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Zur Klinik, Therapie und psychosozialen Dimension der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
SAL-Bulletin Nr.111
März 2004
Seite 1
Dr. med. Emil Branik, LA Kinder
und Jugendpsychiatrisches
zentrum Sonnenhof. Ganter
schwil
Referat gehalten an der
SAL-Tagung vom 14.11.2003
"zusammenhänge zwischen
Sprach- und verhaltens
auffälligkeiten (ADHS)"
1. Einleitende Bemerkungen: Sprachentwicklungsstörungen und psychische bzw. Verhaltensauffälligkeiten
In einem überwiegend vor Logopädinnen und Logopäden gehaltenen
Vortrag über die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung
(ADHS) macht es Sinn, einige grundsätzlichen Sätze zum Verhältnis von
Sprachstörungen auf der einen und psychischen und Verhaltensstörungen
auf der anderen Seite vorauszuschicken: Etwa die 1/2 aller Kinder mit
Sprachentwicklungsstörungen zeigt psychische Auffälligkeiten. Hierbei
kann es sich um Unruhe, Konzentrationsstörungen, oppositionelles
Verhalten, Sensibilität, Irritierbarkeit, hyperkinetische und/oder emotio
nale Störungen handeln (Suchodoletz 2001). Bei Sprachstörungen häufig
zusätzlich vorkommende Entwicklungsstörungen wie auditive Wahrneh
mungsstörup.gen und motorische Koordinationsschwächen erhöhen das
Risiko sozialer Anpassungsschwierigkeiten. Zahlreiche Studien belegen,
dass Sprachstörungen und psychiatrische Störungen gehäuft miteinander
assoziiert sind. Die häufigste psychiatrische Diagnose bei sprachgestörten
Kindern ist die ADHS. Nach Cohen et al (1998) wiesen knapp 2/3 einer
ambulanten Inanspruchnahmepopulation eine Sprachbeeinträchtigung
auf, 46% dieser Kinder hatten eine ADHS. Die globale Beeinträchtigung
psychisch auffälliger Kinder wird durch eine gleichzeitig vorhandene
Sprachentwicklungsstörung größer, und zwar unabhängig davon, welche
psychiatrische Diagnose sie haben (also ADHS oder andere). Kinder mit
Sprachstörungen sind zum Beispiel im Bereich der schulischen Leistungen
und der Kognition (insbesondere im Bereich exekutiver Funktionen)
beeinträchtigt (Cohen et al 2000). Dies trifft auf einen nennenswerten
Teil der ADHS-Kindern auch zu, sodass sich im Falle, dass beide Störun
gen vorliegen, die Folgen hinsichtlich der Beeinträchtigung summieren.
Da Sprach beeinträchtigungen in psychiatrischen Populationen, wie
vorhin erwähnt, überhaupt sehr verbreitet sind, stellt sich angesichts der
Sorgen, dass ADHS zu oft diagnostiziert wird, die Frage, ob ADHS in
manchen Fällen ein Epiphänomen von Sprachstörungen sein könnte.
Die meisten kinder- und jugend psychiatrischen Therapien basieren auf
verbaler Kommunikation. Es macht also Sinn, sich vor dem Beginn einer
Therapie Rechenschaft über die Sprachkompetenz des Kindes abzulegen -
bei ADHS und bei anderen psychiatrischen Störungen (Cohen et al 2000).
Für das Verständnis von Sprachbeeinträchtigungen ist es relevant, zwi
schen den strukturellen Aspekten der Sprache (z.B. Wortschatz oder
Grammatik) und dem Gebrauch der Sprache im sozialen Kontext zu
unterscheiden. Narrative (z.B. Geschichtenerzählen) von sprachgestörten
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Kindern sind oft deskriptiv und beinhalten weniger Information über die handelnden
Charaktere, deren emotionale Zustände und den Kontext (Vallance et al 1999). Der
Redestil ist für den Zuhörer verwirrend und lässt ihn über die Qualität der Beziehungen
zu Menschen und Objekten im Unklaren. Kinder mit ADHS haben, während sie spre
chen, Schwierigkeiten, das Verständnis beim Zuhörer zu beobachten (sog. "monito
ring"), um dadurch die Kommunikation besser zu steuern (Purvis und Tannock 1997).
Sprache ist ein Instrument des Denkens und gibt der Welt Sinn und Bedeutung. Störun
gen bei ihrem Gebrauch beeinträchtigen die Fähigkeit des Kindes, aus seinem sozialen
Kontext Bedeutung zu entnehmen und effektiv zu kommunizieren (Vallance et al 1999).
Es ist schwer zu entwirren, ob das Sprach- und Redeverhalten auf psychiatrische oder
linguistische Probleme zurückzuführen ist. Schwierigkeiten, sich in emotional belasten
den Situationen auszudrücken und Gedanken kurz und treffend zu kommunizieren, sind
also nicht immer auf emotionale Faktoren (z.B. Widerstand) zurückzuführen, sondern
können durch sprachliche Defizite bedingt sein. Es kommt öfter vor, dass die schwieri
ger zu diagnostizierenden Sprach beeinträchtigungen als primär psychiatrisch bedingte
Verhaltensprobleme verkannt werden (Vallance et al 1999).
