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Zehn Jahre Behindertengleichstellungsgesetz Stand und Perspektiven Barbara Vieweg Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V.- ISL Fachtagung des Deutschen Vereins am 11. Februar 2013

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Zehn Jahre Behindertengleichstellungsgesetz

Stand und Perspektiven

Barbara ViewegInteressenvertretung Selbstbestimmt Leben in

Deutschland e.V.- ISL

Fachtagung des Deutschen Vereins am 11. Februar 2013

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Gliederung

1) Entstehungsgeschichte2) Behindertengleichstellungsgesetz3) Ein Blick auf die Bundesländer4) Kurzes Fazit5) Forderungen auf Grundlage der UN-

Konvention

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Wie war die Situation?• Unter fehlender Barrierefreiheit wurde zunächst

vor allem die architektonische Zugänglichkeit in öffentlichen Gebäuden verstanden

• Zugänglicher ÖPNV• Jede Verbesserung wurde meist nur durch

intensiven Einsatz einzelner Personen oder Gruppen erreicht

• Urteile von Reisenden, die erfolgreich gegen die Anwesenheit behinderter Menschen am Urlaubsort klagte

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1983

Nichts ist für mich als Rollstuhlfahrerin ein größeresProblem als meine mangelnde Mobilität. Ich habe kein eigenes Autound werde auch keinen Führerschein machen können. Ich möchte aberauch die Möglichkeit haben, dahin zu kommen, wo ich will, und diesauch spontan. Eine Fahrt mit dem Behinderten-Taxi muß ich 14 Tagevorher anmelden, und außerdem darf ich es höchstens zweimal proWoche beanspruchen. Das Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel ist fürGehbehinderte schwierig und für Rollstuhlfahrer fast unmöglich. Ichmuß bei jeder Stufe jemanden ansprechen und um Hilfe bitten. Mitöffentlichen Verkehrsmitteln von Hamburg-Harburg nach HamburgDammtor zu fahren, bedeutet für mich 11mal eine fremde PersonAnzusprechen.

Daniels, Susanne von u.a. (Hrsg.): "Krüppel-Tribunal. Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat", 1. Auflage, Köln 1983

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1991 Düsseldorfer AppellInitiativkreis Gleichstellung Behinderter - erstmals die Forderung nach einem Behindertengleichstellungsgesetz:

„ Die unterzeichnenden Einzelpersonen, Organisationen und Verbände fordern eine grundlegende Verbesserung der Situation Behinderter in den alten und neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Behinderte Menschen müssen mit wirksamen, einklagbaren Rechten ausgestattet werden, die sie vor Diskriminierungen schützen. Diese Schutzrechte sollen unter dem Dach eines umfassenden Gleichstellungs-bzw. Antidiskriminierungsgesetzes zusammengefasst werden, das als Rahmengesetz die Gleichstellungsansprüche auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen regelt.“

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Vorbild USA

1990 Americans withDisability Act

� Anwendung auch im privaten Bereich� Fristenregelung bis wann Barrierefreiheit

hergestellt werden muss� Verbot von Diskriminierungen� ganzheitliche Ausrichtung, berücksichtigt alle

Behinderungen

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Ziel: eine Grundgesetzänderung

Menschen mit Behinderungen Vor Diskriminierung schützen Artikel 3 Absatz 3 Satz 2

„Niemand darf wegen seinerBehinderung benachteiligtwerden.“

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Diskriminierungsverbot im Grundgesetz

• Nach dem großen Erfolg zeigt sich bereits kurze Zeit später, dass das Verbot im Grundgesetz nicht zu einklagbaren Rechtsansprüchen führte

• Forderung nach einem Gleichstellung- und Antidiskriminierungsgesetz

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Test eines Niederflurbusses in Jena 1993

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Blindenleitsystem 1993

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Europäischer Protesttag für Gleichstellung und Antidiskriminierung 1996 in Erfurt – Eine schönes Wochenende mit der Bahn

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Versprochen ist versprochen, Gleichstellungsgesetz jetzt

2001

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2002 BGG

Definition von Barrierefreiheit § 4„ Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen,

Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind. „

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Symbolische RegelungenHorst Frehe

Erheblicher Erfolg in folgenden Bereichen:� behinderte Menschen nicht nur fürsorglich

versorgt, sondern diskriminiert werden� dass der Ausschluss aus Teilhabe-, Mobilitäts-

und Kommunikationsmöglichkeiten eine Diskriminierung und nicht Folge der Schädigung ist,

� das mangelnde Barrierefreiheit eine Form der Benachteiligung und Maßnahmen zu ihrer Herstellung keine milden Gaben, sondern eine gesellschaftliche Verpflichtung sind

