundlage

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der Moderne konform, da sie sowohl Wahrheit wie auchFreiheit nicht auf der rationalen Verallgemeinerungsebene,sondern auf der individuellen und daher pluralen Vergewis-serungsebene ansetzt. Das macht deren Gebrochenheit,aber damit eben gerade ihre Pluralismus-, Kommunikati-ons- und Entwicklungsfähigkeit aus. Wahrheit wird selbstals Freiheit verstanden und damit offen. Diese Bestim-mung spiegelt ihre Unantastbarkeit wieder, an der wirqua Bestimmung unserer Natur als Freiheit, als „ens mora-le“ teilhaben. Eben damit ist aber eine unantastbare Würde„die Bestimmung unserer Natur“. Diese repräsentiert un-sere unhintergehbare, passive oder theologisch gesprochen,„geschenkte“ Freiheit.

Anmerkungen1 Vgl. hierzu auch den thematisch anders ausgerichteten Aufsatzvon E. Herms anlässlich der Tagung zum Thema der aktuellenProbleme des Naturrechts, „Die Begründung des Naturrechts“, in:Wilfried Härle / Bernhard Vogel (Hrsg.): „Vom Rechte, das mit unsgeboren ist“. Aktuelle Probleme des Naturrechts, Freiburg 2007,262–321.2 Rainer Eckertz: Art. Naturrecht, in: V. Drehsen et al. (Hrsg.): Wör-terbuch des Christentums, 2001, 8613 Ihren Kulminationspunkt findet diese Abkehr in der dialekti-schen Theologie des 20. Jh. indem dort nicht nur die Natur, son-dern letztlich auch die Kultur als Orientierungsgegenstand ausder Theologie auswandern sollte.4 Der Begriff der Metaphysik erweist sich aber auch innerhalb desThemas des Naturrechts als der Angelpunkt von dem aus die Be-griffe Natur und Würde entweder in den Strudel der Unsicherhei-ten mitgerissen werden oder ihre Bestätigung bzw. Rehabilitierungerfahren.5 So hob Kant in seiner praktischen Philosophie darauf ab, dass dasHandeln auf Wahrheitsorientierung durchaus im Sinne der antikenGerechtigkeitsdebatte nicht verzichten kann. Das heißt aber ge-rade nicht im Sinne einer falsch verstandenen Spekulation, dassdie regulativen Ideen oder Postulate ins Reich des Wunschdenkens

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abgeschoben werden können. Indem Kant diese Ideen und Postu-late formuliert, formuliert er vielmehr eine adäquate Beschreibungder conditio humana.6 Nun ist ja auch die Bestimmung der Freiheit gegenwärtig um-stritten, nicht nur auf der Ebene der Naturwissenschaften, sondernauch auf der Ebene der Geisteswissenschaften. Doch das ist eineandere Frage.7 Vgl. besonders Karl-Heinz Ilting: Art. Naturrecht, in: O. Brunner(Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 2004, Bd. 4,245–313 (zit. im Folgenden: Ilting, Art. Naturrecht).8 Hans von Arnim (Hrsg.): Stoicorum veterum fragmenta, Bd. 3, 80,24 f.9 Ilting: Art. Naturrecht, a. a. O. Anm. 7, 258.10 Ilting weist darauf hin, dass genau mit diesem Gedanken von ei-nem Naturrecht als normativer Grundlage des positiven Rechtserst bei den Stoikern gesprochen werden kann, wenn auch bereitsdie einzelnen Elemente der Rechtordnung vorher schon bei Platon,Aristoteles und Heraklit zu finden sind. (Vgl. Ilting: Art. Natur-recht, s. a. a. o. Anm. 7, 257).11 Vgl. Ilting: Art. Naturrecht, a. a. O. Anm. 7, 256.12 Vgl. etwa Röm 1,20: Dort ist vom Gesetz Gottes die Rede, das derNatur des Menschen eingeschrieben ist: „Denn Gottes unsicht-bares Wesen, das ist eine ewige Kraft und Gottheit, wird ersehenseit der Schöpfung der Welt und wahrgenommen an seinen Wer-ken, so dass sie keine Entschuldigung haben.“13 In dieser Verbindung des Naturrechts mit der Freiheit liegendann auch in der Folgezeit immer wieder die Vermischungen undVerwischungen des Naturrechts mit Moral. Dies ist jeweils in ei-nem Wandel des Verständnisses des Naturrechts selbst begründet.14 Dieser Begriff selbst findet sich nicht bei Luther, sondern erst inder Theologie des 20. Jahrhunderts. Aus seinen Schriften muss die-ser Begriff allererst rekonstruiert werden. Einschlägig hierfür istseine Schrift von 1523: „Von weltlicher Obrigkeit. Wieweit manihr Gehorsam schuldig sei“ (Martin Luther: Werke. Kritische Ge-samtausgabe [Weimarer Ausgabe], 58 Bände, Weimar 1883 bis1948, abgek.: WA; dort WA 11, 360–394). Der Begriff der zwei Rei-che oder zwei Regimenter sind aber gleichwohl maßgeblich fürseine gesamte Lehre.15 Vgl. hierzu vor allem den Aufsatz von Wilfried Härle: „Luthers