2. Zur Diagnose und Klinik der ADHS
Das Klassifikationssystem der WHO ICD-l0 unterscheidet im Kapitel F90 "Hyperkine
tische Störungen" (HKS) folgende Untergruppen:
Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0)
Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1)
Sonstige hyperkinetische Störungen (F90.8)
Nicht näher bezeichnete hyperkinetische Störung (F90.9)
Das in den USA verwendete DSM-IV teilt die ADHS anders ein:
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Mischtypus (314.01)
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, vorwiegend unaufmerksamer
Typus (314.00)
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, vorwiegend hyperaktiv-impulsiver
Typus (314.01)
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, nicht näher bezeichnete (314.9)
DSM und ICD unterscheiden sich nur unwesentlich in der Definition der einzelnen
Kriterien, wohl aber in der Bestimmung der Anzahl und der Kombination dieser Kriteri
en, die für die Diagnose einer HKS vorliegen müssen (Döpfner et al 2000). Während
nach ICD sowohl beeinträchtigende Aufmerksamkeitsstörungen als auch Impulsivität
und auch Hyperaktivität situationsübergreifend vorliegen müssen, um eine einfache
Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörung (F90.0) zu diagnostizieren, unterscheidet das
DSM-IV zwischen einem vorwiegend unaufmerksamen Typ, vorwiegend hyperllktlv
impulsiven Typ und einem Mischtyp, wobei auch die ersten beiden, welche als() nicht
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alle drei Kardinalsymptome nach der ICD-l0 aufweisen müssen, die Diagnose einer
ADHS rechtfertigen. Dies trägt neben anderen Faktoren (vgl. weiter unten) zu unter
schiedlicher Diagnosehäufigkeit zwischen den USA und Europa bei.
Das klinische Bild ist also durch folgende Kardinalsymptome gekennzeichnet:
Unaufmerksamkeit. Oberaktivität. Impulsivität
Im Einzelnen umfassen sie zahlreiche Verhaltensauffälligkeiten:
Mangel an Ausdauer, Sprunghaftigkeit, Ablenkbarkeit
Überschiessende, schlecht regulierte Aktivität, Zappeligkeit
Impulsivität, Unorganisiertheit
Unachtsamkeit, Ungeduld, Mangel an Sorgfalt
Laut, störend, hört scheinbar nicht, redet dazwischen
Unfallneigung
Unpassendes Verhalte~, Unbeliebtheit, soziale Isolation
Häufig kognitive, motorische und sprachliche Beeinträchtigungen
Beträchtliche Überschneidungen mit gestörtem Sozialverhalten
Für eine Diagnose müssen aber auch folgende Allgemeinkriterien erfüllt sein: Früher
Beginn (vor dem 7. Lj.), Dauer von mindestens 6 Monaten, Auftreten in mehr als einer
Situation (Elternhaus und Schule) und das Ausmaß der Störung soll gemessen am Ent
wicklungsstand deutlich über der Norm liegen. Die Störung soll Leiden oder sozia
le/schulische Beeinträchtigung verursachen. Differentialdiagnostisch müssen tiefgreifende
Entwicklungsstörungen, Psychosen, Depression oder Angst ausgeschlossen werden.
Wie bereits erwähnt, sind Angaben zur Häufigkeit von hyperkinetischen Störungen -
u.a. - von folgenden grundlegenden Faktoren abhängig (Döpfner et al 2000):
Diagnosekriterien (die wesentlich niedrigeren DSM-IV -Kriterien führen zu höherer
Prävalenz als die ICD-l0-Kriterien)
Verwendete Messinstrumente
Einbeziehung mehrerer Bewertungssituationen (Eltern + Lehrer)
Allein die Streuung der Häufigkeitsangaben in relevanter Fachliteratur (1,7- 17 %)
macht deutlich, dass es sich bei HKS nicht um eine gut abgrenzbare diagnostische Ein
heit handeln kann. Die Abgrenzung zur Norm ist nicht einfach, eine dimensionale
Betrachtung erscheint angemessener (Döpfner et al 2000). In den letzten Jahrzehnten
gab es immer wieder wellenförmig auftretende starke Tendenzen, durch griffige Kürzel
wie MCD, POS, ADHS oder HKS zu suggerieren, man beschreibe damit ein definiertes
abgrenzbares Krankheitsbild. Diese Auffassung ist jedoch wissenschaftlich nicht haltbar.
Eine vereinfachende Diagnose mag auf manche Ärzte und Eltern beruhigend und
scheinbar objektiv wirken. Sie droht jedoch die individuelle multifaktorielle Entste
hungsgeschichte eines komplexen Problems zu eliminieren. Die Prävalenzzahlen von
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ADHS streuen, wie gesagt, sehr breit. Gewöhnlich wird angegeben, dass 3 - 10 % (und
mancherorts mehr!) von Kindern (deutlich gehäuft Jungen) an dieser Störung litten.
