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Zitat, Arrangement, Bearbeitung

Zitat, Arrangement, Bearbeitungwebdoc.sub.gwdg.de/ebook/diss/2003/fu-berlin/2000/130/RKS05.pdf · Zitat, Bearbeitung, Arrangement Kunstmusik in Rockmusik Klassik-Rock basiert zu einem

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Kunstmusik in Rockmusik

Klassik-Rock basiert zu einem ganz wesentlichen Teil auf Anleihen anderer Musik und deren Verwertung - Zitate, Arrangements oder Bearbeitungen sind seine Stilmittel1. Gleichgültig, ob es nur kurze Stücke aus einer Vorlage sind oder aber komplette Arrangements - dem Wesen nach handelt es sich immer um Anleihen, also um die Verwendung von fremder Musik in der eigenen. Klassik-Rock ist dabei in zweierlei Hinsicht ein Sonderfall: zum einen bezieht Klassik-Rock die Gegenstände, die Vorlagen dieser Anleihen nicht aus der Rockmusik, sondern aus der Kunstmusik, zum anderen ist Klassik-Rock als „zitierende Musik“ auch innerhalb der Rockmusik singulär, weil es Anleihen in Form von Zitaten aus der Rockmusik innerhalb von Rockmusik nur sehr selten gibt. Rockmusik ist eine Musik, in der das Zitat kein wesentliches Stilelement ist. Die Rockmusik hat sich für den immanenten Bezug auf zeitlich vorangegangene Musik eine andere Möglichkeit geschaffen, die dem Wesen von Rockmusik weit mehr entspricht: die Cover-Version. Diese - auch für den Blues und den Jazz (Standards) übliche - besondere Form des Rückgriffs kann in etwa dem entsprechen, was in der Kunstmusik noch als „Interpretation“ gilt, sie kann aber auch weit darüber hinaus gehen und etwas Neues, Eigenständiges sein.

Die einzelnen Ausprägungen der Anleihe lassen sich nur schwer trennen und kategorisieren. Trotzdem gibt es Voraussetzungen und Anhaltspunkte - zweckmäßig ist es aber, vom einzelnen Beispiel auszugehen und an diesem die einzelnen Stadien dingfest zu machen.

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Zitat

Die einfachste Form der Anleihe ist das Zitat. Zitate, wie Klassik-Rock sie einsetzt, sind ihrer Methode nach Aktionen wie in der Kunstmusik. Der Komponist - im Falle der Rockmusik fast immer auch der ausführende Musiker selbst - verwendet ein Motiv, einige Takte, eine charakteristische Wendung, immer also ein im Verhältnis zur Komposition kurzes Stück aus einer vorhandenen, bereits veröffentlichten Komposition und baut sie in seine eigene ein. Das Zitat sollte dabei bestimmte Voraussetzungen erfüllen. So hat in der Kunstmusik ein Zitat nur dann einen Sinn, wenn es erkannt wird.

Günther von Noé setzt dies in seinem Versuch, das Phänomen zu kategorisieren, stillschweigend voraus.2 Doch ist es unabdingbar, das Zitat nicht nur von Seiten des Zitierenden, sondern auch von der rezeptiven Seite zu sehen. Der zitierende Komponist muß die Möglichkeit, das Zitat zu erkennen, vorsehen. Elmar Budde stellt daher für das Funktionieren des Zitates die Bedingung:

Voraussetzung für ein ästhetisch sinnvolles Verstehen ist einerseits eine Vertrautheit mit der Umgebung, in der das Zitat auftaucht, andererseits eine genaue oder ungefähre Kenntnis des Zitates und seiner Herkunft.3

Anders als in literarischen Texten - der ursprünglichen Herkunft des Phänomens -, wird die Quelle eines Zitates in einem musikalischen Text nicht angegeben; ergänzend sei gesagt, daß Zitate in belletristischen Texten nicht üblich sind und immer den Ruch des Plagiates in sich tragen.

Auch Zofi a Lissa sieht eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren eines Zitates darin, daß es erkannt wird:

Das musikalische Zitat tritt in verschiedenen ästhetischen Funktionen auf; gewöhnlich ist es einmalig vorhanden und von den es umgebenden Phasen des Werkes entweder durch den stilistischen Kontrast, durch seine Eigenart oder durch die spezifi schen Aufführungsmittel, in denen es gegeben wird, hervorgehoben. Diese objektiven Bedingungen sollen

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den Hörern ein spezifi sches subjektives Verhältnis zu dem gegebenen Fragment ermöglichen, d. h. die Hörer sollen es als „Fremdkörper“ erkennen. Das Funktionieren des Zitates als solches hängt hauptsächlich vom Hörer ab, der das gegebene Fragment als Zitat erkennen kann, aber nicht muss. Die Voraussetzung für das richtige funktionieren des Zitates ist also, daß es herausgehört wird, was von der musikalischen Vorbildung, von der Kenntnis der Musikliteratur abhängt. Um das Zitat als solches erfassen zu können, muss der Hörer zusätzliche intellektuelle Operationen vornehmen, die beim normalen Hören der Musik nicht auftreten, er muss a) die Herkunft des Zitates erkennen, b) die Rolle interpretieren, die es im Ablauf des gegenwärtigen Werkes erfüllt, c) muss es damit im Verhältnis zu dem Werk, aus dem es stammt, re-interpretieren. Im neuen Zusammenhang nimmt das zitierte Fragment neue semiotische Eigenheiten an.4

Der Vorgang des Zitierens einerseits und des Erkennens andererseits ist, wie Zofi a Lissa darstellt, ein komplexer Vorgang:

Das musikalische Fragment a, das im Rahmen des Werkes B als dessen Teil auftritt, ist für den Hörer x ein Zitat, sofern es von ihm als Repräsentation des Werkes A nach dem Prinzip pars pro toto erkannt werden kann. Damit a im Rahmen von B als musikalisch-sinnvoll funktionieren kann, muss es ein vergangenes Erlebnis des Werkes A durch den Hörer x mit seinem gegenwärtigen Erlebnis von B verbinden. Die Apperzeption von a im Rahmen von B unterscheidet sich für x von seiner Apperzeption des gleichen a im Rahmen von A. Im Rahmen von A war a nur eine seiner Phasen, im Rahmen von B ist a mit der Funktion belastet, nicht nur sich selbst, sondern auch das ganze A zu repräsentieren, aus dem es stammt und als das es erkannt wurde. Im Rahmen von B nimmt a neue Aufgaben infolge der Tatsache, daß es zwischen verschiedenen Phasen von B auftritt und als Substruktur in b als die Suprastruktur eingeschmolzen wird, dagegen nicht in die Suprastruktur A. das mit einer bestimmten Absicht des Komponisten angewandte Zitat kann seine Aufgaben nur dann erfüllen, wenn erfüllen, wenn x A kennt und in a ein Fragment von a erkennt; außerdem nur dann, wenn der Hörer x die Absicht

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des Komponisten, d. h. den bestimmten Sinn von a zwischen den Phasen von b erfasst. Damit dies möglich wird, muss x seine richtige Apperzeptionseinstellung a richten. Demnach ist das Zitat eine intentionelle Erscheinung. Das Fragment a ist ein Zitat oder ist es nicht, je nach dem Erfolg einer Reihe intellektueller Operationen des Hörers. Es genügt, daß x A nicht kennt, und schon kann a im Rahmen von b nicht mehr als Zitat fungieren. Für x, der A kennt und in a wiedererkennt, hat dies eine zwiefache Bedeutung: es repräsentiert zugleich A und eine der Phasen von B. Demnach ist es eine bifunktionelle und zugleich eine zweischichtige Erscheinung.5

Tibor Kneif geht noch weiter, es genüge nicht, daß Zitat selbst oder wenigstens seine ungefähre Herkunft zu erkennen:

Daß das musikalische Zitat nur dann funktioniert, wenn der Hörer ihm die vom Komponisten beigegebene semantische Absicht entnimmt, kann nicht zweifelhaft sein.6

Der Komponist als Nutzer des Zitats setzt also einen Grad von Bildung bei seinem Hörer voraus, die diesem erlaubt, das Zitat als solches zu erkennen. Er sollte die Herkunft des Zitates kennen und auch das Originalwerk, aus dem das Zitat stammt, in seinen historischen und sozialen Zusammenhang einordnen können. Das Zitat in der Kunstmusik ist ein intellektuelles Spiel, dessen hauptsächlicher Reiz nicht nur in der Gegensätzlichkeit von Zitat und seiner neuen Umgebung liegt, sondern in der Verknüpfung von unterschiedlichen Kontexten. Es ist dabei unumgänglich, daß die Geschichte - hier: Musikgeschichte - als Ganzes weitgehend überblickt werden muß. Ein Zitat aus einer Komposition Claudio Monteverdis stellt damit vorerst nicht etwas anderes dar als ein Zitat aus einem Werk Ludwig van Beethovens.

Doch besteht der Reiz eines Zitates nicht allein darin, daß dem Zuhörer die Gelegenheit gegeben wird, sich seiner musikalischen Geschichtskenntnisse zu vergewissern. Ein Zitat ist immer auch ein Zeichen, daß der Komponist - der Zitierende - etwas sagen will, das über den musikalischen Gehalt des Zitates hinausgeht. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Robert Schumann zitierte in seiner Fantasie C-Dur op. 17 im ersten Satz aus Ludwig van Beethovens Liederzyklus An die ferne Geliebte. Neben der Huldigung an

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Beethoven, die dieses Zitat einerseits ist, gibt Schumann auch einen Hinweis auf seine eigene Situation - er gibt einen Hinweis auf seine Braut Clara Wieck. Diese Möglichkeit des Zitates, dem Eingeweihten eine Botschaft zu übermitteln, war in der Wiener Klassik ein raffi niertes kompositorisches Mittel geworden. Der Gedanke Zofia Lissas, daß das Fragment neue semiotische Eigenheiten annimmt, kann sogar soweit zugespitzt werden, daß es möglicherweise erst als Zitat semiotische Eigenheiten annimmt, die es an seinem ursprünglichen Ort nicht gehabt hat.

In ähnlicher Zielrichtung sind auch Zitate in den frühen italienischen Opern zu verstehen, wenn in einer Oper aus anderen Opern zitiert wurde. Die Zuhörer waren dabei so informiert, daß sie um die außermusikalische Bedeutung des Zitates wußten. Umgekehrt suchten die Zuhörer mitunter nach versteckten außermusikalischen Hinweisen in musikalischen Werken; Ludwig XIV. etwa bezog den Inhalt und die Anlage dieser oder jener Oper direkt auf sich.7 Er war in dieser Hinsicht sehr hellhörig: Als seine Geliebte und spätere Frau, die Marquise de Maintenon, sich in der opéra comique La faussee prude wiederzuerkennen glaubte, verwies er die italienischen Sänger und Schauspieler, Urheber der Oper, kurzerhand des Landes. Natürlich ließen sich in Zitaten auch Kritik oder Spott verbergen. Und nicht zuletzt konnten derartige Zitate so aktuell sein, daß sie sich uns heute nicht erschließen und möglicherweise gar nicht als Zitate erkannt werden.8

Die Verfügbarkeit von anderer, bereits existierender Musik ist also eine ebenso wichtige wie im Grunde banale Voraussetzung. Je mehr Musik als Fundus verfügbar ist, desto näher rückt ein jüngeres Werk, in dem ausgiebiger Gebrauch von Zitaten gemacht wird, in die Nähe der Collage, Zofia Lissa spricht von der „Rumpelkammer der Geschichte“.9 Zitate, „musikalische Artefakte“, können mit „der ganzen Last der Assoziation beladen werden“. Assoziation ist Sache des Zuhörers, und kann sich daher auf ganz andere Umstände berufen als auf ein musikalisches Zitat einer vergangenen Epoche, einer anderen Musik. Knife Edge10 von der britischen Band EMERSON, LAKE AND PALMER ist dem Rock-Hörer ein genuines Stück Rockmusik, ein Hardrock-Stück, in dessen Mittelteil etwas „Kirchenorgel“ zu hören ist. Dabei ist Knife Edge ein aus Leoš Janáceks Sinfonietta, einem Teil der Allemande der Französischen Suite Nr. 1 von Johann Sebastian Bach BWV 812 und einigen, vergleichsweise winzigen, Rockeinsprengseln gefertigtes Arrangement. Die Instrumentation - Hammond-Orgel, elektrische

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Baßgitarre, Schlagzeug - ist hier die Maske, hinter die eben nicht jeder schauen mag oder kann. Zofia Lissas, Buddes und Kneifs Forderung dürfte für manch einen Rockhörer unerfüllbar sein - und ist für die bloße Konsumation von Rockmusik sicherlich auch gar nicht unabdingbar.

Lissa wies in ihrem Aufsatz darauf hin, daß das Zitat in der Neuzeit ein gewandeltes Geschichtsbewußtsein zur Voraussetzung hat. Dies trifft auch ohne weitere Umstände auf die Rockmusik zu. Rockmusiker benutzen Partikel aus anderer Musik ebenso, wie etwa Charles Ives Kunstmusik und Trivialmusik mischte. Die scheinbare Bedeutungslosigkeit des einzelnen Zitats ist das Neue in dieser Musik. „Alt“ ist alles andere.

