20
Wenn sich in zwei Jahren die fried- liche Revolution in der DDR zum zwanzigsten Mal jährt, dann ist das ein Grund zum Feiern und zum Stolz auf das Erreichte. Wir haben ohne Blutvergießen eine 40 Jahre währen- de Diktatur beendet und die Wieder- vereinigung unseres Vaterlandes in Freiheit und Demokratie erreicht. Was könnte ein schönerer Anlass zum Feiern sein angesichts der wechselvollen deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert! Viele Tage und Einzelereignisse des Herbstes 1989 sind im Gedächtnis geblieben und nichts davon soll in seiner Bedeutung geschmälert wer- den, wenn ich hier in besonderer Weise an den 9. Oktober erinnere, an den „Tag von Leipzig“. Dieser Tag war einer der wichtigsten Meilen- steine zur Entmachtung des SED- Regimes und als solcher ist und bleibt er ein bedeutender Tag in unserer Geschichte. Der gewaltlose Protest hatte die Machtlosigkeit der Herrschenden offen gelegt. Mit dem Ruf „Keine Gewalt!“ und seiner erfolgreichen Umsetzung an diesem 9. Oktober 1989 in Leipzig haben alle, die dabei waren, für eine Stern- stunde in der deutschen Freiheits- und Demokratiegeschichte gesorgt. Es ist oft darüber spekuliert worden, warum an diesem Tag kein Schuss gefallen ist. Schließlich waren die Ereignisse auf dem Pekinger „Platz des himmlischen Friedens“ noch unmittelbar präsent. Vielleicht war es der „Aufruf der Sechs“ oder die „Einsicht“ der Staatsführung, dass das aufgebotene militärische Mate- rial nicht ausreichen würde, um die 70.000 zusammengekommenen De- monstranten in Schach zu halten. Für mich bleibt es in jeden Fall auch ein Wunder! (Fortsetzung Seite 2) 1 FREIHEIT UND RECHT Vierteljahresschrift für streitbare Demokratie und Widerstand gegen Diktatur Herausgeber: Zentralverband Demokratischer Widerstandskämpfer- und Verfolgtenorganisationen September 2007/3 Z 12332 F Der Autor, einst Verweigerer des Dienstes mit der Waffe und der „Erwartungen“ des SED-Regimes an die Jugend, betrat 1989 die politische Szene seiner Heimat- stadt. Zunächst war er Dezernent der Stadtverwaltung, später Ober- bürgermeister von Leipzig. Seit 2005 ist Wolfgang Tiefensee Bun- desminister für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung Georg Milbradt würdigt Vorkämpfer der Demokratie Seite 3 Annemarie Renger empfängt Echo auf Dokumentation „Demokratie braucht Demokraten“ Seite 5 Wir bieten die DVD unseren Lesern an Seite 20 Wir sind das Volk Interview mit Waldemar Ritter Seite 12 Thomas de Maizière zum 20. Juli 1944 Seite 8 Der „Tag von Leipzig“ – Ein Wunder und ein Grund zum Feiern von Wolfgang Tiefensee Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Z 12332 F FREIHEIT UUND RRECHT - Herzlich … 2007 3.pdf · Reinhard Führer, Präsident Volksbund Dt. Kriegsgräberfürsorge Dr. Wladislaw Hedeler, ... fried Jenkner gedachte man

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Wenn sich in zwei Jahren die fried-liche Revolution in der DDR zumzwanzigsten Mal jährt, dann ist dasein Grund zum Feiern und zum Stolzauf das Erreichte. Wir haben ohneBlutvergießen eine 40 Jahre währen-de Diktatur beendet und die Wieder-vereinigung unseres Vaterlandes inFreiheit und Demokratie erreicht.Was könnte ein schönerer Anlasszum Feiern sein angesichts derwechselvollen deutschen Geschichteim 20. Jahrhundert!Viele Tage und Einzelereignisse desHerbstes 1989 sind im Gedächtnisgeblieben und nichts davon soll inseiner Bedeutung geschmälert wer-den, wenn ich hier in besondererWeise an den 9. Oktober erinnere, anden „Tag von Leipzig“. Dieser Tagwar einer der wichtigsten Meilen-steine zur Entmachtung des SED-Regimes und als solcher ist undbleibt er ein bedeutender Tag inunserer Geschichte. Der gewaltloseProtest hatte die Machtlosigkeit derHerrschenden offen gelegt. Mit demRuf „Keine Gewalt!“ und seinererfolgreichen Umsetzung an diesem9. Oktober 1989 in Leipzig habenalle, die dabei waren, für eine Stern-stunde in der deutschen Freiheits-und Demokratiegeschichte gesorgt.Es ist oft darüber spekuliert worden,warum an diesem Tag kein Schussgefallen ist. Schließlich waren dieEreignisse auf dem Pekinger „Platzdes himmlischen Friedens“ noch

unmittelbar präsent. Vielleicht wares der „Aufruf der Sechs“ oder die„Einsicht“ der Staatsführung, dassdas aufgebotene militärische Mate-rial nicht ausreichen würde, um die70.000 zusammengekommenen De-monstranten in Schach zu halten.Für mich bleibt es in jeden Fall auchein Wunder!

(Fortsetzung Seite 2)

1

FFRREEIIHHEEIITT UUNNDD RREECCHHTTVierteljahresschrift für streitbare Demokratie und Widerstand gegen Diktatur

Herausgeber: Zentralverband Demokratischer Widerstandskämpfer- und Verfolgtenorganisationen September 2007/3

Z 12332 F

Der Autor, einst Verweigerer desDienstes mit der Waffe und der„Erwartungen“ des SED-Regimesan die Jugend, betrat 1989 diepolitische Szene seiner Heimat-stadt. Zunächst war er Dezernentder Stadtverwaltung, später Ober-bürgermeister von Leipzig. Seit2005 ist Wolfgang Tiefensee Bun-desminister für Verkehr, Bau- undStadtentwicklung

Georg Milbradt würdigt Vorkämpferder DemokratieSeite 3

Annemarie Rengerempfängt Echo aufDokumentation„Demokratie brauchtDemokraten“Seite 5Wir bieten die DVD unserenLesern anSeite 20

Wir sind das VolkInterview mit Waldemar RitterSeite 12

Thomas de Maizièrezum 20. Juli 1944Seite 8

Der „Tag von Leipzig“ – Ein Wunderund ein Grund zum Feiernvon Wolfgang TiefenseeBundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(Fortsetzung von Seite 1)Das alles ist von heute aus gesehennoch gar nicht lange her. Viele derOpfer des Systems, viele Überleben-de des politischen Terrors aus denGefängnissen von Bautzen, Hohen-schönhausen oder dem berüchtigtenJugendwerkhof in Torgau lebennoch unter uns. Genauso übrigenswie viele der Täter, von den Ge-fängniswärtern und Stasi-Verhör-spezialisten bis hin zu den Verwal-tungsmitarbeitern, die die Zerset-zungspläne und operativen Maß-nahmen erdacht, ausgearbeitet undüberwacht haben. Zu den guten Er-innerungen an die erfolgreiche Re-volution treten deshalb stets auch dieTrauer und die Scham darüber, wasMenschen im Namen von Sozialis-mus und Kommunismus angetanwurde.Gleichwohl musste der 9. Oktoberdeshalb kein offizieller (und arbeits-freier) Feiertag werden. Wir habenin den Monaten vom Herbst 1989bis zur Wiedervereinigung so vielewichtige Tage, an die es zu erinnerngilt. Da ist vor allem natürlich der 9. November. Mir hat immer ganzbesonders der Vergleich mit derbiblischen Geschichte des VolkesIsrael gefallen, das nach 40jährigerGefangenschaft vor den Stadtmau-ern der Stadt Jericho stand. SiebenMal zogen sie um die Stadt und dannstürzten die unüberwindlichen Mau-ern ein. Genauso war es bei uns:

Nach 40 Jahren Diktatur zogen wirin Leipzig sieben Mal um den Ringund die unüberwindliche Mauer, diedie Menschen in Ost und West von-einander trennte, stürzte am 9. No-vember ein.Wir müssen die Erinnerung an diesegroßartigen historischen Ereignissewach halten und weitergeben. Unse-re Botschaft lautet, dass der Wille zuFreiheit und Demokratie Berge ver-setzen und Mauern einreißen kann.Am 9. Oktober 1989 waren Zivil-courage, Mut und Entschlossenheitzum Handeln gefordert. Und der„Tag von Leipzig“ war ein Tag derTat! Die Zeit war überfällig, den Irr-weg der Teilung und der Unterdrük-kung im Namen einer Ideologie zubeenden und zu überwinden.Leipzig war der Durchbruch, auchdank der zahllosen mutigen Frauenund Männer, die in Plauen und Dres-den, in Berlin und anderswo gegendas SED-Regime demonstriert hat-ten. Darauf können wir gemeinsamstolz sein. Diese Geschichte ist einGrund zum Feiern und wir gebendiese Erfahrung der jungen Genera-tion mit auf den Weg. Einmal um zuzeigen, dass Freiheit, Demokratieund Rechtsstaat keine Selbstver-ständlichkeiten sind und zum ande-ren, weil dieses Erbe heute Identitätstiftend sein kann. „Wir sind dasVolk!“ hieß der Ruf in Leipzig. Wirsind es an jedem Tag des Jahres undnicht nur am 9. Oktober.

Der „Tag von Leipzig“

2

Wolfgang TiefenseeDer „Tag von Leipzig“ –Ein Wunder und ein Grundzum Feiern Seite 1

Gerald WiemersWürdigung unserer VorkämpferBundesverdienstkreuz für „Belter-Gruppe“ Seite 3

Hans-Jürgen GrasemannDie „Abstimmung mitden Füßen“ endete am13. August 1961 Seite 4

Demokratie brauchtDemokratenEcho zur DVD Seite 5

Hans-Jürgen Grasemann„Alles Käse, Genossen“Vor 20 Jahren: Aufhebungder Todesstrafe in der DDR Seite 6

Eva WinkelmeierGedenkveranstaltungenam 20. Juli in Berlin Seite 7

Thomas de Maizièrezum 20. Juli 1944 Seite 8

Mitgliederversammlungdes ZDWV Seite 9

Neu im Vorstand Seite 11

Gespräch mitJohn Tabbat, 16 Seite 11

Hitler, Stalin und die DeutschenBWV-Bayern diskutiert Seite 12

Wir sind das VolkInterview mit Waldemar Ritter Seite 12

Neuerscheinungen Seite 14

Impressum Seite 20

Schwerpunktthema der Dezember-Ausgabe

Rechtsextremismus

Inhaltsverzeichnis

Eine besondere Buchpräsentation in der Bundeshauptstadt:

Schwarze Pyramiden, rote SklavenHerausgegeben von Wladislaw Hedeler und Horst Hennig(s. auch Seite 18 in diesem Heft)

Montag, 117. SSeptember 22007, 118.45 UUhr

Im Haus der Vertretung des Landes Sachsen-Anhalt beimBund, Luisenstr. 18, 10117 Berlin (Mitte)

An der Veranstaltung wirken mit:

Dr. Gerald Diesener, Leipziger UniversitätsverlagDr. Karl Wilhelm Fricke, Köln, Publizist, früher DeutschlandfunkReinhard Führer, Präsident Volksbund Dt. KriegsgräberfürsorgeDr. Wladislaw Hedeler, Berlin, HistorikerDr. Jens Hüttmann, Berlin, Stiftung Aufarbeitung SED-Diktatur Dr. Eva Ochs, Hagen, HistorikerinDr. Michael Schneider, Staatssekretär Sachsen-AnhaltHorst Schüler, Hamburg, Publizist, Ehrenvors. polit. Häftlingsgruppen Prof. Dr. Wolfgang Schuller, Universität Konstanz

Der Eintritt ist frei.

Der Widerstand von Leipziger Stu-denten nach 1945 für Freiheit undDemokratie ist durch die russischenRehabilitierungen in den 90er Jahrenformaljuristisch aufgearbeitet, aberdennoch ist das politische Engage-ment gegen das Vergessen nach wievor notwendig. Gedenkreden, Ge-denktafeln, Straßenbenennungennach Widertandskämpfern oder Aus-

stellungen reichen nicht aus, umnachhaltig in das öffentliche Be-wusstsein vorzudringen. Namen ste-hen für Personen. Viele habe ihrLeben verloren, andere sind an denHaftfolgen gestorben oder leidennoch heute darunter. All diese Men-schen verkörpern konkrete Ge-schichte und sollten ganz selbstver-ständlich in den Lehrbüchern der all-

gemeinbildenden Schulen Eingangfinden. Am 6. Juli 2007 erhielten in einemfeierlichen Akt die noch fünf überle-benden Mitglieder der so genanntenBelter-Gruppe in der sächsischenStaatskanzlei das Bundesverdienst-kreuz am Bande aus der Hand desSächsischen MinisterpräsidentenGeorg Milbradt, beurkundet vonBundespräsident Horst Köhler, „fürihr unerschrockenes Eintreten fürDemokratie in den Jahren 1949 und1950 an der Universität Leipzig.“ „Die größte und bekannteste Gruppein Leipzig“, schreibt Siegfried Jen-kner, einer ihrer Repräsentanten,„war der Kreis um den aus Rostockstammenden Herbert Belter.“ Ergehörte der neuen Gesellschafts-wissenschaftlichen Fakultät an, dereigentlich eine Vorreiterrolle bei der

Würdigung unserer Vorkämpfer

3

Würdigung unserer VorkämpferBundesverdienstkreuz für „Belter-Gruppe“

(v. l. n. r.: Gumpel, Eberle, Hermann, Ministerpräsident Milbradt, Jenkner und Bachmann.)Foto: Ulrike Wiemers, Leipzig.

