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Bergkristall

Book Jacket

Tags: Erzählung

In dem Bergdorf Gschaid lebt ein Schuster,dessen Sohn von ihm das Handwerk erlerntund in der Schule zu den Besten zählt, sichjedoch auf Tanzplätzen und Kegelbahnen

herumtreibt. Erst nach dem Tod seiner El-tern besinnt sich der junge Mann, übernim-mt das Geschäft seines Vaters und setztseinen Ehrgeiz darauf, die Bewohner von

Gschaid und auch aus anderen Tälern mithochwertigem Schuhwerk zu versorgen.Einen Konkurrenten hat er nicht, auchwenn der alte Tobias, den er kostenlos mitLederflecken und Sohlenabschnitten ver-

sorgt, kaputte und abgelaufene Schuhe

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repariert. Der Schuster freit um die schöneFärbertochter Susanna, die bei ihren Elternin dem Marktflecken Millsdorf auf der an-deren Seite eines Bergrückens lebt. Obwohlman nur drei Stunden von Gschaid nachMillsdorf läuft – was die Bewohner alsKleinigkeit empfinden – sind die Sitten undGewohnheiten verschieden; die Bewohner

von Millsdorf sind viel wohlhabender alsdie von Gschaid, und es geschieht nur sel-ten, dass jemand von dem einen Ort zumanderen geht. – Erst nach längerer Zeit

überredet die Färberin ihren wider-strebenden Mann, dem Schuster von Gs-chaid die Tochter zur Frau zu geben. EinJahr nach der Eheschließung kommtSusanna mit einem Sohn nieder und einige

Jahre später bringt sie eine Tochter zurWelt: Konrad und Susanna ("Sanna")heißen die beiden Kinder. Anfangs kommtdie Färberin häufig nach Gschaid, um die

Familie zu besuchen. Als die Kinder größer

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sind, dürfen sie zuerst mit der Mutter oderder Dienstmagd und später auch allein zuden Großeltern nach Millsdorf wandern.Die Färberin schickt sie jedes Mal sorechtzeitig zurück, dass sie vor der Abend-dämmerung zu Hause sind. ObwohlSusanna die Frau des einheimischenSchusters ist, werden sie und ihre beiden

Kinder in Gschaid als Fremde beargwöhnt.Als die Kinder am Heiligen Abend voneinem Besuch bei den Großeltern in Mills-dorf zurückkehren, beginnt es so stark zu

schneien, dass sie die Orientierung verlier-en, sich verlaufen und immer weiter auf den Berg Gars hinauf geraten. Konrad kannnicht abschätzen, wie spät es ist, weil esüberall gleichmäßig grau ist. Er setzt Sanna

seinen Hut auf und zieht ihr seine Pelzjackeüber, damit sie nicht friert. Unversehenssind sie auf dem Gletscher, gehen in eineder blau leuchtenden Eisgrotten hinein,

fürchten sich in der fremden Umgebung

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und kehren ins Freie zurück. Als es dunkelwird, suchen sie unter einem FelsendachZuflucht. Sie essen die von der Großmuttereingepackten Brote und die Leckerbissenauf und halten sich mit dem Kaffee wach,den sie ihrer Mutter bringen sollten, dennKonrad erinnert sich, wie der Vater einmalerzählte, dass man in so einer Situation

nicht einschlafen dürfe, sonst erfriere manwie der alte Eschenjäger, der einschlief undvier Monate tot auf einem Stein saß, bisman ihn fand. Bei Tagesanbruch brechen

Konrad und Sanna wieder auf und irrenweiter herum, bis sie ein Hirtenhorn hören.Da dauert es nicht mehr lang, bis sie auf den Hirten Philipp, dessen zwei Söhne undeinige Bewohner von Gschaid treffen, die

wie viele andere aus Gschaid und Millsdorf ausgeschwärmt sind, um die Kinder zusuchen. Der Suchtrupp bringt die Kinderzur Sideralphütte hinunter, wo sie von der

Mutter empfangen werden. Auch der

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herbeigeeilte Vater schließt sie kurz darauf in die Arme, und beim Abstieg zum Dorf kommt ihnen der Färber entgegen, der seitder Eheschließung seiner Tochter nichtmehr in Gschaid war. Aufgrund diesesEreignisses werden Susanna, Konrad undSanna in Gschaid als Einheimischeaufgenommen.

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 Adalbert Stifter

Bergkristall

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Erzählung

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epub: 2009 © TUX

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 Autor 

Adalbert Stifter wurde am 23.10.1805 inOberplan (Böhmerwald) geboren. Er kamals Sohn eines Leinewebers und Flach-shändlers aus einfachen Verhältnissen. Alser 12 Jahre alt war, starb der Vater, und erwurde von da ab von den Großeltern erzo-gen. Er besuchte von 1818 bis 1826 das

Gymnasium und studierte anschließend bis1830 in Wien zunächst Jura, dann Natur-wissenschaften und Geschichte, machteaber keine Abschlußprüfung.

Stifter wollte gern Landschaftsmaler wer-den. Den Lebensunterhalt verdiente er sichals Privatlehrer in Wiener Adelshäusern.1848 zog Stifter nach Linz und lebte dortdie letzten Jahrzehnte seines Lebens. In

seinen letzten Lebensjahren war er

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schwerkrank und litt unter Depressionen.Ob er Selbstmord beging, ist nicht sichernachzuweisen. Er starb am 28.1.1868.

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Unsere Kirche feiert verschiedene Feste,welche zum Herzen dringen. Man kann sichkaum etwas Lieblicheres denken als Pfing-sten und kaum etwas Ernsteres und Heili-geres als Ostern. Das Traurige und Schwer-mütige der Karwoche und darauf das Feier-liche des Sonntags begleiten uns durch dasLeben. Eines der schönsten Feste feiert die

Kirche fast mitten im Winter, wo beinahedie längsten Nächte und kürzesten Tagesind, wo die Sonne am schiefsten gegen un-sere Gefilde steht und Schnee alle Fluren

deckt, das Fest der Weihnacht. Wie invielen Ländern der Tag vor dem Geburts-feste des Herrn der Christabend heißt, soheißt er bei uns der heilige Abend, der da-rauf folgende Tag der heilige Tag und die

dazwischen liegende Nacht die Weihnacht.Die katholische Kirche begeht den Christtagals den Tag der Geburt des Heilandes mitihrer allergrößten kirchlichen Feier, in den

meisten Gegenden wird schon die

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Mitternachtstunde als die Geburtstundedes Herrn mit prangender Nachtfeier ge-heiligt, zu der die Glocken durch die stille,finstere, winterliche Mitternachtluft laden,zu der die Bewohner mit Lichtern oder auf dunkeln, wohlbekannten Pfaden ausschneeigen Bergen an bereiften Wäldernvorbei und durch knarrende Obstgärten zu

der Kirche eilen, aus der die feierlichenTöne kommen, und die aus der Mitte des inbeeiste Bäume gehüllten Dorfes mit denlangen beleuchteten Fenstern emporragt.