Unter ADHS werden offensichtlich verschiedene Probleme subsummiert. Diese Schwan
kungsbreite bei den Prävalenzzahlen ist bedingt durch (vgl. z.B. Carey 2002; Diller 2002
und 2003; Hechtman 2000; Panksepp 1998):
Unzulängliche diagnostische Systeme (vgl. oben) bzw. Versäumen umfassender
Mehrebenendiagnostik
Soziokulturelle Faktoren
Vernachlässigung von Temperamentvariationen und der Evolutionsperspektive
Vernachlässigung der Rolle der Umwelt
Vernachlässigung kognitiver Defizite, emotionaler, Beziehungs- und Regulationsstö
rungen sowie von Anpassungsschwierigkeiten an bestimmte Anforderungen
Angold et al (2000) stellten in der Great Smoky Mountains Study, in der 4500 9-13-
jährige Kinder zwischen 1992 und 1996 erfasst wurden, fest:
Ca. 5% hatten ADHS
7% bekamen Ritalin ABER
Nur 3,4 mit ADHS bekamen Ritalin
Mehr als die Hälfte mit Ritalin hatte keine ADHS
Jungen mit oppositionellen Verhaltensstörungen erhielten am ehesten Ritalin
Kinder aus sozial besser gestellten Familien erhalten eher und mehr Ritalin
Daraus ergibt sich als Fazit: In dieser Studie in einer definierten US-Region wurden
Stimulantien in einer von den diagnostischen Leitlinien abweichenden Weise eingesetzt.
Es spricht sehr viel dafür (unter anderem auch die rapid steigenden Ritalinverordnungen
in der Schweiz und in Deutschland; vgl. Schubert et al 2001; Ferber et al 2003), dass
dies auch in unseren Breiten für zahlreiche Patienten gilt.
Die Komorbidität von ADHS mit anderen psychiatrischen Störungen (Störung des
Sozialverhaltens, Depression, Angst, Entwicklungsstörungen) ist sehr hoch. Bei 2/3 der
Fälle von ADHS lässt sich eine weitere psychiatrische Diagnose stellen. Eine derart hohe
Komorbiditätsrate demonstriert allerdings klinische Unschärfe und droht den Wert
diagnostischer Konzepte wie ADHS für die klinische Realität zu mindern (CPN in the
UK 2003). Über das kausale Verhältnis der Störungen zueinander herrscht Unklarheit:
Liegt Komorbidität oder Kosymptomatik vor? Das Konzept der Komorbidität mit seiner
Aufzählung von Störungen, deren pathogenetische Beziehung erst einmal ungeklärt
bleibt, begünstigt eine bestimmte Art zu denken, die komplexitätsmindernd ist und die
Aufmerksamkeit für Zusammenhänge jenseits kategorialer, an biologischen Konzepten
orientierter Diagnostik verstellt.
Es gibt jedoch keine sichere wissenschaftliche Evidenz dafür, dass ADHS die Folge von
nur biologischen Ursachen ist. Die als typisch genannten abnormen Befunde :GIB. erniedrigter IQ, Sprachentwicklungs-/Sprechstörungen, motorische und Koordinations-
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störungen - konnten bei ADHS-Kindern nicht generell gefunden werden (Taylor 1994).
Es geht letztendlich nicht um die Frage, ob biologische Faktoren wirksam sind, sondern
ob sie in jedem Fall eine ursächliche Rolle spielen (von Lüpke 2001). Genetische Studien
legen nahe, ADHS als extremes Verhalten auf einem Kontinuum zu sehen, statt als eine
genetisch scharf abgrenzbare diagnostische Kategorie (Levy et al 1997). Darüber hinaus
haben Erfahrungen Einfluss auf die" Genexpression ", d.h. Umwelteinflüsse bestimmen
mit, in welchem Ausmaß selbst pathologische genetische Informationen wirksam wer
den. Bei ADHS handelt es sich offensichtlich um ein "Krankheitsbild", bei dem eine
Vielzahl möglicher Auslöser in einem jeweils unterschiedlichen Zusammenspiel zu
Manifestationen führen kann, deren Bedeutung sich erst im Zusammenhang klären lässt
(von Lüpke 2003).
Die grundsätzliche Abhängigkeit diagnostischer und therapeutischer Tendenzen vom
soziokulturellen Kontext sollte gerade bei der ADHS nicht ausgeblendet werden. Zu den
steigenden Zahlen von AD!'lS-Diagnosen und Stimulantienverordnungen tragen nicht
nur verbesserte diagnostische Kriterien oder geschultere Wahrnehmung bei, sondern
auch gesellschaftliche Einflüsse (Diller 2002 und 2003):
- Zeitgeist (Leistungsgesellschaft; Zeitökonomie; Unakzeptanz für leistungsmindernde
Faktoren)
Terror des Erfolgreich- und Glücklich-Sein-Müssens
Schulsystem: Das Diktat bestimmter Form von Funktionstüchtigkeit
Finanzierung von Hilfeleistungen (hohe Zahl von Störungsdiagnosen mag die Bud
gets für pädagogische und Fördereinrichtungen erhöhen)
Massenmedien (Vorgabe von Erfolgsnormen und Lebensstile)
Werbung (im Allgemeinen und durch die Pharmaindustrie im Besonderen)
Umwertung moralisch-pädagogischer Vorstellungen über erwünschtes bzw. uner
wünschtes Verhalten in medizinische Diagnosen
Pathologisierung abweichenden, aber noch "normalen" Verhaltens, wenn es nicht
mit der jeweiligen "normalen" Umwelt zusammenpasst
Die Diagnose einer ADHS, wie sie heute gestellt wird, ist eine Spektrumdiagnose, also
letztlich ein Sammeltopf für verschiedene Probleme. Die am meisten zur Diagnosesiche
rung verbreiteten Fragebögen für Eltern und Lehrer sind subjektiv, impressionistisch und
messen wahrscheinlich nicht nur das Verhalten der Kinder sondern auch das Missbeha
gen der jeweiligen Bezugspersonen am Verhalten des Kindes (Carey 1998, 1999,2000
und 2003). Es gibt keinen biologischen Marker oder psychologischen Test zur ihrer
Sicherung. Die Diagnose einer ADHS ist eine klinische! Es macht Sinn zwischen Sym
ptomen und Beeinträchtigungen, die von ihnen verursacht werden, zu unterscheiden,
sowie das Funktionsniveau von Kindern mit ADHS-Symptomen zu begutachten (Woz
niak 2003). Es gibt durchaus aufmerksamkeits- und aktivitätsgestörte Kinder, die schu
lisch reüssieren, beziehungsfähig und sozial gut integriert sind! Für die sozialen und
schulischen Schwierigkeiten von sogenannten ADHS-Kindern spielen mangelhafte
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Anpassungsfähigkeit und kognitive Defizite eine wichtigere Rolle als die Unaufmerk
samkeit und Hyperaktivität (Carey 1999). Was für die Entwicklung einer Störung von
Krankheitswert zählt, ist nicht nur die ungünstige Prädisposition des Kindes (niedrige
Aufmerksamkeitsspanne und Impulsivität) sondern auch das Nicht-Zusammenpassen
eines solchen Kindes mit seiner spezifischen Umwelt und ihren Anforderungen.