So sind Zitate im früheren Sinne - in dem sie in dem neuen Werk erkannt und ihre Verwendung gedeutet werden konnte und mußte - innerhalb der Rockmusik nahezu nicht anzutreffen. Es gibt einige wenige Beispiele auf Schallplatten, etwa bei YES, die in ihrem weit ausholenden Schallplattenwerk Tales From Topographic Oceans aus ihrer eigenen LP Close To The Edge11 zitierten. Zu nennen wäre auch das Zitat aus dem BEATLES-Song I Am The Walrus bei CHICAGO TRANSIT AUTHORITY in deren Cover-Version von I´m A Man, oder ein Zitat des ROLLING-STONES-Song Paint It Black bei der Gruppe JACKSON HEIGHTS12. Eines der kuriosesten Selbstzitate - nicht musikalischer, sondern literarischer Art - baute die amerikanische Sängerin Sarah Masen in ihrer CD Sarah Masen ein13: Die CD enthält zehn Songs; in dem an zweiter Stelle stehenden Song Break Hard The Wishbone berichtet sie in einem Nebensatz von ihrem defekten Auto. In dem an neunter Stelle stehenden Song Kissing Tree will sie mit ihrem Auto wegfahren, erschrickt aber dann: „Ich vergaß, das Auto ist ja kaputt.“ In ähnlicher Weise brachte Annie Lennox, Sängerin des Duos EURYTHMICS, einige Textzitate aus der ersten LP Sweet Dreams Are Made Of This in ihrer CD von 1999 unter.14

Häufi ger, aber immer noch sehr selten, tauchen Zitate in Konzerten auf. Auf der CD-ROM Music Central ´9615 beispielsweise fi ndet sich ein kurzes Video, das Jimi Hendrix während eines Konzertes zeigt. In den Song Hey Joe fl icht er wenige Takte des BEATLES-Songs I Feel Fine16 ein. Ein derartiges Zitat entspricht dem Zitat in der Kunstmusik und setzt somit den in der Geschichte der Rockmusik bewanderten Zuhörer voraus. Dies ist nicht die Regel in der Rockmusik. Es ist hier zwar nicht der Ort, über das mangelnde Geschichtsbewußtsein von Rock-Hörern zu räsonieren, doch ist das Fehlen von Kenntnissen über ältere Rockmusik, ja das Fehlen der Einsicht,

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daß Kenntnisse eventuell von Vorteil sein könnten, eine Ursache dafür, daß immer neuen Hörergenerationen immer wieder die „alte“ Musik als neu verkauft werden kann. Nicht ohne Grund kapriziert sich gängige Mainstream-Rockmusik auf den jungen Hörer - ihm fehlt die Erfahrung.17

Kurze Zitate aus der Kunstmusik, die unvermittelt auftauchen und ohne weitere Folgen für das Rockstück bleiben, sind allerdings selten. Im Verlauf einer ausgedehnten Klavier-Improvisation baute Keith Emerson das Thema der zweistimmigen Invention Nr. 1 C-Dur von Johann Sebastian Bach ein.

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Ob es sich um eine spontane Eingebung handelte, oder um ein geplantes Zitat, muß dahingestellt bleiben.18 Ähnlich streute der Keyboard-Spieler Richard Tandy vom ELECTRIC LIGHT ORCHESTRA in seine Klavierbegleitung zu dem Song Rockaria die ersten Takte der Symphonie Nr. 5 von Ludwig

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van Beethoven ein.19 Der Sinn des gleichen Zitates als Eröffnung des Songs Roll Over Beethoven von Chuck Berry in der Fassung des ELECTRIC LIGHT ORCHESTRAs ist dagegen offensichtlich; ein bewußt geplantes Zitat, dessen ironische Spitze gegen Beethoven-Konsumption gerichtet ist.20 Der Song ist einer der wenigen Beispiele, in denen ein Zitat in ironischer Absicht angebracht wird.

Stilzitat

Ein in der Rockmusik häufi g anzutreffender Sonderfall der Anleihe ist das Stilzitat; es muß, um einigermaßen klar vom bloßen Arrangement getrennt werden zu können, eindeutig ausfallen. Schon das Klaviersolo in In My Life und die Streicherensembles in Yesterday und Eleanor Rigby fallen in diese Kategorie: Es wird nicht eine vorhandene Komposition zitiert oder gar arrangiert, sondern es wird ein Klangbild - in der Terminologie der Rock-Produzenten: ein Sound - entliehen. Die Klangbilder früherer Instrumentalensembles werden dabei auf ihre Stereotypien verkleinert und für einen Rock-Song dienstbar gemacht. In der Regel wird also auf Streicher-, Holz- und Blechbläserklänge zurückgegriffen, wie sie nicht zu genuiner Rockmusik gehören. Mit diesem Rückgriff auf vorhandene Klangbilder werden immer auch versunkene musikalische Welten heraufbeschworen - ein Stilzitat beschränkt sich aber nicht auf die europäische Kunstmusik, sondern kann beliebige Musik, ja selbst wieder Rockmusik als Vorlage nehmen. Die Grenze zur Parodie ist dabei fl ießend: George Harrisons Song Piggies21 zieht in der typisch maliziösen Weise George Harrisons einen Vergleich zwischen „kleinen Schweinchen“ und bestimmten Menschen, die Harrison als „bigger piggies“ bezeichnet - bis hin zur bösen Pointe, daß diese Schweine Messer und Gabel bereit halten, um Schinken zu essen. Instrumentiert wurde dieser Song von einem kleinen „Barock“-Ensemble zu dem neben den Streichern auch ein in den Vordergrund gemischtes Cembalo gehört. Der Gegensatz könnte nicht größer sein: Hier der böse Text über Schweine, dort die anmutige, vielleicht gar

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„höfi sche“ Musik einer vergangenen Epoche. Harrison macht durch diese Instrumentation seinen Song zu einer Satire.

Es ist keine Frage, daß das Stilzitat - zumindest, was Rockmusik betrifft - weniger ein eigener stilistischer Bereich ist als seinerseits ein Stilmittel und meist innerhalb von größeren Arrangements anzutreffen ist. So können Arrangements, in denen Streicher und Holzbläser vorkommen, fast immer Stilzitate sein, sofern sie nicht lediglich den Background bilden. Zwei Beispiele mögen dies erhellen: Das unvermittelte Auftreten einer Trompete in dem Song Penny Lane von den BEATLES ist kein Zitat, sondern ein Stilzitat.22 In seinen Memoiren All You Need Is Ears rekonstruierte Martin das Entstehen des Songs:

Following that came Penny Lane, which started life as a fairly simple song. But Paul decided he wanted a special sound on it, and one day, after he had been to a concert of Bach´s Brandenburg Concerti, he said: ‘There´s a guy in them playing this fantastic high trumpet’ ‘Yes,’ I said, ‘piccolo trumpet, the Bach trumpet. Why?’ ‘It´s a great sound.Why can´t we use it?’ ‘Sure we can,’ I said, and at that he asked me to organise it for him. Now, the normal trumpet is in B fl at. But there is also the D trumpet, which is what Bach mostly used, and the F trumpet. In this case, I decided to use a B-fl at piccolo trumpet, an octave above the normal. To play it I engaged David Mason, who was with the London Symphony Orchestra. It was a diffi cult session, for two reasons. First, that little trumpet is a devil to play in tune, because it isn´t really in tune with itself, so that in order to achieve pure notes the player has to ‘lip’ each one. Secondly, we had no music prepared. We just knew that we wanted little piping interjections. We had had experience of professional musicians saying: ‘If the Beatles were real musicians, they´d know what they wanted us to play before we came into the studio.’ Happily, David Mason wasn´t like that at all. By then the BEATLES were very big news anyway, and I think he was intrigued to be playing on one of their records, quite apart from being well paid for his trouble. As we came to each little section where we wanted the sound, Paul would think up the notes he wanted, and I would write them down for David. The result was unique, something

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that had never been done in rock music before, and it gave Penny Lane a very distinctive Character.23

Der Hintergrund für das Stilzitat ist in diesem Fall deutlich. Der Einsatz des Cembalos in I´m Fixing A Hole24 dagegen weist nicht auf ein Stilzitat hin: es dient lediglich der akkordischen Begleitung und wurde wohl um der ausgefallenen Klangfarbe willen gewählt.

Diese beiden Beispiele zeigen, daß es - um ein Stilzitat dingfest zu machen - nicht genügt, eine bestimmte Instrumentierung oder eine charakteristische Stimmführung als „Fremdkörper“ in einer Komposition zu erkennen, sondern daß auch das Stilzitat Kenntnisse über den zitierten Stil erfordert, der Hörer also wissen muß, welcher Stilbereich zitiert worden ist. Darüber hinaus aber sind Kenntnisse über die Motive des Komponisten von Vorteil - das Stilzitat in Penny Lane hat eine ganz banale Erklärung.

Auch Yesterday ist kein Zitat aus einer vorhandenen Komposition, sondern ein Stilzitat. Es wird also mit den erprobten, bekannten Mitteln eine neue Komposition angefertigt, die „klingt wie“. Der Zuhörer soll ältere Musik assoziieren, was bei ihm zumindest vage Kenntnisse voraussetzt, aber nicht ein bestimmtes Stück erkennen. George Martin hat durchweg Stile zitiert: barocke Musik bei Piggies, Orchestermusik des ausgehenden 19. Jahrhunderts bei Good Night25, immer wieder Klaviermusik des 18. Jahrhunderts wie in In My Life26. In zahllosen anderen BEATLES-Kompositionen ließ Martin seine Kenntnisse der Musik einfl ießen: das Horn-Solo in For No One, das kleine Orchester in She´s Leaving Home, die Jahrmarktsorgeln in For The Benefi t Of Mr. Kite, die Streicher in Strawberry Fields Forever und I Am The Walrus - beide Songs werden in Glass Onion zitiert -, um nur einige zu nennen.27 Hinter Martins gesamter Arbeit als Komponist und Arrangeur scheint aber vor allem die Musik des großen, opulenten Hollywodfi lms der dreißiger und vierziger Jahre durch. Durch diese Vermittlung - und ein offensichtlich spezielles persönliches Interesse an barocker Musik -, ist Martins breit gefächerter stilistischer Spielraum zu erklären. Auch seine Ausbildung an der Guildhall School Of Music in London dürfte zu seinen spezifi schen Fähigkeiten, beliebige musikalischen Stile in eigenen Kompositionen wieder auferstehen zu lassen, beigetragen haben:

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I stayed at the Guildhall for three years, studying composition and all that goes with it - conducting and orchestration, musical theory, harmony, counterpoint and so on. I took piano of course, because that was the natural instrument for me, but one also had to learn a second and it was suggested that I should take up a wind instrument. So I thought about all of them, and fi nally settled down on the oboe.28

Seine Kompositionen für den Zeichentrickfi lm THE BEATLES - Yellow Submarine belegen dies eindrucksvoll. In diesem Zyklus findet sich mit Bachs Air aus der Ouvertüre Nr. 3 auch das einzige echte Zitat in Martins Musik. In seinen Memoiren gibt Martin auch Aufschluss über sein Verständnis von Musik:

But although today I can write music like that (gemeint ist Claude Debussys L´Après-midi d´une faune) myself, I didn´t do it fi rst. Debussy did. The real wonder of music and orchestration is that you can actually paint sound, yet no modern artist worth his salt tries to imitate Botticelli. Classical music was my fi rst love, and I am often asked what I am doing working in the pop fi eld. ‘Isn´t it something of a comedown?’ is the typical question. But the typical answer is ‘No!’, for various reasons. To start with, the ‘classical music’ that people refer to when they use the term is old music, music that was written at least fi fty and more often at least a hundred years ago. Of course, there is contemporary ‘classical music’. But to most people it sounds extremely dissonant, and I personally don´t know anyone outside the profession who really enjoy listening to it. To be fair, most composers writing contemporary ‘classical music’ are in a cleft stick. They can´t use the styles which have already been evolved then they´re accused of being romantic, or sensuous, or derivative. So the only way to go is to write new sounds - and remember, even the twelve-tone scala is old-fashioned now, and almost regarded as romantic itself. The result is that the modern ‘classical’ composer either writes stuff that most audiences can´t stand, or reverts to writing symphonies that could have been written by Brahms. And what´s the point of that? So ‘classical music’ becomes a one-way street; and that´s where pop music has come into ist own, because it canbe truly creative. What´s more,

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many ‘classical’ composers have obviously been popular. Schubert, for instance, wrote ‘pop’ music in that his song were sung for the pleasure of ordinary people. Even Beethoven wrote for bands and so on...they laid the groundwork of our basic musical culture. But if Bach were alive now, I´m absolutely sure that he´d be working at music in the same way that we do in the business today. Above all, he was a worker and a craftsman.29

Gerade mit dem „Sound“ des kleinen Streichensembles ist die Musik der Beatles selbst im Laufe der Jahre zu einem Objekt geworden, das seinerseits als Vorlage für Stilzitate gewählt wird. In selbstironischer Absicht tat diese George Harrison mit seinem Song When We Were Fab30, von Jeff Lynne als Produzent kenntnisreich in Szene gesetzt. Derartige Songs, die stets an Strawberry Fields oder I Am The Walrus erinnern, gehörten Mitte der neunziger Jahre während der sogenannten „Brit Pop“-Welle geradezu zur Pfl icht junger britischer Bands, wie Whatever31 von OASIS zeigt. Eine Klangwelt, die an THE BEATLES, THE ELECTRIC LIGHT ORCHESTRA und auch an Barry Ryan erinnert, beschwor die britische Band THE DIVINE COMEDY mit ihrer Platte Fin de Siècle32 herauf - durch und durch, vom Bandnamen über den Titel der Platte bis hin zur Musik, eine Reminiszenz an die Rockmusik der sechziger Jahre.