Mit dem Kirchenfeste ist auch ein häus-liches verbunden. Es hat sich fast in allenchristlichen Ländern verbreitet, daß manden Kindern die Ankunft des Christ-kindleins - auch eines Kindes, des wunder-barsten, das je auf der Welt war - als einheiteres, glänzendes, feierliches Ding zeigt,das durch das ganze Leben fortwirkt undmanchmal noch spät im Alter bei trüben,

schwermütigen oder rührenden

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Erinnerungen gleichsam als Rückblick indie einstige Zeit mit den bunten, schim-mernden Fittichen durch den öden, trauri-gen und ausgeleerten Nachthimmel fliegt.Man pflegt den Kindern die Geschenke zugeben, die das heilige Christkindlein geb-racht hat, um ihnen Freude zu machen. Dastut man gewöhnlich am heiligen Abende,

wenn die tiefe Dämmerung eingetreten ist.Man zündet Lichter und meistens sehr vielean, die oft mit den kleinen Kerzlein auf denschönen, grünen Ästen eines Tannen- oder

Fichtenbäumchens schweben, das mitten inder Stube steht. Die Kinder dürfen nichteher kommen, als bis das Zeichen gegebenwird, daß der heilige Christ zugegengewesen ist und die Geschenke, die, er mit-

gebracht, hinterlassen hat. Dann geht dieTür auf, die Kleinen dürfen hinein, und beidem herrlichen, schimmernden Lichter-glanze sehen sie Dinge auf dem Baume

hängen oder auf dem Tische

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herumgebreitet, die alle Vorstellungen ihrerEinbildungskraft weit übertreffen, die siesich nicht anzurühren getrauen, und die sieendlich, wenn sie sie bekommen haben,den ganzen Abend in ihren Ärmchen her-umtragen und mit sich in das Bett nehmen.Wenn sie dann zuweilen in ihre Träumehinein die Glockentöne der Mitternacht

hören, durch welche die Großen in dieKirche zur Andacht gerufen werden, dannmag es ihnen sein, als zögen jetzt dieEnglein durch den Himmel, oder als kehre

der heilige Christ nach Hause, welcher nun-mehr bei allen Kindern gewesen ist und je-dem von ihnen ein herrliches Geschenk hinterbracht hat.

Wenn dann der folgende Tag, derChristtag, kommt, so ist er ihnen so feier-lich, wenn sie frühmorgens mit ihrenschönsten Kleidern angetan in der warmenStube stehen, wenn der Vater und die Mut-

ter sich zum Kirchgange schmücken, wenn

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zu Mittage ein feierliches Mahl ist, einbesseres als in jedem Tage des ganzenJahres, und wenn nachmittags oder gegenden Abend hin Freunde und Bekanntekommen, auf den Stühlen und Bänken her-umsitzen, miteinander reden und behaglichdurch die Fenster in die Wintergegend hin-ausschauen können, wo entweder die lang-

samen Flocken niederfallen, oder ein to-bender Nebel um die Berge steht, oder dieblutrote, kalte Sonne hinabsinkt. An ver-schiedenen Stellen der Stube, entweder auf 

einem Stühlchen oder auf der Bank oderauf dem Fensterbrettchen liegen die za-ubrischen, nun aber schon bekannterenund vertrauteren Geschenke von gesternabend herum.

Hierauf vergeht der lange Winter, es kom-mt der Frühling und der unendlichdauernde Sommer - und wenn die Mutterwieder vom heiligen Christe erzählt, daß

nun bald sein Festtag sein wird, und daß er

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auch diesmal herabkommen werde, ist esden Kindern, als sei seit seinem letzten Er-scheinen eine ewige Zeit vergangen, und alsliege die damalige Freude in einer weiten,nebelgrauen Ferne.Weil dieses Fest so lange nachhält, weil

sein Abglanz so hoch in das Alter hin-aufreicht, so stehen wir so gerne dabei,

wenn die Kinder dasselbe begehen und sichdarüber freuen. -

In den hohen Gebirgen unsers Vaterlandessteht ein Dörfchen mit einem kleinen, aber

sehr spitzigen Kirchturme, der mit seinerroten Farbe, mit weicher die Schindeln be-malt sind, aus dem Grün vieler Obstbäumehervorragt und wegen derselben roten

Farbe in dem duftigen und blauen Däm-mern der Berge weithin ersichtlich ist. DasDörfchen liegt gerade mitten in einemziemlich weiten Tale, das fast nie ein läng-licher Kreis gestaltet ist. Es enthält außer

der Kirche eine Schule, ein Gemeindehaus

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und noch mehrere stattliche Häuser, dieeinen Platz gestalten, auf welchem vierLinden stehen, die ein steinernes Kreuz inihrer Mitte haben. Diese Häuser sind nichtbloße Landwirtschaftshäuser, sondern siebergen auch noch diejenigen Handwerke inihrem Schoße, die dem menschlichenGeschlechte unentbehrlich sind, und die

bestimmt sind, den Gebirgsbewohnernihren einzigen Bedarf an Kunsterzeugnis-sen zu decken. Im Tale und an den Bergenherum sind noch sehr viele zerstreute Hüt-

ten, wie das in Gebirgsgegenden sehr oftder Fall ist, welche alle nicht nur zur Kircheund Schule gehören, sondern auch jenenHandwerken, von denen gesprochenwurde, durch Abnahme der Erzeugnisse

ihren Zoll entrichten. Es gehören sogarnoch weitere Hütten zu dem Dörfchen, dieman von dem Tale aus gar nicht sehenkann, die noch tiefer in den Gebirgen steck-

en, deren Bewohner selten zu ihren

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Gemeindemitbrüdern herauskommen, unddie im Winter oft ihre Toten aufbewahrenmüssen, um sie nach dem Wegschmelzendes Schnees zum Begräbnisse bringen zukönnen. Der größte Herr, den die Dörflerim Laufe des Jahres zu sehen bekommen,ist der Pfarrer. Sie verehren ihn sehr, undes geschieht Gewöhnlich, daß derselbe

durch längeren Aufenthalt im Dörfchen einder Einsamkeit gewöhnter Mann wird, daßer nicht ungerne bleibt und einfach fortlebt.Wenigstens hat man seit Menschengeden-

ken nicht erlebt, daß der Pfarrer des Dör-fchens ein auswärtssüchtiger oder seinesStandes unwürdiger Mann gewesen wäre.