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Zwei-Regimenten-Lehre als Lehre vom Handeln Gottes“, in: Mar-burger Jahrbuch Theologie I, 1987, 12–32.16 Damit ist zwar eine Unterscheidung, die Aristoteles eingeführthat, aufgenommen worden, man hat ihr jedoch durch christlichesGedankengut eine entscheidende Wendung gegeben. Sie kommtzum Ausdruck bereits bei Augustin, der ganz anders als Aristotelesin der politischen Ausrichtung des Menschen keine natürliche An-lage sieht, sondern vielmehr eine, die gegen den einzelnen Men-schen in seinem Hang zur Selbstsucht und Eigenmächtigkeitdurchgesetzt werden muss: „Nihil enim est quam hoc genus tamdiscordiosum vitio, tam sociale natura“ um (Augustinus: De civi-tate Dei 12, 27, 1., in: Paul Migne (Hrsg.): Patrologia. Cursus com-pletus latina, Paris 1958 ff. Bd. 41, 376).17 Vgl. Ilting: Art. Naturrecht, a. a. O. Anm. 7, 286.18 Das bis heute andauernde Missverständnis im Verhältnis vonNatur und Geist ist letztlich auf das veränderte Naturverständnisder modernen Naturwissenschaft zurückzuführen. Die Verände-rung ist aber weder von der Naturwissenschaft selbst, noch letzt-lich von der Philosophie verarbeitet worden. Das Naturrecht wäreinsofern ein angemessener Ort, die bezüglich des Verhältnisses vonNatur und Geist geforderte Klärung herbeizuführen.19 Vgl. zum Physisbegriff den Aufsatz von Robert Spaemann, an-lässlich der vorjährigen Tagung ebenfalls zum Thema der aktuellenProbleme des Naturrechts, „Die Begründung des Naturrechts“, in:Wilfried Härle / Bernhard Vogel (Hrsg.): „Vom Rechte, das mit unsgeboren ist“. Aktuelle Probleme des Naturrechts, Freiburg 2007,322–334.20 Bekannt ist diesbezüglich der Satz Galileis, er beabsichtige nichtdie Adelsregister der Gesetze zu studieren.21 Mittels der Methode der Naturwissenschaften und ihrem unge-heuren Erfolg – einhergehend mit der philosophischen Legitimie-rung dieser Vorgehensweise durch Kants Kritik der reinen Ver-nunft, die nun ihrerseits die naturwissenschaftliche Methodegeadelt hat – tritt die neuzeitliche metaphysikverlorene Wissen-schaft ihren Siegeszug an, der sie bis über ihre eigenen Domäne hi-nausführt und mehr und mehr sämtliche Wissenschaften unterdieser Methodik zu versammeln sucht.22 Das wusste gerade Wittgenstein, der in seinen „Fall“-Studiennicht den Abschluss, sondern den Anfang des Fragens sah: „[Mir