Arrangement und Bearbeitung

Ein im Klassik-Rock gängiges Verfahren ist es, ein oder mehrere längere Zitate innerhalb eines Rockstückes zu kombinieren; dabei kann auch mal ein Zitat etwas länger ausfallen oder an exponierter Stelle, etwa am Anfang stehen. Auch hier gibt es zwei Formen: zum einen das Arrangement, zum anderen die Bearbeitung oder Adaption (auch Adaptation). Häufi g, etwa bei EKSEPTION, gerät das Arrangement zu einer Montage, in der mehrere Zitate aneinandergereiht und nur um des „Flusses“ willen mehr oder weniger kunstvoll miteinander verbunden werden.

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Grundsätzlich müssen aber bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, damit eine Komposition überhaupt bearbeitet oder arrangiert werden kann.

Die hauptsächliche Voraussetzung ist, daß der Originaltext verfügbar ist. Die Verfügbarkeit einer Komposition - sei es als Notendruck oder als Tonträger - setzt voraus, daß es einen Urheber gab. Eine Bearbeitung ist erst dann als solche kenntlich, wenn die Vorlage und deren Verfasser bekannt sind. Zwar gibt es auch Beispiele von Bearbeitungen, bei denen weder der Urheber bekannt ist noch ein Notentext vorliegt - etwa, wenn ein Volkslied bearbeitet wird -, doch sollten diese Bearbeitungen tunlichst Interpretationen genannt werden, da es keinen ursprünglich verbindlichen Notentext gibt, der die Absicht eines Verfassers widerspiegelt. Historisch bedeutet dies, daß einerseits Komponisten auf der Urheberschaft eines Werkes bestehen, daß andererseits die sozialen und juristischen Voraussetzungen gegeben sind, daß diese Urheberschaft auch anerkannt und geachtet wird. Das ist in der Geschichte der Musik nota bene nicht immer der Fall gewesen und wurde und wird auch heute gelegentlich mißachtet. Hinzu kommt, daß - juristisch gesehen - das Urheberrecht, das Recht auf Kontrolle über die Verwertung zeitlich begrenzt ist und auch regional unterschiedlich bewertet wird.

Die Bearbeitung muß auch von der Entlehnung getrennt werden. Zwar kann die Bearbeitung das technische Instrument für eine Entlehnung sein, die Bearbeitung nimmt der Vorlage aber nicht soviel von ihrem Gehalt, daß sie einerseits etwa nicht mehr kenntlich ist, andererseits aber auch nicht als Plagiat oder gar Ergebnis eines geistigen Diebstahls entlarvt werden kann. Historisch bedingt war die Entlehnung keineswegs immer ein krimineller Akt: Das Fehlen eines Urheberrechts machte Entlehnung wie Diebstahl leicht möglich, wurde von den Zeitgenossen Johann Sebastian Bachs oder Georg Friedrich Händels aber nicht als solcher empfunden, sondern gehörte zum Handwerkszeug eines jeden Komponisten; der, das sei nebenbei bemerkt, sich weniger als schöpferischer autonomer Künstler denn als Handwerker sah, der Aufträge zu erfüllen hatte.

Die Gründe, ein vorhandenes Werk zu bearbeiten, sind daher vielfältig. Sie können der puren Not entsprungen sein, einen Auftrag zu erfüllen: Johann Sebastian Bach etwa war berufl ich so beansprucht, daß er mitunter auf Eigenes und Fremdes zurückgriff, um eine Komposition termingerecht „liefern“ zu können. Es spielt hier auch die Idee der Inspiration als mehr oder weniger stetig springender Quell herein: Die allein quantitativ große Zahl

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der Kompositionen, die Bach zu verschiedenen Anlässen anfertigen mußte, ließ eine gewisse Ökonomie angeraten erscheinen.

Bach hatte aber noch einen weiteren Grund, die Werke anderer Komponisten zu bearbeiten: Er lernte von diesen Kompositionen. Bach war als Komponist weitgehend Autodidakt, lernte also am Beispiel, das andere ihm gaben. Die geistige Verarbeitung der von ihm bearbeiteten Werke führte dann zu eigenen, eigenständigen Kompositionen.

Dabei ist es nicht dem Zufall überlassen, welche Vorlage zur Bearbeitung herangezogen wurde: Wichtig scheint der Aspekt zu sein, daß der Bearbeitung jeweils bereits eine intensive Beschäftigung mit der Materie vorausgegangen ist. Der bearbeitende Komponist weiß, was er an dem anderen Werk schätzt, weiß, was er lernen möchte. Wer ein Stück bearbeitet, trifft eine Auswahl; er sucht sich seinen Lehrer und den Stoff quasi selbst aus.33

Mitunter bearbeitete Johann Sebastian Bach fremde Werke, um sie für seine Arbeitgeber überhaupt zugänglich zu machen. Beispielsweise für Prinz Johann Ernst: Bachs Bearbeitungen von 16 Konzerten nach verschiedenen Meistern BWV 972-987, darunter vor allem einige Konzerte Antonio Vivaldis, waren also Übertragungen vom Orchester auf das Klavier - in einem Fall auch für die Orgel -, und einerseits für den tatsächlichen Gebrauch, andererseits aber auch als Studienpartituren gedacht.34 Nicht zuletzt die Erfahrungen mit diesen Werken ergab 1735 sein eigenes „Concerto nach italienischem Gusto“. Rockmusiker mögen sich in dieser Methode wiedererkennen: Auch sie eignen sich ihr musikalisches Handwerk zumeist autodidaktisch an und kommen durch Nachahmung zu Eigenem. Das „verfügbar Machen“ - häufi g also die Reduktion von Orchesterwerken auf einen Klavierauszug - erlebte seine volle Blüte im19. Jahrhundert. Das prosperierende Musikverlagswesen veröffentliche in großem Maßstab und mit großer Geschwindigkeit Klavierbearbeitungen unterschiedlichster Werke. Gleichzeitig wuchs der Ausstoß der Klavierfabriken. Diese Entwicklung wurde erst im 20. Jahrhundert mit dem Aufkommen von Tonträgern zunächst gebremst und schließlich beendet.

Der autonome Komponist bearbeitet die Werke anderer Komponisten nicht aus praktischen Erwägungen. Zweierlei Motive stehen im Vordergrund: Zum einen kann eine Bearbeitung eine Huldigung an den Schöpfer der Vorlage sein, zum anderen eine „Verbesserung“ der Vorlage.

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Arrangement

Für bloße Arrangements wird in aller Regel der einfachste Weg beschritten: die Vorlage wird für das Instrumentarium einer Rock-Band transkribiert. Vorlagen aus der Klavier- und Orgelliteratur sind also prädestiniert, denn hier ergibt sich eine instrumentale „Schnittstelle“ zur Rockmusik: Klavier und Orgel sind auch in der Rockmusik gebräuchlich, sie erfuhren eine Aufwertung. Die Baßstimme wird häufi g ohne größere Veränderungen direkt von der Baßgitarre übernommen. Doch beschränkten sich Rockmusiker nicht nur auf die Literatur für Tasteninstrumente, sondern arrangierten auch Vorlagen aus der Orchester-Literatur; es fi ndet sich allerdings kein einziges Rockstück, dem ein Vokalwerk zugrunde liegt. Ein solches „Rock-Arrangement“ erschöpfte sich also im bloßen Nachspielen einer Vorlage oder von Teilen der Vorlage. Beispiele dieser Art fi nden sich etwa bei EKSEPTION und bei SKY.

Arrangement ist in der Rockmusik in der Regel aber mehr als lediglich das Transkribieren für eine anderer Instrumentation. Peter Kellert und Markus Fritsch umreißen in ihrem Lehrbuch „Arrangieren und Produzieren“ die Aufgabe eines Arrangeurs wie folgt:

Der Arrangeur ist das wichtigste Bindeglied zwischen einem Komponisten und dessen Komposition und den Musikern bzw. den Orchestern, die diese Musikstücke aufführen oder aufnehmen. Seine Aufgabe besteht also darin, eine bereits existierende Komposition für jede Art von Besetzung und in jeder Stilistik bearbeiten zu können.

Im günstigsten Falle darf ein Stück rhythmisch und harmonisch etwas „aufpoliert“ werden, um es an aktuelle Trends anzugleichen oder um einem alten Stück neue „Farbe“ zu verleihen. Für eine solche Aufgabe sollte ein Arrangeur möglichst viel über die verschiedensten Stilistiken wissen. Es wird auch häufi g verlangt, daß für eine Komposition ein neuer Ablauf festgelegt wird. Dies gilt vor allem für Medleys und ähnliche Werke, bei denen mehrere Stücke zu einem Stück zusammengefaßt werden.35

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Der Titel des Buches von Kellert und Fritsch sagt bereits, daß in der Rockmusik kaum zwischen Arrangeur und Produzent unterscheiden werden kann. Im Laufe der sechziger Jahre hat sich die Figur des Produzenten überhaupt erst herausgebildet. Prototyp des modernen Produzenten ist George Martin, Produzent der BEATLES. Beschränkte sich in der Zeit vor der Entwicklung der Mehrspurtechnik in den Aufnahmestudios und vor den BEATLES die Aufgabe des Produzenten darin, für die technischen Voraussetzungen der Aufnahme zu sorgen und - wichtiger noch - das aufzunehmende Repertoire abzusprechen und, wenn nötig, eigene Vorschläge anzubringen und durchzusetzen, so war die Aufgabe des Produzenten seit etwa Mitte der sechziger Jahre um ein Vielfaches gewachsen: Er sorgte für die Songauswahl, arrangierte gegebenenfalls die aufzunehmende Musik, engagierte zusätzliche Musiker und war für den Gesamtklang, den Sound verantwortlich. Musikalische und technische Anforderungen vermischten sich mit Marketingüberlegungen. Auch spielte psychologisches Fingerspitzengefühl im Umgang mit den Musikern eine nicht unerhebliche Rolle.

Für Martin ergaben sich etwa seit Revolver36 derartige Aufgaben sukzessive von selbst. Doch sah er eine seiner wesentlichen Aufgaben im Schreiben und Arrangieren von Ergänzungen zur Musik der BEATLES, er fühlte sich dafür verantwortlich, die Ideen von Lennon und McCartney umzusetzen. Sein Handwerk hatte er gründlich gelernt, wie er in seinen Memoiren darlegt:

Much of pop music depends on arranging and orchestration - things which are very diffi cult to teach. The old man who taught me at the Guildhall used to give me exercises. He would say: ‘Now, next week I want you to take the second movement of Beethoven´s Hammerklavier Sonata and score it for a symphony orchestra.’ I would spend ages scoring what would be one movement of a symphony, but the trouble was that I never heard it played, so I knew what my orchestration would sound like. But he had the experience to know, and he would look through it and say: ‘Oh, yes, very good. I like that. I like the way you used the strings there. But I wouldn´t put the bassoon on the third there. That makes it too thick on the bottom.’ He would tell me what

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I should and shouldn´t do - but, since I never heard it, I could never truly assimilate his teaching.

...

Nor is it orchestration, which is different from composition in any case. Orchestration is a matter of giving colour to lines that are already there, and that is simply a question of experience. There are certain things which, if you do them one way, will produce a particular sound, but which with only slight modifi cation will sound completely different.

...

Composition is a cerebral exercise of musical line and harmony, and wether it´s performed on a synthesizer or by a hundred-piece orchestra, it´s still the same music. The basic design doesn´t change. What orchestration is to give it life. And however you choose to do that colouring changes totally the way in which the audience receives the basic line.37

Es ist verständlich, daß Martin seine Arbeit aufwertet und dem Arrangement einen der Komposition vergleichbaren Stellenwert gibt - für Rockmusik kann das der Fall sein; Hits kommen mitunter auf diese Weise zustande. Doch wird derartige Rockmusik niemals den Tag überdauern. Die Musik EKSEPTIONs, so erfolgreich sie Anfang der siebziger Jahre war, ist schon gegen Ende des Jahrhunderts vergessen. Zu schnell hatten die Musiker um Rick van der Linden die ursprünglich originelle Idee, Kunstmusik innerhalb von Rockmusik zu verwenden, zur Masche degenerieren lassen.

Es ist nur auf den ersten Blick erstaunlich, daß es lediglich eine kleine Zahl von Musikern ist, die die Möglichkeiten direkter Zitate aus der Rockmusik dazu nutzte, etwas über Rockmusik selbst zu sagen. Um das von Kellert/Fritsch und Martin Gesagte mit Leben zu füllen, daß nämlich das Arrangement dafür genutzt werden muß, dem Hörer etwas verständlich zu machen, und daß das Arrangement deshalb einem Trend gehorcht: Ein Rockmusiker weiß, daß Rockmusik in aller Regel eine Kunst des

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Augenblicks ist. Was heute modern und gefragt ist, ist morgen vergessen. Er wird sich hüten, seiner Musik durch ein falsches Zitat, ein anachronistisches Arrangement die Wirkung einer veralteten Musik zu geben - es sei denn, es ginge ihm um Parodie. Doch dann ist der dazugehörige Text von herausragender Bedeutung. Frank Zappas rhetorische Frage „Does humor belong to music?“ entbehrt ja nicht der Grundlage. Rock ist meistens ernst, ernsthaft oder gar bierernst, oft pathetisch, melodramatisch, voller Sentimentalität und Selbstmitleid; gelegentlich ist Rockmusik auch ordinär, billig und zusammengeschustert. Humor, Ironie und Satire sind aber auch nicht das, was der Rock-Rezipient von „seiner“ Musik erwartet. Parodien bauen immer eine Distanz zur Musik auf, sind eher der abschätzende Blick als die „ehrliche“ Unmittelbarkeit. Authentizität, „Echtheit“ und „Ehrlichkeit“ sind aber das, was der Rockhörer vom Rock zuvörderst erwartet, ist er doch emotional an diese Musik gebunden. So fühlt sich, um es mit einem gängigen Beispiel zu sagen, der Fan der ROLLING STONES dem Wesen der Rockmusik näher, als er es dem Fan der BEATLES zugestehen würde.