Es gehen keine Straßen durch das Tal, siehaben ihre zweigleisigen Wege, auf denensie ihre Felderzeugnisse mit einspännigenWäglein nach Hause bringen, es kommendaher wenig Menschen in das Tal, unterdiesen manchmal ein einsamer Fußreis-

ender, der ein Liebhaber der Natur ist, eine

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werden immer solche Kälber aufgezogen,und die Farbe bleibt bei dem Hause.

Gegen Mittag sieht man von dem Dorfe

einen Schneeberg, der mit seinen glän-zenden Hörnern fast oberhalb der Haus-dächer zu sein scheint, aber in der Tat dochnicht so nahe ist. Er sieht das ganze Jahr,Sommer und Winter, mit seinen vor-

stehenden Felsen und mit seinen weißenFlächen in .das Tal herab. Als das Auffal-lendste, was sie in ihrer Umgebung haben,ist der Berg der Gegenstand der Betrach-

tung der Bewohner, und er ist der Mit-telpunkt vieler Geschichten geworden. Eslebt kein Mann und Greis in dem Dorfe, dernicht von den Zacken und Spitzen desBerges, von seinen Eisspalten und Höhlen,von seinen Wässern und Geröllströmen et-was zu erzählen wüßte, was er entwederselbst erfahren oder von andern erzählengehört hat. Dieser Berg ist auch der Stolz

des Dorfes, als hätten sie ihn selber

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gemacht, und es ist nicht so ganzentschieden, wenn man auch die Biederkeitund Wahrheitsliebe der Talbewohner hochanschlägt, ob sie nicht zuweilen zur Ehreund zum Ruhme des Berges lügen. DerBerg gibt den Bewohnern außerdem, daß erihre Merkwürdigkeit ist, auch wirklichenNutzen; denn wenn eine Gesellschaft von

Gebirgsreisenden hereinkommt, um vondem Tale aus den Berg zu besteigen, sodienen die Bewohner des Dorfes als Führer,und einmal Führer gewesen zu sein, dieses

und jenes erlebt zu haben, diese und jeneStelle zu kennen, ist eine Auszeichnung, diejeder gerne von sich darlegt. Sie reden oftdavon, wenn sie in der Wirtsstube, bei ein-ander sitzen, und erzählen ihre Wagnisse

und ihre wunderbaren Erfahrungen undversäumen aber auch nie zu sagen, wasdieser oder jener Reisende gesprochenhabe, und was sie von ihm als Lohn für ihre

Bemühungen empfangen hätten. Dann

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sendet der Berg von seinen Schneeflächendie Wasser ab, weiche einen See in seinenHochwäldern speisen und den Bach erzeu-gen, der lustig durch das Tal strömt, dieBrettersäge, die Mahlmühle und anderekleine Werke treibt, das Dorf reinigt unddas Vieh tränkt. Von den Wäldern desBerges kommt das Holz, und sie halten die

Lawinen auf. Durch die innern Gänge undLockerheiten der Höhen sinken die Wasserdurch, die dann in Adern durch das Tal ge-hen und in Brünnlein und Quellen her-

vorkommen, daraus die Menschen trinkenund ihr herrliches, oft belobtes Wasser demFremden reichen. Allein an letzterenNutzen denken sie nicht und meinen, dassei immer so gewesen.

Wenn man auf die Jahresgeschichte desBerges sieht, so sind im Winter die zweiZacken seines Gipfels, die sie Hörnerheißen, schneeweiß und stehen, wenn sie

an hellen Tagen sichtbar sind, blendend in

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der finstern Bläue der Luft; alle Bergfelder,die um diese Gipfel herumlagern, sind dannweiß; alle Abhänge sind so; selbst diesteilrechten Wände, die die BewohnerMauern heißen, sind mit einem angeflogen-en weißen Reife bedeckt und mit zartemEise wie mit einem Firnisse belegt, so daßdie ganze Masse wie ein Zauberpalast aus

dem bereiften Grau der Wälderlast empor-ragt, welche schwer um ihre Füße herumausgebreitet ist. Im Sommer, wo Sonne undwarmer Wind den Schnee von den Steil-

seiten wegnimmt, ragen die Hörner nachdem Ausdrucke der Bewohner schwarz inden Himmel und haben nur schöne weißeÄderchen und Sprenkeln auf ihrem Röcken,in der Tat aber sind sie zart fernblau, und

was sie Äderchen und Sprenkeln heißen,das ist nicht weiß, sondern hat das schöneMilchblau des fernen Schnees gegen dasdunklere der Felsen. Die Bergfelder um die

Hörner aber verlieren, wenn es recht heiß

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Was nun noch die Besteigung des Bergesbetrifft, so geschieht dieselbe von dem Taleaus. Man geht nach der Mittagsrichtung zuauf einem guten, schönen Wege, der übereinen sogenannten Hals in ein anderes Talführt. Hals heißen sie einen mäßig hohenBergrücken, der zwei größere und bedeu-tendere Gebirge miteinander verbindet und

aber den man zwischen den Gebirgen voneinem Tale in ein anderes gelangen kann.Auf dem Halse, der den Schneeberg miteinem gegenüberliegen den großen Ge-

birgszuge verbindet, ist lauter Tannenwald.Etwa auf der größten Erhöhung desselben,wo nach und nach sich der Weg in das jen-seitige Tal hinabzusenken beginnt, stehteine sogenannte Unglücksäule. Es ist ein-

mal ein Bäcker, welcher Brot in seinemKorbe über den Hals trug, an jener Stelletot gefunden worden. Man hat den totenBäcker mit dem Korbe, und mit den umrin-

genden Tannenbäumen auf ein Bild gemalt,

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darunter 'eine Erklärung und eine Bitte umein Gebet geschrieben, das Bild auf eine rotangestrichene hölzerne Säule getan und dieSäule an der Stelle des Unglückesaufgerichtet. Bei dieser Säule biegt man vondem Wege ab und geht auf der Länge desHalses fort, statt über seine Breite in dasjenseitige Tal hinüberzuwandern. Die

