Veröffentlichungsreihe der Abteilung "Organisation und Technikgenese" des Forschungsschwerpunktes Techmk-Arbeit-Umwelt am WZB
FSII96-106
Die Vielfalt der Wirklichkeit und
ihre Reduktion in der Statistik
Die Diskussion über die Kategorie "Arbeitslosigkeit" im Kaiserreich und ihr Nachhall im Rahmen der
Europäischen Einiguhg
Benedicte Zimmermann
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH (WZB) Reichpietschufer 50,10785 Berlin
Tel. 030-254910 Fax -25491684
Zusammenfassung
Die heutigen europäischen Auseinandersetzungen, besonders auf dem Gebiet der Sozial-
und Arbeitspolitik weisen erstaunliche Parallelen zu Fragen auf, die im Zentrum des
Prozesses der deutschen Vereinigung im Kaiserreich standen. E in Jahrhundert später
stellt sich in ähnlicher Weise das Problem, aus einer Pluralität von Institutionen und
Erfahrungen homogene Kategorien zu entwickeln, die ein gemeinsames H andeln
ermöglichen. Die Schwierigkeiten bei der Einführung einer reichsweit gültigen
Arbeitslosenstatistik um die Jahrhundertwende ebenso wie heute die Probleme einer
europäischen Statistik bieten hierfür ein gutes Beispiel. Die Vielfalt der
sozioökonomischen Praktiken leistet der Vereinheitlichung W iderstände, die die Statistik
allein nicht überwinden kann. Obwohl sie eine Technik zur Gruppierung von Individuen
in einheitlichen Klassen ist, wird sie daran scheitern homogene Kategorien zu
begründen, wenn kein politisches Prinzip der Äquivalenz zwischen den Arbeitslosen im
Rahmen des neuen Territorium, auf das sich die Statistik bezieht, geschaffen wird. Es
gibt aber in der europäischen Diskussion heute genausowenig wie im Kaiserreich eine
genaue Vorstellung von dem, was eine Arbeitslosen- oder Arbeitspolitik sein soll. Das
« Gemeinwohl », auf dem die statistische Verallgemeinerung zu begründen wäre, bleibt
für die Konstruktion eines sozialen Europas noch politisch zu bestimmen.
Summary
Current European debates, particularly in the field of social and labour policy, bear a
striking ressemblence to some of the fundamental issues which emerged during the
process o f German unification under the Kaiserreich (1871-1918). One century later, the
same problems arise : to bring under one umbrella, the plurality of institutions, theories
and experiences, with the aim of pursuing a common action. The elaboration of
unemployment statistics both in Germany at the turn of the Century and in Europe today
offer a good example of the issues at stake. The diversity of socio-economic pratices is a
major hurdle to any attempts at uniformisation which statistics, on its own, cannot
overcome. Although statistics are a technical device for grouping objects under one
generic class, they do not seem capable of providing a homogeneous category at the
level o f the new territorial scope of application of the measure. Yet, the failure to reach
an agreement on what ought to be considered as unemployment, or more generally
labour policy, is as much a characteristic of present-day European debates as it was
under the Kaiserreich. The "common good" which is essential for the elaboration o f
principles of statistical generalisation remains to be politically determined. Only then
may we be able to construct a social Europe.
Resume
Les debats europeens actuels, notamment en matiere de politique sociale et du travail,
trouvent des resonances frappantes avec des questions au coeur du processus
d ’unification allemande sous le Kaiserreich (1871-1918). A un siecle d ’intervalle se
posent les memes problemes de reduction d ’une pluralite d'institutions et d'experiences
en une categorie operatoire pour une action commune. Les difficultes relatives ä
1'elaboration d ’une statistique allemande au tournant du siecle, et aujourd'hui
europeenne, du chomage en offrent une bonne illustration. La diversite des pratiques
socio-economiques montre des resistance ä Tuniformisation que la seule statistique ne
parvient ä vaincre. Quoique technique de regroupement des objets en une classe
generique, la statistique ne semble pouvoir fonder une categorie homogene en T absence
d ’un principe politique d ’equivalence entre les chomeurs ä la dimension du nouveau
cadre territorial auquel s'applique la mesure. Or pas davantage aujourd’hui dans les
debats europeens que sous le Kaiserreich n ’existe un accord sur ce que devrait etre une
politique du chomage ou plus largement du travail en Europe. Le « bien commun
politique » sur lequel fonder Tenonciation de principes de generalisation statistique reste
ä inventer pour la construction d ’une Europe sociale.
DIE VIELFALT DER WIRKLICHKEIT UND IHRE REDUKTION IN D E R
STATISTIK.
Die Diskussion über die Kategorie "Arbeitslosigkeit" im Kaiserreich und ihr Nachhall im Rahmen der europäischen Einigung
Die ökonomische Krise, in der sich die westlichen Länder seit einigen Jahren
befinden, hat der Frage nach dem historischen Charakter der etablierten Institutionen
und Vorstellungen der Arbeit, über deren Effizienz und Gültigkeit seit M itte der
siebziger Jahre Ungewißheit herrscht, besondere Brisanz verliehen. Claus Offe spricht
von einer "Krise der Arbeitsgesellschaft"1, wobei er den Begriff Krise versteht als "eine
Situation, in der überkommene Institutionen und Selbstverständlichkeiten plötzlich
fragwürdig werden, unerwartete Schwierigkeiten fundamentaler Bedeutung auftauchen,
und in der offen ist, wie es weitergeht"2. Fragwürdig geworden sind vor allem die
großen Kategorien der Arbeitsorganisation und des Sozialwesens. D a sie von der
Lohnarbeit als der allgemeinen Grundnorm ausgehen, sind sie durch die Fragm entierung
der Lohnarbeiterschaft und die Diversifizierung der Rationalitäten der Lohnarbeit
gründlich ins W anken geraten. Diese Krisenkonstellation, dieses Fragw ürdigw erden der
überkommenen Vorstellungen, bezeichnet im übrigen eine reale Schwierigkeit, vor der
alle europäischen Länder stehen, nämlich die Kategorien der sozialen Organisation in
dem jeweiligen nationalen Rahmen, in dem sie seit Ende des letzten Jahrhunderts in
Blüte standen, neu zu durchdenken.
Parallel zu dieser Situation der Ohnmacht der Nationalstaaten hat sich m it dem
Prozeß der Konstruktion der Europäischen Union ein potentiell neuer Rahmen für die
Entwicklung von sozialpolitischen Konzepten auf übernationaler Ebene aufgetan. D ieser
doppelte Befund von fragwürdig gewordenen nationalen Institutionen und neu zu
entwickelnden europäischen Kategorien führt zu der Frage nach dem Zusammenhang
und der Verknüpfung der beiden Prozesse. Sind, wie Bruno Theret meint, europäische
1. Claus Offe, "Arbeitsgesellschaft", Strukturprobleme und Zukunftsperspektiven, Frankfurt a. Main, Campus, 1984, S. 7.
2. a.a.O.
2
Politiken als echte Alternative zu den Blockierungen anzusehen, die heute fü r die
nationalen Sozialstaaten kennzeichnend sind3 ? W ir wollen uns hier nicht so sehr auf
eine Diskussion der Aussage in dieser allgemeinen Form einlassen, sondern uns m it den
Implikationen befassen, die dieser Wechsel des Maßstabs - von der nationalen zur
übernationalen Ebene - als Vektor einer neuen Kategoriendynamik mit sich bringt4.
Welcher Natur ist diese Dynamik? W erden Sackgassen und Probleme lediglich
entnationalisiert und in einen europäischen Rahmen transponiert, oder erweist sich die
Dynamik als wirklich kreativ?
Dieser Ebenenwechsel hat vielfältige Determinanten, und das Endergebnis, das
heißt die Definition einer europäisch-politischen Kategorie, ist ein Produkt von
verschränkten Kräfteverhältnissen unterschiedlicher Natur. Diese Kräfteverhältnisse, bei
denen sich politische und diplomatische, ökonomische und soziale Interessen mischen,
gehören im übrigen ganz unterschiedlichen territorialen und sektoralen Ebenen an: Sie
sind sub-national - wie beim Europa der Regionen oder bei der M obilisierung der
französischen Landwirte gegen die Politik der Europäischen Gemeinschaft -, national,
europäisch und schließlich über-europäisch - zu sehen etwa am Beispiel der
Verhandlungen zum GATT-Abkommen. Aber die Frage nach dem Ebenenwechsel und
der sich daraus möglicherweise ergebenden europäischen Politik ist auch die Frage nach
der angemessenen Ebene für die Behandlung von ökonomischen und sozialen Fragen;
eine Ebene, die nicht notwendig die der Instanzen der Europäischen Gemeinschaft ist.
Sie ist weiterhin die Frage nach dem Modus der Problemübersetzung zwischen
verschiedenen territorialen Ebenen5. Und schließlich die Frage nach der Bestimmung
einer Institution zur Regulierung und Normfestsetzung, die von den Protagonisten aller
an der Konstruktion Europas beteiligten territorialen Kollektivitäten als legitim
3. "Auf nationaler Ebene scheint die Zukunft des Sozialstaates in der Tat eher düster. (...) Auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft (...) nimmt sich dieZukunft des Sozialstaates trotz des scheinbar geringen Raumes, der den sozialen Fragen gegeben wird, schon rosiger aus.” Bruno Theret, "L'Etat europeen", Politis la revue, Nr. 6, Feb.-Apr. 1994, S. 27-31.
4. Zum Maßstabs Wechsel, s. Bernard Lepetit, "Architecture, geographic, histoire: usages de 1'echelle", Geneses, Nr. 13, Herbst 1993, S. 118-138.
5. Zur Soziologie der Übersetzung, s. Michel Callon, "Elements pour une sociologie de la traduction. La domestication des coquilles Saint-Jacques et des marins-pecheurs dans la baie de Sant-Brieuc", L'Armee sociologique, 36, 1986, S. 169-208.
3
anerkannt wird6. Diese Komplexität der Frage des Ebenenwechsels läßt ahnen, wie
offen das europäische Spiel immer noch ist und wie sehr gerade diese Frage ein
Kernelement der Entwicklung einer übernationalen Sozialpolitik darstellt.
Ausgehend vom Beispiel der Entwicklung einer europäischen
Arbeitslosenstatistik wollen wir versuchen, der Frage nach den Implikationen und den
Zwängen dieses Ebenenwechsels nachzugehen. Welche Auswirkungen haben die
bestehenden nationalen Arrangements im Bereich der Arbeitslosigkeit auf die
Konstruktion einer übernationalen Kategorie? Wie kommt man von dieser Vielfalt der
nationalen Realitäten zur Definition einer homogenen europäischen Kategorie? W enn
schon die Aggregierung von Daten, die lokal nach jeweils besonderen Techniken und
Methoden erhoben werden, zu keinem befriedigenden Ergebnis führen kann, unter
welchen Bedingungen ist dann eine Koordinierung der nationalen Form en der
Bestimmung der Arbeitslosigkeit auf europäischer Ebene möglich? Lauter Fragen, die
zu dem hinführen, was man das "Paradigma der Vielfalt und ihrer Reduktion" in einem
erweiterten räumlichen Rahmen nennen kann7.
Dieses Paradigma nun, zu dessen Formulierung wir im Rahmen unserer Arbeiten
über die Formalisierung der Arbeitslosigkeit in einer nationalen Kategorie im
Kaiserreich und in der Weimarer Republik8 gelangt sind, kehrt in der derzeitigen
Europa-Diskussion ganz augenfällig wieder. Die Suche nach angemessenen
Regulierungsebenen und -räumen und nach Technologien der Übersetzung eines
Problems von einer Ebene in eine andere sind Aspekte, die beiden historischen
Konstellationen gemeinsam sind. Zutage tritt eine höchst spannende Nähe zwischen den
Problemen und Interessen der damaligen Zeit der sozialen Einigung Deutschlands, in
der sich, "als die äußeren Grundlagen des Reichs unter preußischer Vorherrschaft erst
einmal gefestigt waren, eine reformistische Umstrukturierung der Gesellschaft als nötig
6. Hier wäre auf die Diskussion zwischen den Vertretern eines Europas der Staaten und der Vertreter eines Europas der Regionen zu verweisen.