Das Etikett "ADHS" kann Eltern schwieriger Kinder von Schuld-, Kränkungs- und
Versagensgefühlen entlasten. Wird die Diagnose von Ärzten/Eltern als eine Art "Absolu
tion" aufgefasst, bleiben elterliche Ressourcen, der erzieherischen Herausforderung zu
begegnen, unangesprochen. Die psychologische Ebene wird in den Hintergrund gedrängt
und Verstehensmöglichkeiten der psychosozialen Schwierigkeiten - auch aus der Per
spektive eines ADHS-Kindes und nicht nur seiner Umwelt - werden vernachlässigt.
Folgende Merkmale früher Eltern-Kind-Beziehungen und Familienstilen sind mit ausge
prägter Hyperaktivität bei Vorschuljungen assoziiert (Keown und Woodward 2002):
Laxe Erziehungspraktiken und -haltungen
Ineffiziente Interventionen und (inkonsistente und von Uneinigkeit zwischen den
Eltern geprägte) Bewältigungsstile bei erzieherischen Anforderungen
Erniedrigte Raten in der Vater-Kind-Kommunikation
Die Mutter-Kind-Interaktionen sind durch Asynchronie (unzulängliche Einstim
mung aufeinander) gekennzeichnet
Obwohl hieraus keine kausalen Schlussfolgerungen über die Beziehung zwischen Eltern
verhalten und Kinderentwicklung gezogen werden können, ergeben sich dennoch wich
tige Einsichten hinsichtlich der Wechselwirkungen und Therapiemöglichkeiten.
Auch nachweislich wirksame therapeutische Aktivitäten sind nicht per se effektiv. Eine
Reihe von elterlichen Merkmalen setzt die Effektivität des Eltern-Management-Trainings
herab (Dumas, 1984; Patterson und Chamberlain, 1994): Junges Alter, niedriges Aus
bildungsniveau, untere soziale Klassenzugehörigkeit, soziale Isolation, ernste Psychopa
thologie und Ehekonflikte. Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität können
nicht nur Ausdruck gestörter Hirnfunktion sein, sondern unter psychodynamischen
Gesichtspunkten eine Bedeutung haben (Berger 1993; Dammasch 2002; Gilmore 2000;
Häussler 2002; Shill 2000), z.B.:
"Manische Abwehr" von schwierigen (z.B. depressiven) Gefühlen, Verlust-, Tren
nungs- oder Traumaerfahrungen
Ausdruck von Aggression, ohne Schuldgefühle erleben zu müssen
Vitalisierende und strukturierende Funktion für die Eltern, Kitt bzw. Ablenkung bei
elterlichen Paarbeziehungsproblemen
Versuch der Selbstregulation und Mitteilung eigener Befindlichkeit bei mangelhafter
Mentalisierungsfähigkeit
Kontaktherstellung - Selbst- und Fremdstimulation als Abwehr von Objektverlu
stängsten
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Neuronale Strukturen sind morphologisch und physiologisch einem ständigen Wandel in
Abhängigkeit von Erfahrungen unterworfen. Psychotherapie arbeitet auch am und im
Gehirn. Neben der chemischen Wirkung sollte auch die psychologische Bedeutung der
Medikation für das Kind (und seine Umgebung) bedacht werden (vgl. z.B. Rapoport und
Chubinsky 2000), z.B.:
Medikament als Strafe für unangepasstes Verhalten
Gefühl der Behinderung (Gehirnkrankheit)
Scham, Stigmatisierung, Selbstzweifel
Gefühl der Unfähigkeit, sich mit eigenen willentlichen Mitteln zu steuern
Schwächung der eigenen Verantwortungsübernahme
Gefahr der Legitimation antisozialer Tendenzen
Förderung der Einstellung "Pillen gegen Lebensprobleme"
Vernachlässigung anderer langfristiger Lösungsstrategien
Für die Wahl aus den ver~ügbaren (und wirksamen) Therapieansätzen mag folgende
Frage nützlich sein (paraphrasiert nach Kiesler 1966 bzw. Green u. Ablon 2001): "Wel
che Therapieform bei welchem Therapeuten welcher Ausrichtung ist am meisten effektiv
im Umgang mit welchen spezifischen Problemen von Kindern mit einer definierten
Diagnose (z.B. ADHS)"? Effektive pharmakologische und psychosoziale Therapie sollte
die Heterogenität von ADHS im Hinblick auf das klinische Erscheinungsbild, seine
Schwere und die Komorbidität berücksichtigen. Unterschiedliche ADHS-Kinder bieten
unterschiedliche Zielsymptome mit unterschiedlicher Therapiedringlichkeit und profitie
ren entsprechend von unterschiedlichen Kombinationen von verschiedenen Behand