Dresden. Georg Milbradt, Ministerpräsident des Freistaates Sachsen,hat sich etwas einfallen lassen: Unter Nutzung des architektonischenRahmens der auch „Elbflorenz“ genannten sächsischen Kulturmetro-pole gestaltete er die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes zu einerbesonders würdigen, in der Öffentlichkeit stark beachteten Feier. Poli-tisch Verfolgte der Diktaturen, ihre Verbände und im Grunde alle akti-ven Demokraten wissen es dem Ministerpräsidenten zu danken, denndie gegen Extremisten abwehrbereite Demokratie braucht Identifika-tion der heutigen Gesellschaft mit den Vorkämpfern.

Von Gerald Wiemers

kommunistischen Ausbildung undErziehung zugedacht war. Belteraber war kritisch eingestellt, fandGleichgesinnte und knüpfte Kon-takte zum RIAS-Hochschulfunk. Esging zunächst um die eigene poli-tische Weiterbildung. Den „Anstoßzu Außenaktivitäten“, berichtet Jen-kner weiter, „gab insbesondere diebevorstehende Volkskammerwahlim Oktober 1950. Sie sollte nichtnach den von der DDR-Verfassung(in Art. 51, Abs.2) vorgeschriebenen,Grundsätzen der Verhältniswahl’ …stattfinden, sondern mit einer Ein-heitsliste und einer vorher festgeleg-ten Sitzverteilung.“ Die Gruppe pro-testierte mit Flugblattaktionen gegendiesen Verfassungsbruch. Es kamAnfang Oktober zu Verhaftungenund schließlich im Januar 1951 inDresden zur Verurteilungen durch

ein sowjetisches Militärtribunal.Belter wurde zum Tode verurteiltund am 28. April 1951 in Moskauerschossen. Die neun anderen erhiel-ten, wie Peter Eberle, ein weiteresMitglied aus dem Kreis sagte, „zu-sammen 285 Jahre Zwangsarbeit“zudiktiert, die sie zumeist in Worku-ta, nördlich des Polarkreises bis1953 bzw. 1955 verbüßen mussten. In der Stunde der hohen Ehrung fürOtto Bachmann, Dr. Peter Eberle,Prof. Dr. Dr. h.c.Werner Gumpel, Dr.Günter Hermann und Prof. Dr. Sieg-fried Jenkner gedachte man auch dertoten Kameraden: Karl Miert-schischk, Hans-Dieter Scharf, Ehr-hardt Becker und Rolf Grün-berger. Vor allem galt die Erinne-rung Herbert Belter, dessen Schick-sal erst 1994 im Zusammenhang mitder Rehabilitierung der Gruppe

bekannt wurde. „Seine sterblichenÜberreste“, berichtete Peter Eberleauf dem Festakt, „ruhen mit derAsche von 926 deutschen poli-tischen Häftlingen, die zwischen1950 und 1953 in Moskau erschos-sen wurden, im Massengrab III aufdem Friedhof Donskoje bei Mos-kau.“

Der AutorDer Historiker und Archivwissen-schaftler Professor Dr. Gerald Wiemers ist in der Fachwelt, aberauch den Lesern von FREIHEITUND RECHT wohl bekannt. SeineSpezialgebiete sind Jugendwider-stand unter der SED-Diktatur, stu-dentischer Widerstand sowie Wirkenund Verfolgung jüdischer Wissen-schaftler an der Universität Leipzig.

Würdigung unserer Vorkämpfer

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Die „Abstimmung mit den Füßen“endete am 13. August 1961Von Hans-Jürgen Grasemann Besser als jede wissenschaftlicheAnalyse hat die Fluchtbewegung ausder DDR den totalitären Charakterdes SED-Regimes entlarvt. Über die„offene Grenze“ in Berlin sind 1961bis zum 13. August 155.000 Men-schen geflohen. Im Jahr zuvor wur-den 200.000 Flüchtlinge gezählt.Insgesamt haben über 3 MillionenDDR-Bürger ihrem Staat den Rücken gekehrt. Der Mauerbau in Berlin am 13.August 1961 beendete die „Abstim-mung mit den Füßen“. Mit denBetonmauern, Stacheldrahtrollen,Minenfeldern und mörderischenSelbstschussanlagen an den Metall-gitterzäunen sowie dem Schießbe-fehl, von dem rücksichtslos Ge-brauch gemacht wurde, war dieGrenze für 28 Jahre ein fast unüber-windbares Hindernis für alle, die indie Freiheit strebten. Der Ausbau der Grenzanlagenwurde im Innern durch einen gigan-tischen Überwachungs- und Unter-

drückungsapparat mit 91.000 Haupt-amtlichen und 173.000 InoffiziellenMitarbeitern begleitet. Die Stasi als„Schwert und Schild der Partei“ warebenso wie die GrenzsicherungGarant der SED zur Erhaltung ihrernicht demokratisch legitimiertenMacht. „Das Leben der Anderen“ wurdebespitzelt mit dem Ziel, Andersden-kende als „feindlich-negative Ele-mente“ zu kriminalisieren und psy-chisch oder physisch zu vernichten.Der Willkür ausgeliefert, verbüßten250.000 aus allein politischen Grün-den Verurteilte Freiheitsstrafen, diekaum jemals im Verhältnis des Vor-wurfs standen. Mit der Verfolgung einer Vielzahlvon Unrechtstaten und Einleitungvon Rehabilitierungsverfahren istdie justizielle Vergangenheitsaufar-beitung längst abgeschlossen – ausder Sicht der Opfer selten zufrieden-stellend, auch wenn im Einzelfallfestgestellt wurde, dass Unrecht

Der Kommentator, Dr. Hans-JürgenGrasemann, ist Oberstaatsanwaltin Braunschweig und war sechsJahre Sprecher der Zentralen Erfas-sungsstelle Salzgitter. Seit Juli 2007ist er Mitglied des Vorstandes desZDWV.

nicht dadurch Recht wird, dass staat-liche Institutionen es in Rechtsbe-stimmungen kleiden. Seit dem Fall der Mauer vor 18 Jah-ren sind gewiss mannigfaltige An-strengungen zur Erforschung derUrsachen und Folgen der SED-Dik-tatur unternommen worden. Dochdie größte Aufgabe liegt noch voruns: Jungen Menschen die Ge-schichte politischer Verfolgung und

von Opposition und Widerstand zuvermitteln, ihnen den Besuch au-thentischer Orte der Täter und Opferzu ermöglichen, wie es die Stasi-Haftanstalten Hohenschönhausenoder Magdeburg sind. Hoffen wir, dass es vielen so gehtwie einer Schülerin, die ehemaligenpolitischen Gefangenen in Bautzenihre Empfindungen schilderte: „MitIhren Erzählungen von Mut und

Widerstandskraft, von Individualitätund Selbstbehauptung, von der Kul-tur in der geistigen Wüste, haben Siemir viel gegeben. Sie haben michmit Ihren traurigen Geschichten neudankbar gemacht für die Freiheit,die ich genießen darf“. Nichts macht uns die Grundwerteder Demokratie und des Rechtsstaa-tes bewusster als das Bewusstwer-den der Folgen ihres Verlustes.

Die „Abstimmung mit den Füßen“ endete am 13. August 1961

5

Demokratie braucht Demokraten

Die Stellvertreterin des Chefs des BundespräsidialamtesMinisterialdirektorin Cornelia Quennet-Thielenim Auftrag von BundespräsidentHorst Köhler:

Die DVD „Demokratie braucht Demokraten“ gibt eindrucksvoll dieGeschichte und das Wirken desReichsbanners Schwarz-Rot-Goldwieder, daran haben die Interviewsder Zeitzeugen – auch Ihres – gro-ßen Anteil. ...

Der Bundespräsident freut sich überjede Initiative, die sich für unserdemokratisches Gemeinwesen aktiveinsetzt und ist mit Ihnen der Mei-nung, dass gegen das Erstarken desRechtsextremismus kontinuierlichund mit Nachdruck vorgegangenwerden muss.

Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland:

Der Zentralverband DemokratischerWiderstandskämpfer- und Verfolg-tenorganisationen leistet damit ein-mal mehr einen wertvollen Beitragzur Stärkung des Bewusstseins fürdemokratische Werte.Für Ihre weitere Arbeit im Rahmendes Zentralverbandes wünsche ichIhnen alles Gute und weiterhin vielSchaffenskraft, denn es gilt nach wievor: „Demokratie braucht Demo-kraten“.

Dr. Jürgen Rüttgers, Ministerpräsident des LandesNordrhein-Westfalen:Die Dokumentation, die Ihr Verbandmit der Unterstützung des Beauf-tragten der Bundesregierung fürKultur und Medien herausgebrachthat, bündelt auf interessante und an-schauliche Art die Geschichten undErlebnisse von Zeitzeugen der Wei-marer Republik. Ich halte es fürwichtig, ja sogar für unerlässlich,dass das Engagement und der Ein-

satz dieser Menschen auch für dienachfolgenden Generationen festge-halten wird. Mögen ihre Erzählun-gen uns alle daran erinnern, dass esin der damaligen Zeit Menschengab, die unter den widrigsten Um-ständen für eine freiheitliche unddemokratische Republik eingetretensind.

Prof. Dr. Hermann Schäfer, Ministerialdirektor beim Beauf-tragten der Bundesregierung für Kultur und Medien:Ich freue mich, dass dieses Projektmit Mitteln des Beauftragten derBundesregierung für Kultur undMedien realisiert werden konnte.Die vielfältigen, individuellen Be-richte lassen die historischen Ereig-nisse lebendig werden und vermit-teln ein sehr persönliches Bild derpolitischen Geschehnisse. Sie gebendem Betrachter einen unmittelbarenEinblick etwa in die Aktionen desJungbanners und die sich zuneh-mend zuspitzende politische Situa-tion in der Weimarer Republik.Unterstützt werden die Zeitzeugen-berichte durch die zurückhaltendeund sehr gezielte Kombination mithistorischen Bildern.Dabei ermöglicht die inhaltlicheAufgliederung der DVD in eineneinführenden Teil einerseits und dieZeitzeugenberichte andererseits ei-nen schnellen und guten Einstieg indie Dokumentation.Als Dokument, das auch den kom-menden Generationen exemplarisch

„Als Dokument, das auch den kommenden Generationen exemplarischvor Augen führt, in welcher Weise Menschen schon in der WeimarerRepublik bereit waren, sich aktiv für eine freiheitliche demokratischeRepublik einzusetzen, ist die DVD von großer Bedeutung.“ So schreibtProfessor Dr. Hermann Schäfer, Ministerialdirektor beim Beauftragtender Bundesregierung für Kultur und Medien. Dem Dokumentarfilmerund Historiker Werner Müller, Köln scheint mit dieser dreistündigenFilmdokumentation gelungen zu sein, was andere längst aufgegebenhaben: Diese weithin vergessene Phase der Vergangenheit wird in dieGegenwart zurückgeholt – zum Nutzen für die Zukunft. Briefe an Annemarie Renger, die Vorsitzende des Zentralverbandes Demokrati-scher Widerstandskämpfer- und Verfolgtenorganisationen (ZDWV),bestätigen es. FREIHEIT UND RECHT zitiert Auszüge:

vor Augen führt, in welcher WeiseMenschen schon in der WeimarerRepublik bereit waren, sich aktiv füreine freiheitliche, demokratischeRepublik einzusetzen, ist die DVDvon großer Bedeutung.

Walter Scheel, Bundespräsident a.D.:Ihre freundlichen Zeilen und die umfangreiche Dokumentation„Reichsbanner“ haben mich sehrgefreut. Es hat mir verdeutlicht, mitwelcher Beharrlichkeit und wel-chem unermüdlichen persönlichenEngagement Sie sich für den Kampfgegen Diktaturen einsetzen.

Gerhard Schröder, Bundeskanzler a.D.:Du hast Recht: die Geschichte des„Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ist leider, auch in den Kreisen derSozialdemokratie, allzu häufig in

Vergessenheit geraten. Ich hoffe,dass die Arbeit des ZentralverbandesDemokratischer Widerstandskämp-fer- und Verfolgtenorganisationensowie die Dokumentations-DVDdies ändern wird. Die Geschichte des „Reichsbanner“,aber auch die Geschichte des Schei-terns des Widerstandes gegen dienationalsozialistische Gewaltherr-schaft sollte uns auch heute nocheine Lehre sein. Die Konsequenzmuss sein, dass wir gegen Anti-semitismus, Rassismus und Rechts-extremismus entschieden ankämp-fen. Auch deswegen habe ich dieSchirmherrschaft des Vereins „Ge-sicht zeigen!“ von Johannes Raunach seinem Tod übernommen.

Dr. Hans-Jochen Vogel, Bundesminister a.D., Gründungsvorsitzender derVereinigung Gegen Vergessen –Für Demokratie:

Dein Verband und insbesondereHans Bonkas leisten auf diesem Ge-biet eine hervorragende Arbeit.Auch ich habe Hans Bonkas beimehreren Gelegenheiten unterstütztund so mit dazu beizutragen ver-sucht, die Erinnerung an das„Reichsbanner“ lebendig zu erhal-ten.

