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Zwischen dritter Impfung und Lockdown – der bizarre Zickzack- kurs in der Pandemie Thema der Woche: Zwischen dritter Impfung und Lockdown – der bizarre Zickzackkurs in der Pandemie

Zwischen dritter Impfung und Lockdown – der bizarre

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Page 2: Zwischen dritter Impfung und Lockdown – der bizarre

Bei den Auffrischungsimpfungen hat die Politik wertvolle Zeit verstreichenlassen.

EPA

Erinnern Sie sich noch an den Beginn der Pandemie? Als die Behördenerklärten, man müsse keine Masken tragen, weil es keinen Nachweis für derenWirksamkeit gebe? Kurz darauf wurden Masken obligatorisch. Damals lerntenwir, wie biegsam «Wissenschaft» sein kann. Man könnte schlauer werden undsich nicht immerzu auf die «Wissenschaft» berufen, wo es doch um Politikgeht. Aber leider scheint die Gabe der Lernfähigkeit den Politikern – odergenauer: uns allen – nur in bescheidenem Rahmen gegeben zu sein.

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Derselbe Fehler wiederholt sich in der Debatte um die Booster-Impfungen.Zuerst schwiegen die Zuständigen, während in Israel schon emsig aufgefrischtwurde. Dann hiess es, eine dritte Immunisierung sei nur bei Älteren undMenschen mit Vorerkrankungen sinnvoll. Zum Schluss die Kehrtwende:Boostern für alle. Erneut geht wertvolle Zeit verloren. Jetzt muss erst wiederdie Infrastruktur hochgefahren werden. Dieselben Politiker, die gegenwärtigden langen Atem beschwören, handelten im Sommer kurzsichtig, indem sie sotaten, als sei Corona vorbei, und viele Impfzentren schlossen.

Wer sich impfen lassen will, sollte nicht abgeschreckt werden

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Der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn war immerhin clever genug,rasch die Reissleine zu ziehen und Auffrischimpfungen für jedermann zupropagieren. In der Schweiz hingegen pflegt man seine Fehler gründlich zumachen. Die eidgenössische Impfkommission blieb lange bei ihrer Haltung,den Zugang zum Booster nur einem eingeschränkten Personenkreis zugewähren. Sie fand dabei Unterstützung bei Ärzten wie dem Chef desImmunologie-Zentrums in der Stadt Zürich, Thomas Hauser. Gegenüber der«Neuen Zürcher Zeitung» erklärte er: «Die Schweiz hat das Privileg, solcheEntscheide auf der Basis von wissenschaftlicher Evidenz zu treffen. Das solltenwir nicht aufgeben.» Was für ein kalter und arroganter Satz.

Arrogant, weil zu dem Zeitpunkt alle Nachbarländer der Schweiz ihre Positionbereits revidiert hatten. In Deutschland, Frankreich, Italien und Österreichbesitzt man offenkundig nicht das Privileg, auf der Basis vonwissenschaftlichen Fakten entscheiden zu können. Kalt, weil der Satz diemenschliche Psyche ignoriert. Solange die Impfquoten in allendeutschsprachigen Ländern bedenklich tief sind, müssen die Impfangeboteniederschwellig sein und sich an möglichst viele Personen wenden. Wer sichein drittes Mal impfen lassen will, sollte ermutigt und nicht abgeschrecktwerden.

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Natürlich liess sich der verquere Standpunkt nicht durchhalten. Auch in derSchweiz erhalten künftig alle den begehrten dritten Schuss. Drei Dinge lassensich aus dem bizarren Zickzackkurs lernen:

Erstens: Die Seuchenbekämpfung beruht zwar auf medizinischen undepidemiologischen Grundlagen, sie ist aber wie alles gesellschaftliche Handelnpolitisch. Wissenschaftlich zu sein, bedeutet wenig. Damit aus abstrakterErkenntnis gelebte Praxis wird, braucht es mehr. Dies führt häufig dazu, dassBeschlüsse anders ausfallen, als fachliche Beratungsgremien empfehlen. Werdies kritisiert, argumentiert undemokratisch. Nur in der Theorie trifft PlatonsPhilosophenkönig weise Entscheidungen auf rein sachlicher Basis.

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Zum Glück sind Deutschland, Österreich und die Schweiz Demokratien undkeine Technokratien. Auch in Extremsituationen darf der Primat der Politiknicht infrage gestellt werden. Am Ende setzt sich die Mehrheitsmeinung durch.Die damit verbundenen Wirrungen sind übrigens ein Beweis dafür, dass Covid-Leugner und Impfskeptiker irren. Es herrscht eben keine «Corona-Diktatur»,denn in der Diktatur hat die Partei immer recht.

Zweitens: Wenn wir einmal mit dem Abstand von einigen Jahren auf diePandemie zurückschauen, werden wir uns wundern, dass das bevorzugteMittel der Seuchenbekämpfung die abrupte Kehrtwende war. Ob Masken,Booster oder Merkels Oster-Debakel. Was im Brustton der Überzeugung fürrichtig erklärt wird, ist schon nach kurzer Zeit wieder falsch. Irren ist zwarmenschlich, vor allem im Verlauf einer neuen Krankheit, die erst allmählich, imWettlauf mit dem Virus, erforscht wird. Aber es wäre klug, die Vorläufigkeitallen Wissens in Verlautbarungen zu berücksichtigen. Dass dies nichtgeschieht, zeigt die Feigheit der Politik.