Tannen bilden dort einen Durchlaß, als obeine Straße zwischen ihnen hinginge. Esführt auch manchmal ein Weg in dieserRichtung hin, der dazu dient, das Holz von

den höheren Gegenden zu der Unglück-säule herabzubringen, der aber dannwieder mit Gras verwächst. Wenn man auf diesem Wege fortgeht, der sachte berganführt, so gelangt man endlich auf eine freie,

von Bäumen entblößte Stelle. Dieselbe istdürrer Heideboden, hat nicht einmal einenStrauch, sondern ist mit schwachemHeidekraute, mit trockenen Moosen und

mit Dürrbodenpflanzen bewachsen. Die

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Stelle wird immer steiler, und man gehtlange hinan; man geht aber immer in einerRinne gleichsam wie in einem ausgerund-eten Graben hinan, was den Nutzen hat,daß man auf der großen, baumlosen undüberall gleichen Stelle nicht leicht irrenkann. Nach einer Zeit erscheinen Felsen,die wie Kirchen gerade aus dem Grasboden

aufsteigen, und zwischen deren Mauernman längere Zeit hinangehen kann. Dannerscheinen wieder kahle, fast pflanzenloseRücken, die bereits in die Lufträume der

höhern Gegenden ragen und gerade zu demEise führen. Zu beiden Seiten dieses Wegessind steile Wände, und durch diesen Dammhängt der Schneeberg mit dem Halsezusammen. Um das Eis zu überwinden, ge-

ht man eine geraume Zeit an der Grenzedesselben, wo es von den Felsen umstandenist, dahin, bis man zu dem ältern Firngelangt, der die Eisspalten überbaut und in

den meisten Zeiten des Jahres den

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Wanderer trägt. An der höchsten Stelle desFirns erheben sich die zwei Hörner ausdem Schnee, wovon eines das höhere, mith-in die Spitze des Berges ist. Diese Kuppensind sehr schwer zu erklimmen; da sie miteinem oft breiteren, oft engeren Schneeg-raben - dem Firnschrunde - umgeben sind,der übersprungen werden muß, und da ihre

steilrechten Wände nur kleine Absätzehaben, in welche der Fuß eingesetzt werdenmuß, so begnügen sich die meistenBesteiger des Berges damit, bis zu dem

Firnschrunde gelangt zu sein und dort dieRundsicht, soweit sie nicht durch das Hornverdeckt ist, zu genießen. Die den Gipfel be-steigen wollen, müssen dies mit Hilfe vonSteigeisen, Stricken und Klammern tun.

Außer diesem Berge stehen an derselbenMittagseite noch andere, aber keiner ist sohoch, wenn sie sich auch früh im Herbstemit Schnee bedecken und ihn bis tief in den

Frühling hinein behalten. Der Sommer aber

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nimmt denselben immer weg, und dieFelsen glänzen freundlich imSonnenscheine, und die tiefer gelegenenWälder zeigen ihr sanftes Grün von breiten,blauen Schatten durchschnitten, die soschön sind, daß man sich in seinem Lebennicht satt daran sehen kann.

An den andern Seiten des Tales, nämlich

von Mitternacht, Morgen und Abend her,sind die Berge langgestreckt und niederer,manche Felder und Wiesen steigen ziem-lich hoch hinauf, und oberhalb ihrer sieht

man verschiedene Waldblößen, Alpenhüt-ten und dergleichen, bis sie an ihrem Randemit feingezacktem Walde am Himmelhingehen, welche Auszackung eben ihregeringe Höhe anzeigt, während die mittäg-lichen Berge, obwohl sie noch großartigereWälder hegen, doch mit einem ganz glattenRande an dem glänzenden Himmelhinstreichen.

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Wenn man so ziemlich mitten in dem Talesteht, so hat man die Empfindung, als gingenirgends ein Weg in dieses Becken hereinund keiner daraus hinaus; alle diejenigen,welche öfter im Gebirge gewesen sind,kennen diese Täuschung gar wohl; in derTat führen nicht nur verschiedene Wegeund darunter sogar manche durch die Ver-

schiebungen der Berge fast auf ebenemBoden in die nördlichen Flächen hinaus,sondern gegen Mittag, wo das Tal durchsteilrechte Mauern fast geschlossen scheint,

geht sogar ein Weg über den obbenanntenHals.

Das Dörflein heißt Gschaid, und der Sch-neeberg, der auf seine Häuser herabschaut,heißt Gars.

Jenseits des Halses liegt ein viel schöneresund blühenderes Tal, als das von Gschaidist, und es führt von der Unglücksäule dergebahnte Weg hinab. Es hat an seinem

Eingange einen stattlichen Marktflecken

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Millsdorf, der sehr groß ist, verschiedeneWerke hat und in manchen Häusernstädtische Gewerbe und Nahrung treibt.Die Bewohner sind viel wohlhabender alsdie in Gschaid, und obwohl nur drei Weg-stunden zwischen den beiden Tälern liegen,was für die an große Entfernungen gewöh-nten und Mühseligkeiten liebenden Ge-

birgsbewohner eine unbedeutende Klein-igkeit ist, so sind doch Sitten und Ge-wohnheiten in den beiden Tälern so ver-schieden, selbst der äußere Anblick der-

selben ist so ungleich, als ob eine große An-zahl Meilen zwischen ihnen läge. Das ist inGebirgen sehr oft der Fall und hängt nichtnur von der verschiedenen Lage der Tälergegen die Sonne ab, die sie oft mehr oder

weniger begünstigt, sondern auch von demGeiste der Bewohner, der durch gewisseBeschäftigungen nach dieser oder jenerRichtung gezogen wird. Darin stimmen

aber alle überein, daß sie an

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Herkömmlichkeiten und Väterweise hän-gen, großen Verkehr leicht entbehren, ihrTal außerordentlich lieben und ohnedasselbe kaum leben können.

Es vergehen oft Monate, oft fast ein Jahr,ehe ein Bewohner von Gschaid in das jen-seitige Tal hinüberkommt und den großenMarktflecken Millsdorf besucht. Die Mills-

dorfer halten es ebenso, obwohl sie ihrer-seits doch Verkehr mit dem Lande draußenpflegen und daher nicht so abgeschiedensind wie die Gschaider. Es geht sogar ein

Weg, der eine Straße heißen könnte, längsihres Tales, und mancher Reisende undmancher Wanderer geht hindurch, ohnenur im geringsten zu ahnen, daß mitter-nachtwärts seines Weges jenseits deshoben, herabblickenden Schneebergs nochein Tal sei, in dem viele Häuser zerstreutsind, und in dem das Dörflein mit demspitzigen Kirchturme steht.

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Unter den Gewerben des Dorfes, welchebestimmt sind, den Bedarf des Tales zudecken, ist auch das eines Schusters, dasnirgends entbehrt werden kann, wo dieMenschen nicht in ihrem Urzustande sind.Die Gschaider aber sind so weit überdiesem Stande, daß sie recht gute undtüchtige Gebirgsfußbekleidung brauchen.