Richard von Weizsäcker, Bundespräsident a.D.:

Mit Überzeugung teile ich Ihre poli-tische Wertung, dass es gerade heuteangesichts zunehmender rechtsradi-kaler Umtriebe gilt, sich immer wie-der die Tradition des demokra-tischen Widerstandes gegen Extre-mismus in unserer Geschichte zuvergegenwärtigen. Diese Dokumen-tation leistet hierzu einen überzeu-genden Beitrag. Dazu darf ich Sieund den ZDWV beglückwünschen.

Demokratie braucht Demokraten

6

„Alles Käse, Genossen“Vor 20 Jahren: Aufhebung der Todesstrafe in der DDR

Im Morgengrauen des 26. Juni 1981zerreißt ein Schuss die Stille in derzentralen Hinrichtungsstätte imstreng abgetrennten Teil der Straf-vollzugseinrichtung Alfred-Kästner-Strasse in Leipzig. Dr. Werner Teske(39) sackt tödlich im Genick getrof-fen zusammen. Der Stasi-Haupt-mann war der letzte DDR-Bürger, andem unter strengster Geheimhaltungdie Todesstrafe vollstreckt wurde.Seine Frau Sabine, die selbst mona-telang in Untersuchungshaft saß,wurde unmittelbar nach der Hin-richtung ihres Mannes entlassen.Jahre später berichtete sie auf einer

Veranstaltung in Leipzig: „Mansagte mir nur, mein Mann sei zumTode verurteilt worden, aber nichtsüber die Vollstreckung. Ich habe alldie Jahre geglaubt, mein Mannwürde im Gefängnis sitzen. Dass sieihn tatsächlich umbringen, habe ichmir nicht vorstellen können. Erstnach dem Mauerfall habe ich nachihm geforscht und die Wahrheiterfahren. Noch 1990 drohte mir einMilitärjurist, ich solle es ja nichtwagen, mit der Sache an die Öffent-lichkeit zu gehen.“Von den in 40 Jahren SED-Herr-schaft verhängten 231 Todesurtei-

len wurden 166 vollstreckt. WegenMordes und NS-Verbrechen wur-den 109 Menschen hingerichtet. 57 Menschen verloren ihr Lebenwegen „Staatsverbrechen“. Voll-streckt wurden nach Gründung derDDR die Todesurteile zunächstdezentral , vor allem in Waldheimund Frankfurt/Oder, und ab 1952zentral in der Untersuchungshaftan-stalt Dresden mit dem Fallbeil, dasschon die Nationalsozialisten ein-gesetzt hatten. Ab 1960 wurden dieTodesurteile in der neuen zentralenHinrichtungsstätte in Leipzig voll-streckt, anfangs noch mit dem Fall-beil, später mit dem „unerwartetenHinterhauptnahschuss“. Die Exeku-tionen in Dresden wurden einge-stellt, weil die SED die Hinrich-tungsstätte 1960 zu einer Mahn-und Gedenkstätte umgestalten ließ– „zur Erinnerung an die 1069Frauen und Männer, die hier in denJahren 1939 bis 1945 unter demFallbeil starben“.

„Geschwafel“ war für Ulbrichts und Honeckers obersten Henker ErichMielke die späte Tendenz, von Todesurteilen abzusehen. Doch zweiJahre vor dem Fall der Mauer war die SED-Herrschaft so weitgeschwächt, dass sie in diesem Punkt einer Angleichung an die Bundes-republik nicht mehr ausweichen mochte. Die Todesstrafe wurde 1987abgeschafft. Die letzte Hinrichtung war 1981 vollzogen worden.

Von Hans-Jürgen Grasemann

Mit Teske mussten 14 Stasi-Bediens-tete ihren „Verrat“ mit dem Lebenbezahlen, ebenso „Verräter“ aus denReihen der Volkspolizei. Im Fall desin die Bundesrepublik geflüchtetenGrenzpolizeioffiziers Manfred Smol-ka, den das Ministerium für Staatssi-cherheit (MfS) in eine Falle lockte,begründet Stasi-Minister Erich Miel-ke das Ziel der Tötung Smolkas imBefehl von 1960: „Das Verfahren istgeeignet, aus erzieherischen Grün-den die Todesstrafe zu verhängen.“Seine menschenverachtende Brutali-tät legte Mielke auf einer MfS-Kon-ferenz 1982 offen: „Wir sind nichtdavor gefeit, dass wir einmal einenSchuft unter uns haben. Wenn ichdas schon jetzt wüsste, würde er abmorgen nicht mehr leben. KurzerProzess. Weil ich ein Humanist bin.Deshalb habe ich solche Auffas-sung... Das ganze Geschwafel vonwegen nicht Hinrichtung und nichtTodesurteil – alles Käse, Genossen.Hinrichten, wenn notwendig auchohne Gerichtsurteil.“ Dennoch wurde zumindest der äuße-re Schein von Gerichtsverfahren inden politischen Strafverfahren, indenen das Ministerium für Staats-sicherheit als Untersuchungsorgan

nicht selten den Ablauf und dasStrafmaß in Form von internen„Regieanweisungen“ und „Dreh-büchern“ bestimmte, gewahrt. Echteund erschöpfende Prüfung eineretwaigen strafrechtlichen Schuldwurde deshalb nicht angestrebt unddurch Willkür ersetzt. Es ging in denpolitischen Verfahren um die Besei-tigung von Regime-Gegnern untereinem rechtlichen Gewand. Selbstdie Totenscheine wurden gefälscht.Sie gaben keinen Aufschluss überTodesursache und Todesort.Mit der Praxis der Todesstrafe in derDDR befasste sich die Justiz im ver-einten Deutschland seit 1991 imRahmen von Rehabilitierungsanträ-gen und in Strafverfahren wegen„Rechtsbeugung in Tateinheit mitTotschlag“. In einem Revisions-verfahren gegen einen Richter amObersten Gericht der DDR, derwegen seiner Beteiligung an poli-tisch motivierten Todesurteilen zueiner Freiheitsstrafe verurteilt wor-den war, hat der Bundesgerichtshof1995 ausgeführt: „Aus humanitärenGründen kann keinem Staat dasRecht zustehen, durch diese Sank-tion über das Leben seiner Bürger zuverfügen. Vielmehr erfordert es der

Primat des absoluten Lebensschut-zes, dass eine Rechtsgemeinschaftgerade durch den Verzicht auf dieTodesstrafe die Unverletzlichkeitmenschlichen Lebens als oberstenWert bekräftigt. Darüber hinauserscheint es unbedingt geboten, derGefahr des Missbrauchs der Todes-strafe durch Annahme ihrer aus-nahmslos gegebenen Unzulässigkeitvon vornherein zu wehren. Fehl-urteile sind niemals auszuschließen.Die staatliche Organisation einerVollstreckung der Todesstrafe istschließlich, gemessen am Ideal derMenschenwürde, ein schlechter-dings unzumutbares und unerträg-liches Unterfangen.“Am 17. Juli 1987, sechs Jahre nachdem letzten vom MfS befohlenenJustizmord, hat der Staatsrat derDDR die Abschaffung der Todes-strafe verfügt. Im Vorfeld seinesersten Treffens mit BundeskanzlerHelmut Kohl im September 1987 inBonn hat der StaatsratsvorsitzendeErich Honecker die Entscheidungals Beleg für die humanistische Aus-richtung seines Regimes rechtzeitigherbeigeführt. Im Grundgesetz lau-tet seit 1949 Artikel 102 schlicht:„Die Todesstrafe ist abgeschafft.“

Todesstrafe in der DDR

7

Gedenkveranstaltungen am 20. Juli in Berlin

Das diesjährige Treffen des ZDWVim Rahmen der Feierlichkeiten des20. Juli 1944 war nicht nur für dieMitglieder und Delegierten desDachverbandes demokratischer Wi-derstandskämpfer ein Ereignis.Auch die Feierlichkeiten der Bun-desregierung warteten mit hochkarä-tigem Personal auf. Eskortiert vonder Bundeswehr legte Ministerpräsi-dent Dr. Harald Ringsdorff in seinerEigenschaft als Bundesratspräsidenteinen Kranz nieder. Der Chef desBundeskanzleramtes, Dr. Thomas deMaizière sprach zum Gedenken anden Widerstand gegen die national-sozialistische Gewaltherrschaft inder Gedenkstätte Plötzensee vor derehemaligen Hinrichtungshalle, woam Vormittag der ökumenische Got-tesdienst stattgefunden hatte.

Das Plenum – anwesend waren u.a.der Bundesratspräsident und derRegierende Bürgermeister von Ber-lin – wurde zunächst erinnert an dievielen verschiedenen Arten desWiderstandes gegen ein menschen-verachtendes Regime, daran, dass esnicht nur adelige Offiziere waren,die ihren Eid brachen, um den allebisherigen Horrorszenarien spren-genden Wahnsinn zu beenden.Widerstandskämpfer kamen ausallen Schichten. Aber wichtiger istes, an sie zu erinnern, um unserGedächtnis wach zu halten, damitwir dafür sorgen können, dass sol-ches nie wieder geschieht, wir, diewir nicht nur einen Raum brauchen,um trauern zu können, sondern diewir auch verantwortlich sind für dieZukunft. Hierfür sind sie wichtig,

die „Orte, Stunden und Worte desGedenkens“. De Maizière ehrt dieHelden des 20 Juli, das Attentatbezeichnet er als „moralisch erfolg-reich“, auch wenn es militärischscheiterte. Uns, den Staatsbürgernder heutigen Demokratie, gibt ervier Lehren mit auf den Weg (s.Redeauszug Seite ...). Der 20. Julimuss Teil des kollektiven Geden-kens des deutschen Volkes bleiben,in seiner Tragik zeugt das Ereignisauch von einer Größe, die es weiter-hin zu ehren gilt und auf die unserLand stolz sein kann.

Auch die Vereidigung der Rekrutender Armee des demokratischenDeutschland steht im Zeichen desAttentates von 1944 für Freiheit undRecht. Hervorgehoben wurde die

Bedeutung des Feierlichen Gelöbnis-ses dieses Jahr durch eine Rede vonBundeskanzler a.D. Dr. Helmut Kohl,dem im Jahre 1990 alternativlosenKanzler der Wiedervereinigung. In seiner bewegenden Rede erinner-te ein von schwerer Krankheit sicht-lich gezeichneter Helmut Kohl andie Helden des Attentats, richtete imAngesicht der jungen Soldaten abervor allem das Wort an sie, die Ver-antwortlichen der Zukunft. Selbst-verständlich sei die Demokratie fürdiese, die in ihr aufwuchsen, nichtaber selbstverständlich ist es, sie zuerhalten. Und das verlangt auch die

Tapferkeit der Soldaten einer wehr-haften Demokratie. Hierbei sei esbesonders wichtig, wie vorher schonde Maiziere mahnte, das Bewusst-sein für Unrecht zu schärfen. Geradedie Männer des 20. Juli bewiesen ja,dass im Falle des zum Himmelschreienden Unrechts ein Eid gebro-chen werden darf und muss. Dass indiesem Falle die Moral über allenSchwüren, damals auf den „Führer“,stehen muss. Kohls Mahnung isteine bewegende, ohne moralischenZeigefinger. Nicht nur für die ange-henden Soldaten waren das Gelöb-nis und das damit verbundene Ge-

denken ein Erlebnis, welches siesicherlich nicht vergessen werden.Auch den anderen Anwesenden, diean den außergewöhnlichen Feier-stunden teilhaben durften, wird die-ser Gedenktag unvergessen bleiben,nicht zuletzt ob des vielleicht letztenöffentlichen Auftritts eines Mannes,der ein Teil der demokratischenGeschichte unseres Landes ist. DieFeierlichkeiten des 20. Juli in Berlinhaben einmal mehr einen außerge-wöhnlichen Rahmen für Gedenken,Mahnung, aber auch Hoffnung fürdie Zukunft bewiesen.

Eva Winkelmeier

Gedenkveranstaltungen am 20. Juli in Berlin

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Die Überlegungen für eine poli-tische Ordnung nach dem Umsturzwaren unterschiedlich und selbstinnerhalb des Lagers der national-konservativen Hitler-Gegner wider-sprüchlich. Einig war man sich aberin einem: Die Gewaltherrschaft soll-te beendet werden. Die Herrschaftdes Rechts sollte an ihre Stelle tre-ten. Außerdem sollte eine umfassen-de Neugestaltung des politischenund sozialen Lebens erfolgen.Das langsame Entstehen des so fol-genschweren Handlungsentschlus-ses lässt die Gewissenhaftigkeit unddie Gewissensqual erahnen, mit derdie Tat immer wieder erwogen, ver-worfen und überdacht wurde. MitStauffenberg trat 1943 ein zum Han-deln entschlossener Mann zumKreis der militärischen Oppositionhinzu. Er war davon überzeugt, dassdie soldatischen Pflichtenbindungennicht um jeden Preis gelten konntenund ihrerseits einen rechtschaffenenStaat voraussetzen. Mit diesem Ge-fühl war er bereit, seinen Eid zu bre-chen – für ein schnelles Kriegsendeund um weitere Opfer zu vermeiden.Es ging aber auch darum, der Weltdas Aufbegehren eines anderenDeutschlands gegen das Hitler-Re-

gime zu zeigen. Obwohl das Attentatmilitärisch und politisch scheiterte,war es moralisch erfolgreich. Mitdem Attentatsversuch wurde diesesSignal am 20. Juli 1944 erfolgreichgesetzt und wirkt bis heute.

Welche Lehren können wir für dieZukunft aus dieser Erfahrung des20. Juli 1944 ziehen?