7. Zur Theorie der Vielfalt und ihrer Entwicklung in "Welten", s. vor allem Luc Boltanksi und Laurent Thevenot, De la justification. Les economies de la grandeur, Paris, Gallimard, 1991. Wir betrachten hier die Reduktion nicht als eine Verarmung der Wirklichkeit, sondern vielmehr unter dem Blickwinkel der Koordinierung vielfältiger Logiken und Praktiken.
8. Benedicte Zimmermann, La constitution du chömage en Allemagne. Mise en forme d'une categorie nationale despolitiquespubliques 1871-1927, These de l'Institut d'Etudes Politiques de Paris, 1996.
4
erwies, um die inneren Fundamente für einen mächtigen und harmonischen Nationalstaat zu legen"9, und der heutigen Zeit der europäischen Einigung. Trotz der historisch und
strukturell ganz unterschiedlichen Konstellationen stellt sich das gleiche Problem: die
Reduktion einer Vielfalt von raum-zeitlich bedingten Praktiken und Kategorien - das
heißt von Praktiken und Kategorien, die in viele verschiedene soziale, politische oder
ökonomische Räume eingebunden sind, von denen der lokale und der nationale
wiederum nur zwei von mehreren Alternativen darstellen - im Zuge der Produktion
einer neuen Kategorie mit einem höheren Allgemeinheitsgrad. Ausgehend vom
deutschen Beispiel kann die Entwicklung dieses Paradigmas der Vielfalt und ihrer
Reduktion einen Schlüssel zur Interpretation nicht nur der in die Entwicklung von neuen
Kategorien der Arbeit im europäischen Rahmen eingehenden Problem e und Interessen,
sondern auch der Krise der nationalen sozialen Institutionen liefern. Vielleicht lassen
sich über eine sozio-historische Aufklärung der Art und W eise, wie um die
Jahrhundertwende die Formen der Bestimmung der Arbeitslosigkeit festgelegt wurden,
auch die exakten Implikationen der heutigen Infragestellung dieser Form en besser
erfassen.
Aus der Sicht einer Soziologie der Moderne, wie sie von Peter W agner10
skizziert wurde, läuft diese Parallelsetzung der Situation der Produktion von neuen
Kategorien einer staatlichen Sozialpolitik im Kaiserreich und der Bedingungen der
Konstruktion eines sozialen Europas auf die Gegenüberstellung der beiden großen
Krisen hinaus, die diesem Autor zufolge die Moderne kennzeichnen. In einer
Konstellation der "Krise der liberalen Moderne" wurden Ende des neunzehnten
Jahrhunderts, ausgehend von den Begriffen "Klasse" und "Nation", die Grundzüge der
großen Kategorien und Konventionen entworfen, auf denen die Organisation der
Industriegesellschaften beruht. Die gegenwärtige Krise, die Peter W agner die "Krise der
organisierten Moderne" nennt, beruht umgekehrt auf dem Fragw ürdigwerden dieser
nach dem doppelten Maßstab von - zu Solidarräumen erhobenen - Klasse und Nation
9. zit. nach Dietrich Rueschemeyer und Ronan von Rossem, "The Verein für Sozialpolitik and the Fabian Society : a Study in the Sociology of Policy-Relevant Kowledge" in Dietrich Rueschemeyer und Theda Skocpol (Hrsg.), States, Social Knowledge and the Origins o f Modem Social Policies, Princeton & New York, Princeton University Press und Russell Sage Foundation, 1996, S. 117-162.
10. Peter Wagner, A sociology o f modernity. Liberty and discipline, London, Routledge, 1994, (dt. : Frankfurt a. Main, Campus, 1995).
5
gebildeten Kategorien11. So scheint der Prozeß der Reduktion der Vielfalt, der für die
Krise der Jahrhundertwende charakteristisch war, in der gegenwärtigen Krise sein Echo
in einem Prozeß der Vervielfältigung der Praktiken und der erneuten Öffnung der
Kategorien zu finden12; dies insbesondere im Hinblick auf neue Handlungsebenen wie
beispielsweise die europäische13.
Die sozio-historische Analyse der Genese von Kategorien
Angesichts dieses Prozesses der "neuen Öffnung" und des Fragwürdigwerdens
der bestehenden Institutionen, in dem sich unsere Industriegesellschaften seit den
siebziger Jahren befinden, scheint die Untersuchung der Entstehungsgeschichten dieser
ungewiß gewordenen Denk- und Handlungsstrukturen nicht nur aktuell, sondern auch
lehrreich. Die sozio-historische Herangehens weise, um die es hier geht, impliziert über
die Frage nach dem Entstehungsprozeß der überkommenen Institutionen hinaus auch
eine spezifisch wissenschaftstheoretische Fragestellung nach dem Status der
traditionellen analytischen Kategorien der Sozialgeschichte. Ist es für den H istoriker der
Zeitgeschichte nicht entscheidend, die Ungewißheit, die heute auf den Institutionen
unseres Arbeits- und Soziallebens lastet, zur Kenntnis zu nehmen oder ihr zumindest als
der wissenschaftstheoretischen Voraussetzung seines Vorgehens Rechnung zu tragen?
Die Betrachtung der Entstehungsgeschichte kann in dieser Hinsicht als eine m ögliche
Reaktion der historischen Disziplin auf die Transformation ihres Umfelds und auf das
Fragwürdigwerden der großen Gewißheiten angesehen werden, auf denen sie einmal
fußte. Einige Arbeiten etwa zur Arbeitslosigkeit14 oder zur Statistik15 haben sich im
11. a.a.O., S. 50.
12. a.a.O., S. 17-18.
13. Oder die lokale. Dazu s. Pierre Muller, "Entre le local et l’Europe la crise du modele franqais des politiques publiques" in Revue Frangaise de Science Politique, vol. 42, n°2, april 1992, S.275-297.
14. Robert Salais, Nicolas Baverez, Benedicte Reynaud, L'invention du chömage, Paris, PUF, 1986; Malcom Mansfield, Robert Salais, Noel Whiteside (Hrsg.), Aux sources du chömage. Pour une comparaison inter-disciplinaire France-Grande-Bretagne, Paris, Belin, 1994; Christian Topalov, Naissance du chömeur, Paris, Albin, 1994.
15. Jean Luciani (Hrsg.), Histoire de l ’Office du travail (1890-1914), Paris, Syros, 1992; Alain Desrosieres, La politique des grand nombres. Histoire de la raison statistique, Paris, La Decouverte, 1993.
6
Sinne dieser Sichtweise um eine Verlagerung der Untersuchung von der Beschreibung
einer Realität an sich hin zur Analyse der sie konstituierenden Faktoren bemüht. Ihr
Objekt ist nunmehr weniger die Institution, als der Prozeß der Institutionalisierung, und
das Interesse gilt der Restitution der Interaktionen und der Formen der Koordination
zwischen den beteiligten Akteuren oder Gruppen.
Ausgehend von den Problemen der Gegenwart versucht diese sozio-historische
Analyse der Institutionalisierung, die heutigen Kategorien und die Herausforderungen,
denen sie sich gegenübersehen, von den Bedingungen ihrer Entstehung her zu verstehen.
Zwar ist, wie Norbert Elias betont, "die Vergangenheit ... ja nie bloß die
Vergangenheit. Sie wirkt - je nach den Umständen mehr oder weniger stark - als
mitbestimmender Faktor in die Gegenwart hinein."16 Dennoch gilt es, sich vor jeder
Form des historischen Determinismus zu hüten. So theoretisch wie praktisch
aufschlußreich die Analyse einer Entstehungsgeschichte auch scheinen mag, ihr Beitrag
zum Verständnis der Gegenwart bleibt unzureichend, wenn sie die A rt und W eise
unberücksichtigt läßt, wie die Akteure heute mit einer bestimmten Institution umgehen
und sich ihrer bedienen. Ein bescheidener Beitrag also, dessen Leistung für ein
Verständnis der heutigen Probleme im wesentlichen in der W iederentdeckung der oft
unbekannten oder vergessenen Grundlagen von Institutionen beruht, die wir für
selbstverständlich oder naturwüchsig halten.
Zur Formalisierung der größtenteils heute noch gültigen Kategorien der A rbeit
kommt es, wie aus zahlreichen Arbeiten hervorgeht, um die Jahrhundertwende in einer
von der Industrialisierung und der politischen Aktualität der Arbeiterfrage geprägten
Konjunktur. Diese kategoriale Formalisierung17 ist Teil eines komplexen Prozesses, in
dem Unternehmen und Unter nehmensfiihrung verändert, Gesetze, Regeln und
Institutionen geschaffen, sozialpolitische Konzepte erarbeitet und spezielle Begriffe und
Kenntnisse entwickelt werden.
16. Norbert Elias, Studien über die Deutschen, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1992.
17. Die Bildung einer Kategorie verlangt eine Formalisierung, eine "Forminvestition", auf die sich die Konvertierung des Besonderen ins Allgemeine stützen kann. Laurent Thevenot, "Les investissements de forme" in Laurent Thevenot (Hrsg.), Conventions economiques, Cahiers du Centre d 'Etudes de l'Emploi, Paris, PUF, 1985, S. 21-71.
7
Nun gibt es, auch wenn die Diskussion über diese Fragen in den m eisten
europäischen Industrieländern nachweislich zur gleichen Zeit aufkam, dennoch
ausgeprägte nationale Besonderheiten in der Art und Weise des Herangehens an diese
Fragen, wie aus einer Reihe von Studien hervorgeht, die sich m it der
Institutionalisierung der Arbeitsstatistik oder mit der Entstehung der Kategorie
"Arbeitslosigkeit" in Frankreich, Großbritannien und Deutschland18 19 20 beschäftigt haben.
Tatsächlich wird um die Jahrhundertwende - wie die "Conference nationale du chöm age
de 1910" belegt - die Arbeitslosigkeit in den meisten Industrieländern zum Gegenstand
der wissenschaftlichen und politischen Diskussion, aber die Form dieser
Problematisierung geht auf spezifische nationale Konfigurationen in der Auffassung von
der Frage der Arbeit zurück.
Zwar hängt die Formalisierung der Kategorie "Arbeitslosigkeit" allgem ein m it
der Notwendigkeit zusammen, angesichts der von der Industrialisierung geschaffenen
Verhältnisse zu einer Neuformulierung der Art der sozialen Bindung zwischen den
Individuen in einer Solidargemeinschaft zu gelangen, doch sind die Umstände dieser
Neuformulierung in jedem Land anders. In Deutschland fallen sie m it der Einigung und
dem Aufbau des Nationalstaates zusammen. Deshalb gehen bei der in dieser Studie
gewählten Vorgehens weise zwar die großen strukturellen Transform ationen in die
Analyse ein, nicht aber wird das funktionalistische Postulat der - aufgrund von
universalen funktionalen Determinismen gegebenen - Unvermeidlichkeit der
Entwicklungslogiken der sozialen Phänomene akzeptiert, sondern diese im Gegenteil als
Produkte komplexer Konstruktionsprozesse betrachtet. Die Untersuchung der
Formalisierung der Kategorie "Arbeitslosigkeit" stützt sich auf eine Interpretation der
Spannungen, der Interessen und der Koordinierungsformen der an dieser A rbeit der
Neudefinition des sozialen Zusammenhangs und der Solidargemeinschaften beteiligten
Logiken und Akteure.
18. Jean Luciani (Hrsg.), Histoire de VOffice du travail, a.a.O.
19. Malcolm Mansfiled, Robert Salais, Noel Whiteside (Hrsg.), Aux sources..., a.a.O.-, Benedicte Zimmermann, La constitution..., a.a.O. und Christian Topalov, Naissance..., a.a.O.