Rockmusik ist um so „echter“, je konservativer sie sich gibt, je konsequenter sie den stilistischen Rahmen, den die frühen Rockaufnahmen vorgaben, nicht verläßt. Natürlich wäre Rockmusik unter dieser Bedingung eine Minderheitenmusik, vielleicht sogar die Krawallmusik geblieben. Erst die zeitliche Distanz der zweiten Generation von Rockmusikern machte so etwas wie Stilzitate - und sei es die bloße Nachahmung - möglich. Andererseits war das kommerzielle Potential des frühen Rock so schnell offensichtlich geworden, daß die amerikanische Musikindustrie nicht nur mit ihrer Finanzkraft und ihren immensen Vertriebsmöglichkeiten, sondern auch mit einer Erweiterung des künstlerischen Rahmens von der neuen Musik Besitz ergriff - und dies bedeutete, daß die Pop-Industrie, als deren Wahrzeichen das Brill Building mit seinen kasernierten Song-Schreibern, Textern und Arrangeuren gilt, in erheblichem Maße an Einfluß gewann. Natürlich barg die Rockmusik, da sie selbst das Ergebnis einer mehr oder weniger willkürlichen Stilvermengung ist, von vornherein die Möglichkeit des Arrangements, der Nutzbarmachung jeglicher anderer Musik. Diese Möglichkeit mußte nur entdeckt werden.

Bis zu den ersten Schallplattenauftritten der BEATLES gelang dies mehr oder weniger zufällig. Das besondere an dem Marketing der BEATLES war, daß

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sie, etwa seit dem Film Help!, einerseits weiterhin als alleinige Urheber ihrer Songs auftraten, andererseits sich aber die Arrangierkünste ihres Produzenten George Martin nutzbar machten. Das Arrangement, die Instrumentierung hat durch diesen Kunstgriff erst eigentlich die Bedeutung erhalten, die es heute hat. Martin kamen dabei die Aufgeschlossenheit der vier Liverpooler Musiker und sein eigenes Können, nicht zuletzt aber auch die aufnahmetechnische Entwicklung entgegen.

Tatsächlich ist das Arrangement der Dreh- und Angelpunkt der Rockmusik spätestens seit 1967, seit der Veröffentlichung von Sergeant Pepper´s Lonely Hearts Club Band. Denn es ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Zum einen kann ein Arrangeur - gleichgültig, wer das ist - jedweden „Stil“ einbeziehen, so lange es nur „gut klingt“. George Martin schlug für Yesterday ein Streichquartett als Begleitung vor, Paul McCartney fand, daß es gut klingt, das Ergebnis war Yesterday, ein Song, wie es ihn in einer derartigen Form bis dahin nicht gab; selbst in der amerikanischen Pop Music nicht, die in der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich war, so lange es verkauft werden konnte. Martin stieß damit eine Tür auf, die niemand in der Rockmusik wirklich gesucht hatte. Seitdem ist das Arrangement - das in der Rockmusik Teil der „Produktion“ ist - fester Bestandteil dieser Musik und häufi g das einzig Bedeutsame und Interessante. Seit Yesterday war es nicht mehr sensationell, Streicher, Holzblasinstrumente, Cembalo und Pfeifenorgel zu verwenden - eine Unzahl von Epigonen der BEATLES beweist dies. Im Rückblick über die Jahrzehnte hat sich die Arrangierkunst seitdem immens verfeinert. Und musikalische Topoi, deren Verwendung beinahe obligat ist, geschaffen.

Für langsame Rock-Stücke, sogenannte Balladen38, sind Streicher und Holzbläser, meistens Oboe, sowie ein barockisierender Gesamtklang, geradezu zum musikalischen Allgemeinplatz geworden39. Nur selten aber stützen sich Arrangeure auf den überkommenen Instrumentalklang aus der Vergangenheit allein. Meistens treten im Rock übliche Instrumente wie Perkussions-Instrumente, akustische Gitarre, bundlose Baßgitarre hinzu. Diese Musik hat dann auch ihrerseits alle Chancen, für einen Film Verwendung zu fi nden, wie Rockmusiker überhaupt sehr häufi g Aufträge aus der Filmbranche erhalten, wenn nicht gleich vorhandene Rockmusik eingesetzt wird.40

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Die Verwendung traditioneller Musikinstrumente, der Rückgriff auf Klangwelten vergangener Zeiten sind bis zur Jahrtausendwende so sehr Bestandteil der Rockmusik geworden, daß kein Stilbereich ausgeklammert werden kann. Es sind nicht nur die typischen Mainstream-Bands - zu denen auch die BEATLES zählten -, sondern ebenso Heavy-Metal-Gruppen, Country-Musiker und Brit-Pop-Bands, die ebenso selbstverständlich auf diese Instrumentationen zurückgreifen wie es Sängerinnen und Sänger aus dem Schlager-Bereich, die dem Rock also eher fernstehen, immer schon taten. Ähnlich wie im Jazz seit etwa der fünfziger Jahre bieten ausgefallene Instrumentationen den Musikern sogar die Möglichkeit der „Individualisierung“. Das besondere Arrangement kann somit zu einem Kennzeichen werden, es hebt ihn aus dem Einerlei der Hit-Paraden heraus und weist auf den Musiker zurück. In diesem Sinne erscheinen zahlreiche einzelne Rock-Songs in einem völlig anderen Licht und erschweren die Möglichkeit, den Urheber einer Kategorie zuzuordnen. Zwei Beispiele mögen dies illustrieren.

Der amerikanische Komponist, Sänger und Gitarrist Lyle Lovett gilt zwar als Country-Musiker, verfolgte aber von Anbeginn seiner Karriere einen sehr eigenständigen Weg in der Instrumentierung seiner Songs. Lange Zeit ließ er sich nur von dem Cellisten John Hagen begleiten. Hagen verließ sich dabei nicht allein auf den gegebenen Klang seines Instrumentes, sondern verwendete auch einige Effektgeräte, die vor allem in der Rockmusik üblich sind. Dieser Instrumentierung, die kein Vorbild in der Rockmusik hat, standen die Songs, die er mit seiner LARGE BAND aufnahm entgegen. Zu ihr gehörten nicht nur die obligaten Rockinstrumente Gitarre, Baß und Drums, sondern auch Piano, Orgel, Steel Guitar, Alt-, Tenor - und Baritonsaxophon, Mandoline, Fiddle und Cello. Im Prinzip ist das eine Mischbesetzung von Jazz- und Country-Instrumenten und als solche nicht gerade üblich - dahinter aber verbirgt sich eine für Rockmusik eher konservative Form der Instrumentierung, denn Synthesizer kommen darin nicht vor, und Studioelektronik spielt sich nicht in den Vordergrund. Auf seiner LP I Love Everybody41 verwendete er in mehreren Songs42 Streichergruppen zusätzlich zu einem präparierten Cello oder einer präparierten Violine und einem archaischen, aus akustischer Gitarre, Kontrabaß und Drums bestehenden Rock-Rhythmustrio. Der eigentliche Instrumentalsatz dann basiert vollständig auf den Vorbildern aus der Kunstmusik, vor allem auf spätromantischen

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Satztechniken und erinnert etwa an die Klangwelten von Gabriel Fauré und Maurice Ravel. Arrangements bei Lyle Lovett sind bei aller Individualität immer dem schönen Klang verpfl ichtet und korrelieren immer zur Thematik des Songs.43

Von ganz anderer Art sind dagegen die Arrangements der britischen Sängerin, Pianistin und Komponistin Kate Bush. Deren Kennzeichen ist gerade die Verwendung von modernster Studio-, Sampler- und Synthesizertechnik. Die Klänge dieser Instrumente verbindet sie aber so geschickt mit herkömmlichen, mitunter archaischen Instrumenten wie Dudelsack, daß ihre modernen Synthesizer und Sampling-Geräte in diesem Klanggemisch aufgehen und häufi g gar nicht als Lieferanten von Surrogaten erkennbar sind. Anders als Lovett, der stets auf Musiker setzt, die ihre Individualität in seine Musik tragen, ist Bush weitgehend autark und produziert ihre Musik im eigenen Studio. Die Sängerin arbeitete auf ihren ersten LPs mit Musikern der Band COCKNEY REBEL zusammen, an ihren späteren Plattenwerken war zuweilen lediglich ihr Lebensgefährte, der Bassist Del Palmer, beteiligt. Bush zieht aber immer wieder für einzelne Songs Gastmusiker hinzu, die sie offenbar um deren spezifi schen „Klangbildes“ willen engagiert; dies waren zum Beispiel der deutsche Jazz-Bassist Eberhard Weber, der Geiger Nigel Kennedy und der bulgarische Frauenchor THE TRIO BULGARKA, aber auch die Rockmusiker Gary Brooker und Eric Clapton. Mit ihrer LP The Red Shoes44 kehrte sie wieder zu einer an einer Rock-Band orientierten Instrumentation zurück, angereichert um die völlig unterschiedlichen Klangfarben anderer Musiker.

Die Musik von Lyle Lovett und Kate Bush, Amerikaner der eine, Britin die andere, sind ohne die immense Wirkung der BEATLES-Kompositionen seit Yesterday und die Arrangements und Instrumentationen George Martins undenkbar. Yesterday und dann vor allem Sergeant Pepper´s Lonely Hearts Club Band zogen sowohl in Großbritannien als auch in den USA, dann weltweit, eine große Zahl von Epigonen nach; bis dahin gab es in der Rockmusik so etwas wie Arrangement allenfalls in Ansätzen. Dabei ging die Entwicklung zunächst in zwei Richtungen: Die einen sahen nun die Möglichkeit, ihre Songs farbiger und individueller zu instrumentieren und schufen Arrangements im oben beschriebenen Sinn. Der zu erwartende Zielpunkt dieser Entwicklung waren Kompositionen von Rockmusikern, die an Werke der Kunstmusik anknüpften. Häufi g wurde ein Rock-Ensemble

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einbezogen, es gibt aber auch Kompositionen, die vollständig das Gebiet der Rockmusik verließen und sich in die Tradition der Kunstmusik stellten.45

Yesterday und das damit weit geöffnete Tor des Arrangements führten aber auch dazu, daß Rockmusiker sich Stücke aus der Kunstmusik nahmen und für Rock-Gruppe arrangierten; bei den oben genannten Zitaten handelt es sich fast immer um Bearbeitungen für den Rock-Kontext. Allein mit der Instrumentierung konnte die wahre Herkunft des Stückes mitunter völlig verwischt werden, aber auch bestimmte Charakteristika des ursprünglichen Stückes betont und gelegentlich auch umgewertet werden. Es ist kein Zufall, daß häufi g die Musik Johann Sebastian Bachs herangezogen wurde, gibt ihre immanente Motorik dem Rockmusiker doch die Möglichkeit, hier Gemeinsamkeiten zu seiner Musik zu sehen. So haben die Protagonisten des Klassik-Rock, allemal Pianisten und Organisten wie Keith Emerson, Rick van der Linden und Rick Wakeman völlig unterschiedliche Vorlagen, Klaviermusik wie Orchesterwerke, für Rock-Bands umgeschrieben und die Stimmen auf Keyboards und Baßgitarre übertragen. Also auch hier ist das Arrangement der Vermittler. Mehr noch: Rockhörer nehmen den Klang von Musik als das eigentlich Substantielle. So lange beinahe beliebige Musik in irgendeiner Form - und das ist zumeist die Instrumentation für Rockband - noch als Rockmusik erkennbar ist, wird sie als Rockmusik gehört. Mitunter denken sich Rockhörer sogar Rock-Elemente hinzu: Immer wieder kann man beobachten, wie eingefl eischte Rockhörer imaginäre Schlagzeuge zu barocker Originalmusik betätigen. Es gibt offensichtlich Musikhörer, denen bestimmte Formalien der Musik vollkommen gleichgültig sind; sie sind andererseits besonders empfänglich für vielfältige Klangfarben und eine gleichmäßige Motorik, unverzichtbar sind ihnen offenbar klare formale Anhaltspunkte: Symmetrie der Form, gleichmäßige Periodik, vertraute Instrumentation, Gesang, eingeschränkte Dynamik. Mithin also die Ingredienzien durchschnittlicher Rockmusik.46

Im Rückblick betrachtet, ist Klassik-Rock, was das Arrangement im Sinne von Klanggestaltung angeht und wie es bei Lovett und Bush eingesetzt wird, eine eher eindimensionale Musik. Arrangement im Sinne von Stimmverteilung und Instrumentation ist für die Rockmusik ja zu wenig, Arrangement bedeutet immer auch Klanggestaltung. Tatsächlich lassen Adaptionen nicht allzuviel Raum für ausgefeilte Arrangements: Will der jeweilige Musiker - im englischen Klassik-Rock zumeist ein Pianist/Organist