Der Schuster ist mit einer kleinen Aus-nahme der einzige im Tale. Sein Haus stehtauf dem Platze in Gschaid, wo überhauptdie besseren stehen, und schaut mit seinen

grauen Mauern, weißen Fenstersimsen undgrün angestrichenen Fensterläden auf dievier Linden hinaus. Es hat im Erdgeschossedie Arbeitsstube, die Gesellenstube, einegrößere und kleinere Wohnstube, ein

Verkaufstübchen, nebst Küche undSpeisekammer und allen zugehörigenGelassen; im ersten Stockwerke oder ei-gentlich im Raume des Giebels hat es die

Oberstube oder eigentliche Prunkstube.

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Zwei Prachtbetten, schöne geglätteteKästen mit Kleidern stehen da, dann einGläserkästchen mit Geschirren, ein Tischmit eingelegter Arbeit, gepolsterte Sessel,ein Mauerkästchen mit den Ersparnissen,dann hängen an den Wänden Heiligen-bilder, zwei schöne Sackuhren, gewonnenePreise im Schießen, und endlich sind auch

Scheibengewehre und Jagdbüchsen nebstihrem Zubehöre in einem eigenen, mitGlastafeln versehenen Kasten aufgehängt.An das Schusterhaus ist ein kleineres

Häuschen, nur durch den Einfahrtsschwib-bogen getrennt, angebaut, welches genaudieselbe Bauart hat und zum Schusterhausewie ein Teil zum Ganzen gehört. Es hat nureine Stube mit den dazugehörigen

Wohnteilen. Es hat die Bestimmung, demHausbesitzer, sobald er das Anwesenseinem Sohne oder Nachfolger übergebenhat, als sogenanntes Ausnahmstübchen zu

dienen, in welchem er mit seinem Weibe so

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lang haust, bis beide gestorben sind, dieStube wieder leer steht und auf einen neuenBewohner wartet. Das Schusterhaus hatnach rückwärts Stall und Scheune; dennjeder Talbewohner ist, selbst wenn er einGewerbe treibt, auch Landbebauer undzieht hieraus seine gute und nachhaltigeNahrung. Hinter diesen Gebäuden ist end-

lich der Garten, der fast bei keinem besser-en Hause in Gschaid fehlt, und von dem sieihre Gemüse, ihr Obst und für festlicheGelegenheiten ihre Blumen ziehen. Wie oft

im Gebirge, so ist auch in Gschaid die Bien-enzucht in diesen Gärten sehr verbreitet.

Die kleine Ausnahme, deren oben Erwäh-nung geschah, und die Nebenbuhlerschaftder Alleinherrlichkeit des Schusters ist einanderer Schuster, der alte Tobias, der abereigentlich kein Nebenbuhler ist, weil er nurmehr flickt, hierin viel zu tun hat und essich nicht im entferntesten beikommen

läßt, mit dem vornehmen Platzschuster in

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einen Wettstreit einzugehen, insbesondereda der Platzschuster ihn häufig mit Leder-flecken, Sohlenabschnitten und dergleichenDingen unentgeltlich versieht. Der alte To-bias sitzt im Sommer am Ende des Dör-fchens unter Holunderbüschen undarbeitet. Er ist umringt von Schuhen undBundschuhen, die aber sämtlich alt, grau,

kotig und zerrissen sind. Stiefel mit langenRöhren sind nicht da, weil sie im Dorfe undin der Gegend nicht getragen werden; nurzwei Personen haben solche, der Pfarrer

und der Schullehrer, welche aber beides,flicken und neue Ware machen, nur beidem Platzschuster lassen. Im Winter sitztder alte Tobias in seinem Stübchen hinterden Holunderstauden und hat warm ge-

heizt, weil das Holz in Gschaid nicht teuerist.

Der Platzschuster ist, ehe er das Haus an-getreten hat, ein Gemsenwildschütze

gewesen und hat Oberhaupt in seiner

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brachte manchmal einen Preis nach Hause,was er für einen großen Sieg hielt. Der Preisbestand meistens aus Münzen, die künst-lich gefaßt waren, und zu deren Gewinnungder Schuster mehr gleiche Münzen aus-geben mußte, als der Preis enthielt, beson-ders da er wenig haushälterisch mit demGelde war. Er ging auf alle Jagden, die in

der Gegend abgehalten wurden, und hattesich den Namen eines guten Schützen er-worben. Er ging aber auch manchmal alleinmit seiner Doppelbüchse und mit Steigeis-

en fort, und einmal sagte man, daß er eineschwere Wunde im Kopfe erhalten habe.

In Millsdorf war ein Färber, welcher gleicham Anfange des Marktfleckens, wenn manauf dem Wege von Gschaid hinüberkam,ein sehr ansehnliches Gewerbe hatte, mitvielen Leuten und sogar, was im Tale etwasUnerhörtes war, mit Maschinen arbeitete.Außerdem besaß er noch eine ausgebreitete

Feldwirtschaft. Zu der Tochter dieses

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reichen Färbers ging der Schuster über dasGebirge, um sie zu gewinnen. Sie war we-gen ihrer Schönheit weit und breit berüh-mt, aber auch wegen ihrer Eingezogenheit,Sittsamkeit und Häuslichkeit belobt. Den-noch, hieß es, soll der Schuster ihreAufmerksamkeit erregt haben. Der Färberließ ihn nicht in sein Haus kommen; und

hatte die schöne Tochter schon früher keineöffentlichen Plätze und Lustbarkeiten be-sucht und war selten außer dem Hause ihr-er Eltern zu sehen gewesen: so ging sie jetzt

schon gar nirgends mehr hin als in dieKirche oder in ihrem Garten oder in denRäumen des Hauses herum.

Einige Zeit nach dem Tode seiner Eltern,durch welchen ihm das Haus derselbenzugefallen war, das er nun allein bewohnte,änderte sich der Schuster gänzlich. So wieer früher getollt hatte, so saß er jetzt inseiner Stube und hämmerte Tag und Nacht

an seinen Sohlen. Er setzte prahlend einen

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Preis darauf, wenn es jemand gäbe, derbessere Schuhe und Fußbekleidungenmachen könne. Er nahm keine andernArbeiter als die besten und drillte sie nochsehr herum, wenn sie in seiner Werkstättearbeiteten, daß sie ihm folgten und dieSache so einrichteten, wie er befahl. Wirk-lich brachte er es jetzt auch dahin, daß

nicht nur das ganze Dorf Gschaid, das zumgrößten Teile die Schusterarbeit aus ben-achbarten Tälern bezogen hatte, bei ihmarbeiten ließ, daß das ganze Tal bei ihm

arbeiten ließ, und daß endlich sogar einzel-ne von Millsdorf und andern Tälernhereinkamen und sich ihre Fußbekleidun-gen von dem Schuster in Gschaid machenließen. Sogar in die Ebene hinaus verbreit-

ete sich sein Ruhm, daß manche, die in dieGebirge gehen wollten, sich die Schuhedazu von ihm machen ließen.