1. Unser Gedenken an den Wider-stand, mehr als 60 Jahre nachEnde des Zweiten Weltkriegs,erfolgt in einem demokratischenRechtsstaat. Meinungs-, Bekennt-nis-, Wahl- und Versammlungs-freiheit ermöglichen heute denrechtzeitigen, geordneten undfriedlichen Widerspruch gegenUnrecht. Menschenwürde undMenschenrechte sind die Funda-mente unseres Staates. Wider-spruch ist Teil der demokrati-schen Ordnung. „Widerstand“ ist deshalb nicht nötig und nichtdemokratisch legitim, solangeWiderspruch rechtsstaatlich ga-rantiert und praktisch umsetzbarist.

2. Ich meine, unsere Lehre für dieZukunft sollte auch sein: Wirmüssen unseren Blick schärfen

für Unterschiede und für denUmgang mit der Sprache. Schär-fen wir unseren Blick, damit derBegriff „Widerstand“ nicht infla-tionär für jeden kritischen demo-kratischen Diskussionsprozessoder die Geltendmachung eigenerAnsprüche missbraucht wird.Denn „Widerstand“ ist viel mehr.Unser Grundgesetz appelliert mitdem „Widerstandrecht“ in Artikel20 Absatz 4 an die politische Mit-verantwortung aller Bürgerinnenund Bürger, wachsam gegenüberAngriffen auf die demokratischeVerfassungsordnung zu sein. Wi-derstand aber setzt „Herrschafts-verwirkung“ voraus. Erst dannkann eine existenzielle Ausnah-mesituation bestehen, in der„Widerstand“ legitimierbar ist.Erst wenn der Staat den Bodendes Rechts verlässt, wenn er dieInstitutionen systematisch aus-höhlt, die Recht, Demokratie undFreiheit garantieren, erst dannkann eine verantwortliche Gewis-sensinstanz zum Zuge kommen,die zu „Widerstand“ aufruft. Eineechte Gewissensentscheidung istkostbar. Sie kommt sicher nur einpaar Mal im Leben vor, wennüberhaupt. Sie sollte nicht in„kleiner Münze“ gehandelt wer-den. Nicht jede schwierige Ent-scheidung ist schon eine Gewis-sensentscheidung.

3. Während des Hitler-Regimes ver-langte der Entschluss zum demo-kratischen Widerstand im Namendes Rechts die Bereitschaft, dendenkbar höchsten Preis zu zahlen.Neben gesellschaftlicher und so-zialer Isolation ging es um nicht

Bundesminister Dr. Thomas de Maizière Chef des BundeskanzleramtsAuszug aus der Ansprache im Rahmen der Feierstunde der Bundesre-gierung zum Gedenken an den Widerstand gegen die nationalsozialis-tische Gewaltherrschaft am 20. Juli 2007 in der Gedenkstätte Plötzensee

weniger als um die Bereitschaft,das eigene Leben zu opfern. Beinicht vielen Menschen war da-mals solche Charakterstärke undEntschlossenheit zu finden. Die-sen Menschen gebührt unsere An-erkennung und unser Gedenken.Wenn heute Widerspruch gegenObrigkeit erfolgt, dann geschiehtdas dagegen mit dem – durchausberechtigten – Verständnis desBürgers, dass er wegen seinesWiderspruchs keine Nachteile er-dulden muss oder darf. UndWiderspruch bei allen Themender öffentlichen Diskussion mussheute seinerseits demokratisch

und friedlich bleiben. Gewalt istin unserem Staat nicht nötig, umsich und seinen Positionen Gehörzu verschaffen. Sie ist nichterlaubt und auch nicht als eineArt von „Widerstand“ gerechtfer-tigt, weil in unserem rechtsstaat-lichen System die Grundrechts-ausübung auf die normale – näm-lich die friedliche – Weise mög-lich ist.

4. Mit scharfem Blick sollten wirauch unsere eigenen Handlungs-motive betrachten. Wir könnenaus dem 20. Juli 1944 lernen,dass es eine Instanz gibt, die stär-

ker sein kann als alle Zwänge,wenn eine politische Führungrechtsstaatliche Werte verwirftund so zur „verbrecherischenFührung“ wird. Das verantwort-liche Gewissen und die Fähigkeit,zwischen Recht und Unrecht,Menschlichkeit und Barbarei zuunterscheiden, muss letztlich derMaßstab unseres Handelns sein.Wir Deutsche müssen uns dieKenntnis und das Gespür fürRecht und Unrecht besonders be-wahren. Das ist eine Verpflich-tung gegenüber den Frauen undMännern des 20. Juli.

Bundesminister Dr. Thomas de Maizière

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Mitgliederversammlung des ZDWV

Am 18. Juli fand in Berlin die Mitgliederversammlung (Mitgliedersind die im Dachverband zusam-mengeschlossenen Einzelverbände)des Zentralverband DemokratischerWiderstandskämpfer- und Verfolg-tenorganisationen statt.Ein inhaltlicher Schwerpunkt wardie Übernahme eines Vorschlagsdes bayerischen Mitgliedsverban-des, Bund Widerstand und Verfol-gung (BWV-Bayern) e.V., den 17.Juni 1953 zum offiziellen Gedenk-tag aller Deutschen zu erheben.„Der Arbeiter- bzw. Volksaufstanddes 17. Juni 1953 weist bereits aufdas Jahr 1989 hin und ist ein wichti-ges Datum deutscher demokrati-scher Freiheitstradition“, begründe-te Hans Marquardt, Chef des stärk-sten der Mitgliedsverbände, BundDemokratischer Widerstandskämp-fer und Verfolgter (BDWV) NRW,seine Aufforderung, dem baye-rischen Vorschlag zu folgen, wasdarauf hin auch einmütig geschah.Die nach der Satzung terminlich fäl-ligen Vorstandswahlen gingen unterder routinierten Leitung des frühe-ren Vizepräsidenten des Landtagesvon Nordrhein-Westfalen, Dr. Hans-Ulrich Klose, zügig über die Bühne.Zum sechsten Mal wurde die seit

Die Vorsitzende des ZDWV, Dr. h.c. Annemarie Renger und

der übrige gewählte Vorstand (Bild unten):

Vordere Reihe v.l.: Maria Banser,Dr. Nikoline Hansen, Dr. Waltraud

Rehfeld,hintere Reihe v.l.: Dr. Ernst Raim,

Dr. Reinhold Lofy, Christel Jansen,Hans Marquardt, Dr. Hans-Jürgen

Grasemann

Foto: Peter Bierganns

bald zwei Jahrzehnten das Profil desZDWV prägende frühere Bundes-tagspräsidentin, Dr. h.c. AnnemarieRenger, als Vorsitzende bestätigt.Einmütig erfolgte auch die Wieder-wahl bisheriger Vorstandsmitglie-der. Neu in der Vorstandsrunde: derBraunschweiger OberstaatsanwaltDr. Hans-Jürgen Grasemann (s.auch „Neu im ZDWV-Vorstand“,Seite 11).

Wie so häufig bei entsprechendenTreffen fanden die interessantestenGespräche außerhalb der offiziellenSitzungen und Tagesordnungenstatt. Dabei ergaben sich am 20. Juliauch etliche Beitritte zu verschie-denen Mitgliedsverbänden desZDWV, darunter Horst Schüler,Vorsitzender der LagergemeinschaftWorkuta/GULag, Rainer Wagner,Vorsitzender der UOKG sowie dreiJugendliche aus dem Raum Köln–

Bonn (Bild Seite 11). Eher spontanergab sich ein lebhaftes Gesprächzwischen einer Gruppe von Schüle-rinnen, die gerade die GedenkstätteDeutscher Widerstand besuchte unddem Vorstandsmitglied des ZDWV,Dr. Reinhold Lofy, der aus seinemErfahrungsschatz im militärischenWiderstand gegen die Nazis undseiner doppelten Verfolgung in bei-den deutschen Diktaturen berichtenkonnte.

Mitgliederversammlung des ZDWV

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Dr. Reinhold Lofy im Gespräch mit SchülerinnenFoto: Peter Bierganns

Neumitglied beim ZDWV: Horst Schüler, Vorsitzender der Lagergemeinschaft Workuta/GULag,

Ehrenvorsitzender der UOKG, mit EhefrauFoto: Peter Bierganns

Neumitglied beim ZDWV: Rainer Wagner, Vorsitzender der UOKG, im Gespräch mit Dr. Reinhold Lofy, Verfolgter unter beiden Diktaturen und Vorstandsmitglied des ZDWVFoto: Peter Bierganns

„Abläufe gelungen“, Herta Schmidt, Mitarbeiterin von Annemarie Renger, kurz vor dem Ende eines langen Konferenztages, 1. Reihe Mitte. Rechts dahinter: Michael Franz, Geschäftsführer des mitgliederstarken BDWV in Nordrhein-WestfalenFoto: Peter Bierganns

FREIHEIT UND RECHT: Will-kommen im Zentralverband Demo-kratischer Widerstandskämpfer- undVerfolgtenorganisationen, John. Wiekommt ein 16-Jähriger dazu, einemsolchen Verband beizutreten? John Tabatt: Angeregt durch meinenVater habe ich mich schon in der Schu-le und außerhalb für den Weltkrieg unddas Naziregime interessiert. Dabei binich auf die Vertreter des Widerstandesgestoßen. Es hat mir sehr imponiert,mit welchem Einsatz die Widerstands-kämpfer – auch schon vor 1933 –gegen die Nazis und für die Demokra-tie gekämpft haben. Das sollte dieJugend heute auch gegen die NPD tun.

Und da will ich durch meinen Beitrittzum BDWV in NRW, bewusst amheutigen 20. Juli, mitmachen. Haben Dich auch bestimmte Perso-nen beeindruckt?Herr Marquardt hat mir Sachen er-zählt, da würden sogar unsereGeschichtslehrer mit den Ohren schlackern. Bei uns am Rhein warendie Leute eben weit weg von derBerliner Mauer und den Zuchthäu-sern in der DDR. Und heute habe ichmit Herrn Dr. Lofy aus Trier gespro-chen, er war mit 19, 20 Jahren immilitärischen Widerstand gegen dieNazis und ist knapp mit dem Lebendavon gekommen. Sie kennen ihn?

Na, und ob. Unsere Zeitschrift hatmehrfach berichtet. Wer stellt hiereigentlich die Fragen?

John muss lachen, fährt dann aberfort: Solchen Leuten zu begegnen,das hätte ich mir vorher nicht träu-men lassen. Es war ziemlich viel indiesen drei Tagen in Berlin. Zu Hausemuss ich das erst mal alles irgendwieordnen. Aber der Gipfel war ein frü-heres Gespräch mit Frau AnnemarieRenger in Bonn. Mein Vater hatte

mich da mitgenommen. Als ich ihrvon mir erzählt hatte, von meinemGeschichtsinteresse und meiner Mit-arbeit als Sanitäter im DRK, wurdesie ganz direkt und sagte, ich sollemich doch auch politisch engagieren.Sie erzählte von der DVD, die Wer-ner Müller gerade über das „Reichs-banner Schwarz-Rot-Gold“ produ-zierte, und lud mich zur Mitarbeit imZDWV ein. Und nun bin ich hier.

Gespräch mit John Tabatt, 16

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Neu im ZDWV-VorstandDr. Hans-Jürgen Grasemann wurde am 19. August 1946 in Hannover geboren. Er studierte Rechtswis-senschaften an der Universität Göttingen. Von 1970 bis 1975 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter undDozent an der Ost-Akademie Lüneburg (Referat „DDR und innerdeutsche Beziehungen“). 1973 pro-movierte er mit einer Dissertation aus dem DDR-Verfassungsrecht an der Juristischen Fakultät derGeorg-August-Universität Göttingen. 1976/77 war er am Landgericht Baunschweig als Richter tätig.Der Wechsel zur Staatsanwaltschaft erfolgte 1978. Er war viele Jahre Pressesprecher der Staatsan-waltschaft Braunschweig und von 1988 bis 1994 zugleich als stellv. Leiter der Zentralen Erfassungsstel-le der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter deren Sprecher. Seit 1994 ist er als OberstaatsanwaltAbteilungsleiter in der Strafverfolgungsbehörde und in der Ausbildung des juristischen Nachwuchsesals Vorsitzender von Prüfungsausschüssen im Zweiten Juristischen Staatsexamen tätig.

Seit über 40 Jahren ist der mit Ehefrau Angelika verheiratete Grasemann in der politischen und staats-bürgerlichen Bildungsarbeit engagiert und mit 60 Veröffentlichungen vertreten. Er ist jetzt 38 JahreMitglied der SPD und seit 2006 Vorsitzender des Trägervereins der Politischen Bildungsstätte Helmstedte.V., einer Heimvolkshochschule. Am 18. Juli 2007 wurde er in den Vorstand des ZentralverbandDemokratischer Widerstandskämpfer- und Verfolgtenorganisationen (ZDWV) gewählt.

Gespräch mit John Tabatt, 16Als neues Mitglied im Bund Demokratischer Widerstandskämpfer und Verfolgter, Nordrhein-Westfalenkonnte Vorsitzender Hans Marquardt am 20. Juli den im Rheinland lebenden Schüler John Tabatt (Foto unten) in Berlin begrüßen. Der nach dem Fall der Berliner Mauer geborene junge Mann ist damit dasjüngste Mitglied aller dem ZDWV angeschlossenen Verbände. Wir sprachen mit ihm.