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- nicht gleich die originale Instrumentation übernehmen, wie etwa Keith Emerson gelegentlich47, so bleiben nur Transkriptionen auf das Klavier und die Baßgitarre. Damit macht sich der Pianist/Organist abhängig von der Musikelektronik-Industrie. Als Gary Brooker mit A Whiter Shade Of Pale der Hammond-Orgel zur Gleichberechtigung verhalf und Keith Emerson mit seiner Spielweise den ersten originären Orgel-Stil in die Rockmusik brachte - der von Brother Jack McDuff und Georgie Fame stark beeinfl ußt ist -, wurde Rockmusik für den Keyboard-Sektor der Musikelektronik-Industrie zwar nicht auf Anhieb interessant, aber es kamen in diesen Jahren doch eine größere Anzahl neuartiger Keyboards auf den Markt: Das Fender-Rhodes-Piano, das Hohner Clavinet, die Lowrey Orgel, das Wurlitzer-Piano. Alle diese Instrumente ahmten bekannte Prinzipien mehr oder weniger sklavisch nach: das Clavinet ähnelt dem Cembalo, im Fender-Rhodes werden statt Saiten Metallzungen angeschlagen, die Orgeln eiferten ihrem Vorbild Hammond-Orgel, und diese wiederum der Pfeifenorel nach. Erst der Synthesizer war ein völlig neuartiges Tasteninstrument - obwohl die Tastatur nur eine der möglichen Eingabegeräte ist -, und war schon allein aus diesem Grund erfolgreich. Die gesamte Entwicklung der Tasteninstrumente nach 1970, als Keith Emerson den Moog-Synthesizer auf die Bühne brachte, stand völlig im Zeichen des Ziels, dem Keyboarder neue Klänge zu erschließen. Diese Chance wurde nur unzureichend genutzt: Anstatt neue, ungewohnte Klänge zu suchen und in den Vordergrund zu stellen, wurde der Synthesizer bald als Surrogat-Lieferant für natürlich Klänge eingesetzt; tatsächlich ist die technisch fraglos mögliche Klangvielfalt im praktischen Einsatz nur eine theoretische Größe. Entweder läuft der Einsatz des Synthesizers auf perkussive - und damit dem Klavier ähnliche - Klänge hinaus, oder aber auf orgelähnliche Klänge.

Die britische Rockmusik befand sich damit in einer Sackgasse: Die Musik dieser Jahre von etwa 1967 bis 1975 beruhte auf Klangverschmelzung, während Rockmusik im allgemeinen auf Klang-Spaltung beruht. Dies ist ein verschleiertes Relikt des Blues: nur wenn der einzelne Instrumentalklang identifi zierbar bleibt, ist auch der einzelne Musiker identifi zierbar, kann er eine eigene instrumentale Persönlichkeit entwickeln. In der amerikanischen Rockmusik, in der Klassik-Rock eine sehr untergeordnete, unbedeutende Rolle spielt, wurde dieses Prinzip beibehalten: Das NEW YORK ROCK ENSEMBLE als der wichtigste amerikanische Vertreter dieser Richtung benutzte

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keine elektrischen oder elektronischen Tasteninstrumente, sondern, wenn überhaupt, Klavier und Cembalo. So waren die wenigen Bearbeitungen dieser Band durch die Verwendung von Cembalo, Oboe und Violoncello einerseits authentischer, durch den Einsatz des üblichen Rockinstrumentariums andererseits näher an der bekannten Rockmusik angesiedelt als der britische Klassik-Rock. Ein nicht zu übersehender Grund für die Vormachtstellung der Tasteninstrumente in den Arrangements der europäischen Bands - denn nachgeahmt wurde in Europa fast ausschließlich die britische Spielart des Klassik-Rock - mag in den Persönlichkeiten der Protagonisten dieser Musik zu sehen sein: Emerson, Wakeman, van der Linden, Lord verfügen über ausgeprägte Egos, die keinen weiteren gleichwertigen Musiker neben sich dulden. Jon Lord traf bei DEEP PURPLE in Ritchie Blackmore auf ein stärkeres Ego und wich auf Solo-LPs aus; Emerson, der den Gitarristen Davy O´List aus THE NICE hinausgedrängt hatte, wurde später zur Bildung einer sogenannten Supergroup nur noch mit Jimi Hendrix in Verbindung gebracht. Van der Linden degradierte die übrigen Mitglieder EKSEPTIONs zu bloßen Begleitern, Wakeman fühlte sich bei YES als Fremdkörper.48 Es konnte nicht ausbleiben, daß, auf sich gestellt, diese Musiker jedem Trend der Hersteller von Musikelektronik folgten: Von der Hammond-Orgel über das Mellotron zum monophonen Moog-Synthesizer, es folgten polyphone Moog- und Oberheim-Synthesizer, dann die digitalen Geräte Yamahas, schließlich die diversen Sampler. Aus den früheren Organisten waren „elektronische Symphonie-Orchester“ geworden wie Jon Anderson von YES sagte und ergänzte:

We needed somekind of orchestra, that we could carry with us, and Rick was the man.49

Die Voraussetzungen für farbige, abwechslungsreiche Arrangements waren also gegeben, doch schränkte Wakeman selbst ein:

With the instruments I´ve got I can do lots and lots of things. I have instruments that can create string sounds, or violin sounds, choral sounds, but they all lack the human element. I can do things on them for example that the human being can´t do. I could play some trumpet lifts that sound almost like a trumpet, that no human trumpet player

Zitat, Bearbeitung, Arrangement

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could possible play. On the other hand the trumpet player can do lots and lots of things that I can´t do on an instrument.50

Arrangements in der Rockmusik sind immer Gratwanderungen: sie wollen den Hörer vom Üblichen wegführen und auf die Individualität des zu Hörenden hinweisen; sie dürfen nicht zu weit von der musikalischen Erfahrungswelt des Hörers wegführen, um nicht ihre Legitimation als Rockmusik zu verlieren. Daß jeder Hörer seine persönlichen Grenzen mehr oder weniger willkürlich setzt, daß dem einen noch Rock ist, was der andere schon für Schlager einerseits oder Jazz andererseits hält, bedarf nicht der ausdrücklichen Erörterung.

Bearbeitung

Die Ambitionen der meisten Rockmusiker, die sich mit der tradierten Kunstmusik beschäftigten, gehen aber weiter als nur geistreiche Arrangements vorzulegen. Die Vorlage wird zwar auch hier für das jeweilige spezifi sche Instrumentarium arrangiert, gleichzeitig dient aber auch die Faktur der Vorlage als Inspirationsquelle für die Rock-Elemente des jeweiligen Stückes. Im einfachsten Fall werden die einzelnen Teile zwar nur blockartig nebeneinandergestellt - wodurch sich mitunter ritornell-artige Formen ergeben - und sind somit kaum mehr als eine Montage von Zitaten; das bereits mehrfach erwähnte Rondo von THE NICE gibt ein Beispiel.

Es gibt aber auch Beispiele, in denen aus der Vorlage beispielsweise ein Riff gewonnen wird, das dann formbildend einer Improvisation als Grundlage dient; ein Beispiel dieser Art ist Brandenburger von THE NICE.51 Mitunter werden Vorlagen auch umrhythmisiert und im Tempo verändert. Unter Umständen ergibt sich dann ein neues Stück, dessen Herkunft nur schwer erkennbar ist, wie etwa Keith Emersons Bearbeitung des Bildes Das alte Schloß aus Modest Mussorgskis Klavierzyklus Bilder einer Ausstellung.52 Die Vorlage fungiert dann, wie Dörte Hartwich-Wiechell bemerkt, als Diskussionsgrundlage:

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Hierbei bleiben vom Original nur die Grundgedanken erhalten und bieten Veranlassung zu üppigsten Klangimprovisationen ... Nicht mehr die Substanz ist hier wesentlich, sondern ihre klangliche Aufbereitung, und selbst der solcher Musik Fernerstehende muß zugeben, daß das Ergebnis erstaunlich in Bezug auf die Vielfalt von Klängen und Geräuschen ist. Hier ... wird versucht, einen Parameter des Originals voranzutreiben.53

In dieser Hinsicht steht Keith Emersons Adaption auf einer Stufe mit Maurice Ravels Bearbeitung der Bilder einer Ausstellung: Der vergleichsweise asketische Klavierklang wird aufgegeben, um die der Komposition immanenten Klangmöglichkeiten herauszustreichen. Es besteht kein Zweifel, daß dies - die Klanggestaltung - das ureigene Gebiet der Rockmusik ist. Die Bearbeitung der Bilder einer Ausstellung ergab aber in dieser Hinsicht auch erst einen Sinn, als der Synthesizer verfügbar war; daß es im Falle der Bearbeitung durch Keith Emerson auch eine Voraussetzung war, vielseitigere Musiker als bei THE NICE einsetzen zu können, sei nur am Rande bemerkt.

Pictures At An Exhibition von EMERSON, LAKE AND PALMER zeigt aber auch ein grundsätzliches Problem von Bearbeitungen in der Rockmusik: In der Verbindung von Rock und Kunstmusik muß die Kunstmusik zumindest erkennbar bleiben. Greift die Bearbeitung so stark in den originalen Text ein, daß das Rockelement überwiegt, bleibt die Vorlage der Bearbeitung mitunter auf der Strecke. Im Falle von Pictures At An Exhibition machte Keith Emerson aus dem Bild Das alte Schloß einen Boogie für Orgel, Baß und Drums. Er beschleunigte das Tempo und fl ocht typische Blues-Elemente ein. Zwar bleibt das Thema erkennbar; die Begleitstimme in der linken Hand wird aber zu einer schnellen Boogie-Figur umgewandelt - die Akkordik bleibt die des Vorbildes, Emerson fügt keine weiteren Akkordtöne hinzu, er läßt keine weg. Dies erschließt sich aber nur dem Hörer, der die Vorlage bis in den Notentext genau erkennt - das dürfte auf nur wenige Rockhörer zutreffen. Allenfalls das Thema ist zu erkennen, für den Hörer ohne Kenntnisse des originalen Textes dagegen ist die Abgrenzung von Rock und Kunstmusik in diesem Fall unmöglich, er hält im Zweifelsfalle diesen Abschnitt des Zyklus´ für genuine Rockmusik - eine Ansicht, in der ihn die furiose Ausführung durch das Trio ihn unterstützt.

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Pictures At An Exhibition ließ sich nicht „verstecken“. Auf dem Cover der LP und der CD ist die Vorlage als Ganzes wie auch die einzelnen adaptierten Teile penibel angegeben - im Grunde eine Selbstverständlichkeit. Doch längst nicht immer haben sich Rockmusiker an diese Selbstverständlichkeit, nämlich Werk und Urheber zu nennen, gehalten. Auf diese missliche und fragwürdige Verfahrensweise hat Tibor Kneif hingewiesen.54 Kneif gibt an, daß auf der ersten Platte der Gruppe EMERSON, LAKE AND PALMER weder Komponisten der Vorlagen noch die bearbeiteten Werke genannt werden. Auf späteren Pressungen der LP wurde zwar für The Barabarian Béla Bartók als Urheber, für Knife Edge Leoš Janácek angegeben, nicht aber Johann Sebastian Bach, aus dessen Französischer Suite Nr. 1 Emerson den Mittelteil seiner Komposition entnahm. Emerson ist aber beileibe nicht der einzige Rockmusiker, der die Vorlagen seiner Bearbeitungen nicht immer nennt: Kneif wies auf JETHRO TULL hin, die nicht angaben, daß ihre Bouré im Wesentlichen von Johann Sebastian Bach stammt, die britische Band BEGGARS OPERA nennt nicht eine einzige der auf Act One verwendeten Vorlagen; BLOOD, SWEAT & TEARS und COLOSSEUM reihen sich hier ein, sind aber nicht die letzten - SWEETBOX, deren Hit Everything Is Gonna Be Allright auf Bachs Air aus der Suite in D fußt, nennen nur den Komponisten, nicht aber das Werk.55 Tibor Kneif sieht darin nicht unbedingt eine Absicht:

Ein regelrechtes Plagiat wird man bei diesem herrschenden Brauch kaum annehmen können, zumal diesem ein Widerspruch anhaftet, den jeder, der künstlerisches Eigentum stehlen wollte, sofort merken müßte. Hörer, an die sich solche Adaptionen in erster Linie wenden, vermögen die Originalkompositionen schnell zu identifi zieren; ein Verschweigen des Autors erscheint bei ihnen also zwecklos. Rockhörer wiederum, die den Schmuck fremder Federn aus Mangel an Umgang mit der musikalischen Bildungstradition nicht erkennen, schätzen solche stilistischen Entgleisungen ohnehin nicht, vielmehr halten sie sie für prätentiöse Einfälle ihrer Musiker.56

Musiker haben sich verständlicherweise nicht selbst über derartige Unterlassungen geäußert. Keith Emerson antwortete auf die Frage Dominic Milanos, warum auf der ersten LP der Band weder Komponisten noch Vorlagen angegeben wurden:

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In the early days, I thought that Knife Edge was far enough removed from Janáceks Sinfonietta and The Barbarian from Bartók´s Allegro Barbaro not to worry about crediting it. But I don´t like to be thought of as stealing anything, and it gave me a guilty conscience not to have credited them. If the musician is alive, I always make a point of writing them personally or making sure that the record company contacts them and gets the royalty thing straight. Even though you still see no credits on that fi rst ELP album, Janácek´s and Bartók´s heirs get their royalties. And ever since, we´ve made sure to list the credits properly. Those mistakes happened in the early days of ELP. I´ve gotten past making those same mistakes again.57

Von einem gewissen Grad der Bearbeitung an hält Emerson es demzufolge für nicht weiter wichtig, wer die Vorlage schrieb, und um welche Komposition es sich handelt. Offenbar hält er Bearbeitungen für so substantiell, daß er das Resultat für seine ureigenes Werk annimmt.

