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www.visualpast.de Zeitliche Aspekte in den ephemeren Land-Art-Objekten Andy Goldsworthys Yana Belskaya, Tübingen Einleitung Zeit kennt man als eine physikalische Größe, die die Umwelt aus der Perspektive der Dauer und Abfolge der Geschehnisse charakterisiert. Anders ausgedrückt ist Zeit ein Teil unserer Wahrnehmung der Na- tur, sowohl der Natur im Sinne von menschlicher Natur als auch der der Umwelt. Zeit hilft das Prozesshafte in der Natur zu begreifen. Der Diskurs über das Verhältnis des Menschen zur Natur hat sich im Laufe der Geschichte abhängig von den in der Gesellschaft herr- schenden Paradigmen kontinuierlich geändert und wird heute noch ständig revidiert. Die Natur ist trotz der scheinbaren Einfachheit und Offensichtlichkeit des Begriffs nicht so leicht zu definieren. Land Art setzt sich unter anderem mit dem Naturbegriff und -verständnis aus- einander, weil mit und in der Natur gearbeitet wird, mit natürlichen Formen und Materialien. Die Fragen, ob die Menschen und ihre größtenteils urbane Kultur der Natur gegenübergestellt werden oder ob der Mensch trotz aller Technologisierung und Digitalisierung sei- nes Daseins sowie der Konsumwerte der Gesellschaft noch als Teil der Natur, als deren „Kind“ zu verstehen ist, bleibt heutzutage noch genauso aktuell wie in den 1960er Jahren, als die ersten Künstler die Galerien und Studios verließen und in die Wüste gingen. Andy Goldsworthy als Vertreter der jüngeren Generation der Land-Art-Künstler, dessen Schaffen, was die Dimensionen seiner Arbeiten angeht, typisch europäisch geprägt ist, kreiert größtenteils

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Zeitliche Aspekte in den ephemeren Land-Art-Objekten Andy Goldsworthys

Yana Belskaya, Tübingen

Einleitung Zeit kennt man als eine physikalische Größe, die die Umwelt aus der Perspektive der Dauer und Abfolge der Geschehnisse charakterisiert. Anders ausgedrückt ist Zeit ein Teil unserer Wahrnehmung der Na-tur, sowohl der Natur im Sinne von menschlicher Natur als auch der der Umwelt. Zeit hilft das Prozesshafte in der Natur zu begreifen.

Der Diskurs über das Verhältnis des Menschen zur Natur hat sich im Laufe der Geschichte abhängig von den in der Gesellschaft herr-schenden Paradigmen kontinuierlich geändert und wird heute noch ständig revidiert. Die Natur ist trotz der scheinbaren Einfachheit und Offensichtlichkeit des Begriffs nicht so leicht zu definieren. Land Art setzt sich unter anderem mit dem Naturbegriff und -verständnis aus-einander, weil mit und in der Natur gearbeitet wird, mit natürlichen Formen und Materialien. Die Fragen, ob die Menschen und ihre größtenteils urbane Kultur der Natur gegenübergestellt werden oder ob der Mensch trotz aller Technologisierung und Digitalisierung sei-nes Daseins sowie der Konsumwerte der Gesellschaft noch als Teil der Natur, als deren „Kind“ zu verstehen ist, bleibt heutzutage noch genauso aktuell wie in den 1960er Jahren, als die ersten Künstler die Galerien und Studios verließen und in die Wüste gingen.

Andy Goldsworthy als Vertreter der jüngeren Generation der Land-Art-Künstler, dessen Schaffen, was die Dimensionen seiner Arbeiten angeht, typisch europäisch geprägt ist, kreiert größtenteils

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ephemere Kunstwerke. Damit thematisiert er Zeit als einen der As-pekte der Natur beziehungsweise Vergänglichkeit, Sterblichkeit, na-türlichen Kreislauf und, wie es sich auch im weitesten Sinne vermu-ten lässt, Wiedergeburt als spirituelle Version der Beziehung zur Na-tur generell und zur eigenen menschlichen Natur. Der ephemere Charakter seines Werkes lässt uns die Rolle der medialen Vermittlung seiner nur kurzlebigen Land-Art-Objekte hinterfragen, die ohne do-kumentierende Medien wie Fotografie, Text und Film dem Publikum kaum zugänglich werden können.

In einer der wichtigsten Monografien zur Thematik Land Art und deren medialer Vermittlung von Samantha Schramm1 wird Land Art hinsichtlich der Verwendung der Medien betrachtet.2 Die Autorin positioniert Land Art kunsthistorisch gesehen zwischen der Minimal Art und der Konzeptkunst, zwischen der körperlichen dreidimensi-onalen Wahrnehmung der ersten und den Zeichenstrategien der zweiten Kunstrichtung.3 Dabei wird die vermittelnde Rolle der für die Dokumentation der Kunstwerke verwendeten Medien behandelt, was für die zeitlich verschobene Rezeption dieser Kunst spricht. Im Folgenden wird das Œuvre von Andy Goldsworthy hinsichtlich der zeitlichen Aspekte betrachtet, die in seinem Schaffen in unterschied-licher Ausprägung präsent sind.