Er richtete das Haus sehr schön zusam-

men, und in dem Warengewölbe glänzten

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auf den Brettern die Schuhe, Bundstiefelund Stiefel; und wenn am Sonntage dieganze Bevölkerung des Tales hereinkamund man bei den vier Linden des Platzesstand, ging man gerne zu dem Schuster-hause hin und sah durch die Gläser in dieWarenstube, wo die Käufer und Bestellerwaren.

Nach seiner Vorliebe zu den Bergenmachte er auch jetzt die Gebirgsbund-schuhe am besten. Er pflegte in der Wirtss-tube zu sagen: es gäbe keinen, der ihm ein-

en fremden Gebirgsbundschuh zeigenkönne, der sich mit einem seinigen ver-gleichen lasse. "Sie wissen es nicht", pflegteer beizufügen, "sie haben es in ihrem Lebennicht erfahren, wie ein solcher Schuh seinmuß, daß der gestirnte Himmel der Nägelrecht auf der Sohle sitze und das ge-bührende Eisen enthalte, daß der Schuhaußen hart sei, damit kein Geröllstein, wie

scharf er auch sei, empfunden werde, und

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das er sich von innen doch weich und zärt-lich wie ein Handschuh an die Füße lege."Der Schuster hatte sich ein sehr großesBuch machen lassen, in welches er alle ver-fertigte Ware eintrug, die Namen derer bei-fügte, die den Stoff geliefert und die Waregekauft hatten, und eine kurze Bemerkungüber die Güte des Erzeugnisses beischrieb.

Die gleichartigen Fußbekleidungen hattenihre fortlaufenden Zahlen, und das Buchlag in der großen Lade seines Gewölbes.

Wenn die schöne Färberstochter von Mill-

sdorf auch nicht aus der Eltern Hause kam,wenn sie auch weder Freunde noch Ver-wandte besuchte, so konnte es der Schustervon Gschaid doch so machen, daß sie ihnvon ferne sah, wenn sie in die Kirche ging,wenn sie in dem Garten war und wenn sieaus den Fenstern ihres Zimmers auf dieMatten blickte. Wegen dieses unausgeset-zten Sehens hatte es die Färberin durch

langes, anständiges und ausdauerndes

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Flehen für ihre Tochter dahin gebracht, daßder halsstarrige Färber nachgab, und daßder Schuster, weil er denn nun doch bessergeworden, die schöne, reiche Millsdorferinals Eheweib nach Gschaid führte. Aber derFärber war deßohngeachtet auch ein Mann,der seinen Kopf hatte. Ein rechter Mensch,sagte er, müsse sein Gewerbe treiben, daß

es blühe und vorwärtskomme, er müsse da-her sein Weib, seine Kinder, sich und seinGesinde ernähren, Hof und Haus im Standedes Glanzes halten und sich noch ein

Erkleckliches erübrigen, welches letzteredoch allein imstande sei, ihm Ansehen undEhre in der Welt zu geben; darum erhalteseine Tochter nichts als eine vortrefflicheAusstattung, das andere ist Sache des

Ehemannes, daß er es mache und für alleZukunft es besorge. Die Färberei in Mills-dorf und die Landwirtschaft auf demFärberhause sei für sich ein ansehnliches

und ehrenwertes Gewerbe, das seiner Ehre

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Bewohnerinnen des Tales, sondern auchschöner, als sie sich je zu Hause getragenhatte, und Speise, Trank und übrige Be-handlung mußte besser und rücksichts-voller sein, als sie das gleiche im väter-lichen Hause genossen hatte. Und um demSchwiegervater zu trotzen, kaufte er mit er-übrigten Summen nach und nach immer

mehr Grundstücke so ein, daß er einentüchtigen Besitz beisammen hatte.

Weil die Bewohner von Gschaid so seltenaus ihrem Tale kommen und nicht einmal

oft nach Millsdorf hinüber gehen, von demsie durch Bergrücken und durch Sittengeschieden sind, weil ferner ihnen gar keinFall vorkommt, daß ein Mann sein Tal ver-läßt und sich in dem benachbarten an-siedelt (Ansiedlungen in großen Entfernun-gen kommen öfter vor), weil endlich auchkein Weib oder Mädchen gerne von einemTale in ein anderes auswandert, außer in

dem ziemlich seltenen Falle, wenn sie der

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Liebe folgt und als Eheweib und zu demEhemann in ein anderes Tal kommt - sogeschah es, daß die schöne Färberstochtervon Millsdorf, da sie Schusterin in Gschaidgeworden war, doch immer von allen Gs-chaidern als Fremde angesehen wurde, undwenn man ihr auch nichts Übels antat, jawenn man sie ihres schönen Wesens und

ihrer Sitten wegen sogar liebte, doch immeretwas vorhanden war, das wie Scheu oder,wenn man will, wie Rücksicht aussah undnicht zu dem Innigen und Gleichartigen

kommen ließ, wie Gschaiderinnen gegenGschaiderinnen, Gschaider gegen Gschaid-er hatten. Es war so, ließ sich nicht abstel-len und wurde durch die bessere Trachtund durch das erleichtertere häusliche

Leben der Schusterin noch vermehrt.Sie hatte ihrem Manne nach dem ersten

Jahre einen Sohn und in einigen Jahren da-rauf ein Töchterlein geboren. Sie glaubte

aber, daß er die Kinder nicht so liebe, wie

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oft nach Gschaid herüber, um die Kinder zusehen, innen Geschenke zu bringen, eineWeile da zu bleiben und dann mit gutenErmahnungen zu scheiden. Da aber das Al-ter und die Gesundheitsumstände derFärberin die öfteren Fahrten nicht mehr somöglich machten und der Färber aus dieserUrsache Einsprache tat, wurde auf etwas

anderes gesonnen, die Sache wurdeumgekehrt, und die Kinder kamen jetzt zurGroßmutter. Die Mutter brachte sie selberöfter in einem Wagen, öfter aber wurden

sie, da sie noch im zarten Alter waren,eingemummt einer Magd mitgegeben, diesie in einem Fuhrwerke über den Hals bra-chte. Als sie aber größer waren, gingen siezu Fuße entweder mit der Mutter oder mit

einer Magd nach Millsdorf, ja da der Knabegeschickt, stark und klug geworden war,ließ man ihn allein den bekannten Wegüber den Hals gehen, und wenn es sehr

schön war und er bat, erlaubte man auch,

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daß ihn die kleine Schwester begleite. Diesist bei den Gschaidern gebräuchlich, weilsie an starkes Fußgehen gewöhnt sind unddie Eltern überhaupt, namentlich aber einMann wie der Schuster, es gerne sehen undeine Freude daran haben, wenn ihre Kindertüchtig werden. So geschah es, daß die zweiKinder den Weg über den Hals öfter

zurücklegten als die übrigen Dörfler zusam-mengenommen, und da schon ihre Mutterin Gschaid immer gewissermaßen wie eineFremde behandelt wurde, so wurden durch

diesen Umstand auch die Kinder fremd, siewaren kaum Gschaider und gehörten halbnach Millsdorf hinüber.