Hans Marquardt, Chef des BDWV/NRW imZDWV, präsentiert Neumitglieder v.l. Vincent Weiß, Ines Müller, John TabattFoto: Peter Bierganns

Neumitglied John Tabatt imGespräch mit Dr. Reinhold LofyFoto: Peter Bierganns

FREIHEIT UND RECHT: HerrRitter, die Redaktion hat Sie gebe-ten, auch einmal aus dem Nähkäst-chen zu plaudern; doch zunächst:Auf Wunsch Herbert Wehners wur-den Sie 1967 im Bundesministeriumfür gesamtdeutsche Fragen derjüngste Leiter eines Grundsatz- undPlanungsreferats der Bundesregie-rung. Mit welchen Vorstellungengingen Sie ans Werk?

Ritter: Es ging im Kern um Selbst-bestimmung und Freiheit in ganzDeutschland und im gesamten Eu-ropa. Eines war mir klar: Weg undZiel zu Frieden, Freiheit und Demo-kratie sind die WiedervereinigungDeutschlands und die Wiederverei-nigung Europas. Das dunkelste Jahr-hundert der Menschheit war damalsnoch nicht zu Ende.

Sie haben bereits 1969 den Inhaltdes Briefes zur deutschen Einheitvorformuliert, den Brief, der Be-standteil der Deutschland- und Ost-politik der Bundesregierung wurde.Ritter: ..., auf einen Zustand desFriedens in Europa hinzuwirken, indem das deutsche Volk in freierSelbstbestimmung seine Einheitwiedererlangt.Was bedeutete das in der Situationdes Kalten Krieges, es gab denEisernen Vorhang, es gab Mauerund Stacheldraht – war das realis-tisch, was bedeutete das praktischund politisch?Ritter: Ja, die Sowjetunion hatte dieAufstände und Revolutionen am 17.Juni 1953 in der DDR, 1956 inUngarn und 1968 in der CSSR mili-tärisch niedergeschlagen. Die Auf-

Wir sind das Volk

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Wir sind das VolkStetiges Bohren an der Mauer: Fakten, Umwege, Hintergründiges

Interview mit dem Politologen und HistorikerWaldemar Ritter

Dr. Waldemar Ritter, Ministerial-dirigent a.D., wirkt heute mit einerVielzahl von Zeitschriftenbeiträgen,Interviews und Büchern als wissen-schaftlicher Publizist zur Zeitge-schichte der Deutschlandfrage.1967 trat er beim damals zustän-digen Minister Herbert Wehner insBundesministerium für gesamt-deutsche Fragen (später inner-deutsche Beziehungen) ein. Abder Wiedervereinigung war er inder zuständigen Abteilung desBundesministeriums des Innern fürdie nationalen Kulturangelegen-heiten verantwortlich.Foto: UR

„Hitler, Stalin und die Deutschen“Unter diesem Titel wird der Bund Widerstand und Verfolgung (BWV-Bayern) auf seiner dies-jährigen Mitgliederversammlung in München die in der Bundesrepublik geführte Auseinan-dersetzung über Vergleichbarkeit und Verzahnung der beiden Diktaturen des 20. Jahrhun-derts und ihre komplizierten Folgewirkungen diskutieren.

Zum einleitenden Vortrag ist Oberstaatsanwalt Dr. Hans-Jürgen Grasemann aus Braun-schweig, seit diesem Sommer Mitglied des Vorstandes des ZDWV (Zentralverband Demokra-tischer Widerstandskämpfer- und Verfolgtenorganisationen), eingeladen.

Auf der Versammlung wird auch der Vorstand des BWV-Bayern neu gewählt. Der bisherigeVorsitzende und frühere Landtagsvizepräsident Bertold Kamm hat seine Bereitschaft zurerneuten Kandidatur ebenso erklärt wie die meisten Vorstandsmitglieder.

Termin: Samstag, 6. Oktober 2007, 15.00 UhrMünchen, das Tagungslokal wird rechtzeitig mitgeteilt

stände in Polen folgten 1970,76 und80/81. Angesichts einer solchenLage durften wir nicht auf einemBahnsteig warten, wo längst keineZüge mehr fuhren. Es war ein Fuß-marsch mit Höhen und Tiefen, dereinen langen Atem erforderte. ImBrief zur Deutschen Einheit habenwir auch der Sowjetunion und derDDR gegenüber unseren Weg undunser Ziel beschrieben. Es gab aller-dings auch Weggenossen, denen dieLuft ausging, die notwendige Um-wege mit falschen Wegweisern ver-wechselten und das Ziel aus denAugen verloren, oder aus ganz ande-ren Gründen aus dem Tritt kamen.Was meinen Sie damit?Ritter: Bei der neuen Deutschland-und Ostpolitik ging es darum, vonden schrecklichen Realitäten auszu-gehen, um sie mit einer Politik der„kleinen Schritte“ zu verändern. Esging darum, weiter zu gehen, woandere aufgaben. Nach Helsinki1975 und besonders sichtbar imZusammenhang mit dem NATO-Doppelbeschluss – BundeskanzlerHelmut Schmidt hatte 1982 keineMehrheit mehr in seiner Partei – gabes die kleinen Metternichkopien, diemit dem status quo im Osten zufrie-den waren. An wen denken Sie, wenn Sie vonden kleinen Metternichs sprechen?Ritter: Günter Gaus und OskarLafontaine gehörten zu ihnen ebensowie in manchen Phasen Egon Bahr.Da werden im Nachhinein zwarviele Nebelkerzen geworfen, abersehen Sie mal in die Archive oderlesen Sie nur die Zeitungen vondamals, wie diese Politiker die Lagebis 1989 falsch eingeschätzt haben.Egon Bahr hat noch zu einer Zeit, alsin Leipzig die Kerzen der Revolu-tion bereits zu brennen begannenund die Breschnew-Doktrin schonlängst nicht mehr existierte, nochsechs Wochen vor dem Mauerfallgesagt: „Lasst uns um alles in derWelt aufhören, von der Einheit zuträumen oder zu schwätzen.“ Ihnübertraf Lafontaine, dem der SPD-Parteivorsitzende Jochen Vogel nochsechs Wochen nach dem Mauerfallvorwarf: „Die bauen Mauern ab, undDu versuchst sie aufzurichten.“ Dasentsprach im übrigen der kurz zuvorvon Gregor Gysi vertretenen Mei-nung, der am 10. 12. 1989 die Be-seitigung der innerdeutschen Grenzeals eine „große Gefahr für die Sta-

bilität auf dem europäischen Kon-tinent“ bezeichnet hat.

Was halten Sie von dem bis heutewiederholten Hinweis, die Revolu-tion in der DDR und der Zusam-menbruch des „real existierendenSozialismus“ hatte niemand vorhersehen können?Ritter: Das haben vor allem Poli-tiker, auch Medien und Wissen-schaftler, zu ihrem Selbstschutzgesagt, weil die meisten von ihnenim festgefahrenen Denken verharr-ten und die reale Situation in derSowjetunion, in den Ostblock-staaten, besonders in der DDR tat-sächlich nicht erkannt, jedenfallsfalsch beurteilt hatten. Da wareneinige nicht bereit, einmal durch dieNebenstraßen der SchönhauserAllee zu gehen. Was nicht sein kann,dass nicht sein darf und umgekehrt.Diejenigen, die das „Wunschden-ken“ anderer heftig kritisiert hatten,haben sich bei näherer Betrachtungoder nur bei unvorteilhafter Be-leuchtung selbst als die Träger sol-chen Denkens erwiesen. Es gabnicht viele, aber immerhin einigeLeute in Kultur, Wissenschaft undPolitik, die das anders gesehen undgesagt haben. Leider hat auch unse-re veröffentlichte Meinung diesenAnalysten wenig Raum gegeben.

Wer hat denn Ihrer Meinung nachdie Revolution in der DDR zumErfolg gebracht?Ritter: Das Volk hat seinen Namengerufen: „Wir sind das Volk“, zuerstin Leipzig und dann in der gesamtenDDR, zuerst „Wir sind das Volk“,das hieß Bürgerfreiheit, und dann„Wir sind ein Volk“, das bedeuteteWiedervereinigung. Das Volk hatbeides durchgesetzt. Die Politik warnur Notariat, Beglaubigungsbehördeund Erfüllungsgehilfe. Wichtig warunser Grundgesetz, das dem Volks-willen entsprach.

Und die Reaktionen westdeutscherPolitiker? Sie Selbst haben damalsals einziger auf dem großen deutsch-landpolitischen wissenschaftlichenForum der Friedrich-Ebert-StiftungLafontaine wegen dessen Fehlein-schätzung der Lage, der falschenAnalyse, und der Verwechselung vonStaatsangehörigkeit und Selbstbe-stimmung des Volkes von Angesichtzu Angesicht grundsätzlich und poli-tisch widersprochen.

Ritter: Ja, das stimmt, LafontainesRolle war und blieb erbärmlich,auch weil er sich 1989 und 1990nahezu jeden Monat revidierenmusste. Sein Demokatie- und Na-tionbegriff passten weder theore-tisch noch praktisch zueinander.Aber auch viele andere in der Politikwaren völlig überrascht und hattenkeine der üblich abrufbaren Scha-blonen in ihrem persönlichen Zet-telkasten. Außer politischen Schwer-gewichten, wie Helmut Kohl, WillyBrandt, Wolfgang Schäuble undHans Dietrich Genscher, die schonvorher oder wieder auf die richtigenLeute hörten, war nicht viel zusehen. Sehr gute und kreative Bei-träge kamen zum Erstaunen manchwestdeutscher Zeitgenossen aus derjetzt freigewählten Volkskammerder DDR.

Sie haben 1989/90 nicht nur agiert,sondern sind auch beeinflusst wor-den?Ritter: Ja. 1989/90 war das schön-ste und aufregendste Jahr meinesLebens. Demokratie eins zu eins,also pur und zum anfassen: Vorallem mehr als ein ganzes Jahr langzu erleben, wie weit die Menschenin ganz Deutschland der Politik vor-aus waren, und dass das Volk denTakt und die Richtung der inner-deutschen und internationalen Poli-tik bestimmt und in ihren beidenHauptzielen ohne Abstriche durch-gesetzt hat.

Es gibt offensichtlich in Ost undWest noch immer Leute, die das bisheute so nicht wahrhaben wollenoder verdrängen.Ritter: Ja, das sind dieselben, dieschon vor der Wiedervereinigungunter Realitätsverlust gelitten ha-ben, oder etwas ganz anderes woll-ten und sich mit ihren politischenLebenslügen nicht auseinander set-zen. Am liebsten möchten sie auchnoch im Nachhinein den Ostdeut-schen die Revolution nicht gönnen,obwohl – oder weil? – dies die ein-zige erfolgreiche Revolution derdeutschen Geschichte war.

Aber das wurde schon in der Res-tauration nach der FranzösischenRevolution so versucht. Wir habenes hier mit Leuten zu tun, die sichfür links halten, im Grunde jedochstruktur-konservativ oder reaktionärsind.

Wir sind das Volk

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Gab es nicht auch andere Fakto-ren, die die Revolution begünstigthaben?

Ritter: Ja natürlich. Gelingende Re-volutionen sind immer auch günsti-gen Umständen zu verdanken. Derkaum zu schildernde geistig-mora-lische Niedergang, die katastrophaleökonomische und soziale Situationin der Sowjetunion und in der DDR.Glasnost, die Perestroika Gorbat-schows, die Eindeutigkeit der USA,unser Grundgesetz, die Anziehungs-kraft der Bundesrepublik und dieeuropäische Dimension. Ohne deneuropäischen Einigungsprozesswäre die deutsche Einheit nichtmöglich geworden. Die Freiheit undEinheit Deutschlands und Europassind zwei Seiten derselben Medaille.

Brauchen wir eine wahrhaftige Er-innerungskultur?Ritter: Die Wiedervereinigung inFreiheit war mehr als die Wiederver-einigung Deutschlands. Sie hat dasdunkelste Kapitel Europas geschlos-sen. Das prägende Jahrhundertereig-nis der deutschen und europäischenGeschichte war der Fall der Mauer.Das Volk wollte von Anfang an nichtmehr, die SED-Diktatur konnte jetztnicht mehr. Der Kommunismus, der„real existierende Sozialismus“,implodierten. Die Sowjetunion undder gesamte „Ostblock“ brachenzusammen; mit grundlegenden undanhaltenden Folgen auch für dieWeltpolitik. So viel Anfang war nie!Es ist Zeit und eine Frage unseresdemokratischen Selbstverständnis-ses, dass der im Jahre 2009 bevorste-

hende Jahrestag der friedlichen Re-volution in der DDR für uns alleAnlass und Aufforderung sein sollte,ein Denkmal für Einheit in Freiheitzu errichten, ein Denkmal auch derArt nach für etwas Neues inDeutschland und Europa, wie dasder frühere Vorsitzende der SDP-Fraktion der freigewählten Volks-kammer, Richard Schröder und eineparteiübergreifende Initiative seit1998 angeregt haben.

Was wollen wir unseren Kindern undJugendlichen erzählen, die die Jahre1989 und 1990 nicht erlebt haben? Ritter: Die Wahrheit! Was gäbe esTreffenderes für die demokratischeZukunft unseres Landes, als dassunsere Schüler lernen und nie ver-gessen: „Wir sind das Volk“!