Dies wirft die Frage auf, warum es überhaupt diese Bearbeitungen, Adaptionen von Kunstmusik in Jazz und Rock gibt. Für Jacques Loussier stellte sich diese Frage nicht, sondern die Idee zu Play Bach ergab sich von selbst:

Als ich das erstemal Bach spielte, hatte ich sofort das Gefühl, ich wollte mehr aus dem Original-Bach machen, also darüber improvisieren, Bach mit anderen Harmonien spielen. Ich habe von Anfang an viel Kontakt mit Bach gehabt. Schon nach drei Monaten spielte ich einfache Sachen, Bach war für mich eine große Liebe

...

Für mich war Bach von Anfang an leicht zu spielen - aber das ist natürlich ein sehr subjektives Gefühl. Es war nicht so, als hätte ich mich irgendwann hingesetzt und die Idee zu Play Bach entwickelt. Die Sache lag ganz einfach in meiner Natur. Daß ich ein Trio gebildet habe, verdanke ich der Begegnung mit dem MODERN JAZZ QUARTET. Um 1959 habe ich mich sehr für Jazz interessiert. Als ich die Musik des MODERN JAZZ QUARTET gehört habe, speziell Django, habe ich

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sofort gemerkt, daß das, was ich bis dahin allein am Klavier gemacht hatte, mit Bass und Schlagzeug besser klingen würde. Ich war (und bin es bis heute nicht) zwar kein Jazzpianist. Aber ich nahm den Jazz als Sprache und übersetzte meine Idee mit dieser Sprache.

...

Ich kenne sehr viele Sachen von Bach. Und einige Sachen fi nde ich interessanter als andere. Ich lese die Partitur und habe eine Idee, was man daraus machen kann. Wenn mir keine Idee kommt, spiele ich etwas anderes.

...

Die ganzen Sachen von Bach, die ich mit Play Bach gemacht habe, habe ich nie im Original gespielt! In meinem ganzen Leben habe ich vielleicht zehn Fugen und zehn Präludien gespielt. Alle Sachen auf Platte habe ich in der Partitur gelesen und sofort in meinem Sinne gespielt. Allein vom Lesen weiß ich, wie das Arrangement aussehen könnte.58

Pragmatisch ist die Antwort Keith Emersons auf die Frage: „Woher kommt Dein Interesse, die Musik anderer zu arrangieren?“ antwortete er:

Ganz einfacher Grund - ich mag die Titel. Ich möchte die Stücke spielen, aber in einer für unser Publikum akzeptablen Art. Und ich möchte neues Interesse an den Titeln stimulieren. Ich habe das in den sechziger Jahren begonnen, und das war meine Absicht

...

Ich spiele klassische Musik mit einem bestimmten Metrum. Das klingt besser. Es ist klassische Musik mit dem Augenmerk auf das Metrum, einem straighten Metrum - eines, das vom Original abweicht.59

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Es sind typische Musikerantworten, die wenig klären und neue Fragen aufwerfen. Auch Rick Wakeman gibt eine zutiefst subjektive Antwort:

I don´t put together classical and rock in my music as a gimmick, it is there because it´s the only way I know how to write. You compose according to your upbringing. I suppose the catalyst has always been the classical side of things, but I just throw everything in together and see what comes out. There is no other way I know to write, so I´m particulary trying to do something clever, it´s just the only way I know how to do it. I´m not trying to make rock fans interested in classical music. Whether you like it or not.60

Objektiv betrachtet, gibt es einige Antworten auf die Frage Warum. Der Verweise auf die kommerzielle Einträglichkeit dieser Musik verfängt nicht, denn andere Musik ist unter Umständen noch lukrativer und liegt ebenfalls in der Reichweite der Musiker von Klassik-Rock-Bands - die ja durchweg ausgezeichnete Instrumentalisten sind. Außerdem müßte der Musiker, der nicht kommerziell erfolgreich sein will, noch gefunden werden - es gibt ihn auch im Bereich der sogenannten E-Musik nicht.

Tibor Kneif vermutet zweierlei Gründe: Zum einen könnte der ausufernde Verbrauch von Kunstmusik „Dokument einer Inspirationspause oder einer internen Bandkrise“ sein.61 Im Einzelfall mag das zutreffen. Gerade bei Bands wie EKSEPTION und SKY, in deren Schallplattenwerk sich sehr viele Bearbeitungen fi nden, vermißt man originäre Rock-Kompositionen, die denselben Erfolg zeitigten wie die Adaptionen dieser Bands - es gibt sie nicht. Für Bandkrisen als Auslöser für den vermehrten Ausstoß von Kunstmusik-Adaptionen gibt es keinen wirklichen Beleg - kein Musiker hat sich jemals in dieser Richtung geäußert. Auch Siegfried Borris´ Vermutung, es könne sich um „Nostalgie“ handeln, läßt sich weder verifi zieren noch widerlegen.62 Eher dürfte dies für bestimmte Folk- und Folkrock-Gruppen gelten, eventuell auch für Bands, die sich mit Musik der Renaissance und des Mittelalters beschäftigten, wie etwa RENAISSANCE oder OUGENWEIDE. Nostalgisches mag man auch in den mystischen Themen bei YES oder GENESIS erblicken - aber dies sind keine Klassik-Rock-Bands.

Es bleiben allein die bloße Spielfreude und die Provokation. Die Spielfreude - nämlich, wie Jacques Loussier sinngemäß sagt, Bach so zu

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spielen, wie er möchte, mitsamt eigenen Erweiterungen - ist so lange ein legitimer Grund, wie der betreffende Musiker nicht sagt, daß er damit Bach „modernisiert“ oder für das heutige Publikum „hörbar“ macht. Ebenso ist es legitim, die eigene Virtuosität vorzuführen, ein für Organisten wie Keith Emerson, Rick van der Linden, Rick Wakeman, Jon Lord nicht unwesentlicher Grund; es ist auch nicht zu vergessen, daß zur selben Zeit - gegen Ende der sechziger Jahre - der Gitarrenvirtuose vom Schlage eines Jimi Hendrix, Eric Claptons oder Jimmy Page auf den Plan trat.

Progressive Rock also drew on Classical music´s legacy of virtuosity. This tradition stems initially from the romantic fl amboyance of such nineteenth-century fi gures as the violinist Nicolò Paganini (whose amazing exploits on his instrument led some to suspect that he was possessed by the devil) and the pianist Franz Liszt. After 1920, jazz absorbed the whole tradition of the Romantic virtuoso; from here the tradition passed on into rhythm-and-blues, and fi nally to psychedelic music, which witnessed the rise not only of virtuoso guitarists (Jimi Hendrix, Eric Clapton, Jimmy Page, Jeff Beck), but also virtuoso bass guitarists (Jack Bruce) and drummers (Ginger Baker). In all of these musics, virtuosity has served the same general function: the soloist takes on the role of Romantic hero, the fearless individualist whose virtuoso exploits model an escape from social constraints (represented by the orchestra in nineteenth-century music, and by the rhythm section in Jazz and the blues).63

So mußten die Organisten erst das geeignete Material finden, ihre Virtuosität zeigen zu könne - die Kunstmusik bot sich an, denn dort ist das instrumentale Brillieren spätestens seit Johann Sebastian Bach geübte Praxis. Bach war der „Show-Effekt“ seiner Improvisationskünste nicht unbekannt. Wenn Keith Emerson dann die eine oder andere Komposition aus der Kunstmusik verwendet, kann seine spezielle Darbietungsform durchaus auch als Provokation verstanden werden: Seine beiden Orgeln - eine Hammond L100 und eine Hammond C3 - standen in einem Winkel von 90 Grad zum Bühnenrand auf der Bühne, so daß er zwischen den Instrumenten stehen konnte und eine Orgel mit der rechten, die andere mit der linken Hand spielte. Mitunter fl ankte er über die C3 und spielte die Tastaturen von

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hinten. Manchmal hockte er sich auf das Orgelgehäuse und spielte aus dieser Stellung das Instrument. Man mag das als Mätzchen abtun, doch im Kontext eines Rock-Konzerts ist die Show wichtig, denn auch sie transportiert Inhalte: Seht her, diese schwierigen Kompositionen kann ich auf diese Weise spielen. Durch das Informelle eines Rock-Konzerts wird auf diese Weise das erstarrte Konzertwesen der Kunstmusik persifl iert. Provoziert soll sich nicht der Rockhörer fühlen, sondern der Bildungsbürger, dessen liebgewonnenen Formalien - abgedunkelter Konzertsaal, der Virtuose im Frack, der Zuhörer zumindest in angemessener Kleidung, andächtige Stille beim Empfangen der Musik, formalisierter Beifall, denn man klatscht nicht zwischen den Sätzen und man pfeift nicht - verspottet wird. Auch der Auftritt der zwei Cellisten und des Violinisten beim ELECTRIC LIGHT ORCHESTRA war für den unbefangenen Zuhörer pure Provokation - sie sprangen mit ihren Instrumenten über die Bühne und gaben sich wie Rock-Gitarristen. Der Auftritt von Rockmusikern war immer als Provokation gemeint - Provokation gegen die Erwachsenenwelt. Im Falle des Klassik-Rock war der Bildungsbürger gemeint.64

Cover Version und Parodie

Wenn es auch kaum Zitate von Rockmusik in Rockmusik gibt, ist der zitierende Rückgriff auf ältere Rockmusik dennoch keine „Fehlstelle“, kein „weißer Fleck“ auf der Landkarte der Rockmusik. Es gibt andere Möglichkeiten für Rockmusiker, bereits vorhandene Rockmusik zu verwenden, sie also innerhalb des eigenen künstlerischen Entwurfs zu nutzen: Die Cover Version und die Parodie.

Zitat, Bearbeitung, Arrangement

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Cover Version

Ein Phänomen, das nur in der Rockmusik gibt, ist die Cover Version. Darunter ist die Interpretation eines Rock-Stückes durch eine andere Rockband zu verstehen. Das ursprüngliche Rock-Stück muß von seinem Urheber bereits veröffentlicht sein. In der Regel handelt es sich außerdem um Rock-Songs, die ihre Publikumswirksamkeit hinreichend bewiesen haben. Nahe kommt der Cover Version der Standard im Jazz, und in der Kunstmusik ist es die weitgehende - fast: gewagte - Interpretation; doch treffen weder der Begriff Standard noch der Begriff Interpretation die Sache gänzlich. Das Phänomen kann es nur deshalb geben, weil etwa mit dem Auftreten der BEATLES die Musiker einer Band ihre Stücke selbst schrieben, also Komponisten und Interpreten in Peronsonalunion sind. Außerdem ist Voraussetzung, daß das Medium ein Tonträger ist, es also auch bereits eine feststehende Klanggestaltung des jeweiligen Songs gibt. Notentext allein ergäbe lediglich eine Interpretation, wie von der Kunstmusik her bekannt.

Es gibt mehrere Motive, ein solches Stück zu „covern“: Bereits der Titel selbst löst beim potentiellen Käufer eine bestimmte Gewißheit aus, was er zu erwarten hat und vielleicht auch eine gewisse Neugier, was diese Band dem bereits Gesagten nun hinzuzufügen hat. Der Erfolg der Vorlage geht mitunter auf die Interpreten der Cover Version über; dies ist ein Grund, warum Rockbands in ihrer Anfangsphase häufi g auf bereits veröffentlichte Kompositionen zurückgreifen. So haben die Gruppen YES und DEEP PURPLE, um nur zwei zu nennen, auf ihren ersten LPs Kompositionen der BEATLES veröffentlicht.65 Und die BEATLES haben auf ihren ersten Schallplatten zahlreiche Cover-Versions amerikanischer Songs, etwa von Chuck Berry, Little Richard, Leiber/Stoller und Carl Perkins. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Cover Version in der Rockmusik auch von dem Standard im Jazz. Im Jazz ist der Standard auch bei etablierten Musikern fester Bestandteil von Schallplatten und Konzerten, bedeutet er doch immer so etwas wie eine Auseinandersetzung mit der Musik des Urhebers des Standards. Letzten Endes ist aber der Cover Version wie dem Standard gemeinsam, daß sie ihre Existenz der Notationslosigkeit in der Rockmusik

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und dem Jazz verdanken: Grundlage ist immer eine vorangegangene Schallplattenveröffentlichung. An dieser orientieren sich die Musiker.66

Dabei ist es nicht der Sinn einer Cover Version, das ursprüngliche Stück möglichst getreu nachzuspielen.67 Vielmehr geht es darum, auf dem Vorhandenen aufbauend etwas Eigenes und damit etwas Neues zu schaffen. Das Duo ERASURE nahm für Abba-esque68 vier Songs von ABBA auf - Lay All Your Love On Me, S.O.S., Take A Chance On Me, Voulez Vous - und arrangierte die Songs des schwedischen Quartetts für Synthesizer und eine - männliche - Gesangsstimme. Dabei wird die dem Rock eher fernstehende Musik ABBAs durch diese Behandlung zu einem kompromißlosen „Elektronik-Rock“, der dennoch seine Herkunft nicht verleugnet.