Der Knabe Konrad hatte schon das ernsteWesen seines Vaters, und das MädchenSusanna, nach ihrer Mutter so genannt,oder, wie man es zur Abkürzung nannte,Sanna, hatte viel Glauben zu seinen Kennt-nissen, seiner Einsicht und seiner Macht

und gab sich unbedingt unter seine

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Leitung, gerade so wie die Mutter sich un-bedingt unter die Leitung des Vaters gab,dem sie alle Einsicht und Geschicklichkeitzutraute.

An schönen Tagen konnte man morgensdie Kinder durch das Tal gegen Mittagwandern sehen, aber die Wiese gehen unddort anlangen, wo der Wald des Halses ge-

gen sie her schaut. Sie näherten sich demWalde, gingen auf seinem Wege allgemachüber die Erhöhung hinan und kamen, eheder Mittag eingetreten war, auf den offenen

Wiesen auf der anderen Seite gegen Mills-dorf hinunter. Konrad zeigte Sanna dieWiesen, die dem Großvater gehörten, danngingen sie durch seine Felder, auf denen erihr die Getreidearten erklärte, dann sahensie auf Stangen unter dem Vorsprunge desDaches die langen Tücher zum Trocknenherabhängen, die sich im Winde schlängel-ten oder närrische Gesichter machten, dann

hörten sie seine Walkmühle und seinen

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Lohstampf, die er an seinem Bache fürTuchmacher und Gerber angelegt hatte,dann bogen, sie noch um eine Ecke derFelder und gingen in kurzem durch dieHintertür in den Garten der Färberei, wosie von der Großmutter empfangen wurden.Diese ahnte immer, wenn die Kinder ka-men, sah zu den Fenstern aus und erkannte

sie von weitem, wenn Sannas rotes Tuchrecht in der Sonne leuchtete.

Sie führte die Kinder dann durch dieWaschstube und Presse in das Zimmer, ließ

sie niedersetzen, ließ nicht zu, daß sie Hal-stücher oder Jäckchen lüfteten, damit siesich nicht verkühlten, und behielt sie beimEssen da. Nach dem Essen durften sie sichlüften, spielen, durften in den Räumen desgroßväterlichen Hauses herumgehen odersonst tun, was sie wollten, wenn es nurnicht unschicklich oder verboten war. DerFärber, welcher immer bei dem Essen war,

fragte sie um ihre Schulgegenstände aus

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und schärfte ihnen besonders ein, was sielernen sollten. Nachmittags wurden sie vonder Großmutter schon, ehe die Zeit kam,zum Aufbruche getrieben, daß sie ja nichtzu spät kämen. Obgleich der Färber keineMitgift gegeben hatte und vor seinem Todevon seinem Vermögen nichts wegzugehengelobt hatte, glaubte sich die Färberin an

diese Dinge doch nicht so strenge ge-bunden, und sie gab den Kindern nicht al-lein während ihrer Anwesenheit allerlei,worunter nicht selten ein Münzstück und

zuweilen gar von ansehnlichem Werte war,sondern sie band ihnen auch immer zweiBündelchen zusammen, in denen sichDinge befanden, von denen sie glaubte, daßsie notwendig wären oder daß sie den

Kindern Freude machen könnten. Undwenn oft die nämlichen Dinge im Schuster-hause in Gschaid ohne dem in aller Treff-lichkeit vorhanden waren, so gab sie die

Großmutter in der Freude des Gebens doch,

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und die Kinder trugen sie als etwas Beson-deres nach Hause. So geschah es nun, daßdie Kinder am heiligen Abende schon un-wissend die Geschenke in Schachteln gutversiegelt und verwahrt nach Hause trugen,die ihnen in der Nacht einbeschert werdensollten.

Weil die Großmutter die Kinder immer

schon vor der Zeit zum Fortgehen drängte,damit sie nicht zu spät nach Hause kämen,so erzielte sie hierdurch, daß die Kindergerade auf dem Wege bald an dieser, bald

an jener Stelle sich aufhielten. Sie saßengerne an dem Haselnußgehege, das auf demHalse ist, und schlugen mit Steinen Nüsseauf, oder spielten, wenn keine Nüsse waren,mit Blättern oder mit Hölzlein oder mit denweichen, braunen Zäpfchen, die im erstenFrühjahre von den Zweigen der Nadel-bäume herabfielen. Manchmal erzählteKonrad dem Schwesterchen Geschichten,

oder wenn sie zu der roten Unglücksäule

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kamen, führte er sie ein Stück auf demSeitenwege links gegen die Höhen hinanund sagte ihr, daß man da auf den Schnee-berg gelange, daß dort Felsen und Steineseien, daß die Gemsen herumspringen und-große Vögel fliegen. Er führte sie oft überden Wald hinaus, sie betrachteten dannden dürren Rasen und die kleinen Sträuch-

er der Heidekräuter; aber er führte siewieder zurück und brachte sie immer vorder Abenddämmerung nach Hause, wasihm stets Lob eintrug.

Einmal war am heiligen Abende, da die er-ste Morgendämmerung in dem Tale vonGschaid in Helle übergegangen war, eindünner, trockener Schleier über den ganzenHimmel gebreitet, so daß man die ohnedemschiefe und ferne Sonne im Südosten nurals einen undeutlichen roten Fleck sah,überdies war an diesem Tage eine milde,beinahe laulichte Luft unbeweglich im gan-

zen Tale und auch an dem Himmel, wie die

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unveränderte und ruhige Gestalt derWolken zeigte. Da sagte die Schustersfrauzu ihren Kindern: "Weil ein so angenehmerTag ist, weil es so lange nicht geregnet hatund die Wege fest sind, und weil es auchder Vater gestern unter der Bedingung er-laubt hat, wenn der heutige Tag dazugeeignet ist, so dürft ihr zur Großmutter

nach Millsdorf gehen; aber ihr müßt denVater noch vorher fragen."