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Neuerscheinungen

Antisemitische und nichtantisemitischeMotive der Israel-Kritik

Antisemitismus äußert sich heute nicht mehr primärüber Vorwürfe des „Gottesmordes“ oder der „Rassen-schande“. Vielmehr bietet die Kritik am Staat Israel undseiner Rolle im Nahost-Konflikt den inhaltlichen Be-zugsrahmen für einen „Neuen Antisemitismus“. Dessenideologische Grundlage besteht allerdings in jenen altenVorurteilen, welche lediglich im neuen Gewand auftre-ten. Diesem Thema widmet sich der Sammelband„Neu-alter Judenhass. Antisemitismus, arabisch-israe-lischer Konflikt und europäische Politik“, der von KlausFaber, Julius H. Schoeps und Sacha Stawski im Auftragdes Moses-Mendelssohn-Zentrums an der UniversitätPotsdam herausgegeben wurde. Er enthält 29 Aufsätzevon Journalisten (z.B Philipp Gessler), NGO-Vertretern(z.B. Anetta Kahane), Politikern (z.B. Cem Özdemir),Publizisten (z.B. Matthias Küntzel) und Wissenschaft-lern (z.B. Bassam Tibi) unterschiedlicher Glaubensrich-tung und Herkunft.

Aufgeteilt wurden die Texte in drei größere Kapitel:Zunächst geht es unter der Überschrift „DeutscheMedien und der Nahostkonflikt“ um antisemitischeBestandteile in der israelkritischen Presseberichterstat-tung, wobei die Auseinandersetzung vor allem anhandder einseitigen Kommentierung und Schwerpunktset-zung durch Journalisten und Politiker erfolgt. Dem fol-gen Beiträge unter dem Titel „Islamischer Antisemitis-mus in Nahost und Europa“, bezogen auf judenfeind-liche Auffassungen unter Muslimen in ihren Herkunfts-ländern wie in Europa. Und schließlich findet man unterdem Stichwort „Perspektiven“ Beiträge zur Bekämp-fung des Antisemitismus durch die EU, die OSZE unddie Zivilgesellschaft. Die Texte unterscheiden sich inLänge und Qualität, stehen doch wissenschaftlichenAufsätzen knappe Statements gegenüber.Da es sich um einen Sammelband mit unterschiedlichenAutoren und Themen handelt, kann von einem einheit-lichen Ergebnis der Veröffentlichung nicht gesprochenwerden. Die meisten Texte vertreten allerdings die Auf-fassung, dass sich der gegenwärtige Antisemitismushauptsächlich aus dem Nahost-Konflikt speise und inder damit verbundenen Israel-Kritik offen oder verdecktantisemitische Einstellungen zum Ausdruck kämen.Exemplarisch dafür steht der Beitrag von Yves Pallade,worin der Leiter des Deutschen Orient-Instituts UdoSteinbach aufgrund seiner behaupteten Gemeinsamkei-ten des Lebens der Juden im Warschauer Ghetto mitdem der Palästinenser in ihren Lagern in Richtung eines„sekundären Antisemitismus“ verortet wurde. Steinbach

Klaus Faber/Julius H. Schoeps/Sacha Stawski (Hrsg.):

Neu-alter JudenhassAntisemitismus, arabisch-israelischer Konflikt undeuropäische PolitikBerlin, 2. Auflage, 2007(Verlag für Berlin-Brandenburg), 432 S., 24,90 €

nutze, so der Autor, den Nahen Osten als Projektionsflä-che zur Entlastung der eigenen deutschen Vergangen-heit durch die Verharmlosung der Naziverbrechen unddie Schuldprojektion auf die Opfer und ihre Nachkom-men.Aufgrund der Unterschiede in Methoden, Qualität undThemen der einzelnen Beiträge lässt sich der Sammel-band nur schwer allgemein beurteilen. Nicht wenigeAutoren sehen in der Israel-Kritik einen zumindestlatenten Antisemitismus angelegt und begründen diesgut belegt und sachlich aufgearbeitet. Manche Textezeigen sich allerdings allzu einseitig von solchen Deu-tungen geprägt, etwa der Aufsatz von Tobias Kaufmannzu den sicherlich überzogenen Kommentaren von Nor-bert Blüm oder der Beitrag von Rolf Behrens über dieIsrael-Berichterstattung des Nachrichtenmagazins „DerSpiegel“. Weitaus differenzierter urteilt Sacha Stawski:Nach dessen Urteil seien die deutschen Medien nichtantisemitisch, gleichwohl fänden sich in deren Bericht-erstattung Tendenzen, welche bei den Lesern gewisseKlischees bestätigten. Sicherlich lässt sich hinter mancher Israel-Kritik eineantisemitische Motivation ausmachen, gleichwohl istdies nicht immer der Fall. Es bedarf einer Unterschei-dung zwischen antisemitischer und nicht-antisemiti-scher Israel-Kritik, woran es in manchen Beiträgen desSammelbandes mangelt. Hier hätten stärker die ideolo-gische Grundlage für die jeweils analysierten Ausfüh-rungen herausgearbeitet und nachgewiesen werdenmüssen. Jede dramatisierende und einseitige Kommen-tierung der Politik Israels verdient um der Sache willenKritik, nicht jede dramatisierende und einseitige Kom-mentierung der Politik Israels muss aber antisemitischmotiviert sein.

Armin Pfahl-Traughber

Eine Streitschrift gegen einen bedenklichenTrend

Irgendwann in den letzten Jahren wandelte sich dieEinstellung in Medien und Öffentlichkeit von einerpro-israelischen zu einer israel-kritischen Ausrichtung.Durchaus angemessene und diskussionswürdige Ein-wände gegen die Politik Tel Avis ignorierten dabeinicht selten die Sicherheitsinteressen des Staates Israelund dessen Bedrohung von den unterschiedlichstenSeiten. Gegen eine damit verbundene einseitige Sichtdes Nahost-Konflikts wendet sich der Historiker Yaa-cov Lozowick, Archivdirektor der israelischen Holo-

caust-Gedenkstätte Yad Vashem. In seinem Buch „Isra-els Existenzkampf. Eine moralische Verteidigung sei-ner Kriege“ schreibt er bereits im Vorwort: „Israel kannsich nicht darauf festlegen, niemals mehr Krieg zu füh-ren, da sich seine Feinde bereits für Krieg entscheidenhaben.“ Und weiter: „Die Entscheidung, jüdische Kin-der nicht zu beschützen mit dem Ziel, keine anderenKinder zu verletzen, ist unmoralisch“ (S. 8f.). DieseAusführungen und der Buchtitel machen deutlich: DerAutor will keine differenzierte und nüchterne Studiezum Nahost-Konflikt vorlegen, sondern versteht seinWerk als intellektuelle und moralische Legitimationder Politik Israels. Dessen Geschichte von den Anfängen des Zionismusüber die Staatsgründung und den Sieben-Tage-Krieg biszur Zeit der Intifada zieht sich durch die zehn Hauptka-pitel des Buches. Dabei verweist der Autor immer wie-der auf die existentielle Bedrohung: „Israel ist ein win-ziges Land, das jahrzehntelang von Feinden umgebenwar, die versucht haben, es zu zerstören“ (S. 162): Undfür die Gegenwart konstatiert er: „In der gesamten isla-mischen Welt, von Pakistan bis Marokko, haben Millio-nen von Menschen nichts anderes im Sinn als lauthalsden ‘Tod der Juden’ zu fordern“ (S. 19). Gerade dieseRahmensituation gerät mitunter bei manchen Verurtei-lungen der israelischen Politik in der Öffentlichkeitaußer Betracht. Somit liefert Lozowick eine Perspekti-ve, die bei der Darstellung und Kommentierung desNahost-Konflikts nicht selten fehlt. Diese Einseitigkeitkonfrontiert er mit seiner Einseitigkeit. Dabei enthältdie Streitschrift des Historikers keineswegs eine platteApologie. So kritisiert das Buch etwa durchaus dieisraelische Politik der 1980er Jahre als „Tiefpunkt“ undspricht von einer „nicht zu rechtfertigenden“ Beteili-gung am libanesischen Bürgerkrieg in jener Zeit. Auchbei der Kritik an den Apartheid- und Rassismusvorwür-fen an Israel neigt Lozowick nicht zur „Schönschrei-bung“ der Lage der israelischen Araber.Gleichwohl verdient das Buch auch Kritik, die sich nichtnur an seinem Charakter als Streitschrift ohne genauereBelege in Fußnoten erschöpft. Lozowick hätte die beste-henden Absichten zur Vernichtung des Staates Israel imarabischen und palästinensischen Lager noch weitausdeutlicher herausarbeiten können. Auch die kritische Aus-einandersetzung mit anders lautenden Darstellungen zurGeschichte des Nahost-Konfliktes, sei es durch die israe-lischen „Neuen Historiker“ oder den palästinensischenWissenschaftler Edward W. Said, hätte ausführlicher unddifferenzierter erfolgen können. Hinzu kommt, dass dieim Untertitel angekündigte „moralische Verteidigung“von Israels Krieg nur am Rande erfolgt. Sicher, Lozowickist Historiker und kein Moralphilosoph, gleichwohl darfman hier doch eine stärker differenzierte und systemati-sierte Auseinandersetzung mit der Legitimation des israe-lischen Vorgehens erwarten. So gerät das Buch zu großenTeilen zu einer schlichten Nacherzählung der historischenEreignisse, ab und an angereichert um einschlägige Kom-mentare. Dass dabei manche historischen Mythen kriti-siert werden, ist verdienstvoll. Aber auch hier wärengenauere Analysen und Belege wünschenswert gewesen.Kurzum, ein beachtenswertes und reflexionswürdigesBuch mit einigen analytischen Schwächen.

Armin Pfahl-Traughber

Neuerscheinungen

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Yaacov Lozowick:

Israels ExistenzkampfEine moralische Verteidigung seiner KriegeHamburg 2006, 340 S., 19,90 €

Die Jenaer „Szene“

Die Filmemacherin und Schriftstellerin Freya Klier, die1988 die DDR wegen ihrer als oppositionell empfunde-nen Aktivitäten verlassen musste, hat ein ungewöhnli-ches Buch geschrieben. Sie schildert mit viel Einfüh-lungsvermögen das Aufbegehren Jenaer Jugendlicher inden siebziger und achtziger Jahren. Im Mittelpunkt stehtder 1981 unter ungeklärten Umständen verstorbeneMatthias Domaschk, der im Juni 2007 fünfzig Jahre altgeworden wäre.Die anschaulich bebilderte Fibel läßt Freunde vonDomaschk immer wieder ausführlich zu Wort kommen,so etwa die Freundin Renate Groß, so Peter Rösch, sei-nen besten Freund, so Roland Jahn, der nach dem Todevon Domaschk seine oppositionelle Tätigkeit intensi-vierte. Freya Klier fängt gut den muffig-grauen Lebens-alltag ein, gegen den Jugendliche aufbegehrten. In Thü-ringen entsteht unter dem Pastor Walter SchillingAnfang der siebziger Jahre die „Offene Arbeit“. Mit„Offenheit“ ist gemeint, dass nicht nur die Mitgliederder Jungen Gemeinde zusammenkommen, sondernauch gesellschaftliche Außenseiter wie Wehrdienstver-weigerer. „Arbeit“ bezieht sich u.a. auf soziale Projekte.Der Jugend-Diakon Thomas Auerbach ist der Kopf die-ser Aktivitäten in Jena. Peter Rösch schildert seinedamaligen Erfahrungen: „Wir waren Jugendliche mitlangen Haaren… Jugendliche, die vom sozialistischenSystem nicht angenommen wurden. Wir konnten unse-re Lebensvorstellungen nicht verwirklichen, nicht ein-mal darüber diskutieren. Und da war auf einmal die JG[Junge Gemeinde], dort wurde Rockmusik abgespielt,die in der DDR verboten war, wie die Rolling Stonesz.B. – auf einem steinalten Röhrentonband übrigens.Über Themen sprachen wir, die im Sozialismus tabuwaren, wie z.B. Wehrdienstverweigerung. Wir disku-tierten, wie man sich gegen den Rüstungswahn wehrenkönnte und als Lehrling gegen die vormilitärische Aus-bildung.“Matthias Domaschk wird dank seiner Mutter konfir-miert – gegen den Willen des Vaters, eines SED-Mit-glieds. Allmählich wächst er in die aufmüpfige Jenaer„Szene“ hinein. 1975 verliebt sich der gerade 18jährigein die sechs Jahre ältere Vikarin Renate Groß, die vonihm bald ein Kind erwartet.Die Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976führt auch zu einer Protestresolution in der Jenaer„Szene“. Zu den Verhafteten zählt u.a. MatthiasDomaschk, dem die Staatssicherheit Angst einzuflößensucht: „Matthias schweigt bei den Verhören – so, wie erdas von Jürgen Fuchs gelernt hat. Was er nicht weiß:Seine kurz vor der Entbindung stehende Freundin wurdenach ein paar Stunden Verhör von der Stasi entlassen.[…] Als er nach etlichen Verhörstunden noch immer