Es ist einfacher, eine Entscheidung mit «der Wissenschaft» zu begründen undsie damit der streitigen Diskussion zu entziehen. So hatte der österreichischeGesundheitsminister Wolfgang Mückstein die Chuzpe, den Lockdown fürUngeimpfte als alternativlos zu bezeichnen. Wahrlich ein einfacherTaschenspielertrick. Noch einfacher ist es, wie der SchweizerGesundheitsminister Alain Berset in der Booster-Debatte einfach abzutauchen.Die Methode Berset ist zwar simpel, aber zugleich unpolitisch. Alle Politik istkommunikatives Handeln. Diese fundamentale Lehre wird seit fast zwei Jahrennur selten beherzigt.

Die Experten haben sich blamiert

Drittens: Aufgeklärte Gesellschaften nehmen für sich in Anspruch, den Kampf gegenSeuchen auf wissenschaftliche Weise zu führen. Das ist richtig, aber nur zum Teil.Denn die wichtigste Waffe in der Pandemie ist die Kommunikation. Sie erst machtaus lauter Einzelwesen und potenziellen Opfern eine Gesellschaft, die sich kollektivgegen das Virus wehrt. Kommunikation ist dann am wirkungsvollsten, wenn sieeinfach, nachvollziehbar und stringent ist. Wenn nicht beständig irgendwelcheParameter und Regeln erfunden werden, an denen sich Fachleute erfreuen undNormalbürger verzweifeln. Wenn nicht beständig etwas Neues behauptet und dasGegenteil für richtig erklärt wird. Wer dies dennoch tut, verliert Glaubwürdigkeit.

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Die Impfkommissionen haben sich in der Booster-Debatte blamiert. Sie hättensich an die lateinische Wendung «Respice finem» halten sollen: Bedenke dasEnde. Wenn siebzig Prozent der Bevölkerung geimpft sind, werden diese nacheiner Auffrischung verlangen und sämtliche Einwände beiseitewischen. WasExperten empfehlen, ist dann egal. Alles andere sind Phantasien vonTechnokraten. Generell stellt sich die Frage, welchen Sinn solcheKommissionen noch haben, wenn sie vor allem Verwirrung stiften.

Wie sehr die richtige Kommunikation den Ausschlag gibt, dürfte auch dieösterreichische Regierung merken. Der Lockdown für Ungeimpfte verhindertgewiss Infektionen. Er vertieft aber die Spaltung der Gesellschaft und grenztMenschen aus, obwohl sich die Pandemie nur in einem gemeinsamen Kraftaktbewältigen lässt. Die Polizeikontrollen werden symbolischer Natur bleiben.Das sich stets an seiner vergangenen Grösse berauschende und über diebescheidene Gegenwart stolpernde Österreich ist nun einmal das Gegenteileines Polizeistaates. Zugleich wächst der Ingrimm über die Bevormundung.Die wichtigste Ressource im Kampf gegen das Virus, die Selbstverantwortungder Bürger, wird so verschleudert.

Mit obsessiver Unbelehrbarkeit verfällt Politik regelmässig in den Irrtum,möglichst strenge Vorschriften würden viel erreichen. So glaubte man auf demHöhepunkt der letzten Welle, selbst die deutschen Kinderzimmer regulieren zumüssen, indem man die Zahl der zulässigen Spielkameraden festlegte. Kaumschnellt die Inzidenz nach oben, machen wieder drakonische Vorschläge inBerlin die Runde. Dabei lehrt gerade die Pandemie, dass Verbote schnellerlassen werden, aber nur schwer zu kontrollieren sind.

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Im Zweifelsfall ist psychologisch geschickte Kommunikation wirksamer alsgouvernantenhafte Volkspädagogik. Die Aufgabe lautet deshalb, die Fakten inein nachhaltiges Narrativ zu verpacken. An dieser Aufgabe scheiternvermeintliche Kommunikationsprofis wie Spahn, Berset oder Mückstein. Ihnenfehlt schon eine Sprache, die mehr wäre als nur dürre Anweisungen imAmtsblatt-Ton. Es ist müssig, darüber zu spekulieren, ob dieses Unvermögendie Zahl der Impfverweigerer erhöht. Es hat sie sicherlich nicht gesenkt.

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Kriege bringen Helden hervor, die dem Widerstand ein Gesicht geben. WinstonChurchill war so eine Figur, die Kampfgeist und Zuversicht bis in dieFingerspitzen verkörperte. Seine trotzige Victory-Geste im Angesicht desBösen trug mehr zum Sieg bei als Hunderttausende von Patronen. DiePandemie hat keine solchen Helden geschaffen. Vielleicht liegt dies daran,dass die Botschaften nur negativ sind: Warnungen vor steigenden Zahlen, vorübervollen Spitälern und noch mehr Toten. Vielleicht zeigt die Pandemie aberauch nur auf, wie durchschnittlich das regierende politische Personal ist. Dassdieser Krieg ohne Feldherr ausgefochten wird, der in Erinnerung bleibt, istjedenfalls ein rares historisches Phänomen.

Quelle: NZZ Newsletter vom 19.11.2021

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