lungsformen (Green und Ablon 2001). Therapieergebnisse werden nicht nur durch die
Eignung der eingesetzten Methode und den Kontext, in dem sie angewendet wird,
sondern auch durch Therapeutenvariablen (fachliche Fertigkeiten, Beziehungsqualität)
bestimmt (Beutler et al 1994). Ebenso sagen Lehrermerkmale wie z.B. Toleranz für
Abweichungen gegenüber Erwartungen oder die Beziehung zum Schüler den schulischen
Erfolg von ADHS-Kindern voraus (Green und Ablon 2001). Die Verläufe von ADHS
werden offensichtlich weniger von der Schwere der Symptome als von der Art und
Weise, wie das Kind und wichtige Bezugspersonen in seiner Umwelt auf die Symptome
reagieren und mit ihnen umgehen, bestimmt (Whalen und Henker 1980). Das von den
Umweltfaktoren beeinflusste soziale Funktionsniveau ist ein sehr starker Prädiktor für
den Langzeitverlauf von Kindern mit ADHS, und zwar unabhängig von der Schwere der
Kernsymptome sowie von Verhaltens- oder emotionalen Störungen (Greene et al 1997
und 1999).
3. Therapie der ADHS
"Für komplexe Situationen gibt es immer einfache Lösungen, und sie sind gewöhnlich
falsch" (nach Carey, 2000). Es wäre vermessen, ein Allroundrezept erwarten. Denn
noch einmal: Die Diagnose einer "ADHS", wie sie heute gestellt und für das Vorgehen
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bei der Behandlung zugrunde gelegt wird, wirft Dilemmata auf: Sie ist eine Spektrum
diagnose, ein Sammeltopf für verschiedene Probleme. Die Gewichtung der differential
diagnostischen Überlegungen bestimmt aber die Therapie. Eine verantwortungsbewusste
Therapie der unter ADHS subsummierten Symptome kann sich nicht in der unkritischen
Verordnung von Stimulantien erschöpfen.
Es gibt eine große Zahl von kontrollierten Studien, die die Wirksamkeit von Stimulanti
en bei ADHS belegen. Über 70 % der behandelten Patienten zeigen Besserung ihrer
Symptome nach der Gabe eines üblichen Stimulans, durch einen Wechsel des Präparates
bei Non-Respondern kann der Prozentsatz noch gesteigert werden (oder in seltenen
Fällen durch Kombination von zwei Präparaten, jedoch cave Nebenwirkungen!), Die
Pharmakotherapie ist nach der gegenwärtigen Datenlage, was die Wirkung auf die
Kernsymptome anbelangt, allen anderen Therapien überlegen. Zu berücksichtigen sind
allerdings folgende Einschränkungen (vgl. z.B, AACAP 2002; Carey 2002; Döpfner und
Lehmkuhl2002; Trott 1998; Hunt et al 2001):
Stimulantien verbessern die Leistungen nicht nur von ADHS-Patienten, sondern
ebenso von gesunden Kindern (und Erwachsenen); ihre positive Wirkung kann also
nicht zur Sicherung der Diagnose herangezogen werden.
Praktisch alle Studien belegen nur die kurzfristige Wirksamkeit von Stimulantien
(die meisten dauerten 12 Wochen und weniger, eine sehr kurze Zeit für eine chroni
sche, womöglich lebenslang anhaltende Störung), Selbst die renommierte MT A
Studie maß die Ergebnisse bislang nach nur 14 Monaten (MTA Cooperation Group
1999a und b).
Über die Wirkung auf die Kernsymptome hinaus gibt es auch keine prospektive
Langzeituntersuchungen über Verbesserungen der schulischen und sozialen Beein
trächtigungen. Diese bleiben auch bei vielen der behandelten Kinder bestehen,
Wir kennen den Wirkungsmechanismus von Stimulantien nicht verlässlich. An der
Hauptrolle der angenommenen dopaminergen Wirkung und der "Dopamin-Mangel
Hypothese" gibt es ernste Zweifel. Es gibt Hinweise, wonach Stimulantien ihre
Wirkung nicht unbedingt über das Dopamintransporter-System entfalten (Gametdi
nov und Caron 2001; Hüther 2002),
Obwohl Stimulantien hinsichtlich ihres Nebenwirkungsspektrums im empfohlenen
Dosisbereich als sichere Medikamente gelten können, wissen wir zu wenig darüber,
welche Folgen es für ein sich entwickelndes Gehirn haben kann, über Jahre in seiner
Funktion verändert zu werden, Die Plastizität des Gehirns und seine funktionelle
und morphologische Erfahrungsabhängigkeit sollten angesichts der großen und stei
genden Verordnungszahlen von Stimulantien stärker berücksichtigt werden.
Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass Stimulantien im klinischen Alltag in hohem
Prozentsatz nicht erst nach adäquaten, in diversen Leitlinien vorgesehenen diagno
stischen Bemühungen und im Rahmen von dort empfohlenen Dosierungs-, Verab
reichungs- und Überwachungsschemata verabreicht werden. Damit werden potenti-
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eIl günstige Wirkungen des Medikaments verspielt und etwaige andere bzw, zusätz
lich indizierte Therapien verpasst,
Zwei Drittel der Kinder mit ADHS weist eine oder mehrere zusätzliche Achse 1-
Diagnosen auf, Diese können das klinische Bild prägen und die Reaktion auf Sti
mulantien beeinflussen (Hechtman 2000),
Es bedarf fundierter Erfahrungen, um in manchen Fällen die Krankheitssymptome
von etwaigen Nebenwirkungen von Stimulantien zu unterscheiden und durch An
passung der Dosis, der Applikationsintervalle oder einen Präparatwechsel zu reagie
ren.
Eine Medikamentenverordnung allein ist problematisch, wenn sie vor allem der
Entlastung und Beschwichtigung von Eltern dient oder deren Abwehr stärkt, sich
andere als nur biologische Gründe der Probleme anzuschauen.
Die Bedeutung der Tatsache, wenn ein Kind mehrmals täglich, teilweise unter den
Augen von anderen ein Medikament nehmen muss, sollte weder unterschätzt noch
im Hinblick auf seine Therapiemotivation, sein Selbstbild und seine Phantasien über
die Gründe dafür geringgeschätzt werden. In diesem Zusammenhang ist es nicht ir
relevant daran zu erinnern, dass Stimulantien nur wirken, solange sie genommen
werden, Das grundlegende Problem kann durch sie nicht gelöst werden.
Die Warnungen sollten allerdings nicht in Frage stellen, dass Stimulatien für einen
Kernbereich sorgfältig diagnostizierter Kinder mit ADHS hilfreich sein, sie vor sekundä
ren Störungen wie Schulversagen, Selbstwertstörung, dissoziale Entwicklung, erhebliche
soziale und später berufliche Schwierigkeiten schützen und anderen Therapieformen
zugänglicher gemacht werden können. Stimulantienmedikation stellt jedoch keine
isolierte hinreichende Maßnahme dar, sondern sollte stets im Rahmen eines Behand
lungsprogramms erfolgen, Das letztgenannte umfasst gewöhnlich neben der fachgerecht
überwachten Pharmakotherapie, Psychoedukation, kind bezogene verhaltens- und/oder
psychotherapeutische Interventionen und entsprechende eltern-, kindergarten- und/oder
schulbezogene Interventionen. Wichtig ist die Klärung der Vorstellungen, welche die
Bezugspersonen hinsichtlich der Ursachen der Probleme haben, und die Verankerung
eines biopsychosozialen Krankheitsverständnisses, Den Bezugspersonen wird die Wich
tigkeit von Strukturierung der Abläufe, Nützlichkeit von Regeln und angemessenen
Konsequenzen nahegebracht, Neben Grenzsetzungen und negativen Konsequenzen sind
positive Zuwendung und Belohnung bei angemessenem Verhalten wichtig, Negative
Interaktionsspiralen sollten erkannt und durchbrochen werden. ( ... Kind reagiert nicht>
Eltern geben auf oder reagieren aggressiv> das Kind kommt also entweder mit seinem
oppositionellem Verhalten zum Erfolg oder es lernt, dass Konflikte mittels Aggressionen
ausgetragen werden; es bekommt dann für sein Ungehorsam vermehrte, wenn auch
negative, Aufmerksamkeit",), Während oft bereits Beratung, Aufklärung und Perspekti
venwechsel nützlich sein können, sind bei nicht ausreichendem Ansprechen intensivere
spezifische Maßnahmen erforderlich:
Elterntraining
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Selbstmanagementtraining
Psychotherapie
Familientherapie
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Es erübrigt sich zu sagen, dass jede der genannten Interventionen die Motivation und
Kooperation der betroffenen Familien voraussetzt, wenn sie effektiv sein soll (Pelham et
al 1998); gleichzeitig gilt es zu bedenken, dass wir es gerade bei dieser Diagnosegruppe
gehäuft mit psychosozial belasteten Problemfamilien zu tun haben.
Nun komme ich zu den Leitlinien für die Pharmakotherapie (AACAP 2002; DGKJP
2000; Döpfner und Lehmkuhl2002; NIH 2000; Pliszka et al 2000):
Ausschluss von Kontraindikationen:
1. Absout: Psychose; Kombination mit MAO-Hemmern; Glaukom.
2. Relativ: Drogenabusus; motorische Tics/Gilles de la Tourette-Syndrom; Epilepsie;
Depression; Leberfunktionsstörungen).
Aufklärung der Eltern und des Kindes
- Titration:
1. Ansteigend bis zur guten Wirkung.
2. Fixdosis-Titration (Durchgehend eines ganzen Dosierungsschemas, anschließende
Gabe jener Dosis, die die beste Wirkung zeitigte).
Die Dosissteigerung erfolgt bei beiden Methoden wöchentlich. Cave: Es gibt keinen
Goldstandard in der Messung und Beurteilung der positiven Medikamenteneffekte
und keine klaren Kriterien, ab wann eine Dosissteigerung nicht mehr erforderlich
ist.