Als erstes wird der ephemere Teil von Goldsworthys Gesamtwerk deskriptiv vorgestellt und sein Bezug zu Zeit und Vergänglichkeit analysiert. Die Argumentation lässt sich in drei Perspektiven eintei-len, die den Ansatzpunkten der kunsthistorischen Auseinanderset-zung mit den Kunstwerken entsprechen: Produktion, Interpretation, Rezeption.

1 Schramm 2014. 2 Schramm 2014, 10. 3 Schramm 2014, 11.

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Der Begriff ephemer Die Land Art-Objekte, die Andy Goldsworthy schafft, werden oft als ephemere Kunstwerke bezeichnet. Das Fremdwort „ephe-mer“ kommt aus dem Griechischen und wird im deutschen Duden-Universalwörterbuch folgendermaßen definiert: 1. (bildungssprachlich) nur kurze Zeit bestehend; flüchtig, rasch vorübergehend [und ohne bleibende Be-deutung]; 2. (Botanik, Zoologie) (von kurzlebigen Organismen) nur einen Tag lang lebend, bestehend.4 Eine der Bedeutungen verweist auf die Pflan-zenwelt und zeigt damit einen gewissen Bezug zur Natur auf, was im Falle Goldsworthys zutreffend ist, weil er mit Naturmaterialien, un-ter anderem mit Pflanzen, in vielen Zuständen arbeitet. Als Syno-nyme zu „ephemer“ werden die Adjektive flüchtig, momentan, temporär, vergänglich, zeitlich5 vorgeschlagen. So gesehen impliziert die Bezeich-nung „ephemer“ bestimmte Aspekte der Zeitlichkeit. Die Bedeu-tungsnuance „und ohne bleibende Bedeutung“ wird zwar erwähnt, scheint aber in der deutschen Sprache nicht zu überwiegen. In anderen Spra-chen dagegen kann diese Bedeutungsnuance wesentlicher erschei-nen, wie beispielsweise im Russischen: 1. kurzzeitig, flüchtig, schnell vo-rübergehend. 2. im übertragenen Sinne: schattenhaft, scheinbar, irreal.6 Die dem Begriff ephemer inhärente zeitliche Komponente bestimmt das Wesen der Land-Art-Objekte Goldsworthys und somit alle Ebenen der Aus-einandersetzung mit seinem Werk: Produktion, Form, Interpreta-tion, Vermittlung, Rezeption. So kann die im Begriff enthaltene la-tente Kritik an der Möglichkeit, durch nur für kurze Zeit existierende Kunstwerke die Betrachter in irgendeiner Weise dauernd zu beein-flussen, hinsichtlich der Zugänglichkeit der Werke für die Rezipien-ten und die Rolle des fotografischen Festhaltens problematisiert wer-den.

4 Duden 1996, 442. 5 Duden Online <http://www.duden.de/woerterbuch>. 6 Efremova 2000, 1068. Aus dem Russischen: 1. Кратковременный, недолговечный,

мимолетный. 2. перен.: призрачный, мнимый, нереальный.

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Ephemere Kunstwerke von Andy Goldsworthy: deskriptive Annäherung

Andy Goldsworthy ist ein britischer Land-Art-Künstler, geboren 1956, der sich seit seiner Collegezeit am Preston Polythechnic von 1975 bis 1978 fast ausschließlich der Land Art widmet.7 Frank Ilsch-ner erwähnt im Kurzportrait des Künstlers, dass er vor allem durch seine Bildbände mit vom Autor selbst gemachten und ausgewählten Fotos dem breiten Publikum bekannt wurde.8 Diese Tatsache ist für die Auseinandersetzung mit der Rezeption seines Werks von beson-derer Bedeutung.

Frank Ilschner untersucht in seiner Dissertation das Schaffen von Goldsworthy aus folgenden Perspektiven: Material, Ort, Farben, Formen, Dimensionen, das Verhältnis zur Natur und zum mensch-lichen Körper, Dokumentation und einige interpretatorische An-sätze wie Spiritualität oder Energie. Für die zentrale Fragestellung sind die Aspekte wichtig, die sich mit den Zeitdarstellungen verknüp-fen lassen, wie zum Beispiel Materialien, weil er sich für die vor Ort vorhandenen organischen Materialien entscheidet, die unter dem Einfluss der natürlichen Prozesse ihren Zustand (ver)ändern können. Relevant ist auch das Kapitel über Distanz, Raum, Zeit, Bewegung und Vergehen – Themen, die durch ihre Dreidimensionalität oder Immaterialität mit Hilfe von Bildmedien kaum direkt vermittelbar sind.