20. Compte-rendu de la Conference internationale du chömage, Paris 18-20 septembre 1910, Paris, Riviere et Cie, 1911.
8
So verfugen zwar heute alle drei Länder, Deutschland, Großbritannien und
Frankreich, um bei den bekannteren Beispielen zu bleiben, über eine
Arbeitslosenversicherung, doch sind dies Institutionen mit historisch ganz
unterschiedlich entwickelten Strukturen und Funktionsweisen. In Frankreich wurde die
Kategorie "Arbeitslosigkeit" in der 1890-er Jahren von Statistikern und Juristen über das
Kriterium der Zugehörigkeit zu einem Betrieb definiert. Nach dieser Auffassung fallen
darunter nur solche Personen, die ökonomisch und physisch von einem Betrieb abhängig
und vorübergehend freigesetzt sind . In Großbritannien wurde die K ategorie
"Arbeitslosigkeit" im Rahmen der Tätigkeit der Arbeitsnachweise immer m ehr
eingegrenzt, und zwar auf der Grundlage von Tests, in denen die ArbeitsWilligkeit der
bei diesen Ämtern vorstellig werdenden Personen geprüft wurde . In Deutschland
schließlich wurde die Kategorie im Zusammenhang mit der Frage der Subsistenzmittel
und der abhängigen Arbeit bestimmt, das heißt ausgehend von einer Definition der
Lohnarbeit als einer ökonomischen, nicht aber - wie in Frankreich - physischen
Abhängigkeit. Welche Implikationen diese Entstehungsgeschichten für die heute gültigen
Kategorien haben, ist daran abzulesen, daß im deutschen Mikrozensus auch heute noch
der Arbeitslose anhand seiner Stellung im System der Einkommensverteilung
identifiziert wird, während dieses Kriterium in den französischen oder englischen
Statistiken keine Rolle spielt21 22 23. Als statistischer Ausdruck der Vereinbarungen, die die
Grundlage der deutschen Kategorie "Arbeitslosigkeit" bilden, verweist diese Eigenheit
auf die entscheidende Rolle, die die Frage der Subsistenzmittel und der ihr
zugrundeliegenden Gesamtproblematik in der Entstehungsgeschichte der Kategorie des
Arbeitslosen in Deutschland gespielt hat. Dies nur - stark verkürzt - zur
Veranschaulichung der historischen Besonderheiten unserer Arbeitsinstitutionen, die
unter dem Deckmantel der gemeinsamen Aufgabenstellung dennoch in jedem Land auf
anderen Regeln und Konventionen beruhen. Diese Vielfalt der nationalen
Konfigurationen, die hinter den auf den ersten Blick gemeinsamen Kategorien und
21. Robert Salais u.a., L 'invention..., a.a.O.
22. Noel Whiteside, James Gillespie, "Deconstructing unemployment", The Economic History Review, XLIV, Nov. 1991, S.665-682. Malcolm Mansfield, "Labour exchanges and the labour reserve in turn of the century social reform", Journal o f Social Policy, 21, 4, 1992, S. 435-468.
23. Jean Louis Besson, Maurice Comte, La notion de chömage en Europe. Analyse comparative, Paris, MIRE, 1992, S. 138.
9
Terminologien verborgen sind, zu erkennen und ihnen Rechnung zu tragen, dürfte auf
dem Wege zur Konstruktion Europas eine unumgängliche Etappe darstellen.
Die Wahl der Statistik als Ansatzpunkt für die Untersuchung der
Kategorienkonstruktion mag auf den ersten Blick verkürzt erscheinen. Bei näherem
Hinsehen jedoch führt sie sowohl zur Frage der Gewinnung von Erkenntnissen als auch
zur Frage des politischen Handelns. Wie Alain Desrosieres zeigt, werden in der Statistik
in einer A rt gelehrter Alchemie die "deskriptive" Dimension des Wissens und der
"präskriptive" Charakter des reformerischen Handelns miteinander verschmolzen24.
Indem sie aus individuell erfaßten Daten kollektive Größen macht, indem sie Kriterien
zur Identifikation und Zusammenfassung entwickelt, indem sie also, ausgehend von den
Einzelsituationen, Allgemeinheit produziert, erweist sie sich als sehr viel mehr denn als
bloßes Instrument zur Datenproduktion. Weil die sozialen Tatbestände nicht direkt
zugänglich, sondern das Produkt von Konstruktionsvorgängen mittels Diskursen,
Definitionen und Beobachtungsverfahren sind, ist die Statistik in vorderster Linie an der
sozialen und politischen Formalisierung des Realen beteiligt.
Die Betrachtung der statistischen Dimension war im übrigen durch den Stand der
europäischen Arbeit an gemeinsamen Kategorien motiviert. W ährend das soziale Europa
im Bereich des politischen Handelns immer noch in den Kinderschuhen steckt, bietet
Eurostat im Bereich der Statistik ein gutes Beispiel für die Produktion von europäischen
Kategorien. Den Aufbau einer europäischen Statistik mit dem einer deutschen
Arbeitslosenstatistik im Kaiserreich zu vergleichen, schien uns umso interessanter als,
wie Alain Desrosieres betont,
"die im Aufbau begriffene europäische Statistik, betrieben vom Statistischen Amt der europäischen Gemeinschaften, [...] aufgrund ihres föderativen Charakters vielleicht mehr mit dieser historisch gewachsenen deutschen Statistik gemeinsam [hat] als mit dem auf der territorialen Ebene zentralisierten französischen System. "25
24. Alain Desrosieres, La politique des grands nombres..., a.a.O.
25. ebd., S. 225-226.
10
Anhand des historischen deutschen Beispiels möchten w ir zunächst das
entwickeln, was wir das "Paradigma der Vielfalt und ihrer Reduktion" genannt haben,
um uns sodann einigen möglichen Schlußfolgerungen für die Analyse der gegenwärtigen
europäischen Erfahrung zuzuwenden. Ausgehend von einer Identifikation der
verschiedenen Akteure, die an unterschiedlichen Orten zu der Entstehung der Kategorie
"Arbeitslosigkeit" beitrugen, wollen wir uns in einem ersten Teil der Problematik der
statistischen Formalisierung dieser Kategorie im Kaiserreich widmen. W ir wollen
versuchen, die Vielfalt der beteiligten bzw. konkurrierenden Formalisierungslogiken
darzustellen und die Modalitäten ihrer Koordinierung bzw. ihrer Reduktion in einer
homogenen nationalen Kategorie zu verstehen.
Genese und Verwendung der Arbeitslosenstatistiken im Kaiserreich
M it Ausnahme der Volks- und Gewerbezählungen von 1895, die auch eine Frage
zur Arbeitslosigkeit enthielten, sind die Fluktuationen des Arbeitsmarktes vor dem
Ersten W eltkrieg kein Gegenstand von speziellen, regelmäßigen Erhebungen des Reichs.
Bis zu diesem Zeitpunkt versucht das Statistische Reichsamt, sich durch die Auswertung
von Quellen unterschiedlicher Herkunft - Gewerkschaften, Kommunalverwaltungen,
Krankenversicherungskassen, Arbeitsaufsicht u.a. - und ihrer Aggregierung auf
nationaler Ebene ein Werkzeug zu schaffen, um einen Überblick über den Arbeitsmarkt
zu bekommen26.
Tatsächlich nämlich entwickeln sich die ersten Ansätze zu einer Messung der
Arbeitslosigkeit höchst praxisnahe in den sozialen Netzen von Gewerkschaften und
Kommunen. W ährend sich die Kommunalverwaltungen, denen im Rahmen der
Selbstverwaltung27 die Aufgabe der Armenhilfe zufällt, um eine Unterscheidung von
Arbeitslosen und Armen und um die Entwicklung von differenzierteren
W ohlfahrtsstrategien bemühen, versuchen die Gewerkschaften ihrerseits, den Druck auf
die Löhne, der durch die Arbeitslosen entsteht, durch die Zahlung von
26. Benedicte Zimmermann, "La Kommission für Arbeiterstatistik en Allemagne" in Jean Luciani (Hrsg.), Histoire de VOffice du travail, a.a.O., S. 365-390.
27. Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte der Ideen und Institutionen, Stuttgart, Köhler, 1950, S. 331 f.
11
Arbeitslosenunterstützung zu verringern. Bis zum Ersten Weltkrieg bleibt es bei solchen
fragmentierten und durch ihre Vielfalt gekennzeichneten Erfahrungen. Die 1907, 1908
und 1912 vom Reich unternommenen Versuche zur Zusammenführung dieser9 0
gewerkschaftlichen und kommunalen Statistiken schlagen fehl. So bleibt in
Ermangelung einer allgemeinen nationalen Definition bis 1914 auch die V ielfalt der
K riterien zur Identifizierung des Arbeitslosen bestehen. Die Frage der Arbeitslosigkeit,
gestellt unter dem Gesichtspunkt der Konstruktion und Eingrenzung von K ategorien, ist
infolgedessen nicht zu trennen von einer Betrachtung der unterschiedlichen sozialen
Orte, an denen sich diese Arbeit vollzieht.
Am Beispiel von Gewerkschaften und Kommunen läßt sich die enge Beziehung
zeigen, die zwischen den Kriterien zur Identifizierung des "Arbeitslosen" und dem
Ausdruck des sozialen Zusammenhangs besteht, der die Kohäsion der Gruppe sichert.
Der B eruf bei der Gewerkschaft, der W ohnort bzw. der Unterstützungswohnsitz bei der
Kommune bezeichnen unterschiedliche Ausdrücke für den sozialen Zusammenhang und
verlangen einen jeweils anderen Modus der Formalisierung der Arbeitslosigkeit . M it
anderen W orten, jede soziale Gruppe entwickelt spezifische Formen der Erfassung der
W irklichkeit und eigene Logiken der Identifizierung des Arbeitslosen. Bei diesen
besonderen Logiken und dieser Vielfalt der Formen der Kodifizierung der sozialen
Realität liegen unter anderem die Ursachen des Scheiterns des vom Reich begonnenen
Versuchs einer Vereinheitlichung. Die gewerkschaftliche und die kommunale Logik
lassen sich nicht nur nicht aufeinander, sondern erst recht nicht auf eine nationale Logik
reduzieren.
Die Untersuchung der ersten gewerkschaftlichen und kommunalen Erhebungen
erweist sich in dieser Hinsicht als besonders interessant. Vor allem läßt sich hierbei
zeigen, daß die Kategorie "Arbeitslosigkeit" nicht so sehr ein Ergebnis ideologischer,
von den Regierungsinstanzen von oben vorgegebener Motivationen ist, sondern die
Frucht eines komplexen Konstruktionsprozesses, an dem eine Vielzahl von Akteuren an
unterschiedlichen Orten mit verschiedenen Formalisierungslogiken beteiligt sind. Die
28. Zentrales Staatsarchiv Potsdam, 15.01, Nr. 1046, S. 19-89.
29. Zur Fallstudie einer Kommune, s. Benedicte Zimmermann, "Naissance d'une politique du chömage 1888-1914", Revue d'Alsace, Nr. 120, S. 209-234.
12
Gewerkschaftler, in den politischen Instanzen durch die Sozialdemokraten vertreten, und
die Verantwortlichen in den Kommunen sind im Kaiserreich die Hauptakteure der
Formalisierung der Arbeitslosigkeit als eines politischen Problems. Angesichts d ieser
situativ bedingten Formalisierung in den Mitgliedsgruppen von Gewerkschaft und
Kommune scheint es durchaus wesentlich, daß die Kategorie "Arbeitslosigkeit" eben
nicht einfach auf eine Emanation der Zentralmacht zu reduzieren ist. Sie erweist sich im
Gegenteil als das langfristige Produkt von komplexen Interaktionen zwischen den m it
Arbeitsfragen befaßten Instanzen auf der nationalen (Zentralstaat), lokalen (Kommunen)
und beruflichen Ebene (Gewerkschaften). A uf jeder dieser Ebenen erfolgt die
Formalisierung der Arbeitslosigkeit aufgrund spezifischer Interessen und besonderer
Modi der sozialen Identifizierung. An jedem dieser sozialen Orte sind zwar in der Regel
andere Akteure beteiligt, doch können sich manche von ihnen auch auf m ehreren
solchen Ebenen bewegen und sich ihres Wechsels bedienen, um bestim m ten
individuellen oder kollektiven Strategien zum Durchbruch zu verhelfen, wie wir am
Beispiel der Städtestatistiker noch sehen werden.