- Monitoring: Verlaufsüberwachung in Bezug auf die Zielsymptome usw.,
andere
Verhaltensauffälligkeiten, emotionale Entwicklung, Schule, Beziehungssektor, fami
liäre Interaktionen, Medikamentenwirkungen, -Nebenwirkungen.
Zu den Nebenwirkungen ist zu sagen, dass sie Ld.R. zu Beginn der Behandlung auf
treten und mit der Dosisanpassung zurückgehen. 4-10 % der Kinder behalten mode
rate Nebenwirkungen, die wichtigsten sind: Einschlafstörungen, Appetitverlust, Ma
gen- und Kopfschmerzen und Nervosität. Es wurde vom anstieg von Tic-Stärungen
berichtet, dies konnte durch kontrollierte Studien nicht belegt werden. Selten und
durch überhöhte Dosierung kommen kognitive Beeinträchtigungen, Verhaltensste
reotypien, affektive (depressive) Störungen, Halluzination und eine Psychose vor.
Zur Verlaufs beurteilung und Therapieüberwachung sollten möglichst standarisierte
Fragebögen, Ratingscales und Checklisten verwendet werden (Dokumentation!).
Somatische Kontrollen: Transaminasen, Blutbild (vereinzelte Leukopenien bei
MPH), EKG (Rhythmusstörungen), EEG (insb. Bei Anfallsleiden und Dosiserhö
hung).
Auslassversuche: Einerseits ist zu klären, ob an Wochenenden und in den Ferien die
Medikamente ebenfalls genommen werden (eher ja, wenn familiäre und soziale
Konflikte oder Intergrationsprobleme drohen), andererseits kann einmal jährlich ein
zur Klinik, Therapie und psychosozialen Dimension des ADHS SAL-Bulletin Nr. 111
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Auslassversuch unternommen werden, wenn auch in der Regel eine Langzeittherapie
über mehrere Jahre notwendig ist, bis bei relativ vielen Kindern die Behandlung mit
dem Beginn der Pubertät beendet werden kann.
Mittel der ersten wahl: In der Regel wird mit Methylphenidat (MPH) 5 mg begonnen
und zwar nach dem Essen morgens und mittags. Es erfolgt eine wöchentliche Dosisstei
gerung um 5-10 mg. Die Einzeldosen variieren je nach Bedarf, in der Praxis ist die
Morgendosis die höchste, es gibt aber Hinweise, dass über den Tag konstant abfallende
Spiegel mit nachlassender Wirkung gekoppelt sind. Wegen der kurzen Halbwertzeit ist
beim sofort verfügbaren MPH eine dritte Dosis am Nachmittag - jedoch nicht nach
16.30 Uhr - oft sinnvoll, wenn auch in der Praxis eher selten eingesetzt. Die Einnahme
zeiten und die jeweiligen Dosen richten sich nach den Schwerpunkten des Problemver
haltens. In aller Regel wird die für Langzeittherapie geeignete Dosis im Bereich von 0,4
bis 1,0 mg/kg KG/Tag gefunden. Vor Hochdosistherapien ist zu warnen (auch bei
Jugendlichen nicht über 60 mg/Tag), da nicht die angestrebte Wirkung, sondern die
Nebenwirkungen - mitunter massiv - ansteigen! Je nach Bedarf, Schwerpunkten des
Problemverhaltens und Wirkungen, kann vom schnell verfügbaren, nur 3-4 Stunden
klinisch wirksamen MPH auf Präparate mit verzögerter Wirkstoffabgabe (-SR; OROS
MPH = Concerta®) gewechselt bzw. eine Kombination von beiden gegeben werden.
Hierbei ist die Entwicklung von sog. Tagestoleranz zu beachten, es gibt nämlich wie
gesagt Hinweise, dass konstante und kontinuierlich abfallende Dosen schlechtere nach
lassende Wirkung erbringen als im Tagesverlauf gesetzte Peaks in der Wirkstoffplasma
konzentration. Negative Peak- und Rebound-Effekte bei einem Teil der Patienten sollten
beachtet werden: Bei stärkeren Serumspiegelanstiegen (Peak) kann es zu Reizbarkeit,
Unruhe oder depressiver Verstimmung kommen. Bei manchen Kindern tritt am späteren
Nachmittag nach dem Serumspiegelabfall eine massive Verhaltensverschlechterung ein
(Rebound). In beiden Fällen soll die Dosis reduziert, die Tagesverteilung und die Wahl
zwischen schnell bzw. langsam verfügbaren Präparaten überprüft werden.
Wenn keine ausreichende Wirkung erzielt werden konnte, wird D-Amphetamin oder
D,L-Amphetaminracemat in 2,5 (- 5) mg Schritten versucht, bis zu einer maximalen
Tagesdosis von 40 mg. Wegen der etwas längeren Halbwertzeit wird man hier mit zwei
Dosen auskommen. Pemolin darf wegen der Gefahr schwerer Leberschädigung mög
lichst nicht, und wenn, dann nur als ultima ratio durch erfahrene Kinder- und Jugend
psychiater in Betracht gezogen werden.
Als Mittel der zweiten bzw. dritten wahl bzw. als Zusatzmedikation zu Stimulantien gei
ten:
Antidepressiva (Imipramin, Desipramin, Bupropion, SSRI). Cave: EKG, RR, Ne
benwirkungen!