Als Material für seine kleinformatigen ephemeren Skulpturen ent-nimmt er der Natur Holz, Blätter, Wasser im festen und flüssigen Aggregatzustand, Steine, die von Gezeiten oder Wasserströmen weg-getragen werden, sowie Sand, Schlamm oder Erde und übergibt sie wieder dem natürlichen Kreislauf. Auch die Abwesenheit von Mate-rial in Form von „schwarzen Löchern“ nutzt er in zahlreichen Wer-ken.9 Naturerscheinungen wie Temperatur, Licht, Wetter, Gezeiten und Ströme gehören auch zu den Phänomenen, die zum Auflösen

7 Ilschner 2004, 20. 8 Ilschner 2004, 20. 9 Ilschner 2004, 60.

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der Objekte beitragen und für das Untersuchungsthema bedeutsam sein können.

Von einem gewissen Interesse können auch Orte und Räumlich-keiten sein, in denen die Kunstwerke ausgeführt werden. Meistens handelt es sich dabei um Outdoor-Räume; die Indoor-Projekte kön-nen nicht zu den ephemeren Arbeiten gezählt werden, außer den Schneebällen, die in Galerieräume transportiert wurden und dort ge-schmolzen sind. Goldsworthy untersucht den Ort in seinem histori-schen, kulturellen, geografischen, geologischen Kontext, bevor er sich dazu künstlerisch äußern kann, indem er sich auf die Reise durch die Gegend begibt. Es ist die Beschäftigung mit der Natur vor Ort, die in seinen Werken zum Ausdruck kommt. Die Landschafts- und Wetterbedingungen bestimmen oft die Art und Weise seiner Arbeit, die Auswahl von Materialien, zum Beispiel am Nordpol. Samantha Schramm geht in ihrer Auseinandersetzung mit Fotografien der Land Art davon aus, dass die Fotos neben ihrer dokumentarischen Funk-tion mediale Bezüge zum Ort der Ausführung von Land-Art-Objek-ten schaffen10 und dass die Künstler der Land Art mit ihren Werken „das Problem der Erschließung und Sichtbarmachung der Orte“11 thematisieren.

Inwieweit die Farbe in dieser Hinsicht relevant ist, kann vom Um-gang Goldsworthys mit dieser Erscheinungsform seiner Skulpturen bestimmt werden. Seine ephemeren Kunstwerken haben natürliche Farben, die den von ihm verwendeten Materialien inhärent sind, oder durch andere organische Substanzen oder Prozesse wie Belichtung oder Befeuchtung intensivierte vorhandene Farben. Die Farben in der Natur können ebenfalls auf die Zeit hinweisen, und zwar auf die Tages- oder Jahreszeit und deren Wechsel. Da die Farbe einen sehr starken emotionalen Einfluss auf den Rezipienten ausüben kann und außerdem symbolisch aufgeladen ist, scheint es sehr wichtig zu sein, wie die Farbe beim Rezipienten ankommt.

10 Schramm 2014, 106. 11 Schramm 2014, 124.

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Abb. 1: Rock covered with elm leaves held with water, Bentham, Yorkshire, September 1979, © Andy Goldsworthy.

Abbildung 1 zeigt einen Stein, auf dem nasse Ulmenblätter kleben, und zwar so, dass die Oberfläche des Steins unsichtbar ist. Die Farbe der Blätter bildet einen starken Kontrast zum Hintergrund, in dem sich ebenfalls Steine befinden, die aber dunkel glänzend sind. Die Farbe der Blätter assoziiert man direkt mit Herbst.

Bei Abbildung 2 handelt es sich um das sogenannte „schwarze Loch“. Ein tunnelartiger Durchgang in einem Hügel bildet den dunk-len Hintergrund für ein Gebilde aus Stöcken, das vor dem Eingang in den Tunnel hängend platziert ist und in der Mitte eine runde Öff-nung aufweist. Das Objekt wird so fotografiert, dass diese runde Öff-nung als absolut schwarz erscheint und der Betrachter keine Details in diesem tiefen Schatten sehen kann.

Laut Frank Ilschner ist die Form bei Goldsworthy mit dem Ma-terial verbunden und in der Natur vorhanden, kann aber nicht außer-halb des soziokulturellen Kontextes der menschlichen Zivilisation

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Abb. 2: Hanging hole, Holbeck, Leeds, May 1986, © Andy Goldsworthy.

betrachtet werden.12 Jeffrey Kosky schlägt in seiner Monografie „Arts of Wonder“ ausgehend vom Naturverständnis Goldsworthys eine andere Vision von Form seiner Land-Art-Objekte vor, nämlich, dass die Formen, die Farben und die Materialien seiner Kunstwerke zwar unabhängig voneinander in der Natur schon immer da waren, nie aber in solchen Kombinationen von Form, Material und Farbe wie bei Andy Goldsworthy in der Umwelt vorkommen.13 Dabei darf nicht vergessen werden, dass der ephemere Charakter des Schaffens ständige Transformationen bis zur Auflösung voraussetzt14, was wie-derum auf die Zeitlichkeit zurückgreift.