Formen sozialer Bindung und Identifizierung des Arbeitslosen
Für die vorliegende Untersuchung wurde die Statistik der gewerkschaftlichen
Unterstützungskassen für Arbeitslose ausgewertet. Die Ende der 1880-er Jahre
eingeführte Zahlung von gewerkschaftlicher Arbeitslosenunterstützung dient zwei
wesentlichen Zwecken: einerseits der Stabilisierung und dem Erhalt der M itgliedschaft
bei schlechter Konjunkturlage, andererseits der Verringerung des Drucks auf die Löhne,
der von Arbeitslosen ausgeht, die ohne Subsistenzmittel und zur Übernahme von A rbeit
zu beliebigen Bedingungen bereit sind . Diese doppelte Zielsetzung - Erhalt der
ökonomischen Kampfkraft einerseits, Stärkung der ideologischen Einheit der Gruppe
andererseits - bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die dieser Statistik zugrundegelegte
Definition der Arbeitslosigkeit. Die Frage nach dieser Definition impliziert also eine
nähere Betrachtung der verschiedenen Fälle von Nicht-Arbeit, für die die Gewerkschaft
aufkommt, und eine Bestandsaufnahme der verschiedenen anerkannten Ursachen der
Arbeitslosigkeit.
30. Fanny Imle, Die Arbeitslosenunterstützung in den deutschen Gewerkschaften, 1903, S. 40.
13
Was diese Spezifikation angeht, bleiben die Satzungen der□ 1
Gewerkschaftsorganisationen jedoch recht vage . Die - bemerkenswert dehnbare -
kategoriale Eingrenzung erfolgt über die Restmenge bei Nichtzutreffen aller anderen
bestehenden Unterstützungsansprüche. Als arbeitslos wird hier jedes M itglied bezeichnet
das aus anderen Gründen als Streik, Krankheit, Alter oder Invalidität ohne A rbeit ist. So
begründet die Arbeitslosigkeit eines Arbeiters, der kündigt, weil er sich w eigert, zu
schlechteren als den von der Gewerkschaft festgelegten Lohn- und sonstigen
Bedingungen zu arbeiten, den gleichen Anspruch auf Unterstützung wie eine
Arbeitslosigkeit aus ökonomischen Gründen. Die meisten Satzungen bleiben aber vage,
wenn nicht stumm, was eine eventuelle Unterscheidung zwischen selbstverschuldeter
und nicht selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit angeht.
Ist die Nicht-Unterscheidung zwischen unfreiwilliger und freiwilliger, das heißt
durch eine Entlassung oder Kündigung aufgrund von Streitigkeiten über die
Arbeitsbedingungen verursachten, Arbeitslosigkeit durch die N atur des
Gewerkschaftsgedankens selbst gerechtfertigt, so scheint die Nicht-Unterscheidung
zwischen selbstverschuldeter und nicht-selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit - das heißt
die Frage nach dem Fehlverhalten - eher auf das Vertrauensverhältnis unter Gleichen
zurückzuführen zu sein, auf dem die gewerkschaftliche Solidarität beruht. Stellt sich in
einem Kollektiv, das auf dem Zusammenschluß einer qualifizierten Arbeiterelite beruht,
deren Klassenbewußtsein für die Moral ihres Handelns einsteht, die Frage einer solchen
Unterscheidung überhaupt? W äre sie nicht ein Verstoß gegen den Zusammenhalt und die
Gesinnung der Gruppe, deren Prinzipien der Selbstregulierung, insbesondere das
brüderliche Zusammenstehen im Klassenkampf, an sich schon potentielle M itglieder von
zweifelhafter moralischer Integrität ausschließen sollten ? Und schließlich erfordern die
mit der Arbeitslosenunterstützung verbundenen Zielsetzungen der Stärkung der
Gewerkschaft und des Beitrags zum Kampf gegen die Arbeitgeber, wenn sie erreicht
werden sollen, relativ flexible Kriterien für die Identifizierung des Arbeitslosen.
31. Die Satzungen sämtlicher Gewerkschaften, die ihren Mitgliedern bei Arbeitslosigkeit eine Unterstützung zahlen, sind für das Jahr 1904 abgedruckt in Kaiserliches Statistisches Amt, Die bestehenden Einrichtungen zur Versicherung gegen die Folgen der Arbeitslosigkeit im Ausland und im Deutschen Reich, Berlin, Heymann, 1906, Bd. 3, S. 283-461.
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Diese von einer zweifachen, nämlich individuellen und kollektiven, Rationalität
getragene Definition einer operativen, interventionsorientierten Kategorie beruht auf der
Aktivierung der Identitätsressource Beruf. Als Ausdruck der sozialen Bindung des
Individuum an eine Gruppe stellt die Berufsgemeinschaft das wichtigste K riterium für
die Identifizierung der Arbeitslosen dar. In dem Raum, der durch diese von der
Gewerkschaft objektivierte Bindung abgesteckt wird, werden sodann die genaueren
Identifizierungsmodalitäten festgelegt. Mag auch der Beruf das oberste Kriterium für die
Anerkennung des Arbeitslosen sein, so genügt er doch nicht immer, um einen
unterstützungsberechtigten Arbeitslosen aus ihm zu machen. Er muß auch noch seine
Zugehörigkeit zum organisierten Beruf nachweisen. Um Anspruch auf dessen
Unterstützung zu haben, muß er eine je nach Satzung variierende - die m eisten
Satzungen sehen eine mit der Dauer der Mitgliedschaft steigende Unterstützungsleistung
vor - Mindestmitgliedszeit nachweisen können. Die Kriterien der Zugehörigkeit zum
Kollektiv und der Anerkennung durch die gleichgestellten Kollegen bestimmen so,
indem sie den Raum der gewerkschaftlichen Solidarität abstecken, über die
Identifizierung des unterstützungsberechtigten Arbeitslosen. Zugehörigkeit zum
organisierten Beruf und innere Logik des kollektiven Handelns, dies sind die beiden
wesentlichen Dimensionen, die die verschiedenen gewerkschaftlichen Varianten der
Definition des Arbeitslosen kennzeichnen.
In den Kommunen erweist sich das Interesse an einer Ausforschung der Realität
der Nicht-Arbeit in ihren verschiedenen Formen allgemein mit den sozialen Pflichten
der Kommunen, aber insbesondere auch mit dem Vorstoß der Sozialdemokraten in den
Stadt- und Gemeinderäten zugunsten von Maßnahmen zur Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit verknüpft. Der Statistik, die um die Jahrhundertwende von der
M ehrheit der Verantwortlichen in Politik und Verwaltung als eine "unparteiische
Informationsquelle" angesehen wird, bedient man sich als eines Instruments der
W ahrheitsfindung in bezug auf das strittige Ausmaß der Arbeitslosigkeit32. Die
Ermittlung einer kommunalen Wahrheit über die Arbeitslosigkeit, die der
sozialdemokratischen Agitation und Statistik entgegenzuhalten wäre, und die
32. Diese Auffassung der Statistik als eines Wahrheitsindikators wurde vor allem von Karl Thiess in Deutsche Worte Monatshefte, Nov. 1983, formuliert. Im übrigen scheint auch der Reichstag diese Auffassung relativ einhellig zu teilen; s. Stenographische Berichte der Verhandlungen des Reichstags, 13. Jan. 1892.
15
Abschätzung eventueller Reformbedürfnisse anhand einer präzisen Identifizierung der
Arbeitslosen, dies sind die beiden wichtigsten Motive für die in den Krisenkonjunkuren
der Jahre 1892/94, 1902/04 und 1907/08 erstellten kommunalen Arbeitslosenstatistiken.
Je nach den Zwecken, denen diese Zählungen dienen sollen, können die
Methoden stark variieren. Während die Methode der freiwilligen Meldung der
Arbeitslosen, die ökonomisch ist, aber zur Unterbewertung des Ausmaßes der
Arbeitslosigkeit tendiert, in jeder Hinsicht geeignet erscheint, um der
sozialdemokratischen Agitation entgegenzutreten, wird die Direktbefragung der
Haushalte bevorzugt, wenn reale Reformbestrebungen vorhanden sind. Nach Otto Mosts
Untersuchung der siebenundvierzig kommunalen Erhebungen, die zwischen dem 1.
Oktober 1907 und dem 31. März 1909 durchgeführt wurden, stellt die freiwillige
Meldung die bei weitem häufigste Methode dar, gefolgt von der Direktbefragung der
Haushalte33. Die Spontanmeldung bereitet zwar weniger organisatorische Problem e,
bewirkt jedoch zugleich auch einen Effizienzverlust der Erhebung, da der Arbeitslose
von sich aus bei den in den Stadtteilen eingerichteten Meldestellen vorsprechen muß.
Dies setzt nicht nur voraus, daß sich jeder Einzelne selber als Arbeitsloser definiert,
sondern daß er auch den Nutzen eines solchen Schrittes einsieht, was bei einer einfachen
Befragung, wo der sich Meldende keine direkte Gegenleistung etwa in Gestalt einer
Unterstützung zu erwarten hat, nicht selbstverständlich ist. Ohne im Detail auf die
Erhebungsmethoden einzugehen, weist dieses Beispiel darauf hin, wie sehr die von den
Statistiken erwartete "Wahrheit" immer nur Ausdruck einer bestimmten und mit
bestimmten Beobachtungstechniken und Einzelbefragungen konstruierten W ahrnehmung
der Realität ist.
Welche Methode auch immer gewählt wird, allen Fragebögen ist eine Reihe von
Fragestellungen gemeinsam34. Alle fragen nach dem Familienstand des Arbeitslosen, der
33. Most zählt fünfundzwanzig Fälle von freiwilliger Meldung, elf Direktbefragungen und elf Fälle der indirekten Methode (etwa über die Stellenvermittlung oder die Steuern). Otto Most, "Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenfürsorge", Statistisches Jahrbuch Deutscher Städte, 1910, S. 82-127.
34. Diese Überlegungen beruhen auf einer kleinen Stichprobe von Fragebögen, nämlich denen, die ich aufgrund historischer Zufälligkeiten und forschungslogischer Zwänge noch habe auffmden können. Sie beruhen auch auf den Analysen von Zeitgenossen, insbesondere der Städtestatistiker, deren Diskussionen über die Vereinheitlichung der kommunalen Arbeitslosenstatistiken sich als wertvolle Quelle erweisen; nachzulesen in Protokolle über die Konferenzen der Vorstände der statistischen Ämter deutscher Städte, 1894-1913.
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Zahl der von ihm abhängigen Personen, seinem Beruf, seiner letzten Arbeitsstelle, der
Dauer und dem Grund der Arbeitslosigkeit, schließlich nach seinen Subsistenzmitteln.
Schon aus dieser kurzen Aufzählung werden die beiden Punkte sichtbar, an denen der
gewerkschaftliche und der kommunale Modus der Bestimmung des Arbeitslosen
grundsätzlich voneinander abweichen. Während die Gewerkschaft die Arbeitslosen kraft
der ihnen fehlenden Arbeit in ihrem Beruf anerkennt, identifiziert die Kommune sie
anhand der spezifischen Ursachen dieser fehlenden Arbeit - ökonomische Gründe oder
arbeitsmarktimmanente Gründe -, anhand ihrer Subsistenzmittel und anhand ihres
Wohnsitzes.
Als Ausdruck der Zugehörigkeit zum Kollektiv bestimmt der Wohnsitz die
Gruppe der potentiellen Nutznießer der städtischen Sozialpolitik. D er
Unterstützungswohnsitz35 dient im Bereich der Sozialleistungen als Konvention der
Äquivalenz zwischen Personen und damit als institutionelle Übersetzung der sozialen
Bindung zwischen den Individuen im kommunalen Raum. Folglich beruht die
Formalisierung der Arbeitslosigkeit in einer Kategorie der politischen Intervention auf
zwei Äquivalenzverfahren: das eine Mal bezogen auf Arbeit und Nicht-Arbeit, das
andere Mal auf die staatsbürgerliche36 Zugehörigkeit zu der Unterstützung leistenden
Kollektivität.