nicht geredet hat, lässt sein Vernehmer draußen ein Ton-band laufen, mit Frauenschreien… Diese Schreie kom-men aus Richtung des Raumes, in den mittags seinehochschwangere Freundin Renate gesteckt worden war.Was machen sie mit ihr? Kommt das Kind auf die Welt– hier, bei der Stasi? Matthias verliert völlig die Nerven,er bricht innerlich zusammen, fängt an zu reden…“„Zersetzungsmaßnahmen“ schwächen das Jenaer Pro-testpotential. Matthias Domaschk kann zwar seineLehre als Feinmechaniker beenden, doch nicht dasAbitur erwerben – vier Wochen vor den mündlichenPrüfungen wird er wegen „gesellschaftlicher Unreife“,wie es heißt, von der Schule verwiesen. Gleichwohlgeht Domaschk zur Nationalen Volksarmee, wo derDrill seine Ablehnung gegenüber dem Staat steigert. Ersehnt sich nach seiner Tochter. Die enge Verbindung zurMutter ist mittlerweile beendet.Nach der Militärzeit kehrt Matthias Domaschk in seinevertrauten Kreise zurück, obwohl die aufrührerische„Szene“ durch die Biermann-Ausbürgerung ausgedünntist, teils freiwillig, teils unfreiwillig. Domaschk be-kommt Kontakt zur Solidarnosc. Auf einer Zugfahrtnach Berlin nimmt die Staatssicherheit ihn und seinenFreund Peter Rösch völlig überraschend fest. Ein Spitzelhatte berichtet, der Sympathisant der polnischen Ge-werkschaftsbewegung plane einen Anschlag. Beide wer-den in das Geraer Gefängnis der Staatssicherheitgebracht und von ihr getrennt verhört. Während PeterRösch am nächsten Vormittag freikommt, ist MatthiasDomaschk tot. Er habe sich an einem Leitungsrohrerhängt.Die Analyse der Ursache des Todes ist der einzigeSchwachpunkt des Buches. Klier hält einen Unfall fürmöglich, einen Fausthieb des Vernehmers, eine Provo-kation. Die wahrscheinlichste Variante – Selbstmord –taucht bei ihr nicht auf. Hatte Domaschk die Trennungvon der inzwischen im Westen lebenden Mutter seinesKindes nicht verkraftet? War er im Verhör redseliggeworden und schämte er sich danach, weil er eine Ver-pflichtungserklärung für die Staatssicherheit, was Kliernicht erwähnt, unterschrieben hatte? Hatte ihn dieDrangsalierung durch die Staatssicherheit zermürbt?Untersuchungen nach der friedlichen Revolution lassennicht auf ein direktes Verschulden der Staatssicherheitschließen. Ein Prozeß im Jahre 2000 bestraft die Offi-ziere der Staatssicherheit wegen Freiheitsberaubung zuGeldstrafen. Freya Klier nennt an anderer Stelle selbstein mögliches Motiv: „Viele der Zurückgebliebenenhaben die Erfahrungen mit der brutalen Staatsmachtnicht verkraftet. Und die Zersetzungsmaßnahmen haltenan… sie sind perfider geworden. Manch einer hält dasLeben gar nicht mehr aus. Für die Zeit zwischen 1977und 1983 werden die meisten Fälle von Selbstmord imUmfeld der Jenaer Jungen Gemeinde registriert.“Die Freunde von „Matz“, wie sie ihn nennen, glaubennicht an Selbstmord. Peter Rösch, sein Kumpel, „Hard-liner“ in der Szene, leidet nach dessen Tod unterDepressionen und geht bald in den Westen. Ein Jahrnach Domaschks Ableben läßt Roland Jahn Todesanzei-gen in die Zeitungen setzen. Er besorgt sich zahlreicheExemplare, schneidet die Anzeigen aus und klebt sie ingroßer Anzahl an Lichtmasten. Informationen überdiese Aktion gelangen in die Westmedien.

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Freya Klier:

Matthias Domaschk undder Jenaer Widerstandherausgegeben vom Bürgerbüro Berlin,Berlin 2007, 143 S., 8,00 €

Roland Jahn sitzt wegen anderer Aktionen im Gefängnis,wird zu 22 Monaten Haft verurteilt und dann – aufgrundder Proteste – schnell in den Westen abgeschoben, vonwo er als Journalist über die „feindlich-negative Szene“,wie es im Jargon der Staatssicherheit heißt, intensivberichtet, auch über Matthias Domaschk. Seine Hilfsak-tionen für die alternative Szene sind legendär. Rösch undJahn, ebenso andere, werden selbst im Westen von derStasi bespitzelt.Freya Klier hat den Widerständigen von Jena Mitte dersiebziger bis Mitte der achtziger Jahre einerseits einDenkmal gesetzt. Das geschieht unaufdringlich undgerade deshalb so überzeugend. Andererseits wendet siesich damit gegen eine Verklärung der kommunistischenDiktatur. Es war nicht einfach, sich gegen die staat-lichen Zumutungen zu behaupten. Manch einer ist daranzerbrochen. Auch wenn der Tod Domaschks auf Selbst-mord zurückgehen dürfte, so ist die Staatssicherheitgleichwohl nicht unschuldig daran.

Eckhard JesseDer Rezensentist gebürtiger Sachse und hat seit 1993 den Lehrstuhlfür „Politische Systeme, politische Institutionen“ imFach Politikwissenschaft an der Chemnitzer Universitätinne. Eckhard Jesse gehört u.a. den WissenschaftlichenBeiräten der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Dikta-tur und der Stiftung Ettersberg an. Der Mitherausgeberdes Jahrbuches Extremismus & Demokratie hat zumThema der Rezension zuletzt das folgende Buch heraus-gegeben: Friedliche Revolution und Wiedervereini-gung. Sächsische Bürgerrechtler ziehen Bilanz, Berlin2006 (Ch. Links Verlag).

„ – doch ich fühle mich wesentlich freier,und das ist das Entscheidende.“

Fortsetzung folgt, so heißt es oft. Im vorliegenden Fallehat man geradezu darauf gewartet. Der seinerzeit zuklammheimlicher Berühmtheit gelangte Bildband „Ost-Berlin“ von Harald Hauswald und Lutz Rathenow ausdem Jahre 1987 (vgl. hierzu auch FREIHEIT UNDRECHT; September 2006/3, S. 21) erhielt nun sein Pen-dant, das den Bezug zur Gegenwart herstellt. Für dasaußerordentlich vielfältige Bildmaterial ging Hauswalddiesmal über Berlin hinaus – und tief in sein vermutlichunerschöpfliches Archiv hinein –, denn auch in der ost-deutschen Provinz gab und gibt es viel zu entdecken.Und den einen oder alten „Bekannten“ aus dem frühe-ren Band trifft man wieder.

Erfreulich die unverwechselbaren, eben typisch Rathe-nowschen Zwischentexte, die es nicht an subtiler Kritikgegenüber Ostalgikern aus Ost und West fehlen lassen.Er lässt sich aus über den Begriff „Wende“, der demBuch den Titel gab, und erklärt, warum dieser nichtwirklich auf die Ereignisse von 1989 zutrifft, er ihn aberdennoch benutzt. Wie viel DDR steckt noch im Osten Deutschlands?Ganz Berlin ist „verostet“, meint Rathenow, trotz desUmbruchs, der ja eigentlich das Gegenteil bewirkensollte. Aber es geht hier nicht um Nachklänge des ver-hassten System, sondern es sind die Menschen, die ihreLebensart, ihre Gewohnheiten mit sich herumschleppenund verbreiten, wie Hauswalds Bilder bezeugen, dieseGemengelage von Vitalität und Trotz, die sie so schnellnicht ablegen können und vielleicht auch gar nicht soll-ten, denn es gibt noch viel zu tun. Manches – so wähnen die Autoren – hat sich vielleichtnicht verbessert, nur verändert. So wie früher von Paro-len wird man jetzt von Werbung überschüttet. „DasLeben ist für mich nicht leichter geworden seit der Mau-eröffnung“, meint der Fotograf Hauswald, der sonst, wieer selbst anmerkt, das Schreiben lieber anderen überlässt,in einem kurzen Epilog, „– doch ich fühle mich wesent-lich freier, und das ist das Entscheidende.“ Recht hat er,und prägnanter kann man es kaum ausdrücken.

Barbara Szkibik

„Kaderschmiede“ Parteihochschule

Wie kein anderer hat Hermann Weber, der „Nestor derdeutschen Kommunismus-Forschung“, die Geschichteund Entwicklung der DDR analysiert. Bis 1989 läutetenin Ost-Berlin jedes Mal die „Alarmglocken“, wenn der1928 geborene und 1993 emeritierte Ordinarius fürPolitische Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Uni-versität Mannheim, seiner Heimatstadt, eine neue Publi-kation ankündigte. Seine Wortmeldungen führten in derDDR-Historiographie zu hektischen Stellungnahmenim Parteiauftrag. Seine Schriften wurden „wie Zyan-kali im Giftschrank“ verwahrt. Über Jahrzehnte hinwegwurde Weber durch die SED und ihre wissenschaft-lichen Kostgänger angegriffen, verleumdet und verun-glimpft: die Verketzerung eines „Renegaten“. Seit sei-ner Abkehr vom Stalinismus hat Weber ein wissen-schaftliches Werk hinterlassen, das – weil es auch fürden politisch und zeithistorisch interessierten Laien les-bar war – das „SED-Feindbild Hermann Weber“begründete.

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Hermann Weber:

Damals, als ich Wunderlich hießVom Parteihochschüler zum kritischen Sozialisten.Die SED-Parteihochschule „Karl Marx“ bis 1949Berlin 2002 (Aufbau Verlag), 445 S., 25,00 €

Harald Hauswald/Lutz Rathenow:

GewendetVor und nach dem Mauerfall:Fotos und Texte aus dem OstenBerlin 2006 (Jaron Verlag) 120 S.

Zu Webers bekanntesten Büchern zählen: „Schein undWirklichkeit in der DDR. 65 Fragen an die SED“(1958), „Von Rosa Luxemburg zu Walter Ulbricht”(1961), „Ulbricht fälscht Geschichte“ (1964), „Von derSBZ zur DDR“ und weitere Bände zur Geschichte derDDR, „Die Wandlung des deutschen Kommunismus.Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik“(2 Bde. 1969), „Weiße Flecken in der Geschichte. DieKPD-Opfer der Stalinschen Säuberungen und ihreRehabilitierung“ (1989) und nicht zuletzt das 679 Seitenumfassende, bis heute in der Alltagspraxis politischerBildungsarbeit verwendbare kommentierende Doku-mentenwerk „Der deutsche Kommunismus“ (1963). 2002 erschien sein autobiographisches Werk „Damals,als ich Wunderlich hieß“, in dem er seine Zeit als west-deutscher Student unter dem von der Parteileitung zuge-teilten Decknamen „Hermann Wunderlich“ an der Par-teihochschule „Karl Marx“ in Liebenwalde und späterin Kleinmachnow bei Berlin von 1947 bis 1949 schil-dert. Zu seinen Dozenten gehörten Victor Stern, AntonAckermann und Hermann Duncker. Der junge Weberlernt Ulbricht und Pieck, Grotewohl und den sowjeti-schen Oberst Tulpanow als Vortragende kennen – auchWolfgang Leonhard, der zu jener Zeit der jüngste Leh-rer an der Parteihochschule war und von dem HermannWeber noch nicht ahnen konnte, dass er ihn einige Jahrespäter auf dem Boden der Bundesrepublik „zum zwei-ten Mal“, nun aber wirklich, kennen lernen sollte.Weber gelingt eine Synthese aus Privatem und Politi-schem. Den ersten Zweijahreslehrgang an der geradegegründeten Parteihochschule beschreibt und bewerteter aus einer doppelten Sicht: als Zeitzeuge und als Wis-senschaftler. Geradezu spannend zu lesen sind dieErlebnisse mit Dozenten und Mitkursanten und dieSchilderung ihrer Lebensläufe. Es werden lexikalischeInformationen mit der politischen Entwicklung aufgroßartige Weise verbunden. Nachempfunden wird dieFaszinationskraft der kommunistischen Ideenwelt, bisDenunziation und „Selbstkritik“ den Alltag bestimmenund der „primitive Stalinismus“ sich entwickelt.Beklemmend sind die menschlichen Tragödien selbstvon Veteranen der Arbeiterbewegung, die Opfer im bru-talen System des Stalinismus wurden.Webers genaue und detailreiche Erinnerungen, ergänztdurch regen Austausch mit Beteiligten und Wegbeglei-tern einschließlich seiner Frau Gerda, die er damals, alser Wunderlich hieß, kennen gelernt hat, lassen denLeser hinter die Fassade eines Systems schauen, dassich später selbst als „real existierender Sozialismus“charakterisierte, in Wirklichkeit aber eine Diktatur war,die gemäß ihrer „Logik“ alle humanen Grundsätze desals typisch moderne westliche Strömung zu verstehen-den und ebenso wie der Liberalismus in der europäi-schen Aufklärung gründenden Sozialismus mit Füßentrat. Eingebettet in treffliche Beschreibungen von Per-sonen und Bewertung ihres Auftretens und Handelnsdurch den Chronisten Weber analysiert der HistorikerWeber die politischen Entwicklungen: die Verteufelungund Verfolgung der Sozialdemokratie durch die SED,die Spaltung Deutschlands und die Gründung der DDR,die frühen Weichenstellungen für die Umwandlung derSED in eine „Partei neuen Typs“ nach leninistisch-stali-nistischem Vorbild, aber auch das Nachbeben nach dem

„Donnerschlag“ der lebensgefährlichen Flucht vonWolfgang Leonhard nach Jugoslawien im Frühjahr 1949.Als Weber 1949 nach zwei Jahren Studium die Partei-hochschule verließ, hatte sich deren Charakter gründ-lich verändert. Es wurde „parteilich“ indoktriniert, „umden folgsamen Parteisoldaten zu erziehen, der alleBefehle von oben verinnerlicht und nach unten durch-setzt“: „Zweifel, Zivilcourage oder Toleranz waren fürSED-Studenten negativ besetzte Begriffe, Erziehungs-ziele waren Gläubigkeit, Unterordnung und Freund-Feind-Denken. Das Verbiegen bis hin zum Zerbrechendes politischen Rückgrats führte zur freiwilligen, mög-lichst sogar überzeugten Einordnung des Individuumsin das Kollektiv. Dies endete in der Anerkennung desDogmas: „Die Partei hat immer recht“, was konkret dieAkzeptanz der „Unfehlbarkeit“ der jeweiligen Partei-führung bedeutete. Diese stalinistischen Grundsätze von1949 bestimmten dann vierzig Jahre lang die Praxis derSED-Parteihochschule „Karl Marx“. Obwohl von der SED anders gelehrt, hat der junge Her-mann Weber schon in Kleinmachnow begriffen, „dassdie so notwendige bessere, sozial gerechte, friedlicheund solidarische Welt niemals durch eine Diktatur zuerreichen ist, sondern nur auf dem mühsamen Weg derReformen in der Demokratie gelingen kann.“Dass das Wissen über die DDR und die Geschichte vonDiktatur und Demokratie ungeheuer gewachsen ist,haben wir Zeitzeugen und Wissenschaftlern wie Her-mann Weber zu verdanken.