Die Dimensionen Raum und Zeit in Goldsworthys Arbeiten wer-den des Weiteren von Ilschner interpretatorisch mit einbezogen. Räumliche Komponenten der Umwelt wie Distanz und Richtung werden zum Beispiel bei den Throwings (Abb. 3) thematisiert, wo der

12 Ilschner 2004, 82. 13 Kosky 2013, 138. 14 Ilschner 2004, 82 f.

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Künstler die Bewegung sowie die Größe als Parameter zwischen Mikro- und Makrokosmos oder das Zusammenspiel zwischen Raum und der darin enthaltenen Materie sichtbar macht.15 Zeit scheint Goldsworthy im Sinne des natürlichen Kreislaufs zu interessieren, der Entstehung, Fortbestand und Vergehen beinhaltet. Die Ambiva-lenz des Prozesses besteht dabei darin, dass die dem Kreislauf der Natur ausgesetzte Materie gleichzeitig kurzlebig in ihrer jetzigen Form und unendlich als Teil des Ganzen erscheint.

Abb. 3: Slate throw, Blaenau Ffestiniog, Wales, May 1980, © Andy Goldsworthy.

Die bei der Beschreibung der Kunstwerke erwähnten Aspekte des Ephemeren bei Goldsworthy stehen in einem gewissen Widerspruch zu den Darstellungsmöglichkeiten der Fotografie, durch die sein Schaffen rezipiert werden kann. Wie andere traditionelle Bildformen ist Fotografie zweidimensional, das Dargestellte ist unbeweglich und das Prozesshafte kann nur durch bestimmte Techniken und/oder

15 Ilschner 2004, 96—102 .

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Symbole abgebildet werden. Da Goldsworthys Werke Abläufe the-matisieren, kann durch eine Fotoaufnahme nur ein Sekundenbruch-teil im Verlauf des Werks festgehalten werden. Fotografie selbst als Medium weist wiederum einen besonderen Bezug zur Zeit auf. Ihr wird die Fähigkeit zugeschrieben, das Vergangene festhalten zu kön-nen.

Kunstform Geht man auf die Produktion der ephemeren Arbeiten Golds-worthys ein, stellt sich die Frage nach der Kunstform. In der moder-nen Rezeptionsästhetik wird die von Umberto Eco16 eingeführte Ka-tegorie der Offenheit des Kunstwerkes als zentral ausgewiesen. So-mit kann man die Bestimmung der Grenzen eines Kunstwerkes ent-weder für mehrdeutig oder irrelevant halten. Dabei handelt es sich sowohl um räumliche als auch um zeitliche Grenzen des Werkes so-wie um die Beteiligung des Künstlers und des Rezipierenden am Schaffens- und Wahrnehmungsprozess.

Im Falle Goldsworthys kann davon ausgegangen werden, dass seine ephemeren Skulpturen räumlich sehr deutlich zu definieren sind, zumindest in dem Augenblick, in dem sie als fertig gelten, es sei denn, die Natur gilt hier als Teil des Kunstwerkes, nicht als Hinter-grund oder Herstellungs- und Demonstrationsraum. Die Materialien werden ihrer gewöhnlichen Lokalisation entnommen und in eine neue Position gebracht. Die Dreidimensionalität vieler kurzlebiger Skulpturen sieht zwar mehrere Standpunkte für den Betrachter vor, sie lassen sich aber, im Gegensatz zu anderen Land-Art-Objekten, nicht betreten und schließen somit die Möglichkeit der über die Vi-sualität hinaus gehenden Wahrnehmung aus. Wird der zeitliche As-pekt mit einbezogen, sind seine Werke offen in dem Sinne, dass sich die Materialien wieder in die Natur eingliedern.

Die zeitliche Dimension der Offenheit erweist sich viel deutlicher. Wird der Schaffensprozess von Andy Goldsworthy in einzelne kurze

16 Eco 1973.

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Arbeitsphasen eingeteilt, nämlich Ideenbildung, Orts- und Material-untersuchung, Entstehung des Kunstwerkes, Höhepunkt, Vergehen, Auflösung und Präsentation oder Rezeption, stellt sich die Frage, wo das Kunstwerk beginnt und endet, weil der fertige Zustand sich in der Zeit ausdehnt und nicht durch zum Beispiel die Signatur wie bei einem Gemälde festgelegt werden kann. Im Gegensatz zum fertigen Werk stehen dem Rezipienten viele räumliche und zeitliche Wahr-nehmungsoptionen offen, die aber vom Künstler durch seinen Um-gang mit der Dokumentation ausgewählt und eingeschränkt werden können, denn der vorübergehende Charakter seines Schaffens setzt keine direkte Rezeption vor Ort voraus.