Schon 1902 jedoch protestieren die Vertreter der freien Gewerkschaften anläßlich
der von der Stadt Stuttgart erhobenen Arbeitslosenstatistik dagegen, daß der W ohnsitz
zur formalen Grundlage der Identifizierung des anspruchsberechtigten Arbeitslosen
gemacht wird. Weil dabei die Arbeiter eliminiert werden, die zwar in der Stadt arbeiten,
aber infolge der im Stadtgebiet zu hohen Mieten genötigt sind, in den
Nachbargemeinden zu wohnen, erweist sich dieses Kriterium ihrer Meinung nach als
35. Zum Unterstützungswohnsitz und zu der Reihe der Gesetze, in denen er geregelt wird, s. Florian Tennstedt, Sozialgeschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1981, S. 92 f; Christoph Sachsse, Florian Tennstedt, Bettler, Gauner und Proleten. Armut und Armenfürsorge in der deutschen Geschichte, Hamburg, Rowohlt, 1983, S. 173-175.
36. Das Adjektiv "staatsbürgerlich" wird hier im weiteren Sinne für die Bindung der Einzelpersonen an das städtische Kollektiv gebraucht. Der Unterstützungswohnsitz stellt den institutioneilen Ausdruck dieser sanktionierten Bindung dar, der durch eine Anzahl von Rechten und Pflichten, nicht notwendig aber durch das Wahlrecht, das recht weitgehenden restriktiven Bedingungen unterliegt, charakterisiert ist. Mit dem Ausdruck der "Bürgereigenschaften" von Personen, wie wir ihn gebrauchen, ist auf kommunaler Ebene eine soziale, nicht aber notwendig eine politische Bürgerschaft gemeint.
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ungeeignet für eine Zählung der in Stuttgart grassierenden "realen A rbeitslosigkeit".
Eine gewerkschaftliche Statistik von 1900 weise bekanntlich aus, daß 52% der bei den
Unternehmen der Stadt beschäftigten M aurer und 29% der Zimmerleute zu dieser A rt
Em igration gezwungen seien; den Gewerkschaftlern zufolge ein Beweis für die
Abwegigkeit des Unterstützungswohnsitzes als Grundlage einer Politik zur Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit37. Seitens der Kommune aber ist die "reale Arbeitslosigkeit" auf
diejenigen Bürger beschränkt, denen gegenüber sie unterstützungspflichtig ist.
Die durch Mobilität und Konzentration der Betriebe in den verdichteten
städtischen Ballungsräumen zunehmende Trennung von Arbeits- und W ohnort w irft
auch die Frage nach dem relevanten sozialen Zusammenhang auf, der zur Identifizierung
des Arbeitslosen heranzuziehen ist. In dem Maße, in dem die Bindungen des Einzelnen
an die Arbeit und diejenigen an das Territorium nicht länger notwendigerweise
zusammenfallen, werden die politischen Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit durch
die Entkoppelung der Arbeitswelt, in der die Arbeitslosigkeit und ihr unverschuldeter
Charakter bewertet werden, von der räumlichen Ausdehnung der Gemeinden, die die
Zuständigkeit für Sozialpolitik innehaben, geschwächt.
W enn jedoch die spezifischen Logiken gewerkschaftlicher und kommunaler Definitionen
der Arbeitslosigkeit mit den entsprechend begrenzten Bestimmungen der M itgliedschaft
nicht länger hinzureichen scheinen, bedarf doch die Schaffung einer hom ogenen
nationalen Kategorie zu ihrer Begründung einer anderen sozialen Bindung als der durch
den Beruf oder den Wohnort. Der Arbeitslose der Jahrhundertwende, wie ihn Linda
Heilman38 in einer Art Phantombild charakterisiert, ist männlich, unverheiratet,
ungelernt, Saisonarbeiter und vorzugsweise in einer Großstadt anzutreffen, hat aller
W ahrscheinlichkeit nach eine Anciennität weder in seiner Arbeit noch an seinem
W ohnort aufzuweisen und gehört keiner Gewerkschaft oder sonstigen Vereinigung an.
Ausgeschlossen aus den Soziabilitätsnetzen der Kommune und der Gewerkschaft, fällt
der so definierte Arbeitslose aus dem traditionellen Rahmen der Sozialhilfe heraus.
W ohnsitz oder Beruf stellen für ihn keinen aktiven Ausdruck des sozialen
37. "Amtliche und gewerkschaftliche Arbeitslosenzählung in Stuttgart", Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, Nr. 46, 17. Nov. 1902.
38. Linda A. Heilman, "Industrial unemployment in Germany: 1873-1913", Archiv fur Sozialgeschichte, XXVII, 1987, S. 27.
18
Zusammenhangs dar. In diesem Kontext der Unangemessenheit der traditionellen
Formen der Bestimmung der sozialen Zugehörigkeit muß die Arbeitslosigkeit nach
Maßgabe einer anderen Art von sozialer Bindung bestimmt werden, die der Dimension
des von der Industrialisierung und dem Aufbau des Nationalstaates geschaffenen neuen
Raumes angemessen ist und aus eben diesem Grunde über die Zuständigkeit der
Gewerkschaft bzw. der Kommune hinausreichen muß. Lohnarbeit ohne Ansehung von
Beruf oder W ohnsitz konnte die Grundlage eines solchen Verständnisses von sozialer
Bindung sein.
Die Reichsregierung indessen, die an dieser Frage wenig interessiert ist, es sei
denn, um anläßlich der Volkszählung von 1895 zu demonstrieren, daß die
Arbeitslosigkeit kein Problem darstellt, bei dem sich eine staatliche Intervention lohnt,
beläßt die Zuständigkeit bis zum Ersten Weltkrieg bei den lokalen Kollektivitäten.
Insgesamt jedoch scheint die Formalisierung einer nationalen Kategorie des Arbeitslosen
nur im Sinne einer Globalisierung der Orte und der Modalitäten des Umgangs m it der
Nicht-Arbeit realisierbar. Diese Globalisierung, deren Prämissen sich in bestimmten
Kooperationsversuchen zwischen Gewerkschaften und Kommunen wie bei dem der
Arbeitslosenversicherung nach dem Genter System andeuten, muß vor allem unter dem
Blickwinkel der bedeutenden Verbandsbewegung gesehen werden, die dazu beiträgt,
daß gegen Ende des Kaiserreichs ein offizieller Diskurs im Reichstag in Gang kommt
und eine nationale Diskussion über die Arbeitslosenfrage beginnt. Am Beispiel des
Verbandes der Deutschen Städtestatistiker wollen wir versuchen, die Interessen und die
Antriebskräfte näher zu beleuchten, die ausgehend von der kommunalen Vielfalt der
Ansätze in den Versuch der Konstruktion einer nationalen statistischen Allgemeinheit
eingehen. *
39. Der Verband der Deutschen Städtestatistiker, der Verein für Socialpolitik, der Verband Deutscher Arbeitsnachweise, die Gesellschaft für Sozialreform, die Gesellschaft zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sind Vereinigungen, die zur Verallgemeinerung der situativ beschränkten Initiativen zur Formalisierung des Kampfes gegen die Arbeitslosigkeit beitragen.
19
Suche nach Allgemeinheit und Reduktion der Vielfalt: die Arbeit des Verbandes der
Deutschen Städtestatistiker
Die im kommunalen Rahmen nach jeweils unterschiedlichen Vorgaben
praktizierte zahlenmäßige Bestimmung von Phänomenen wie Löhnen,
Notstandsarbeiten, Arbeitslosigkeit oder Stellenvermittlung wird im Verband der
Deutschen Städtestatistiker problematisiert und systematisiert40. An der von den
Statistikern erhobenen Forderung nach einer Vergleichbarkeit der Ergebnisse der
kommunalen Zählungen werden die Mechanismen der Entwicklung einer statistischen
Allgemeinheit eher sichtbar als an der Arbeit der einzelnen Statistiker. Die Arbeiten des
Verbandes, die eine wertvolle Quelle darstellen, weil sie diesen Prozeß direkt
beleuchten, machen die Schwierigkeiten offenbar, die mit der Produktion einer
gemeindeübergreifenden Allgemeinheit auf der Grundlage der von jeder Stadt höchst
unterschiedlich durchgeführten Zählungen einhergehen. Angesichts der Abhängigkeit
der Städtestatistik von den lokalen politischen und administrativen Vorgaben, die
verhindern, daß bei der Kategorienproduktion allgemeine "Äquivalenzkonventionen"41,
das heißt auf Verbandsebene kollektiv entwickelte soziale Kodierungs- und
Defmitionsverfahren, zugrunde gelegt werden, können sich die Städtestatistiker dem
Ideal der Allgemeinheit überhaupt nur über den Vergleich der lokal produzierten
Kategorien nähern. Im M ittelpunkt ihrer Debatten stehen zwei Generalforderungen, die
die Vorbedingung jedes Vergleichsverfahrens darstellen: erstens die Forderung nach
einer Übereinkunft über die Konzepte und die Bestimmung der Objekte, zweitens die
Forderung nach Verwendung einheitlicher statistischer Verfahren.
Das erste Hindernis, das es zu überwinden gilt, ist nämlich die Heterogenität der
Praxisformen, nach denen der Statistiker fragen möchte, und die Polysemie der
Ausdrücke, mit denen sie bezeichnet werden. Der im Jahre 1913 debattierte Fall der
Notstandsarbeiten macht deutlich, in welchem Maße sich hinter einer vermeintlich für
alle gleichbedeutenden Terminologie in Wahrheit ganz unterschiedliche statistische
40. Zur eingehenderen Untersuchung der Rolle der Städtestatistiker und ihres Verbandes, s. Benedicte Zimmermann, "Statisticiens des villes allemandes et action reformatrice (1971-1914). La construction d'une generalite statistique", Geneses, 15, März 1994, S. 4-27.
41. Der Ausdruck wurde übernommen von Alain Desrosieres, "Series longues et conventions d 'equivalence", Geneses, 9, Okt. 1992, S. 92-97.
20
Kategorien verbergen. In seiner einfuhrenden Darstellung führt der Berichterstatter nicht
weniger als vier gebräuchliche Definitionen des Begriffs auf:
"1. Notstandsarbeiten im engeren, technischen, durch die Art der Tätigkeit bestimmten Sinne wie Steine klopfen, Holz hauen, Erdarbeiten;2. Arbeiten, die als Vorsorgemaßnahme für eine möglicherweise eintretende große Arbeitslosigkeit auf den Winter verlegt werden;3. Öffentliche Baumaßnahmen, die ursprünglich gar nicht für Arbeitslose gedacht waren, ihnen aber aufgrund der W irtschaftskonjunktur angeboten werden;4. Öffentliche Baumaßnahmen, deren Durchführung unabhängig von der Konjunktur auf den Winter verlegt wird. "42
Die Statistik der Notstandsarbeiten und ihres Budgets richtet sich je nach Stadt nach
einer oder mehreren dieser Definitionen in jeweils anderen Zusammensetzungen. Der
Gedanke eines öffentlichen Angebots von bezahlter Arbeit für Arbeitslose stellt zw ar ihr
gemeinsames Grundmerkmal dar, doch werden mancherorts nur die
konjunkturbedingten Sondermaßnahmen darunter gefaßt, während man an anderer Stelle
auch die einfachen Vorsorgemaßnahmen mitzählt.
Damit steht der Statistiker vor einem erheblichen Hindernis für die
Vergleichbarkeit der kommunalen Erhebungen, und dies umso mehr, als sich die
Verbandsmitglieder auch über das Prinzip nicht einig sind, nach dem die Zuschreibung
zu den Kategorien erfolgt: Hier stehen sich die Anhänger einer breiten, alle
Bedeutungen einbeziehenden Definition einerseits und die Vertreter einer strengen
Abgrenzung andererseits gegenüber. Der Sprecher der letzteren, Johannes Feig, der
1913 das Statistische Reichsamt vertritt, setzt sich mit Nachdruck dafür ein, daß ebenso
viele statistische Unterkategorien geschaffen werden, wie es administrative
Verwendungen des Begriffs gibt - wohlwissend, daß Zusammenfassungen je nach Art
der gewünschten Information immer möglich sind43. Bis kurz vor dem Ersten W eltkrieg
bleibt somit die Natur der statistischen Allgemeinheit, um die es in dieser Debatte
eigentlich geht, umstritten. Feigs Eintreten für ein Verfahren, bei dem versucht wird,
die Komplexität des Realen nicht auf eine einzige allgemeine Kategorie zu reduzieren,
42. vgl. Protokoll über die am 26., 27. und 28. Juni 1913 in Breslau abgehaltene XXIII. Konferenz der Vorstände der statistischen Ämter deutscher Städte, S. 36 f.