Im Einzelfall kann es dazu kommen, daß die Cover Version einen höheren Bekanntheitsgrad erreicht als die Vorlage; Blue Suede Shoes ist in der Fassung von Elvis Presley wesentlich bekannter als das Original von Carl Perkins.69 Cover Versions mögen durchaus auch den Zweck erfüllen, eine Inspirationspause zu überbrücken, oder gar „Lückenbüßer“ in dem Sinne sein, daß sie eine LP auf die übliche Zeitdauer bringen können. Und es gibt nicht wenige Rockmusiker, die - haben sie erst einmal einen gewissen Status und damit Nimbus erreicht - komplette Langspielplatten mit Cover Versions füllen.70 Platten wie Brian Ferrys Album As Time Goes By71 kann man dagegen kaum zu diesen „Cover-Alben“ rechnen können, denn Ferry wählte alte Jazz- und Kino-Schnulzen sowie Evergreens als Vorlage.

In den neunziger Jahren schließlich kam die Idee der Tribute-Platten auf: verschiedene Musiker und Bands wählen aus dem Gesamtwerk einer anderen Band jeweils einen Song aus; anschließend werden diese Aufnahmen zu einer Tribute-Platte zusammengestellt. In diesem Sinne feierte auch die Plattenfi rma Elektra ihr vierzigjähriges Bestehen: Musiker, die zum Zeitpunkt des Jubiläums bei Elektra unter Vertrag standen, nahmen jeweils einen Song von Musikern auf, die zu einem früheren Zeitpunkt bei Elektra einen Vertrag hatten.72

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Parodie

Neben dieser „ernsthaften“ Form der „zitierenden Bearbeitung“ gibt es noch eine weitere Form von direkten und indirekten Zitaten, die Parodie. Mit dem Parodieverfahren der barocken Musik hat die Parodie in der Rockmusik nicht viel gemein; das Unterlegen einer bereits vorhandenen, benutzten Melodie mit einem neuen, ernsthaften Text ist in der Rockmusik möglich, aber nicht üblich. Einen Sonderfall stellen vielleicht Aufnahmen dar, die die spezifi schen Eigenarten von Rockstilen vorführen. Ein extremes Beispiel bietet da die Blues-LP If You Love These Blues, Play´em As You Please des Gitarristen Michael Bloomfi eld dar.73 Bloomfi eld führte mit dieser LP - in didaktischer Absicht - verschiedene Blues-Stile, etwa von T-Bone Walker, B.B. King, Jimmie Rodgers und anderen, vor.74 Dies alles ohne ironische Absicht, aber auch weniger im Sinne von Cover Versions, die es sich zum Ziele setzen, einen vorhandenen Song in eine andere Stilistik zu versetzen. Letzteres ist häufi g anzutreffen und war besonders in den achtziger Jahren sehr beliebt. Ein Beispiel bietet etwa die Aufnahme To Love Somebody, eine Single der BEE GEES, die Jimmy Somerville als Reggae spielte.75 Eine wie auch immer geartete ironische Absicht ließe sich in diesen Songs kaum entdecken, obwohl die ironische Anspielung durchaus auch in der Rockmusik ein Stilmittel ist, wie nicht nur die Aufnahmen der BEATLES seit etwa Sergeant Pepper´s Lonely Hearts Club Band76 beweisen.

Doch ist derartige, mitunter feine Ironie immer auch ein Problem der Rezeption. Back In The U.S.S.R.77 von den BEATLES könnte eindimensional als simpler Rock´n´Roll in der Tradition Chuck Berrys gelten. Seine Ironie offenbart sich erst mit der Kenntnis eines Geflechts von auch außermusikalischen Gegebenheiten, in denen der Song entstand: Die BEATLES waren während ihres Indien-Aufenthaltes mit einigen Musikern der BEACH BOYS - die die Liverpooler als direkte und stärkste Konkurrenz ansahen - zusammengekommen, und McCartney versuchte, sie als Background-Sänger für einen Song zu gewinnen. Diese lehnten ab, woraufhin McCartney, Lennon und Harrison den typischen BEACH BOYS-Gesang für Back In The U.S.S.R. selbst nachahmten. So ist dieser Beatles-Song zu einer Parodie des Stils geworden: Die BEACH BOYS musizierten durchaus ernsthaft im Stile

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von Chuck Berry, während die Beatles eben dieses taten, um die Musik der BEACH BOYS nachzuahmen - ein typischer Musiker-Scherz.78

Dem nicht-informierten Rockhörer entgeht dieser Scherz, er benötigt offensichtlichere Anhaltspunkte, um die Ironie, die sich in vielen Rockstücken verbirgt, erkennen zu können. So setzten Bands wie THE BONZO DOG BAND79, ALBERTO Y LOST TRIOS PARANOIAS, GRIMMS, das Duo THE PHLORESCENT LEECH AND EDDIE, später nur FLO AND EDDIE, und die Musiker um Neil Innes auf eindeutiger identifizierbare Formen der Parodie, fast immer mit satirischer Absicht. Teils parodierten die Musiker dieser Formationen genre-typische Stereotypen, teils nahmen sie Musikerkollegen ins Visier, teils unterlegten sie bekannte Songs mit neuen, mehr oder weniger witzigen Texten und entsprachen damit eher dem barocken Parodieverfahren. Anders als bei der Cover Version, die sich mitunter weit von der Vorlage entfernt, muß sich die Parodie enger an das Original halten, um als Parodie erkennbar zu sein. Dabei sind die musikalischen Mittel allemal die des Stilzitats; wörtliche Zitate sind auch hier nur sehr selten zu fi nden:

Die intellektuell anspruchsvollsten und in ihrer Schärfe auch bösartigsten Parodien finden sich in dem Schallplattenwerk Frank Zappas. Zappa benutzte von Anbeginn seiner Karriere musikalische Allgemeinplätze jeglicher Art und demaskierte sie als hohle Phrasen, decouvrierte das falsche Pathos manch einer Musik und legte auf diese Weise immer wieder Eigenarten des American Way of Live bloß. Aus diesem Blickwinkel gesehen, sind diese Aufnahmen innerhalb Zappas Gesamtwerk bedeutender als seine Jazzrock-Produktionen Anfang der siebziger Jahre und erst recht wichtiger als seine Versuche im Bereich der Neuen Musik gegen Ende seines Lebens.80

Aufs Ganze gesehen gibt es in der Rockmusik erstaunlich wenig Parodien; wohl ist Ironie kaum einem Rockmusiker fremd und viele Rockstücke enthalten ironische Elemente. Die Rockmusik selbst aber ist nur selten Ziel der Ironie, und wenn, dann bleibt das Ziel verschwommen. Manch ein Song der BEATLES entstand komplett im Geist der Ironie, Yer Blues beispielsweise, der die britische Blues-Bewegung der sechziger Jahre persifliert, aber niemandem der Protagonisten dieser Musik wirklich zu nahe tritt.81 Über die Gründe kann man nur spekulieren: Möglicherweise scheuen Rockmusiker Kritik an der Musik anderer Rockmusiker, weil sie um die enge emotionale Bindung an die eigene Musik wissen und daran nicht rühren wollen. Das in

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der Rockmusik auch Selbstironie möglich ist, bewies George Harrison mit seinem Song When We Were Fab, in dem er typisch Stilelemente der BEATLES verwendete und über seine Zeit als Beatle sang.82

Wenn auch selten, so ist mitunter auch die europäische Kunstmusik Zielscheibe des Spotts von Rockmusikern. Das ELECTRIC LIGHT ORCHESTRA zitierte zu Beginn ihrer Cover Version von Chuck Berrys Roll Over Beethoven die ersten Takte von Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 5, allerdings in einem dürren Arrangement für Violine, zwei Celli und Bassgitarre.83 Der ironische Bezug des Berry-Songs zur Kunstmusik wird durch dieses Zitat in die Realität umgesetzt. War für diese Ironie noch ein tatsächliches Zitat unumgänglich, so benötigte THE NICE für die Eröffnung ihrer Suite Ars Longa Vita Brevis keinen Rückgriff auf eine Vorlage, sondern gab dem Einspielen des Orchesters mit einem ironischen Abschluß die Wendung zu Parodie: das Einspielen wird nicht wie üblich durch das Abklopfen des Dirigenten beendet, sondern durch den schrillen Pfi ff einer Trillerpfeife. Ähnliches ist auf der LP Legend der britischen Gruppe HENRY COW zu hören, dort ist es aber nicht ein Orchester, dessen Einspielen beendet wird, sondern eben die Band.84

Besonders häufi g werden Sopranistinnen parodiert: Offensichtlich wird auf ihren Schultern alles abgeladen, was Rockmusiker - allemal Laien, was Oper betrifft - an Negativem mit Oper verbinden. Vor allem ist dies der dramatische, als gekünstelt empfundene Gesang, vielleicht auch der Verdacht, es mit falschem Pathos, nicht mit wirklicher Empfi ndung - die Rockmusiker mit Vehemenz für sich reklamieren - zu tun zu haben. Rockaria eröffnete das ELECTRIC LIGHT ORCHESTRA ganz dem Titel gerecht mit dem Gesang einer hohen Stimme - der Kopfstimme eines Sängers, der sich als Opernsängerin geriert.85 Ähnlich parodierte Prince in seinem Song Undisputed eine Sopranistin - er singt mit hoher Kopfstimme und lässt sich nur von einem Cembalo begleiten.86 Das kurze Stück wirkt wie ein Zitat, ist aber natürlich sofort als Parodie erkennbar. Die programmatische Absicht ist nicht recht erkennbar, es soll vermutlich eine Kritik am Musikbusiness darstellen, denn dieser sehr kurze Abschnitt folgt auf die Textzeile:

Heavy Rotation never made my world go ´round /Commercialization of music is what brougth it down.

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Möglicherweise handelt es sich dabei um eine Anspielung auf seinen eigenen Kampf gegen bestimmte Auswüchse der Musikindustrie; „Heavy Rotation“ bedeutet im Jargon der Plattenfi rmen, daß ein Song besonders häufi g in den Musik-Fernsehsendern gespielt wird. Warum der Kommentar ausgerechnet durch eine Parodie auf Kunstmusik erfolgte, ist allerdings rätselhaft. Dabei treffen hier zwei Welten aufeinander: Während in der Kunstmusik die Sopranstimme - also eine hohe Stimme - für eine junge, meist mehr oder weniger glücklich liebende Frau steht, manchmal auch für eine göttliche, zumindest überirdische Person, gilt die hohe Männerstimme in der schwarzen Musik als besonders männlich, ist doch dieser Klang nur dem Manne möglich; gleichzeitig steht er für die Offenbarung der Seele.87

Mit mehr Humor parodierte die britische Sängerin Sam Brown dramatischen Gesang zur Begleitung durch ein komplettes Orchester: in dem nur 41 Sekunden langen Stück Tea geht es darum, daß sie gerne Tee trinkt und sich möglichst bald - „very soon“ - wieder eine Tasse zubereiten wird. Auf „very soon“ wartet sie im Sinne der dramatischen Steigerung mit ironisch nachempfundenen Koloraturen auf. In ähnlicher Weise setzt auch die deutsche Sängerin Nina Hagen in ihren Konzerten immer wieder unvermittelt Sopran-Koloraturen ein; mehr als einen witzigen Überraschungseffekt bieten diese Einlagen aber nicht. Rätselhaft ist der Einsatz einer Sopranistin zu Beginn des Songs Finding My Way von der Gruppe LIQUID JESUS - vermutlich ein Gag, dessen Rätselhafi tgkeit gewollt ist.88

Die Grat zwischen Ernst und Spaß ist in der Rockmusik auf diesem Gebiet sehr schmal. Manches, was ein Rockmusiker mit gewisser Naivität als „ernst gemeinte Kunstmusik“ in die Welt setzt, wirkt auf den, der über nicht nur oberfl ächliche Kenntnisse der Kunstmusik verfügt, unfreiwillig komisch.

1 Im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch ist häufi g von „Adaption“ oder auch, seltener, „Adaptation“ die Rede. Immer ist damit die Verwendung des dann genannten Werkes oder Teilen davon gemeint. Es wird aber mit diesem Begriff nicht weiter spezifi ziert, was mit der Vorlage geschieht.