Um die Phasen der Existenz des Kunstwerkes von denen der Vor- und Nachbereitung abgrenzen zu können, muss man den Au-genblick bestimmen, in dem der Künstler anfängt, die Materialien zu bearbeiten, zu kombinieren oder neu zu platzieren, d. h. sich aktiv damit auseinanderzusetzen. Hier nähert sich die Demarkation der Vorgehensweise des Performativen, bei der nicht oder nicht nur Ge-genstände das Kunstwerk ausmachen. Ein wesentliches Merkmal der Performance ist Aktion vor dem Publikum.17 Da in den Fotobüchern Goldsworthys auch Fotos erscheinen, die ihn bei der Arbeit am Kunstwerk zeigen, kann man davon ausgehen, dass diese Phase ein Teil des Konzepts ist. Seine Vorgehensweise kann somit als Aktion gesehen werden, d. h. als zeitbasiert. Das Publikum erscheint nicht am Ort der Ausführung, weder während der Ausführung noch da-nach. Das wäre ein Argument gegen den performativen Charakter seines Schaffens, es sei denn, man nimmt an, dass das Publikum in-direkt präsent ist oder dass dies eine besondere Art der Performance sein kann, Performance für sich selbst, die dann von dem Rezipien-ten bei der Wahrnehmung auf sich selbst projiziert werden kann. Au-ßerdem werden Video-Performances auch ohne Publikum durchge-führt und erst später dem Publikum medial vermittelt. Eine der wich-tigsten Voraussetzungen dafür, dass ein Kunstwerk zu Performance und somit zu Aktionskunst gezählt werden kann, ist der Körper des

17 Butin 2002, 241.

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Künstlers innerhalb des Werks.18 Dass Andy Goldsworthy keine Werkzeuge benutzt und nur mit seinen Händen die Materialien be-arbeitet, spricht dafür, dass seine Kunst performative Elemente ent-hält.

Die Besonderheit im Werk Goldsworthys besteht darin, dass ihm das Vergehen genauso wichtig vorkommt wie der Höhepunkt, an dem der Künstler aufhört, die Natur zu berühren, das Geschaffene wieder der Natur überlässt und beobachtet oder den Betrachter be-obachten lässt, was danach geschieht. Das Prozessuale scheint dabei gegenüber dem Momentanen zu überwiegen und für die Festhaltung des Kunstwerkes in der Dokumentationsphase zahlreiche Optionen zu bieten. Die Problematik der Grenzen des Kunstwerkes ist dem-zufolge ausschlaggebend für die Frage nach der Kunstform.

Fotografien von Land-Art Objekten Bei der Auseinandersetzung mit Land Art-Fotografien von Golds-worthy ist ein Ausgangspunkt, wie der Künstler sich zum fotografi-schen Anteil seines Schaffens äußert und was man seinem tatsächli-chen Umgang mit Fotografie entnehmen kann.

My approach to the photograph is kept simple, almost routine. All work, good and bad is documented. I use standard film, lenses and no filters. Taking the photograph is not a casual act. It is very demanding and a balance is kept in which documenta-tion does not interrupt the making. Each work grows, stays, decays – integral parts of a cycle which the photograph shows at its height, marking the moment when the work is most alive. There is an intensity about a work at its peak that I hope is expressed in the image. Process and decay are implicit in that moment. A drawing or painting would be too defined. The photographs leave the reason and spirit of the work outside. They are not the purpose but the result of my art.19

Fotografie sei einerseits eine Routine, die seine Arbeit begleitet, und andererseits trotzdem eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, denn es sei sehr wichtig, den richtigen Augenblick für den Höhepunkt des Werks zu bestimmen. Fotografien seien kein Ziel, sondern nur das Resultat seiner Kunst, wobei der Unterschied zwischen den beiden Intentio-nen sehr fein ist.