Hans-Jürgen Grasemann

Wetterleuchten am Horizont der Freiheit

In Deutschland hat es lange gedauert, bis der Name„Workuta“ als Inbegriff des GULag ins öffentlicheBewusstsein gedrungen ist, obwohl doch bei der gleich-lautenden Jahreszahl des Juni-Aufstandes in der DDRund des Aufstandes der politischen Häftlinge in denZwangsarbeitslagern an der nordrussischen Eismeer-küste gerade in Deutschland alle Antennen ausfahrenmüssten. So blieb das frühe Buch „Workuta. Erinnerungohne Angst“ (München 1993), verfasst vom „Vorreiter“Horst Schüler, dem als erstem deutschen Journalistenund zugleich Betroffenen 1992 eine Reise ins Gebietder ehemaligen „Besserungsarbeitslager“ erlaubt wor-den war, zunächst verhältnismäßig unbekannt. Heute hat sich die „Marktlage“ geändert. Intensiv darangearbeitet haben die „Workutaner“ selbst, unter ihnen

Neuerscheinungen

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Wladislaw Hedeler, Horst Hennig:

Schwarze Pyramiden,rote SklavenDer Streik in Workuta im Sommer 1953Leipzig 2007 (Leipziger Universitätsverlag)ca. 220 S.

bedeutende Publizisten, Wissenschaftler, Unternehmer– Menschen, die gelernt haben, wie man in der freienpluralistischen „Spaß“- und Mediengesellschaft einThema unter die Leute bringt. So wirken sie zugleichfür alle übrigen Haftkameraden und durchaus im Inter-esse aller Gruppen von Opfern des immer noch unfass-baren spezifischen Wahnsinns der Diktaturen des 20.Jahrhunderts, ohne sich von bisweilen subtil kalkulier-ten Anfeindungen oder auch ganz plumpen Provokatio-nen ablenken zu lassen.Die Herausgeber des in der Fertigstellung befindlichenBuches „Schwarze Pyramiden, rote Sklaven“ knüpfenan die 2003 und 2004 im Leipziger Universitätsverlagveröffentlichten Dokumentationen „Begegnungen inWorkuta“ (vgl. auch: FREIHEIT UND RECHT, Juni2004/2, S. 31) und „Zwischen Bautzen und Workuta“an. Eine Fülle neuer Forschungsergebnisse, darunter diein unseren Augen schockierend offenen Originalberich-te der regional Zuständigen in Workuta an die Moskau-er Zentrale, werden nicht nur die überlebenden einsti-gen Häftlinge und die Historiker interessieren. HorstHennig, der das eigene Erleben aus dem GULag nörd-lich des Polarkreises in die Waagschale werfen kann,und der Historiker Wladislaw Hedeler stellen eineChronik jener Ereignisse des Sommers 1953 vor, mitdenen das Lager mit der Nummer 10 Geschichte produ-zierte: der um die Monatswende Juli/August zum Auf-stand mutierte Streik, dem die Bewacher noch mit Waf-fengewalt beizukommen glaubten. Seine blutige Nie-derschlagung kostete das Leben von 62 Häftlingen undforderte die doppelte Zahl von Verwundeten. Nach Stalins Tod und Berijas Hinrichtung hatte die neue„kollektive Führung“ auch den Armeegeneral Iwan I.Maslennikow, stellv. Innenminister der Sowjetunion,Mitglied des ZK der KPdSU und Kandidat des Politbü-ros, auf die Abschussliste gesetzt. Dass ihm kurzfristigdie oberste Zuständigkeit für „Workuta“ übertragenworden war, zeigte, dass der GULag für den „Kremlohne Stalin“ zum schädlichen Ballast geworden war.Der Aufstand und seine blutige Niederschlagung pass-ten den neuen Kremlherren nicht in den Kram. Berija-Mann Masslennikow erschoss sich am 16. April 1954 inMoskau. Damals ahnten viele Zeitgenossen, heute wissen wir:Der frühe Anfang vom späten Ende des kommunisti-schen Machtsystems war eingeläutet. Die Initialzün-dung von Workuta griff auf andere Lager des GULagüber. Und es folgte noch weit mehr: 1956, das „Hoff-nungs- und Krisenjahr“ in Europa, Aufstände in Polen,Ungarn und weiteren Regionen Ostmitteleuropas, einwidersprüchlicher, zwar auftrittsstarker, aber auch zurSelbstüberschätzung neigender Chruschtschow, der mitseinen Enthüllungen zum Stalin-Terror in vorsichtigenkleinen Dosen begann und mit der Niederschlagung derAufstände „zu weit gehende“ Auswirkungen seinereigenen Experimente rückgängig zu machen suchte.Unterbrochen von Rückschlägen und Stillständen gingdie unregelmäßig wellenförmig, auf Mitteleuropafokussierte Entwicklung weiter – der Prager Frühling,immer wieder Unruhen und Aufstände in Polen, dannschließlich 1989 Warschau, Budapest, Leipzig, Fall derMauer, Prag, Sofia, Bukarest – bis endlich das Herr-schaftssystem des Kommunismus in Europa zerbrochen

war. Der Name „Workuta“ steht damit seit 1953 auchfür das „erste Wetterleuchten am geschichtlichen Hori-zont der Freiheit“ (Karl Wilhelm Fricke). Vorgestellt wird die Neuerscheinung am 17. Septemberin Berlin (s. Seite 2). Das Buch genießt bereits im Vorfeld des Erscheinenseine beachtenswerte Nachfrage. Das könnte auf eingestiegenes Interesse am Thema, auch an der Gesamt-thematik des Kommunismus hindeuten. Viele Gesprä-che lassen erkennen, dass junge Menschen wissen wol-len, was vor ihrer Geburt gewesen ist, wie erwachseneMenschen als „Masse“ dazu gebracht werden konnten,sich wie Schafherden behandeln zu lassen („Du bistnichts, Dein Volk ist alles“ oder: „Die Partei hat immerRecht“) und Massenmördern wie Hitler und Stalinzuzujubeln.

Jürgen Maruhn

Sicherheitspolitik und Menschenrechte

Angesichts der Produktpalette zur Kriminalitäts- undTerrorismusbekämpfung, die der Gesetzgeber in denletzten Jahren vorgelegt hat („Sicherheitspakete“), istdas Instrumentarium der Ermächtigungsgrundlagen inder Strafprozessordnung, den Polizeigesetzen und denSpezialnormierungen selbst für Juristen kaum nochüberschaubar. Für die Handlungsformen der Sicherheits-behörden ist deshalb eine juristische Orientierungshilfedringend erforderlich. Diese bietet das in 2. Auflageerschienene und durch die Mitwirkung von renommier-ten Autorinnen und Autoren thematisch erheblich erwei-terte „Handbuch zum Recht der Inneren Sicherheit“.Deutschland zählt zwar zu den sichersten Ländern derWelt , worauf Bundesinnenminister Wolfgang Schäublebei der Vorstellung des Sicherheitsberichts der Bundes-regierung 2006 und der Polizeilichen Kriminalstatistikim Mai 2007 hingewiesen hat. Dennoch glauben vieleBürger, dass die Kriminalität dramatisch wachse unddas Leben durch terroristische Anschläge immer gefähr-licher werde. Weil „gefühlte“ Angst politische Relevanzhat, findet die politische Formel, wer mehr Sicherheitwill, muss weniger Freiheit akzeptieren, schnell Zu-stimmung.Freilich ist der reale Zugewinn an Sicherheit durch dieverabschiedeten Gesetze trotz der Versprechen der Poli-tik selten anhand rationaler Kriterien zu messen. ZumPolitikmarketing gehört es deshalb, das Ausbleiben vonTerroranschlägen in Deutschland als Beleg für den

Neuerscheinungen

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Frederik Roggan, Martin Kutscha (Hrsg.):

Handbuch zum Rechtder Inneren Sicherheit2. Auflage Berlin 2006Berliner Wissenschafts-Verlag608 S., geb. 59,00 €

Erfolg der Antiterrorismus-Gesetzgebung anzuführen,um zugleich noch mehr Befugnisse für die Sicherheits-behörden zu fordern. Werden durch die dogmatische Konstruktion eines„Grundrechts auf Sicherheit“ Eingriffe des Staates indie Freiheitsrechte des Grundgesetzes legitimiert?Gewinnt vor dem Hintergrund der stetig wachsendentechnischen Möglichkeiten der Überwachungsstaat angesetzlichen Konturen? Mutiert der Bürger in denAugen der Gesetzgeber in Bund und Ländern de factozum Sicherheitsrisiko? Kann man das Fernmeldege-heimnis tatsächlich „getrost als Totalverlust abschrei-ben“? Zeigt sich bereits das „Gesicht des Totalitaris-mus“, wenn die Anwendung von Folter und derenAndrohung zur Rettung des vom Straftäter bedrohtenOpfers Befürworter finden? Ist das „Recht auf daten-freie Fahrt“ durch die in Polizeigesetzen geregelte auto-matisierte Kfz-Kennzeichenerkennung aufgehoben? Istder Glaube an die Unfehlbarkeit des DNA-Analyse-Ergebnisses berechtigt?Diese und andere Fragen beantworten die Herausgeberund die übrigen Autoren und Autorinnen des „Hand-buchs zum Recht der Inneren Sicherheit“ auch für denjuristischen Laien verständlich und anschaulich. DieFülle der ausgewerteten wissenschaftlichen Literaturund Rechtsprechung einschließlich der weiterführendenHinweise ist beeindruckend. Obwohl das „Handbuch“nicht die gesamte Materie der Inneren Sicherheiterschließt, bleiben für den aktuellen politischen Diskurskaum Problemfelder ausgespart. Nachschlagen kann derLeser Ausführungen zum Luftsicherheitsgesetz, zurTelekommunikationsüberwachung, zur Raster- undSchleierfahndung, zur Beobachtung der OrganisiertenKriminalität durch die Verfassungsschutzbehörden, zurAusweitung der Aufgaben und Befugnisse der Nachrich-tendienste nach dem Terrorismusbekämpfungsgesetz.Ausführlich werden die Datenübermittlungen zwischenPolizei, Strafverfolgungsbehörden und Nachrichten-diensten dargestellt. Das Kapitel „Europäisierung desRechts der Inneren Sicherheit“ führt den Leser ein indas Schengener Informationssystem, das SchengenerDurchführungsübereinkommen, die Aufgaben vonEUROPOL und die Regelungen von Nacheilen, Obser-vationen und Verdeckten Ermittlern. Die Wertung derVerfasser, dass durch den Abbau der Binnengrenzkon-

trollen kein Sicherheitsverlust eingetreten sei, wirdnicht unwidersprochen bleiben.Wer Sicherheit nicht wie die Freiheit als Rechtsgut ver-steht, sondern als Bedingung der Möglichkeit von Frei-heit und sich gegen die Scheinalternative „Sicherheitoder Freiheit“ wendet, findet in dem Handbuch eineüberzeugende Bestätigung seiner Grundthesen, nichtzuletzt durch die Wiedergabe jener Entscheidungen desBundesverfassungsgerichts, in denen deutlich wird,dass Innere Sicherheit nicht nur durch den Staat herge-stellt werden kann, sondern auch im Schutz vor demStaat bestehen kann. Insoweit ist das im Berliner Wis-senschafts-Verlag erschienene Werk ein „Beitrag zumVerfassungsschutz in des Wortes ursprünglicher Bedeu-tung, zu einer Kultur innerer Sicherheit, die im Interes-se freier Persönlichkeitsentfaltung die Errungenschaftender europäischen Aufklärung auch angesichts der ge-waltigen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts be-wahrt“ (Roggan und Kutscha im Vorwort).

Hans-Jürgen Grasemann

Neuerscheinungen

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Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe 01. 11. 2007

So lang der Vorrat reichtVon der DVD „Demokratie braucht Demokraten“ ist noch ein Restbestand vorrätig. Die Lese-rinnen und Leser von FREIHEIT UND RECHT (s. auch Ausgabe Juni 2007/2, S. 10) sind zurkostenfreien Bestellung eingeladen. Telefon: 089/1576813: Bitte sprechen Sie Adresse undTelefonnummer deutlich auf die Nachrichten-Box.