43. ebd.
21
sondern diese Realität zu zerlegen, um sie verständlicher zu machen, ist zugleich eine
W arnung an all diejenigen, die sich von einer gemeinsamen Etymologie dazu verleiten
lassen, die statistische Allgemeinheit auf ein Prinzip der Verallgemeinerung zu
reduzieren. Doch ist dies nicht, denkt man es zu Ende, eine Ohnmachtserklärung der
Städtestatistik? Das Eingeständnis nämlich, daß das Kriterium der Vergleichbarkeit
allein ohne die Grundlage einer allen städtischen Zählungen gemeinsamen
"Äquivalenzkonvention" nicht als Prinzip der Allgemeinheit taugt.
Im übrigen dürfte die Einigung über den Gebrauch und den Sinn von W örtern
allein kaum ausreichen, um die Vergleichbarkeit von Befragungsergebnissen zu
gewährleisten, müssen doch auch die Befragungs- und Auswertungstechniken
aufeinander abgestimmt werden. Auch hier wieder wird an den Arbeiten des Verbandes
der Städtestatistiker deutlich, wie schwierig die Homogenisierung der an jedem O rt je
nach ihrem Zweck anders konzipierten kommunalen Zählungen ist. Das Beispiel der
Arbeitslosigkeit, die im Gegensatz zu den Notstandarbeiten kein durch die
administrativen Praktiken präkonstruierter, sondern ein direkt für statistische Zwecke
von den lokalen Experten formalisierter Begriff ist, erweist sich in dieser Hinsicht als
besonders aufschlußreich.
Als die Arbeitslosenstatistik im Jahre 1894 im Nachgang zu den ersten von den
Sozialdemokraten und von den Stadtverwaltungen durchgeführten Erhebungen auf der
Tagesordnung der Konferenz der Städtestatistiker erscheint, sind sich diese in ihrer
M ehrheit darin einig, daß eher das Reich als die Kommunen für die Arbeitslosenstatistik
zuständig sein sollte. Die Notwendigkeit einer solchen Statistik leuchtet zwar allen
Mitgliedern ein, wird jedoch durch die Aussage konterkariert, daß es unmöglich sei, der
"Wahrheit über die Arbeitslosigkeit"44 durch lokale Initiativen auf den Grund zu
kommen. Auch über die Natur der möglichen Lösungen gehen die M einungen
auseinander. W ährend einige wie Hirschberg regelmäßige Zählungen auf Grundlage der
Tätigkeit der Krankenversicherungskassen oder der Stellenvermittlungsämter
favorisieren45, treten andere mit Bleicher dafür ein, die Frage in die Volkszählung
44. Protokoll über die am 18., 19. und 21. Mai 1894 in Görlitz abgehaltene IX. Confer enz der Vorstände der statistischen Ämter deutscher Städte, S. 5.
45. ebd., S. 2.
12
aufzunehmen. Im vollen Bewußtsein der Begrenztheiten dieser bestenfalls alle fünf Jahre
wiederholbaren Lösung sind diese der Ansicht, daß jede Arbeitslosenstatistik im
Zusammenhang mit der Statistik der Erwerbsbevölkerung und ihrer beruflichen
Schichtung geführt werden müsse46. In dieser Debatte, die Ausdruck der relativen
Ungenauigkeit sowohl des Begriffs als auch des Informationsbedarfs ist, stehen sich die
Vertreter einer Beobachtung der Fluktuationen des Arbeitsmarktes und die Vertreter
einer punktuellen, aber detaillierten Momentaufnahme der Ursachen und sozio-
professionellen Merkmale der Arbeitslosigkeit gegenüber. Im ersten Falle ist die
Arbeitslosigkeit eine direkte Resultante der Variationen der Erwerbsrate, der zweiten
Auffassung nach das Objekt eines vorgängigen Definitionsprozesses.
Es würde hier zu weit führen, auf die Details dieser statistischen Konstruktion
der Arbeitslosigkeit einzugehen, zu der unsere Experten aus den Städten den Anstoß
gaben, umso mehr als sich die beiderseitigen Positionen sehr bald so aufeinander zu
bewegen, daß die verschiedenen Erhebungsformen nunmehr unter der Voraussetzung,
daß man ihre Grenzen kennt, als komplementär angesehen werden. Selbst die
städtischen Erhebungen, gegen die noch 1894 im Namen des überörtlichen Charakters
der Ursachen und Erscheinungsformen der Arbeitslosigkeit vehement Einspruch erhoben
wurde47, nehmen nach den Krisenzeiten von 1901/02 und 1907/08 immer mehr zu, so
daß sie bei den Konferenzen von 1903, 1909 und 1910 auf der Tagesordnung des
Verbands stehen.
Auch wenn nach Meinung der lokalen Statistiker die Arbeitslosigkeit ein
komplexes sozio-ökonomisches Problem darstellt, das aufgrund des nicht-kongruenten
Zuschnitts von territorialen Verwaltungseinheiten und Industrie- und Gewerbegebieten
über die städtischen Kompetenzen und Interessen hinausgeht, sind doch aufgrund der
Städteverordnungen weiterhin die Städte für das Wohlfahrtswesen zuständig. So werden
kommunale Erhebungen durchgeführt, um Notstandsarbeiten planen oder Projekte einer
Arbeitslosenversicherung beziffern zu können, alles Behelfsmaßnahmen, zu denen die
großen Städte in Erwartung einer nationalen Initiative greifen. Immer wieder wird in
46. ebd., S. 4.
47. ebd., S. 17.
23
den Debatten von 1903 dieser praktische, auf Abhilfe gerichtete Zweck betont, der den
Methoden und Fragestellungen seinen Stempel aufdrückt48.
Ist dieser Zweck zum Beispiel die Planung von Notstandsarbeiten für den
kommenden W inter, wird die Erhebung mehr auf die familiale und finanzielle Lage der
Arbeitslosen als auf die Ursachen ihrer Arbeitslosigkeit ausgerichtet sein und
vorzugsweise im November stattfinden. Geht es dagegen um die Durchführbarkeit eines
Versicherungsprojekts, werden die Erhebungen mehr auf die Ermittlung von Ursachen
abgestellt und im Januar durchgeführt, also zur Zeit der schlechtesten Konjunkturlage.
Trotz einer gemeinsamen Minimaldefinition des Arbeitslosen als eines Lohnarbeiters
ohne Beschäftigung zum Zeitpunkt der Erhebung führen die Vielfalt der M ethoden der
Datenerhebung, die von der Direktbefragung der Haushalte bis zur freiwilligen Meldung
gehen, die unterschiedlichen Definitionen der Arbeitslosigkeit, die auf einer m ehr oder
weniger rigorosen Eliminierung der angeblich nicht anspruchsberechtigten Personen
beruhen, und die Ermittlung oder Nicht-Ermittlung der Ursachen zu einer großen
Heterogenität der städtischen Umfragen.
Angesichts dieses breiten Spektrums, bei dem jeder Vergleich irreführend ist,
scheint der Versuch der komparativen und verallgemeinernden Festlegung durch die
Verbandsmitglieder machtlos. Als städtischen Beamten ist ihnen bewußt, daß die
Vielfalt der Befragungslogiken, die diesen Statistiken zugrundeliegen, unverm eidlich ist.
Sie sind auf den Kontext und die Bedürfnisse der einzelnen Städte zugeschnitten und
unterliegen in erster Linie den Geboten der administrativen und sozialen
Handlungsfähigkeit und erst in zweiter Linie den Kriterien der W issenschaftlichkeit.
Diese Bedingungen der Wirksamkeit aber scheinen weder mit einer möglichen
Vereinheitlichung der Erhebungen noch mit den Vergleichbarkeitsforderungen der
Statistiker vereinbar. Dementsprechend hält Otto Most, Beamter in Düsseldorf, die
Ergebnisse dieser Städtestatistiken für derart unsicher, räumlich und zeitlich nicht
vergleichbar, nicht kontrollierbar und irreführend , daß er ihnen jeden
wissenschaftlichen Charakter abspricht49. Obwohl sich die M ehrheit seiner Kollegen
48. Protokoll über die am 10., 11. und 13. Juli 1903 in Dresden abgehaltene XVII. Konferenz der Vorstände der statistischen Ämter deutscher Städte, S. 11.
49. vgl. Verhandlungsbericht über die am 7., 8. und 9. Juni 1910 in Posen abgehaltene XXIV. Konferenz der Vorstände der statistischen Ämter deutscher Städte, S. 25.
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einem derart strengen Urteil nicht anschließen mag, sind sie sich doch über die
Unmöglichkeit des Vergleichs einig. In diesem Dilemma zwischen den
widersprüchlichen Anforderungen, die diesen Männern aus ihrer doppelten Identität als
städtische Beamte und als Statistiker erwachsen, scheint eine Lösung nur in Gestalt eines
unbefriedigenden Kompromisses möglich. Die Anerkennung der nicht reduzierbaren
Heterogenität der von den administrativen Zweckbindungen bestimmten lokalen
Verfahrensweisen geht so Hand in Hand mit der Forderung nach Schaffung einer
wissenschaftlich begründeten Arbeitslosenstatistik durch das Reich. Eine solche Statistik
wäre nach Ansicht der Verbandsmitglieder naturgemäß nicht auf eine einzige Stadt
beschränkt, sondern, wie an dem damals heftig debattierten Problem der administrativen
Zuständigkeit für alle die Arbeit betreffenden Fragen bei Nicht-Übereinstimmung von
Wohnsitz und Arbeitsort deutlich wird, zugleich eine Statistik der
Bevölkerungsbewegungen zwischen der Stadt, in der sich die Industriebetriebe
konzentrieren, und ihrer Umgebung50. Am Beispiel der Arbeitslosigkeit kommt das
klare Bewußtsein zum Ausdruck, das die Städtestatistiker von den W idersprüchen
haben, in denen sie stecken, aber auch die Tendenz, die statistische Allgemeinheit auf
einen nationalen Raum zu beziehen - im Gegensatz zu der für die lokalen Ansätze
charakteristischen, nicht reduzierbaren Vielfalt der Allgemeinheitsprinzipien.
Der Appell an den Staat und die Bestimmung des Nationalen als Raum der
statistischen Allgemeinheit
1909 und 1910 bleiben die Städtestatistiker, als sie vom Statistischen Reichsamt
zu den Möglichkeiten einer Vereinheitlichung der kommunalen Erhebungen befragt
werden, bei ihrem abschlägigen Bescheid51. Als Antwort auf die Bitte des
Staatssekretärs des Inneren, dem an einer einfachen und ökonomischen Behebung des
Informationsmangels in Sachen Arbeitslosigkeit gelegen ist, um Entwicklung eines
gemeinsamen Minimalfragebogens, verweisen sie auf die Scheinhomogenität von
Erhebungen, die trotz identischer Fragen immer noch mit grundsätzlich
50. Protokoll über die am 10., 11. und 13. Juli in Dresden..., a.a.O., S. 18.
51. Zentrales Staatsarchiv Potsdam, 15.01., Nr. 1046, S. 19.
25
unterschiedlichen Methoden arbeiteten52. Denn selbst wenn sich die Städtestatistiker auf
ein gemeinsames Vorgehen verständigen könnten, wären ihre Erhebungen letztlich
immer noch von den Zielsetzungen und den Haushaltsmitteln der Kommunen abhängig,
ohne daß das Reich über irgendwelche Zwangsmittel verfugte. So bleiben sie davon
überzeugt, daß die Konstruktion einer statistischen Allgemeinheit durch die
Aggregierung von Kategorien, die lokal nach einer Vielzahl von Logiken produziert
werden, unmöglich ist. Eine solche Allgemeinheit kam ihrer Meinung nach nur nach
Maßgabe einer speziellen, für das gesamte Deutsche Reich entwickelten Logik der
statistischen Zusammenführung Zustandekommen. Mit anderen W orten, die
Gleichsetzung von Objekten, die eine statistische Klasse von nationaler Relevanz bilden
sollen, setzt voraus, daß ein einziges Kodierungs- und Definitionsverfahren oder, um
Alain Desrosieres' Ausdruck aufzugreifen, die gleiche Äquivalenzkonvention
angewendet wird53.