18 Butin 2002, 241. 19 Andy Goldsworthy Digital Catalogue.

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Fotografien von Andy Goldsworthys ephemeren Kunstwerken bilden einen Teil seines Archivs, das sich in seiner Residenz in Pen-pont, Schottland befindet und mit wenigen Ausnahmen dem Publi-kum unzugänglich bleibt. Im Rahmen des von 2002 bis 2006 von Andy Goldsworthy, der Crichton Foundation, dem University of Glasgow’s Crichton Campus und dem Humanities Advanced Tech-nology and Information Institute (HATII) realisierten Projekts Andy Goldsworthy Digital Catalogue20 wurde der Inhalt seines Slide Cabinet Index digitalisiert. Das Projekt umfasst die Fotografien seines ephe-meren Schaffens aus den Jahren 1976–1986 und die Bilder aus der weiteren Sammlung von Dias und Folien, die im Zusammenhang mit dem Slide Cabinet Index stehen und die Herstellung und den Kon-text dieser Werke erläutern. Außerdem enthält die Homepage des Projekts Informationen zum Umgang des Künstlers mit dem Archiv, zum fotografischen Verfahren sowie Auszüge aus seinen Publikatio-nen. Diese Quelle erscheint besonders relevant, da sie einen Einblick in die fotografische Vorgehensweise des Künstlers ermöglicht und sich diese mit seinen Aussagen abgleichen lässt.

Das Archiv besteht aus persönlichen Papieren, Fotografien, schriftlichen und audiovisuellen Dokumentationen sowie aus Arte-fakten seit 1975 und bezieht sich auf alle Kunstformen. Der Künstler scheint fast alle möglichen Dokumentationsoptionen für einsatzfähig zu halten, außer der Kartografie.

Den Kern der fotografischen Dokumentation Goldsworthys bil-det sein Slide-Index, der jede ephemere Arbeit von 1976 bis zum heutigen Tag in chronologischer Reihenfolge erfasst. Jede Skulptur wird mit einem Dia präsentiert und durchgehend chronologisch nummeriert.21

20 Andy Goldsworthy Digital Catalogue <http://www.goldsworthy.cc.gla.ac.uk/>. 21 Andy Goldsworthy Digital Catalogue <http://www.goldsworthy.cc.gla.ac.uk/>.

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Abb. 4: Ice ball, Hampstead Heath, London, December 1985, [making shot/2], © Andy Goldsworthy.

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Abb. 5: Ice ball, Hampstead Heath, London, December 1985, © Andy Goldsworthy.

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Abb. 6: Ice ball, Hampstead Heath, London, December 1985, [destruction shot], © Andy Goldsworthy.

Dies bedeutet aber nicht, dass es sich nur um eine Aufnahme eines Werkes handelt. Zeitlich gesehen kann man die Fotografien der Ob-jekte in folgende Gruppen einteilen: Entstehungsphase, Existenz-phase (mit mehreren Belichtungs- oder Bewegungsvarianten) und Auflösungsphase. Abbildungen 4 bis 6 führen Beispiele für die drei oben genannten Phasen an: sie werden als making shot, shot und de-struction shot bezeichnet. Aus dünnen flachen Eisstücken, die sich ver-mutlich auf der Oberfläche des im Hintergrund liegenden Flusses o-der Sees befanden, formt der Künstler eine Kugel, indem er die Eis-splitter aufeinander legt. In der dritten Abbildung sind nur die Eis-stücke zu sehen, wobei die vom Künstler vorgegebene Kugelform verloren ging.

Das Werk auf den Abbildungen 7 und 8 wird bei unterschiedli-cher Beleuchtung gezeigt, wobei die beiden Aufnahmen noch im Rahmen der Existenzphase bleiben, weil weder der Arbeits- noch der Auflösungsprozess sichtbar wird. In der digitalisierten Version des

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Archivs unterscheiden sich die zwei Aufnahmen nur durch die Num-merierung (1978_044 und 1978_046), shot-Anmerkungen sind nicht vorhandenen. Eiszapfen sind aufeinander gestapelt und miteinander durch kurze Erwärmung verbunden, so dass eine etwa acht Zoll breite Wand entsteht, die das Licht durchlässt und teilweise bricht. Die erste Aufnahme entstand bei dunkleren Lichtverhältnissen, ver-mutlich vor Sonnenaufgang. Die zweite wurde gemacht, als sich das Licht und somit die Farbigkeit von Eis und Himmel änderte.

Abb. 7: Icicle stack, about 8 inches in length, Morecambe Bay, Lancashire, February 1978, © Andy Goldsworthy.

Ausgehend von der räumlichen Dimension sind folgende Gruppen von Aufnahmen zu unterscheiden: Nahaufnahmen mit zentraler Rahmung des Kunstwerkes und Kontextaufnahmen, was die Bei-spiele auf Abbildungen 9 und 10 demonstrieren. Dabei wird die Kon-textaufnahme mit dem Vermerk [context shot] versehen.

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Abb. 8: Icicle stack, about 8 inches in length, Morecambe Bay, Lancashire, February 1978, © Andy Goldsworthy.