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Symbolische RegelungenHorst Frehe

� die Gebärdensprache nicht ein hilfloses Herumfuchteln, sondern eine eigenständige Sprach ist

� dass behinderte Frauen in besonderer Weise durch sexualisierte Gewalt oder tradierte Rollenbilder benachteiligt werden

�Wesentlicher Beitrag zur Veränderung des Behindertenbildes in der Öffentlichkeit

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Weiterentwicklung des Begriffs Barrierefreiheit

Auf die jeweiligen Anwendungsbereiche Bau, Technik, elektronische Codes, Gestaltungsstandards von Software und Web-Sites anwenden und verbindliche Standards schaffen

Abbildung: www.bmas.de

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Defizite

Horst Frehe: Der Bekanntheitsgrad der Vorschriften des BGG nimmt in der Provinz deutlich ab

� kommunale Behindertenbeauftragte sind nicht die Regel:• oft eine ehrenamtliche Funktion, mit geringen

Ressourcen und• ungeregelten Beteiligungsstandards

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BehindertenwegweiserVorhandene Standards werden nicht genutzt

„In Jena engagieren sich sehr viele Interessengruppen für die Belange behinderte Menschen. Ihnen ist es gelungen, ein barrierearmes (??) Umfeld zu schaffen, in dem behinderte Menschen weitgehend unabhängig und selbstbestimmt leben können.“

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Landesgleichstellungsgesetze

• selbst bei der Übernahme der Bundesregelungen wurden Haushaltsvorbehalten eingeführt

• die Stabstellen der Landesbehindertenbeauftragten sind mit sehr unterschiedlichen Kompetenzen ausgestattet

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Landesbauordnungen

§ 53 Barrierefreies Bauen1) In Gebäuden mit mehr als zwei

Wohnungen müssen die Wohnungen mindestens eines Geschosses barrierefrei erreichbar sein. In diesen Wohnungen müssen die Wohn- und Schlafräume, eine Toilette, ein Bad sowie die Küche oder Kochnische mit dem Rollstuhl zugänglich und auch nutzbar sein. § 37 Abs.4 bleibt unberührt.

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§ 53 ThürBO

4) Die Absätze 1 bis 3 gelten nicht, soweit die Anforderungen wegen schwieriger Geländeverhältnisse, wegen des Einbaus eines sonst nicht erforderlichen Aufzugs, wegen ungünstiger vorhandener Bebauung oder im Hinblick auf die Sicherheit der Menschen mit Behinderungen oder alten Menschen nur mit einem unverhältnismäßigen Mehraufwand erfüllt werden können.

= dieser Absatz (4) muss raus.

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Kurzes Fazit

• ohne das außerparlamentarische Engagement behinderter Menschen und ihrer Verbände gäbe es keine Gleichstellungsgesetzgebung

• das BGG hat die Verankerung von Landesgleichstellungsgesetzen bewirkt

• es gibt erhebliche Schwachstellen insbesondere der Verbindlichkeit der Regelungen

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ForderungenNetzwerk Artikel 31) Die Zielsetzung und die Inhalte des BGG

müssen unverzüglich in enger Abstimmung mit behinderten Menschen und ihren Verbänden an die Vorgaben und Begrifflichkeiten der Behindertenrechtskonvention angepasst werden

2) Hinsichtlich behinderter Mädchen und Frauen sind Maßnahmen des Empowerments zu ergänzen

3) Im Benachteiligungsverbot des BGG muss der Rechtsbegriff der „angemessenen Vorkehrungen“ verankert werden

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ForderungenNetzwerk Artikel 3

4) Die Definition von Barrierefreiheit ist um den Bereich der „Dienste/Dienstleistungen“ zu erweitern. Barrierefreiheit muss ferner für alle Formen von Beeinträchtigungen gesichert werden

- für Menschen mit Lernschwierigkeiten- für Menschen mit kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen

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ForderungenNetzwerk Artikel 3

5) Der private Sektor ist zur Herstellung von Barrierefreiheit zu verpflichten

6) Jegliche Mittelvergabe öffentlicher Gelder ist an die Herstellung von Barrierefreiheit zu knüpfen

7) Das Verbandsklagerecht muss geschärft und die Schaffung eines individuellen Rechtsschutzes geprüft werden

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muss als fachkundige Stelle institutionell verankert werden– Entwicklung von Standards– Beteiligung behinderter Expertinnen und

Experten– Kompetenzstärkung der Verbände in die

Kommunen– Bewusstseinsbildung

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Vielen Dank für die Aufmerksamkeit

www.isl-ev.de