Brasilien ist eines der reichsten und eines der
ärmsten Länder der Welt.
Der Gini-Index, mit dem die Ungleichheit
der Einkommensverteilung gemessen wird,
ist hier höher als irgendwo sonst:
0,6 (doppelt so hoch wie in der
Bundes republik Deutschland).
Zwanzig Großgrundbesitzern Brasiliens gehören zwanzig Millionen Hektar,
ebenso viel wie den 3,3 Millionen Kleinbauern. Am unteren Ende der
Gesellschaft stehen die Landarbeiter ohne Land.
Die Fotos hier sind zwanzig Jahre alt. Viel hat sich seitdem dort nicht verändert:
Die Alten sind gestorben, die Kinder sind erwachsen. Und die Kinder von heute
leben in der gleichen Armut damals wie ihre Eltern.
In den Abendnachrichten ist von Hungerrevolten in Südamerika schon
wieder keine Rede mehr. Die Welt lebt, wie sie lebt, vom Stillhalten dieser Armut.
10 Millionen Hektar werden von den Großgrundbesitzern
nicht einmal genutzt: Das Land wird gehortet, ein Objekt der
Spekulation.
Die historisch bedingte, extrem einseitige Landverteilung und
die Verelendung von Millionen Landarbeitern ohne Land führte
ab 1960 allmählich zu einem Umdenken, auch dank der katholischen
Kirche. Mitgetragen vom II. Vatikanischen Konzil formulierte sich hier
ein neues Denken, die sogenannte Befreiungstheologie. 1984
gründete sich die politische Bewegung der Landlosen, das
Movimento dos trabalhores rurais sem terra.
Diese Landlosen begannen, unbebautes Land zu besetzen.
Nicht selten wurden sie aus den schnell errichteten Camps, der
Acampamentos, gleich wieder vertrieben - von der Polizei oder
den Pistoleros der Großgrundbesitzer. In einigen Fällen teilte
ihnen der Staat aber auch unbewirtschaftetes Land zu;
dort entstanden dann neue Siedlungen, die sogenannten
Assentamentos.
Die Fotos hier wurden an zwei Orten in Südbrasilien
aufgenommen. Das Campo Eré im Bundesstaat Catarina ent-
stand, nachdem eine große Landbesetzung – etwa 10000
Landlose und ihre Familien waren daran beteiligt – von der
Polizei mit Waffengewalt beendet wurde. Auf dem Land eines
benachbarten Bauern fanden immerhin 3000 Menschen eine
vorläufige, ungesicherte Bleibe.
Für das Assentamento Reserva im Bundesstaat Parana wurde
vom Staat ein Stück Land zugeteilt. Das gesamte Wasser für die
600 Bewohner kommt aus einem Loch, kaum größer als ein
Quadratmeter.
Die einzige Hilfe für die trabalhadores rurais sem terra boten
damals die christlichen Kirchen. Im Campo Eré zum Beispiel leb-
ten zwei italienische Franziskanerinnen(Foto), die sich wenigs-
tens um die Kranken und die Neugeborenen kümmerten. Viel
mehr als Aspirin und Milchpulver hatten aber auch sie nicht zu ver-
teilen.
Auch politisch kämpfte die katholische Kirche für diese Armen und
verlangte nachdrücklich die überfällige Landreform. Der deutsch-
stämmige Kardinal Aloisius Lorscheider in Fortaleza
sagte in einem Interview: „Der Kirche ist seit einiger Zeit bewusst
geworden, dass sie einen anderen Auftrag hat als nur ‚geistlich’ zu
predigen, spirituell oder wie immer man das nennen mag. Sie hat
zum Beispiel das Eigentum verteidigt, als ob es sich dabei um ein
absolutes Recht handelte. Mit der Soziallehre ist nun bewusst
geworden, dass es kein absolutes Recht auf Eigentum gibt.“
Damit bezog sich der Kardinal auf die Sozial-Enzyklika Papst
Pauls VI. Populorum Progressio von 1967. Darin forderte die
Kirche, das Recht auf Privateigentum der weltwirtschaftlichen
Gerechtigkeit zwischen reichen und armen Ländern unterzuordnen.
Geschehen ist nichts. Eine Landreform hat in Brasilien nicht
stattgefunden, auch nicht unter dem angeblich linken Präsidenten
Lula de Silva. Das offizielle Rom hat sich aus seinem sozialen
Engagement in Südamerika weitestgehend zurückgezogen.
Bekannte Befreiungstheologen erhielten Rede- und Lehrverbote, so
auch Leonardo Boff, der seitdem ohne den Segen der Kurie
publiziert und 2001 den Alternativen Nobelpreis erhielt.
So bleiben Millionen Landarbeiter ohne Land; ihre Kinder
hungrig und ohne Hoffnung auf ein anderes Leben.
Immerhin: Im Nachbarstaat Paraguay hat nach über 60jähriger
Herrschaft der Colorado-Partei der katholische Ex-Bischof und
Befreiungstheologe Fernando Lugo einen historischen Wahlsieg
errungen.
Zu seinem Programm gehört eine umfassende Land reform.
Siehe auch das InterviewDie Brasilianisierung der Welt mit Professor Dr. Dr. Radermacher
( GAZETTE 10, Sommer 2006) und Zwei gegen die Colorados von Moritz Förster und
Angelica Otazu (GAZETTE 17, Frühjahr 2008).