Kastanienbaumblätter wurden vom Künstler angerissen und so mit Strohhalmen miteinander verbunden, dass sie eine Öffnung im Laubwerk des Baumes bilden. Die Stelle am Baum und die Perspek-tive der Fotoaufnahme werden so gewählt, dass die Details in der Öffnung kaum zu sehen sind. Die runde Öffnung kommt wie eine plötzliche visuelle Störung der normalen Erscheinung eines Baumes vor. Die Kontextaufnahme zeigt den größeren Teil des Baums und den Rasen darunter. Die Frage nach den Grenzen des Kunstwerkes bleibt aber unklar. Ob nur die runde Öffnung das Werk ausmacht? Oder zählen die diese Öffnung bildenden angerissenen Blätter auch dazu? Oder sind das alle dazu gehörenden Zweige?

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Abb. 9: Horse chestnut tree, torn hole, stitched around the edge with grass stalks, moving in the wind, Trinity College, Cambridge, 24 July 1986, © Andy Goldsworthy.

Dabei kann man zwischen den Aufnahmen unterscheiden, die den Betrachter durch die Wahl der Perspektive entweder mystifizieren (schwarze Löcher als absolutes Nichts, Risse in Steinen) oder de-mystifizieren22 (indem sie die Entstehungsweise sichtbar machen). Die meisten Fotografien sind vom Künstler selbst gemacht worden, was voraussetzt, dass der Schaffensprozess zwecks Fotografierens entweder unterbrochen wird oder als abgeschlossen verstanden wird.

Zusammenfassung Andy Goldsworthys Werke sind nicht nur ephemer und zeitbasiert, sie setzen sich auch thematisch mit der Zeit auseinander. Zeit ist ähn-lich wie Natur, zwar immer da, wenn man aber versucht, den ganzen Komplex der Phänomene in Worte zu fassen, die mit der Zeit zu tun haben, ist man genauso sprachlos wie beim Naturbegriff.

22 Ilschner 2004, 115.

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Abb. 10: Horse chestnut tree, torn hole stitched around the edge with grass stalks, moving in the wind, Trinity College, Cambridge. 24 July 1986 [context shot], © Andy Goldsworthy.

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Im Jahr 2008 erschien der Goldworthys Bildband Time, konzipiert als Künstlerbuch mit Bildern und Texten. In der Einleitung begrün-det der Künstler die Wahl des Themas für den Bildband damit, dass für ihn immer ein Zusammenhang besteht zwischen Zeit, Verände-rung und Ort.23 Unter „Veränderung“ wird eine Umwandlung des Objekts innerhalb einer gewissen Zeitspanne verstanden. In der Um-welt und in uns selbst finden permanent Veränderungen statt. Bei Lebewesen verlaufen sie innerhalb ihrer Lebzeiten, zwischen Geburt und Tod. Bei den anorganischen Naturobjekten und Naturerschei-nungen geht es um Entstehung und Auflösung oder um den Zu-standswechsel. Das Zusammenspiel von Energien und Gesetzen be-gleitet die Prozesse in der Natur.

Wie bei der Schilderung seiner Vorgehensweise erwähnt, ent-nimmt Goldsworthy die Materialien, mit denen er arbeitet, der Natur vor Ort. Indem er die Dinge aus ihrer üblichen Position und Funk-tion herausnimmt und damit seine eigene Abfolge der Umwandlun-gen hervorruft, will er auf die Veränderung aufmerksam machen. Er handelt experimentell, bedient sich der Komponenten aus der jewei-ligen Landschaft, kombiniert sie neu und will beobachten, was nach seinem Eingriff passiert. Meistens folgt in irgendeiner Form die Auf-lösung, die Auflösung des Objekts und/oder der verwendeten Ma-terialien. Man könnte behaupten, er thematisiert die Vergänglichkeit und die Endlichkeit der Dinge. Goldsworthy selbst sagt aber im Do-kumentarfilm Rivers and Tides von Thomas Riedelsheimer dazu, für ihn wäre es nicht das Verschwinden des Kunstwerkes, sondern des-sen Übergang in einen anderen Zustand: „It feels like to be taken off into another play, taken off into another world, or another work. It does not feel at all like destruction. That moment is really a part of the cycle of turning“ (17. Minute). Er will damit die Idee des Kreis-laufs hervorheben, dass alles vergänglich ist im Maßstab eines einzel-nen Lebens und unendlich lang als Ganzes, als Generationen über-greifende Erscheinung.

23 Goldsworthy – Friedman 2008, 7.

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Man kann das Thema Vergänglichkeit aus unterschiedlichen Per-spektiven betrachten, weil das Zeitphänomen nicht nur ein For-schungsobjekt der Naturwissenschaften ist. Seit mehreren Jahrhun-derten war das Problem der Zeitwahrnehmung ein Prärogativ der Philosophie, Theologie und Mystik. Später kamen auch die Physik, Astronomie, Neurologie, Chronopsychologie, Chronobiologie, Hirnforschung, Molekularbiologie und Psychologie hinzu. Man ver-sucht, die Zeit und die Vergänglichkeit auch auf spirituelle Weise zu begreifen. Vanitas ist eines der bedeutendsten ikonografischen The-men in der Kunst. Die Endlichkeit des Lebens kann zum Beispiel durch religiöse Praktiken aufgegriffen werden. Die Idee des Kreis-laufs wäre dann dem Reinkarnationsglauben am nächsten.