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scheint] die Wahrheit der ihr mitgeteilten Gedanken unantastbarund definitiv. Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentli-chen endgültig gelöst zu haben. Und wenn ich mich hierin nichtirre, so besteht nun der Wert dieser Arbeit zweitens darin, dass siezeigt, wie wenig damit getan ist, dass die Probleme gelöst sind.“(Ludwig Wittgenstein: Traktatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt 1977, 8).23 So vermag gerade dieses Pufendorfsche Modell, das zu Beginn derNeuzeit entwickelt wurde, den modernen Erkenntnislagen Rech-nung zu tragen, sie aufzunehmen und z. B. kommunitaristischemit liberalistischen Modellen zu verknüpfen, aber auch reduktio-nistischen Modellen, wie den rein positivistischen oder evoluti-onsbiologischen, die Freiheit letztlich leugnen, ihren reduktionis-tischen Spiegel vorzuhalten.24 Pufendorf bietet hier eine säkulare Weiterentwicklung des Na-turrechtsgedankens von Duns Scotus.25 Samuel Pufendorf: De iure naturae et gentium libri octo (1672),deutsch: Acht Bücher von Natur und Völkerrecht. Frankfurt amMain 1711 (Nachdruck: Olms, Hildesheim 2001), I, 1,2; I, 1,4.26 Vergessen wird, dass dieser Blick auf die Natur auf eine Entschei-dung des Menschen zurückgeht. Plakativ dargestellt habe ich dasoben am Ausspruch von Galilei, der diese Haltung zum Ausdruckbringt, die einen Epochenwandel kennzeichnet.27 Es geht ihm also nicht um die Bestimmung einer Dichotomievon Natur und Geist und dann um die Frage, wie man beides –etwa gar im Menschen – vereinen könne.28 Vgl. Hannah Arendt: Elemente und Ursprung totaler Herrschaft,1951/1952, 8. Aufl. 2001, 614.29 Mit dieser Verhältnisbestimmung von Natur und Freiheit, Naturund Rechten, bahnt sich eine kritische Revisionsmöglichkeit fürden von David Hume konstatierten naturalistischen Fehlschlussan. Das neuzeitliche Naturrecht, wie es von Pufendorf formuliertwurde, ist in sich selbst die Überwindung des so genannten natura-listischen Fehlschlusses: Die Natur wird selbst als Aufgabe ver-standen. Das Sein des Menschen ist als Sollen bestimmt. Von daherkönnen mit Pufendorfs Ansatz zwei erkenntnistheoretischeSelbstverständlichkeiten infrage gestellt werden. Er ermöglicht 1.eine kritische Beleuchtung des so genannten naturalistischen Fehl-schlusses, der auch Konsequenzen für das Verständnis von Natur-

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Würde als Bestimmung der Natur des Menschen?

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recht zeitigt und 2. eine Qualifizierung des Verständnisses von Me-taphysik. Der so genannte naturalistische Fehlschluss ist bereitseiner reduktionistischen Wirklichkeitssicht verpflichtet. Er resul-tiert daraus, dass man nicht berücksichtigt, dass es unterschiedli-che Arten von Sein gibt und dass das Menschsein ein Sein ist, dasin einer Aufgabe besteht. Die Natur des Menschen ist es, dieserpraktischen Bestimmung zu folgen. Insofern ist eine Versöhnungvon Natur und Freiheit/Moral des Menschen im menschlichenSein intendiert und das Prädikat eines naturalistischen Fehlschlus-ses hinfällig.30 Insofern kann man hier die Folgen des naturwissenschaftlichenWeltbildes bis in das Rechtsverständnis hinein spüren, nämlich inder Aufhebung des Gedankens der Freiheit (und der Verantwor-tung).31 Vgl. Ilting: Art. Naturrecht, a. a. O. Anm. 7, 303.32 Vgl. Ralf Dreier: Der Begriff des Rechts, NJW, 1986, 890–896,892; Ders.: Recht und Gerechtigkeit in: Ders. (Hrsg.): Recht –Staat – Vernunft. Studien zur Rechtstheorie, Frankfurt am Main,8–38.33 Vergleich zu den folgenden Ausführungen über Menschenwürdeauch: Elisabeth Gräb-Schmidt: Einführung in das Thema Men-schenwürde, in: W. Härle / R. Preul (Hrsg.): Menschenwürde. Mar-burger Jahrbuch Theologie (MJTH) XVII, Marburg 2006, 1–24.34 Hanna Arendt hat eine richtige Feststellung zum Naturrecht ge-troffen, allerdings unter einem Missverständnis dessen, was Naturbesagt. Die Würde als Bestimmung des Menschen heißt in diesemZusammenhang, dass ein Mensch das Recht des Habens von Rech-ten behält und nicht aus der politischen Gemeinschaft aus-geschlossen wird (Hanna Arendt: Elemente und Ursprung totalerHerrschaft, 1951/1952, 8. Aufl. 2001, 444 f). Nun hat das nachArendt nichts mit „Natur“ zu tun. Aber das beruht auf einemMissverständnis Arendts dessen, was Natur heißt. (Vgl. ihr Ver-ständnis von Natur, ebd., 446)35 Hier kehrt also die Dichotomie wieder, aber nun nicht als Gegen-über der Freiheit, sondern als Binnendifferenzierung der Freiheit.

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