Clonidin (Cave: RR, Puls, EKG!)
Carbamazepin (Cave: Blutbildkontrollen!); Valproat (Cave: Leberwerte!)
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Neuroleptika wie Risperidon z.B. 0,5, mg/Tag (allenfalls bei schwerer persistieren
den Aggressionsneigung oder eretischem Verhalten retardierter Kinder)
Aus Zeitgründen konnte ich hier nicht auf die Altersbezogenheit der Behandlung einge
hen. Es gibt inzwischen einige Studien, die positive Wirksamkeit von Stimulantien bei
Vorschulkindern belegen, sie ist allerdings schwächer und mit eher höheren Nebenwir
kungsrate und unbekannten Langzeiteffekten behaftet. Natürlich muss auch die größere
Schwierigkeit bedacht werden, in diesem Alter die Diffentialdiagnose vorzunehmen.
Motorische Unruhe und Aktivität gehören hier zur Normalität, Bewältigungsstrategien
für Stress jedweder Art sind noch nicht gut ausgebildet. Auf jeden Fall sollte medika
mentöse Therapie erst erwogen werden, wenn Interventionen in der Familie, im Kinder
garten, Elterntraining und andere spezielle Betreuungs- und Förderungsmaßnahmen
nicht ausreichen. Unser Wissen basiert überwiegend auf Untersuchungen an Schulkin
dern, für die Adoleszenz gibt es beispielsweise ebenfalls deutlich weniger altersspezifi
sche Untersuchungen.
Was die Psychotherapie anbelangt, wird ausschließlich (kognitive) Verhaltenstherapie
favorisiert, da sie am besten empirisch belegt ist, daneben gelegentlich auch familienbe
zogene Interventionen. Es fällt auf, dass in sämtlichen heute gängigen Leitlinien tiefen
psychologisch und psychoanalytisch orientierte Verfahren entweder gar nicht erwähnt
werden oder von ihnen pauschal und explizit abgeraten wird. Ich glaube, dass dies aus
dem eingangs skizzierten verkürzten Verständnis der ADHS als einer vermeintlich
abgegrenzten, weitgehend organisch bedingten Krankheitskategorie (statt -dimension)
resultiert, die dann quasi naturgemäß nach einer symptomatischen biologischen Thera
pie verlangt. Mit oder ohne organische Vulnerabilität: Man kann sich kaum vorstellen,
dass die Probleme im Bereich der Selbststeuerung, Affektregulation, des Problemlö
sungsverhaltens, der Sozialkontakte und Beziehungen ohne Wechsel wirkungen mit der
emotionalen und Persönlichkeitsentwicklung vonstatten gehen und ohne die Erfahrun
gen und Interaktionen mit der Umwelt gedacht werden können - allesamt genuine
Felder der analytisch orientierten psychotherapeutischen Tätigkeit. Von den Gegnern
wird immer wieder den Mangel an empirischen Belegen für die Wirksamkeit von analy
tisch orientierten Verfahren ins Feld gezogen. Hier muss man allerdings erstens klären,
wer was unter Empirie versteht. Denn auch qualitative Forschung oder detaillierte
Falldarstellungen bringen sehr wohl klinisches Wissen hervor. Zweitens zeigt beispiels
weise die in der Hampstead Clinic in London durchgeführte Evaluation von analyti
schen ambulanten Behandlungen bei erheblich verhaltensgestörten Kindern (sog. exter
nalisierende oder disruptive Störungen), dass die Ergebnisse nicht um soviel schlechter
sind als beispielsweise bei der Kombination von Elternmanagementtraining und Pro·
blemlösungstraining, zumal die Therapieziele bei psychoanalytisch orientierten Behand
lungen sehr ambitioniert sind und sich auf alle Aspekte der Patientenpersönlichkeit und
möglichst alle Aspekte der sozialen Anpassung richten (Fonagy und Target 1994).
Bemerkenswert war, dass die Erfolgsquote mit der Intensität und Länge der Therapie
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stieg. Eine ADHS stellte hier zwar einen negativen prädiktiven Faktor dar, schloss aber
einen Behandlungserfolg bei ca. 1/3 dieses Teils der Patienten nicht aus.
Es war durchaus meine Absicht, keine Illusion zu erzeugen, es gäbe ein handliches
Therapieschema, das einen jeden Praktiker gegen die Fallstricke des klinischen Alltags
wappnen würde. Um zu illustrieren, was ich meine, sei nur erwähnt, dass allein die
erforderliche organmedizinische, psychopathologische, testpsychologische, biographi
sche, soziale, familien- und schulbezogene Diagnostik 6-8 Stunden in Anspruch nimmt.
Über die notwendige regelmäßige Überwachung auch nur der Standardtherapie habe ich
vorhin gesprochen, die darüber hinausgehenden spezifischen Therapiemethoden müssen
natürlich auch erlernt worden sein bzw. anderweitig zur Verfügung stehen und dann
koordiniert werden. Sie können sich daher selbst die Frage beantworten, welcher Vor
aussetzungen es bedarf, um ein Kind mit dem Verdacht auf eine ADHS adäquat abzu
klären und zu behandeln. Diese Aussage dient nicht der Einschüchterung, sondern
propagiert einen bestimmt~n Qualitätsstandard in der Diagnostik und Behandlung
dieser mit hoher Komplikationsrate behafteten Störung.
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