Die meisten Fotografien sind vom Künstler selbst gemacht wor-den, was voraussetzt, dass der Schaffensprozess als abgeschlossen verstanden wird. Die Dias werden dann im Rahmen des Slide Cabi-net Index aufbewahrt und bilden zusammen mit den Tagebuchein-trägen die Grundlage für die Künstlerbücher oder Ausstellungen. Nur so ist die Rezeption von ephemeren Kunstwerken Golds-worthys möglich. Der Künstler muss also eine Reihe von fotografi-schen Entscheidungen treffen, vor allem, zu welchem Zeitpunkt der Verschluss ausgelöst wird. Dies bezieht sich wiederum auf die Frage nach der zeitlichen Struktur seiner Land-Art-Objekte: Ob die Arbeit am Werk abgeschlossen ist, ob das Werk gelungen ist, ob es weitere Ausnahmen von der Auflösung geben wird.

Ob dann der Ablauf der Veränderungen des Werks gezeigt wird, ist auch dem Künstler überlassen. Goldsworthy geht damit unter-schiedlich um, d. h. er wählt für die Rezipienten entweder nur ein einzelnes Bild auf dem Höhepunkt aus oder er bietet zum Vergleich auch Fotografien aus den anderen Phasen. Es entsteht also eine Dis-krepanz zwischen der Ausdehnung des Kunstwerks in der Zeit und den statischen Bildern, die dem Betrachter präsentiert werden.

Mit der Frage der Vermittlung ist die Rezeption der Werke eng verbunden. Bei der Arbeit an seinen Skulpturen greift Andy Golds-worthy auf seine Naturerfahrung zurück, auf längere Beobachtungen der Eigenschaften der Naturmaterialien. Solche Naturerfahrungen

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werden durch seine ephemeren Objekte auch beim Rezipienten akti-viert, weil der Rezipient bei der Wahrnehmung mit dem Gedanken konfrontiert wird, was mit dem Kunstwerk außerhalb der Bildgren-zen passiert?

Einerseits rekonstruiert der Betrachter den Auflösungsprozess aufgrund seiner Naturerfahrungen, aufgrund seiner Vorstellungen über die Naturprozesse. Goldsworthy wendet sich an das Vorstel-lungsvermögen der Rezipienten. Andererseits rufen seine Werke auf der thematischen Ebene beim Betrachter eine assoziative Reihe von Begriffen hervor, wie: sich auflösen, verschwinden, enden, sterben, sich wieder in den Kreislauf der Natur eingliedern, in einen anderen Zustand übergehen, in einer neuen Form existieren. Beim Betrachter soll die Auseinanderset-zung mit den zeitlichen Aspekten in der Natur und im eigenen Da-sein initiiert werden. Es entsteht also ein Widerspruch zwischen den performativen Aspekten der Werke und ihrer statischen Präsenta-tion, was ein gewisses Spannungsfeld für den Betrachter schafft und seine partizipative Wahrnehmung verursacht.

Zeitbezüge, die in der Kunst von Andy Goldsworthy festzustellen sind, könnte man in drei Gruppen einteilen: Erstens die Ebene der Kunstform, die im Falle Goldsworthys sich dem Performativem an-nähert und trotzdem keine direkte Rezeption vorsieht. Zweitens die Ebene der Interpretation, auf der man seine Werke als Auseinander-setzung mit dem Zeitphänomen interpretieren könnte. Und drittens die Ebene der Vermittlung und Rezeption, auf der die Diskrepanz zwischen der zeitbasierten Kunstform und der fotografischen Prä-sentation beim Zuschauer eine aktive Teilnahme am Kunstprozess hervorrufen kann.

Yana Belskaya: Studium der Geschichte und der Deutschen Sprache an der Staatlichen Dostojewskij Universität Omsk, Russland, 1999–2004. Erasmusstipendiatin 2014, Master-studium der Kunstgeschichte in Tübingen seit 2015, Forschungsinteressen: zeitgenössische Kunst, Fotografie, audiovisuelle Medien. Masterarbeit zum Thema Zeit in Andy Goldsworthys Fotobuch „Ephemeral Works 2004–2014“. Teilnahme am studentischen Projekt „Eber-hard“ (Artist Talks) 2014–2015. Mitorganisation kultureller Projekte des Goethe-Instituts in Russland 2004–2014. Praktikum bei der Berlin Art School April–Mai 2015.

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