Das Reich läßt den Gedanken an eine Vereinheitlichung der städtischen
Zählungen schließlich fallen. Auf den Konferenzen von 1909 und 1910 aber, auf denen
Johannes Feig die Positionen der Zentralverwaltung vorstellt und vertritt, reden die
beiden dort vertretenen Statistikergemeinschaften weiterhin aneinander vorbei. W ährend
sich die Reichsabteilungen weiterhin taub für die Forderungen des Verbandes nach einer
regulären Aufnahme der Frage nach der Arbeitslosigkeit in die Volkszählungen stellen,
argumentieren die lokalen Experten mit der Nicht-Reduzierbarkeit der Logiken, die den
kommunalen Erhebungen zugrunde liegen, und verneinen die Möglichkeit ihrer
Vereinheitlichung. Diese Auseinandersetzung, bei der es keineswegs nur um Fragen der
Statistik geht, ist Zeichen einer Krise des Systems der Verteilung der Zuständigkeiten
für die soziale Frage. Dieses System, das durch die vom Beginn des 19. Jahrhunderts
überkommenen Städteverordnungen geregelt ist, erweist sich als ungeeignet, um dem
von der Industrialisierung und der Reichsgründung bewirkten Wandel der ökonomischen
und sozialen Räume Rechnung zu tragen. Die Städte benutzen diesen W andel als
Argument für ihre Forderung nach einem Eingreifen des Reichs in der
52. Verhandlungsbericht über die am 7., 8. und 9. Juni 1910 m Posen..., a.a.O., S. 26.
53. Alain Desrosieres, "Series longues...", a.a.O.
26
Arbeitslosenfrage54, während das Reich weiter auf der strikten Zuständigkeit der
Kommunen beharrt.
In diesem Zuständigkeitskonflikt zwischen lokalen und nationalen Instanzen, der
erst m it der Weimarer Verfassung beigelegt wird, erweisen sich die von den
Städtestatistikern vertretenen Positionen als vollkommen kohärent mit ihrer politischen
Handlungsperspektive, insbesondere mit ihrem Eintreten für die Schaffung einer
Arbeitslosenversicherung unter der Ägide des Reichs. Ist nicht die Forderung nach
Schaffung einer nationalen Arbeitslosenstatistik, die nicht auf der aufsummierten
Vielfalt, sondern auf der Festsetzung einer allgemeinen Äquivalenzbeziehung beruht, im
Grunde das Pendant zu ihrem Ruf nach staatlicher Mitwirkung bei der sozialen
Regulierung?
Die keineswegs auf eine rein theoretische Dimension beschränkte Frage der
Festsetzung der statistischen Äquivalenzen gehört folglich zu den Kernfragen, um die es
bei der Konstruktion und der Festlegung der Zuständigkeiten des deutschen Staates geht.
In diesen Spannungen zwischen lokalen und nationalen Logiken läßt sich die A rbeit an
der Schaffung von Kategorien im übrigen als ein Ergebnis der Kämpfe zwischen
Berufsgruppen entschlüsseln, deren widerstreitende Interessen durch ihre Position im
administrativen und politischen Feld einerseits, auf lokaler und nationaler Ebene
andererseits bestimmt sind.
So fühlen sich die Städtestatistiker im Namen eines ausdrücklichen Lokalismus,
das heißt ihrer Nähe zur Praxis und zu den konkreten Erscheinungsformen der sozialen
Frage, durchaus befugt, die Aufmerksamkeit ihrer nationalen Kollegen auf neue
statistische Objekte zu lenken, die bisher von rein lokaler Relevanz waren. Die bei der
Volkszählung von 1895 gestellte Frage nach der Arbeitslosigkeit, die 1900 formulierte
Frage nach dem Arbeitsort oder auch die Frage nach dem letzten Arbeitgeber, sie alle
berühren Themen, die von den lokalen Experten auf die nationale Ebene exportiert
wurden. Die Haupttriebfedern für diesen Exportprozeß liegen in den bestimmenden
54. Verhandlungen des 3. Deutschen Städtetages am 12. September 1911 zu Posen zur Frage der Arbeitslosenversicherung, Berlin, Loewenthal, 1911.
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M erkmalen des von diesen Männern gebildeten Denk- und Handlungskollektivs55; eines
Kollektivs, in dessen Vorstellungen sich ein scharfes Bewußtsein von der N icht-
Reduzierbarkeit der lokalen Besonderheiten, innerhalb derer sich ihr Handeln definiert,
mit einem Ideal von wissenschaftlicher Allgemeinheit auf äußerst spannungsgeladene
Weise verbindet.
Mag auch dieses Streben nach Anerkennung und Aufgreifen ihrer Objekte auf
nationaler Ebene nicht gänzlich frei sein von den eigenen Interessen an beruflicher
Legitimation, so geht doch von diesem wissenschaftlichen Allgemeinheitsideal ein
weiterer Impuls zum Nationalen aus, das seit 1871 den neuen Bezugsraum darstellt. So
gehört der Appell an das Reich zu den Versuchen, die Spannung zu bewältigen, die aus
dem Dilemma entsteht, die vom Kollektiv vertretenen globalisierenden Sichtweisen m it
dem lokalen, partiellen Charakter der von den einzelnen Verbandsmitgliedem konkret
durchgeführten Erhebungen zu vereinbaren. Die Natur des sozialen Handelns endlich, in
das sie auf der städtischen Ebene eingebunden sind, fuhrt zu einer Politisierung der
Motivationen für das, was über den Appell an die Reichsstatistiker hinaus als A ufruf zur
staatlichen Intervention betrachtet werden kann.
Als Produkt einer komplexen Interpenetration zwischen wissenschaftlicher und
politischer Handlungsdimensionen beschränkt sich dieser Exportprozeß nicht darauf, das
statistische Reichsamt auf neue Objekte hinzuweisen, sondern benennt bei dieser
Gelegenheit auch das bevorzugte Kodierungsverfahren. Denn die Städtestatistiker m ögen
zwar nicht über die Mittel verfügen, um eine nationale statistische Allgemeinheit zu
entwickeln, haben aber eine genaue Vorstellung von ihr. Im Namen ihrer lokalen
Kenntnisse verlangen sie auf der Reichsebene das Recht auf aktive Beteiligung an der
Aushandlung von Äquivalenzkonventionen, die den vom deutschen Staat
anzuwendenden statistischen Kategorien als Grundlage dienen sollen. Wie das Beispiel
der Arbeitslosigkeit belegt, haben sie sich, wenn auch in einer anderen als der von ihnen
beabsichtigten Version, bei der Volkszählung von 1895 durchaus Gehör verschaffen
können, doch scheint ihre Stimme weniger Gewicht gehabt zu haben als die der offiziell
zu Großmeistern der statistischen Allgemeinheit erhobenen Reichsstatistiker.
55. In dem von Mary Douglas von Ludwig Fleck übernommenen Sinne. Mary Douglas, Ainsi pensent les institutions, Paris, Usher, 1989, S. 15 f.
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W ährend die Städtestatistiker vorschlagen, die Arbeitslosigkeit unter
Berücksichtigung ihrer Ursachen und in Abhängigkeit von den Subsistenzmitteln der
arbeitslosen Personen zu messen56, faßt das statistische Reichsamt 1895 unter den
"Arbeitslosen" alle abhängig Beschäftigten zusammen, die aus anderen Gründen als
einer "vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit" ohne Arbeit sind57. Nicht anders als der
Gegensatz, der sich zur gleichen Zeit und unter vergleichbaren Umständen im
französischen Office du travail zwischen den "Positivisten" und den "Pragmatikern"
herausbildet58, spiegelt der Gegensatz zwischen den beiden Methoden zur Identifizierung
des Arbeitslosen die politische Uneinigkeit über die Konzeption der sozialpolitischen
Intervention wieder. Die erste Methode, die von den lokalen Experten vertreten wird,
gibt dem aus der Nähe gewonnenen Wissen den Vorzug und spricht sich für eine
dezentrale Regulierung der sozialen Probleme aus. Die eigentlich liberal gesonnenen
Städtestatistiker, die den partiellen und unbefriedigenden Charakter der am Staat vorbei
betriebenen Reformen aus Erfahrung kennen, fordern in einem schwierigen Kompromiß
einerseits Rahmengesetze und staatliche Finanzmittel, andererseits die Beibehaltung
einer weitgehenden kommunalen Autonomie bei der Umsetzung der Maßnahmen.
Die zweite Methode, die von den Statistikern der Bundesstaaten und des Reichs
vertreten wird, ist weniger Ausdruck einer bestimmten Reformoption, als vielmehr des
Nicht-Interventionismus. M it der möglichst großzügigen und von den Ursachen
absehenden Zusammenfassung der Arbeitslosen unter dem Begriff des "abhängig
Beschäftigten ohne Arbeit" sollte, ohne daß ihnen geradezu böse Absicht unterstellt
werden konnte, der marginale Charakter der auftretenden Arbeitslosigkeit nachgewiesen
und damit die Nicht-Intervention des Staates gerechtfertigt werden. Aufgrund dieser
politischen Priorität scheint ein Kompromiß zwischen beiden Methoden 1895 nicht
möglich; womit die ursachenorientierte statistische Objektivierung der Arbeitslosigkeit
auf nationaler Ebene als unzulässig abgewiesen war. Über den Konflikt zwischen zwei
Auffassungen von Statistikproduktion und Sozialreform und über die
56. Protokoll über die am 18., 19. und 21. Mai in Görlitz..., a.a.O., S. 18.
57. Vierteljahresschrift zur Statistik des Deutschen Reichs, 1896.
58. Jean Luciani, Robert Salais, "Materiaux pour la genese d'une institution: l'Office du travail (1890- 1900)", Geneses, 2, Dez. 1990, S. 105-106.
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Legitimitätsproblematik und das Kräfteverhältnis zwischen zwei Berufsgruppen hinaus
war damit die historische Unmöglichkeit einer nationalen Äquivalenzkonvention im
Deutschen Reich der Jahrhundertwende erwiesen.
Nun können die Städtestatistiker zwar auf neue Befragungsobjekte für die
Statistik aufmerksam machen, doch sind nicht sie diejenigen, die in letzter Instanz über
die Konturen der Kategorien zur Erfassung des Sozialen entscheiden. Ihre
Schwierigkeiten, als vollgültige Mitglieder der deutschen Statistikergemeinschaft
anerkannt zu werden, wie auch ihre durch die unmittelbare Nähe zur sozialen Praxis
geprägten speziellen Orientierungen lassen sie über eine Agitatorenrolle nicht
hinausgelangen. Die Frage, welche Form der Zusammenhang zwischen den lokalen und
den nationalen Größen haben sollte, ist wesensmäßig mit den individuellen
W erdegängen der Akteure und ihren politischen Auseinandersetzungen, ihrem Bemühen
um eine berufliche Identität und den Formen der Formulierung der statistischen
Allgemeinheit verknüpft. Sie benennt in der Positions- und Identitätsbestimmung der
Städtestatistiker den Punkt, an dem alle anderen Spannungen Zusammentreffen. Die
Untersuchung dieser Frage liefert in gewisser Weise einen Schlüssel zu all den
Interessen und Problemen, die in die Konstruktion eines nationalen Raumes durch den
neuen deutschen Staat eingehen; ein Raum, in den diese Männer die Besonderheit des
Lokalen hineinzutragen versuchen; ein Raum schließlich, aus dessen Beschränkungen sie
im Namen ihrer individuellen wie kollektiven Strategien neue Möglichkeiten zu machen
trachten.
An der Frage nach der statistischen Formalisierung des heute institutionalisierten
\ Begriffs der Arbeitslosigkeit läßt sich zeigen, wie der Prozeß der Konstituierung eines
nationalen sozialen Raumes einer Aufforderung gleichkommt, die ursprünglich
vielfältigen Realitäten und Identifizierungsweisen in einer homogenen Kategorie zu
verfestigen. Diese Homogenisierung jedoch versteht sich niemals von selbst und muß
immer als eine Kompromißlösung oder doch zumindest als Ausdruck der
Kräfteverhältnisse zwischen den verschiedenen an ihr beteiligten Gruppen und zwischen
den unterschiedlichen Logiken der sozialen Definition betrachtet werden.