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2 Günther von Noé: Das musikalische Zitat, in: Neue Zeitschrift für Musik Nr. 124, Mainz 1964, S. 134-1373 Elmar Budde: Zitat, Collage, Montage, in: Die Musik der 60er Jahre, Mainz 1972, S. 264 Ästhetische Funktionen des musikalischen Zitates, in: Zofi a Lissa: Aufsätze zur Musikästhetik - Eine Auswahl, Berlin 1969, S. 139-1555 Zofi a Lissa: a.a.o.6 Tibor Kneif: Zur Semantik des musikalischen Zitats, in: Neue Zeitschrift für Musik, Heft 1, Mainz 1973, S. 37 Dies konnte ihm allerdings auch leicht fallen, denn der „Sonnenkönig“ war erster Adressat jeder bei Hofe aufgeführten Oper. Ludwig XIV. soll sich etwa in der Person des Atys in Jean-Baptiste Lully gleichnamiger Oper erkannt haben; nach: Beiheft zu Jean-Baptiste Lully: Atys, Harmoni Mundi France 19878 Zofi a Lissa gibt einige Beispiele für Zitate, deren Bedeutung sich dem Hörer nicht oder wenigstens nicht ohne weiteres erschließt an; in: Zofi a Lissa: Ästhetische Funktion des musikalischen Zitats, Musikforschung Nr. 19, 19669 Zofi a Lissa: Musikalisches Geschichtsbewußtsein - Segen oder Fluch? in: Zwischen Tradition und Fortschritt - Über das musikalische Geschichtsbewußtsein, Mainz 1973, S. 2210 EMERSON, LAKE AND PALMER: Emerson, Lake And Palmer (GB 1970)11 YES: Close To The Edge (GB 1972); YES: Tales From Topographic Oceans (GB 1973)12 CHICAGO TRANSIT AUTHORITY: Chicago Transit Authority (USA 1969); JACKSON HEIGHTS: King Progress (D 1970)13 Sarah Masen: Sarah Masen (USA 1996)14 EURYTHMICS: Sweet Dreams Are Made Of This (GB 1983), EURYTHMICS: Peace(GB 1999)15 Microsoft (HG.): Music Central ´96 (USA 1996); es handelt sich bei dieser CD-ROM um eine Lexikon-CD-ROM mit beigegebenen Fotos und Video-Clips. Grundlage des Lexikons ist Colin Larkins Lexikon: Colin Larkin (Hg.): The Guinness Encyclopedia Of Popular Music (London 1993); die ebenfalls auf dieser CD-ROM enthaltenen Plattenkritiken erschienen zuerst in der britischen Zeitschrift Q, London.16 THE BEATLES: I Feel Fine/She´s A Woman (GB 1964)

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17 Hendrix, das zeigt der Video Clip, gestattet sich, während er das Zitat in ein Solo einfl icht, ein kleines Lächeln. Für ihn ist es ein offensichtlicher Spaß.18 In Take A Pebble auf: EMERSON, LAKE AND PALMER: Emerson, Lake And Palmer (GB 1970)19 THE ELECTRIC LIGHT ORCHESTRA: A New World Record (GB 1976)20 THE ELECTRIC LIGHT ORCHESTRA: 2 (GB 1973)21 THE BEATLES: The Beatles (GB 1968)22 THE BEATLES: Penny Lane/Strawberry Fields (GB 1967)23 George Martin (with Jeremy Hornsby): All You Need Is Ears, London 1979, S. 201 ff.24 THE BEATLES: I´m Fixing A Hole, auf: THE BEATLES: Sergeant Pepper´s Lonely Hearts Club Band (GB 1967)25 THE BEATLES: THE BEATLES (Parlophone, GB 1968)26 THE BEATLES: Rubber Soul (Parlophone, GB 1965)27 THE BEATLES: Rubber Soul (Parlophone, GB 1965); Magical Mystery Tours (Parlophone, GB 1967); Sergeant Pepper´s Lonely Hearts Club Band (Parlophone, GB 1967); THE BEATLES (Parlophone, GB 1968)28 George Martin: a.a.o., S. 2729 George Martin: a.a.o., S. 30 ff.30 George Harrison: When We Were Fab, auf: George Harrison: Cloud Nine (GB 1987); Jeff Lynne war der musikalische Kopf der Band THE ELECTRIC LIGHT ORCHESTRA, mit der er die Klangwelt von BEATLES-Songs wie Strawberry Fields Forever und I Am The Walrus aufgriff.31 OASIS: Defi nitely Maybe (GB 1994)32 THE DIVINE COMEDY: Fin de Siècle (GB 1998)33 Regula Rapp: „Nicht etwa aus Leichtsinnigkeit..., sondern aus Antrieb verhoffentlich eines besseren Geistes“ - Lernen durch Bearbeiten, in: Silke Leopold (Hg.): Musikalische Metamorphosen - Formen und Geschichte der Bearbeitung, Kassel 1992, S. 7434 Regula Rapp: a.a.o., S. 7735 Peter Kellert/Markus Fritsch: Arrangieren und Produzieren, Bergisch-Gladbach 199536 THE BEATLES: Revolver (GB 1966)37 GeorgeMartin: a.a.o., S. 33 ff.

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38 Der Begriff Ballade bedeutet im Rock-Kontext nicht eine literarische Form, sondern ist Synonym für eine Komposition in einem langsamen Tempo; einen gewissen Bezug gibt es zu der englischen ballad.39 Dies ist auch daran ablesbar, daß beispielsweise die unter dem Namen „Vier Jahreszeiten“ fi rmierenden Konzerte von Antonio Vivaldi heute unter den Maßstäben des Pop-Marketings verkauft werden. In der Bundesrepublik Deutschlands ist eine Ausgabe dieser Konzerte mit der Geigerin Anne-Sophie Mutter die meistverkaufte Klassik-LP. Die äußere Aufmachung der im Jahre 1999 auf den Markt gekommene Ausgabe der Konzerte ist vollkommen auf den Star Anne-Sophie Mutter abgestellt, wie es in der Pop- und Rockmusik üblich ist - folgerichtig wird auch mit erotischen Mitteln gearbeitet. Siehe auch S. 317 ff.40 Die engen Beziehungen zwischen Rockmusik und Film beruhen vor allem darauf, daß die Marketingkonzepte beider Bereiche dasselbe Publikum im Auge haben. 41 Lyle Lovett: I Love Everybody (USA 1994)42 Old Friends; Ain´t It Something; Fat Babies43 Lovett besetzt selbst den Background-Chor mit Solisten wie Sweet Pea Atkinson und Ricky Lee Johns. Unter den Musikern, die bei ihm selbst untergeordnete Parts zu spielen bereit sind, fi nden sich beispielsweise Leo Kottke, Jackson Browne und Shawn Colvin. Umgekehrt spielen in seiner LARGE BAND vor allem junge, unbekannte Jazz-Musiker. 44 Kate Bush: The Red Shoes (GB 1995)45 In Kapitel „Progressive Rock und Avantgarde“ wird auf einige dieser Werke noch näher eingegangen. Hier seien nur zwei Beispiele genannt: THE NICE: Five Bridges (GB 1970); EMERSON, LAKE & PALMER: Works volume I (D 1977). Five Bridges ist eine Rock-Suite für Rock-Gruppe und Orchester. Auf Works fi ndet sich das Piano Concerto No.1 von Keith Emerson; an dieser Komposition ist kein typisches Rock-Instrument beteiligt.46 Es ist im übrigen bemerkenswert, wie wenig Rockhörer über die Bedingungen ihres eigenen Hörens refl ektieren. Rock-Journalisten, die berufl ich bedingt viel Rockmusik hören und darüber schreiben, erwecken durchweg den Eindruck, als betrachteten sie sich selbst als passive Konsumenten von Musik. Kaum einer scheint sich bewußt zu sein, daß Musikhören eine besondere Interaktion zwischen Musikproduzent - das kann die Konzertsituation sein, das kann ein CD-Spieler sein - und

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ihm als Hörer ist. Stattdessen sehen sich Rock-Journalisten als Instanz über der Musik.47 Beispielsweise: THE NICE: Five Bridges Suite (GB 1970); hier sind es die Bearbeitungen von Werken Tschaikowskys und Sibelius´.48 Dan Wooding: Rick Wakeman - The Caped Crusader; London1978, S. 105 ff.49 Dan Wooding: a.a.o., S. 9050 Dan Wooding: a.a.o., S. 18351 THE NICE:Ars Longa Vita Brevis (GB 1968)52 EMERSON, LAKE AND PALMER: Pictures At An Exhibition (GB 1971)53 Dörte Hartwich-Wiechell: Pop-Musik - Analysen und Interpretationen, Köln 1974; S. 28454 Tibor Kneif: Rockmusik und Bildungsmusik, in: Wolfgang Sandner (Hg.): Rockmusik - Aspekte zur Geschichte, Ästhetik, Produktion, Mainz 1977, S. 133 ff.55 JETHRO TULL: Stand Up (GB 1969); BEGGARS OPERA: Act One (GB o.J.); BLOOD, SWEAT & TEARS: New City (USA 1975); COLOSSEUM: Valentyne Suite (GB 1969); SWEETBOX: Sweetbox (D 1998)56 Tibor Kneif: a.a.o., S. 13457 Keith Emerson, in: Bob Doerschuk (Hg.): Rock Keyboard, New York 1985, S. 6558 Jacques Loussier im Interview mit Wolfgang Dichans, in: Keyboards Nr. 2, Februar 1988, Augsburg, S. 44 ff.59 Keith Emerson im Gespräch mit Dominic Milano, in: Fachblatt Music Magazin Nr. 74, Mai 1979, Köln, S. 12060 Dan Wooding: a.a.o., S. 18261 Tibor Kneif: Rockmusik und Wissenschaft, in: Melos/NZ1975/I, Mainz, S.19 ff.62 Siegfried Borris: Pop Musik - Kunst aus Provokation, Wiesbaden 1977, S. 2363 Edward Macan: Rocking the Classics, New York Oxford 1997, S. 4664 Ungekehrt muß der Rock-Fan, der auch einmal ein Konzert der Kunstmusik besuchen will, erst lernen, wie man sich im Konzertsaal benimmt. Die angemessenen Hörhaltung ist das Anliegen des Buches From Metal To Mozart. Craig Heller: From Metal To Mozart - The Rock And Roll Guide To Classical Music, San Francisco 1994

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65 We Can Work It Out auf DEEP PURPLE: The Book of Taliesyn (D 1968); Every Little Thing auf YES: Yes (D 1972)66 Im Einzelfall kann es sich natürlich auch um orale Tradierung handeln: ein Musiker bringt einem anderen einen Song bei, zeigt ihm Akkordfolgen oder Spielweisen. 67 Das ist dagegen das Anliegen sogenannter Top-40-Bands, die, vor allem in den USA, die gerade aktuellen Stücke der Hitparade nachspielen. Diese äußerst versierten Musiker entwickeln in der Regel allerdings keinen Ehrgeiz, Eigenes hinzuzufügen.68 ERASURE: Abba-esque (GB 1992)69 Elvis Presley: Blue Suede Shoes (USA 1956); Carl Perkins: Blue Suede Shoes (1956); Es gibt auch den Fall, daß eine Komposition von einer Rockgruppe aufgenommen wird, deren Urheber ebenfalls Rockmusiker ist, diese Komposition aber nicht oder erst später selbst aufnahm, sich sozusagen also selbst „coverte“. Ein Beispiel ist die Komposition Come and Get It (GB 1969), die Paul McCartney für die Band BADFINGER schrieb und erst Jahre nach deren Veröffentlichung selbst aufnahm.70 Beispielsweise: Todd Rundgren: Faithful (USA 1978); SIOUXSIE & THE BANSHEES: Through The Lookin´ Glass (GB 1987); Annie Lennox: Medusa (GB 1995)71 Brian Ferry: As Time Goes By (GB 1999); ähnliche Sammlungen von alten Songs gibt es auch von Robert Palmer, Sinead O´Connor und Linda Ronstadt; berüchtigt sind auch die Weihnachtsplatten vor allem von Country-Stars: das Repertoire dieser Platten besteht immer aus den gängigen Weihnachtsliedern.72 Diverse: Rubáiyát - Elektra´s 40th Anniversary (USA 1990)73 Michael Bloomfield: If You Love These Blues, Play´Em As You Please (GB 1976)74 Eine in der Intention ähnliche - nämlich didaktisch gemeinte - Platte legte der Gitarrist Phil Lithman1984 vor. Lithman war unter dem Pseudonym Snakefinger zeitweilig Mitglied der Gruppe THE RESIDENTS. Anders als Bloomfield ging es Lithman weniger um eine Präsentation von stilistischen Unterschieden, als um historisch bedingte Unterschiede; Bloomfi eld verwendete nur eigene Kompositionen, Lithman nur vorhandene Kompositionen. SNAKEFINGER´S HISTORY OF THE BLUES: Live In Europe (D 1984)

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75 THE BEE GEES: To Love Somebody (GB 1967); Jimmy Somerville: To Love Somebody (GB 1990)76 THE BEATLES: Sergeant Pepper´s Lonely Hearts Club Band (GB 1967)77 THE BEATLES: The Beatles (GB 1968)78 Die Entstehung dieses Songs wird genauer untersucht in: Bernward Halbscheffel: Rühreier, Harddisc Recording und etwas Betrug, in: Hanns-Werner Heister, Hans-Joachim Hinrichsen, Arne Langer, Susanne Oschmann (Hg.): Semantische Inseln, Musikalisches Festland, Hamburg 199779 Ursprünglich The Bonzo Dog Doo-Dah Band, kurzzeitig auch BONZO DOG BAND80 Auf diese Kompositionen wird in den Kapiteln „Progressive Rock und Avantgarde“ und „Verstreutes/Notation“ eingegangen.81Yer Blues, auf: THE BEATLES: The Beatles (GB 1968)82 George Harrison: Cloud Nine (GB 1987)83 ELECTRIC LIGHT ORCHESTRA: 2 (GB 1973)84 HENRY COW: Legend (GB 1973)85 ELECTRIC LIGHT ORCHESTRA: A New World Record (GB 1976)86 SYMBOL/PRINCE: un2 the joy fantastic (USA 1999)87 Es ist vielleicht kein Zufall, daß Prince, der sehr häufi g Kopfstimme singt, seine vocals nur nachts unter Ausschluß jedes weiteren Beteiligten selbst aufnimmt. Wie sehr „weiße“ und „schwarze“ Vorstellungen von „schönem“ Gesang auseinanderliegen, zeigt auch eine Szene in dem Film „Pretty Woman“: die Protagonistin des Films, Julia Roberts, liegt in der Badewanne, auf dem Kopf trägt sie Kopfhörer, mittels derer sie eine Platte von Prince hört. Als sie mitsingt - wobei sie sich durch die Kopfhörer bedingt selbst nicht hört -, reagiert der männliche Protagonist, Richard Gere, mit Verwirrung und sieht erschrocken nach, woher die seltsamen Geräusche kommen; er glaubt an einen Unfall.88 LIQUID JESUS: Pour In The Sky (USA 1991)