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Von der nationalen Einigung des Kaiserreichs zur Konstruktion Europas: W as
kann uns die Geschichte lehren?
Wie wir bereits betont haben, kann es hier nicht darum gehen, in der
Vergangenheit nach Modellen für Gegenwart oder Zukunft zu suchen, und erst recht
nicht darum, eine Wiederholung der Geschichte zu postulieren, auf die sich Prognosen
und Planungen stützen könnten. Unsere Vorgehensweise ist ganz im Gegenteil ein
Plädoyer dafür, von den jeweils einmaligen Verhältnissen auszugehen, in die die
Akteure in jedem Augenblick ihres Handelns eingebunden sind. Was also kann die
historische Soziologie? Ihr Beitrag scheint in erster Linie darin zu bestehen,
nachdenklich zu machen. Eröffnet nicht der historische Abstand dem W issenschaftler,
aber auch dem politischen Praktiker, eine umfassendere Sicht auf sein Objekt, einen
Horizont, vor dem die komplexe Gegenwart im Lichte der vergangenen Erfahrungen
eine Verständlichkeit besonderer Art gewinnt? Der historische Rückgriff befähigt, kurz
gesagt, zu einer bestimmten Art der Interpretation der Gegenwart, was wenig und viel
zugleich scheint. Unter diesem Gesichtspunkt kann das für das Kaiserreich entwickelte
Paradigma der Vielfalt und ihrer Reduktion ein Interpretationsraster für bestimmte
Fragen liefern, die im Zusammenhang mit der Konstruktion eines sozialen Europas
auftauchen. Ist man nicht auch hier mit einer Vielfalt der - diesmal auf nationaler Ebene
definierten - Kategorien und mit der Frage nach ihrer eventuellen Vereinheitlichung,
Reduktion oder Überwindung konfrontiert?
Genau wie im Deutschland der Jahrhundertwende kann die Vielfalt der
territorialen Logiken der Mitgliedsstaaten die Definition einer europäischen Kategorie
mit höherem Allgemeinheitsgrad hemmen, wenn diese Defmitionsarbeit nicht m it einem
politischen W illen einhergeht, das Problem der Arbeitslosigkeit in einen größeren
räumlichen Rahmen zu stellen. Fehlt ein solcher politischer Wille, führt die Entwicklung
leicht, wie die Geschichte lehrt, in die Sackgasse einer behelfsmäßigen Aggregation.
Genau wie in der Situation, die für das Kaiserreich charakteristisch war, scheint nur die
Definition eines neuen politischen Äquivalenzraumes zwischen den Arbeitslosen, zum
Beispiel im Sinne einer europäischen Sozial-Staatsbürgerschaft, zur Koordinierung der
verschiedenen territorialen Logiken in einer homogenen europäischen Kategorie
beitragen zu können.
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Was nun aber die Konstruktion eines sozialen Europas angeht, so steht man, wie
Bruno Theret bemerkt, vor einer Vielfalt von möglichen Szenarien. Er betont den "stark
von ihrer nationalen Herkunft geprägten Charakter der staatlichen Sozialsysteme" und
macht auf die Hindernisse aufmerksam, auf die ihre eventuelle Harmonisierung stoßen
könnte, wie auch auf die Gefahr einer "Konkurrenz zwischen den nationalen Räumen,
die zu einer Konvergenz auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Norm en der
sozialen Absicherung" führen könnte59. W ird die soziale Einigung, einmal abgesehen
davon, daß nicht einmal ihre Realisierung wirklich gewiß ist, nach oben oder nach unten
erfolgen oder in Form von Kompromissen, die überhaupt erst zu finden wären und sich
nicht notwendig im Rahmen der Kategorien bewegen, die in einem der beteiligten
Länder bereits existieren? Die Frage bleibt offen60.
Diese Metapher von oben und unten verweist im übrigen, unabhängig davon, wie
Bruno Theret sie gebraucht, nämlich zur Bezeichnung des Grades der sozialen
Absicherung und der Qualität der Sozialleistungen, auf die verschiedenen Akteure und
Instanzen, die in diesen Prozeß eingreifen können. In dieser Hinsicht wird am deutschen
Beispiel offenbar, wie komplex die Frage der räumlichen und sozialen Maßstäbe ist und
wie unerwartet der Gebrauch, den die Akteure von ihr machen können. So kann es
kommen, daß sich entgegen jeder Erwartung die Protagonisten der Stadtpolitik im
Kaiserreich, die Städtestatistiker, des nationalen Raums als einer Ressource zur
Vertretung ihrer kollektiven Interessen bedienen. In gleicher Weise kann der
europäische Raum eine relevante strategische Ressource darstellen, um aus den
nationalen Sackgassen herauszukommen, aber auch um die regionalen Räume
aufzuwerten, in diesem Falle unter Umgehung der Zwischenebenen der Staaten. Gerade
so wie sich im Rahmen unserer historischen Studie über Deutschland der Gegensatz von
lokal und national als Sackgasse erwiesen hat, so scheint uns auch beim Nachdenken
über Europa eine Überwindung der Gegensätze von übernational/national/regional/lokal
das Allerdringlichste zu sein. Im Hinblick auf die Identität der Akteure und der W erte,wfür die sie stehen, ist es unserer Ansicht nach fruchtbarer, die sich überlappenden
Verknüpfungen zu betrachten, die diese Akteure zwischen den verschiedenen M aßstäben
59. Bruno Theret, "L'Etat europeen", a.a.O., S. 30-31.
60. Dazu auch Giandomenico Majone, "Quelle politique sociale pour TEurope ?" in Yves Meny, Pierre Muller, Jean-Louis Quermonne, Politiquespubliques en Europe, Paris, L’Harmattan, 1995, S. 271-286.
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zu schaffen versuchen61 62, Verknüpfungen über die sich die Interessen und Strategien
ebenso wie die Prinzipien der Reduktion der Vielfalt und der Generalisierung
bestimmen.
Im Bereich der Sozialpolitik müssen diese Zusammenhänge überhaupt erst
hergestellt werden, im Bereich der Statistik aber gibt es bereits Versuche zur Definition
von europäischen Kategorien. So stellt die EG-Arbeitskräftestichprobe Informationen
über den europäischen Arbeitslosen bereit bzw. über das, was man genauer den
"Eurostat-Arbeitslosen" nennen müßte. Denn die EG-Arbeitskräftestichprobe ist nicht
wirklich eine Erhebung der Gemeinschaft: Sie ist das Ergebnis der Anwendung der
Eurostat-Kodifizierung in den nationalen Erhebungen zur Arbeitslosigkeit . Für die
Durchführung der EG-Arbeitskräftestichprobe sind die nationalen statistischen Ämter
verantwortlich. Diese Ämter führen ihre Erhebungen auf ihre Weise durch, passen sie
jedoch in gewissem Umfang den Anforderungen der Gemeinschaft an, indem sie
bestimmte Fragen modifizieren oder wie in Deutschland dem Hauptfragebogen einen
Ergänzungsfragebogen der Gemeinschaft beilegen. Die so erhobenen Antwortdaten
werden zunächst nach den nationalen Standards verarbeitet und ergeben nationale
Ergebnisse. Danach werden sie noch einmal verarbeitet, nämlich nach den Standards der
Gemeinschaft - konkret, die Daten werden entsprechend der Eurostat-Klassifikation
aufbereitet - und an Eurostat weitergeleitet, das die Auswertung vomimmt.
Auf der Grundlage einer internationalen Definition der Arbeitslosigkeit, die der
ILO-Definition nahesteht und sich in manchen Aspekten nicht mit den verschiedenen
nationalen Definitionen deckt, hat Eurostat im Jahre 1987 75 Fragen festgelegt, deren
Antworten insofern eine Besonderheit darstellen, als sie das Produkt einer
Neuverkodung der im Rahmen der verschiedenen nationalen Erhebungen erfaßten
Antworten sind. Zwar gibt es ein Pflichtenheft, das die Normen festlegt, an die sich die
nationalen Erhebungen halten müssen, und die Vorbedingungen dafür schaffen soll, daß
dieses Verfahren überhaupt durchführbar ist, doch ist die Neuverkodung als
61. Zum Ansatz, der von den Verknüpfungen verschiedener Räume ausgeht, s. Jean Louis Briquet. Frederic Sawicki, "L'analyse localisee du politique. Lieux de recherche ou recherche de lieux?", Politix, Nr. 7-8, 1989, S. 6-16.
62. Eurostat, Definition des chömeurs enregistres, 3E, 1987, und L'enquete communautaire sur les forces de travail dans les annees 90, Seminaire de Luxembourg, Okt. 1987, Sondernummer der Euros tat - Informationen, 1988.
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Homogenisierungsverfahren nicht minder heikel und problematisch als die Aggregierung
der städtischen oder gewerkschaftlichen Daten im Kaiserreich. Die dabei laut Jean Louis
Besson und Maurice Comte auftretenden charakteristischen Schwierigkeiten weisen
deutliche Anklänge an die ein Jahrhundert zuvor in Deutschland identifizierten
Schwierigkeiten auf. Zu beobachten ist die gleiche Resistenz der Vielfalt des Realen
gegen die statistische Vereinheitlichung. Vielleicht kann man sogar die Hypothese
aufstellen, daß in Ermangelung einer politischen Entscheidung über sozialpolitische
Maßnahmen die die Grundlage für ein höheres Allgemeinheitsprinzip abgeben und über
die situativ bedingten Erfahrungen - seien sie städtischer oder gewerkschaftlicher N atur
wie im Kaiserreich oder nationaler Natur wie in der europäischen Konstellation -
hinausführen könnte, zu den gleichen behelfsmäßigen Reduktionstechniken gegriffen
wird.
Angesichts der "Zirkularität von W issen und Handeln", die, um A lain
Desrosieres' Terminologie aufzugreifen, für die Statistik charakteristisch ist63 64, scheint
die Konstruktion einer statistischen Allgemeinheit auf neuer Ebene, die sich nicht auf
eine mehr oder weniger glückliche Aggregierung der Kategorien beschränkt, die es auf
anderen Ebenen bereits gibt, die Existenz eines politischen Äquivalenzraumes zu
implizieren65. Sie verweist darauf, daß es eine Übereinkunft über zwei unterschiedliche
Arten von Konventionen geben muß: Vereinbarungen über die Definition der Realität
einerseits, ihr Maß andererseits. Eine Übereinkunft darüber, wie eine Arbeitslosen- oder
allgemeiner eine Arbeitspolitik aussehen sollte, existiert allerdings in Europa heute so
wenig wie im Kaiserreich. In Ermangelung eines solchen europäisch-politischen
Äquivalenzraumes scheint die statistische Allgemeinheit der Gemeinschaft weiterhin
abhängig von intelligenten Neuverkodungen, kurz, von der Vielfalt der für die
verschiedenen Mitgliedstaaten charakteristischen sozialen und politischen Praktiken. Um
kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Keinesfalls sollen Aussagen diese Art gegen
den europäischen Pluralismus ins Feld geführt oder gar sein Reichtum verkannt werden.
W ir wollten nur einfach die Hypothese formulieren, daß eine notwendige Verbindung
63. Jean Louis Besson, Maurice Comte, La notion de chömage en Europe..., a.a.O.
64. Alain Desrosieres, La politique des grands nombres..., a.a.O., S. 301.
65. Laurent Thevenot, "Statistiques et politique. La normalite du collectif", Politix, Nr. 25, 1994, S. 5- 20.
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besteht zwischen der Aufstellung von Prinzipien der statistischen Verallgemeinerung
und der Existenz eines "politischen Gemeinguts"66, auf dem diese Allgemeinheit zu
begründen wäre; eines "Gemeinguts", das für die Konstruktion eines sozialen Europas
allererst zu bestimmen wäre.
66. Im Sinne von Lue Boltanski und Laurent Thevenot in De La justification..., a.a.O.