Die Kinder, welche noch in ihrenNachtkleidchen dastanden, liefen in die

Nebenstube, in welcher der Vater miteinem Kunden sprach, und baten um dieWiederholung der gestrigen Erlaubnis, weilein so schöner Tag sei. Sie wurde ihnen er-teilt, und sie liefen wieder zur Mutterzurück.Die Schustersfrau zog nun ihre Kinder vor-

sorglich an, oder eigentlich, sie zog dasMädchen mit dichten, gut verwahrenden

Kleidern an; denn der Knabe begann sich

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selber anzukleiden und stand viel früherfertig da, als die Mutter mit dem Mädchenhatte ins reine kommen können. Als siedieses Geschäft vollendet hatte, sagte sie:

"Konrad, gib wohl acht: weil ich dir dasMädchen mitgehen lasse, so müsset ihrbeizeiten fortgehen, ihr müsset an keinemPlatze stehen bleiben, und wenn ihr bei der

Großmutter gegessen habt, so müsset ihrgleich wieder umkehren und nach Hausetrachten; denn die Tage sind jetzt sehr kurz,und die Sonne geht gar bald unter."

"Ich weiß es schon, Mutter", sagte Konrad."Und siehe gut auf Sanna, daß sie nicht

fällt oder sich erhitzt."

"Ja, Mutter."

"So, Gott behüte euch, und geht noch zumVater und sagt, daß ihr jetzt fortgehst."

Der Knabe nahm eine von seinem Vaterkunstvoll aus Kalbfellen genähte Tasche an

einem Riemen um die Schulter, und die

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Kinder gingen in die Nebenstube, um demVater Lebewohl zu sagen. Aus dieser kamensie bald heraus und hüpften, von der Mut-ter mit einem Kreuze besegnet, fröhlich auf die Gasse.Sie gingen schleunig längs des Dorfplatzes

hinab und dann durch die Häusergasse undendlich zwischen den Planken der Obst-

gärten in das Freie hinaus. Die Sonne standschon über dem mit milchigen Wolken-streifen durchwobenen Wald der morgend-lichen Anhöhen, und ihr trübes, rötliches

Bild schritt durch die laublosen Zweige derHolzäpfelbäume mit den Kindern fort.

In dem ganzen Tale war kein Schnee, diegrößeren Berge, von denen er schon viele

Wochen herabgeglänzt hatte, waren damitbedeckt, die kleineren standen in demMantel ihrer Tannenwälder und im Fahlrotihrer entblößten Zweige unbeschneit undruhig da. Der Boden war noch nicht ge-

froren, und er wäre vermöge der

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des Wassers zeigten an, daß in den größer-en Höhen schon Kälte herrschen müsse, dieden Boden verschließe, daß er mit seinerErde das Wasser nicht trübe, und die dasEis erhärte, daß es in seinem Innern nurwenige klare Tropfen abgeben könne.

Von dem Stege liefen die Kinder durch dieGründe fort und näherten sich immer mehr

den Waldungen.Sie trafen endlich die Grenze des Holzes

und gingen in demselben weiter.

Als sie in die höheren Wälder des Halses

hinaufgekommen waren, zeigten sich dielangen Furchen des Fahrweges nicht mehrweich, wie es unten im Tale der Fallgewesen war, sondern sie waren fest, und

zwar nicht aus Trockenheit, sondern, wiedie Kinder sich bald überzeugten, weil siegefroren waren. An manchen Stellen warensie so überfroren, daß sie die Körper derKinder trugen. Nach der Natur der Kindergingen sie nun nicht mehr auf dem glatten

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Pfade neben dem Fahrwege, sondern in denGleisen und versuchten, ob dieser oder jen-er Furchenaufwurf sie schon trage. Als sienach Verlauf einer Stunde auf der Höhe desHalses angekommen waren, war der Bodenbereits so hart, daß er klang und Schollenwie Steine hatte.

An der roten Unglücksäule des Bäckers be-

merkte Sanna zuerst, daß sie heute garnicht dastehe. Sie gingen zu dem Platzehinzu und sahen, daß der runde, rot an-gestrichene Balken, der das Bild trug, in

dem dürren Grase Lege, das wie dünnesStroh an der Stelle stand und den Anblick der liegenden Säule verdeckte. Sie sahenzwar nicht ein, warum die Säule liege, obsie umgeworfen worden oder ob sie von sel-ber umgefallen sei, das sahen sie, daß sie ander Stelle, wo sie in die Erde ragte, sehrmorsch war, und daß sie daher sehr leichthabe umfallen können; aber da sie einmal

lag, so machte es ihnen Freude, daß sie das

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Bild und die Schrift so nahe betrachtenkonnten, wie es sonst nie der Fall gewesenwar. Als sie alles - den Korb mit den Sem-meln, die bleichen Hände des Bäckers,seine geschlossenen Augen, seinen grauenRock und die umstellenden Tannen be-trachtet hatten, als sie die Schrift gelesenund laut gesagt hatten, gingen sie wieder

weiter.Abermals nach einer Stunde wichen die

dunkeln Wälder zu beiden Seiten zurück,dünnstehende Bäume, teils einzelne

Eichen, teils Birken und Gebüschgruppenempfingen sie, geleiteten sie weiter, undnach kurzem liefen sie auf den Wiesen indas Millsdorfer Tal hinab.

Obwohl dieses Tal bedeutend tiefer liegtals das von Gschaid und auch um so vielwärmer war, daß man die Ernte immer umvierzehn Tage früher beginnen konnte alsin Gschaid, so war doch auch hier der

Boden gefroren, und als die Kinder bis zu

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"Siehst du, darum müßt ihr euch sputen,daß euch gegen Abend nicht zu kalt wird",antwortete die Großmutter.

Hierauf fragte sie, was die Mutter mache,was der Vater mache, und ob nichts Beson-deres in Gschaid geschehen sei.

Nach diesen Fragen bekümmerte sie sichum das Essen, sorgte, daß es früher bereitetwurde als gewöhnlich und richtete selberden Kindern kleine Leckerbissen zusam-men, von denen sie wußte, daß sie eineFreude damit erregen würde. Dann wurde

der Färber gerufen, die Kinder bekamen andem Tische aufgedeckt wie große Personenund aßen nun mit Großvater und Großmut-ter, und die letzte legte ihnen hierbei be-

sonders Gutes vor. Nach dem Essenstreichelte sie Sannas unterdessen sehr rotgewordene Wangen.

Hierauf ging sie geschäftig hin und herund steckte das Kalbfellränzchen desKnaben voll und steckte ihm noch allerlei

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"Habe acht, Sanna", sagte sie, "daß dunicht frierst, erhitze dich nicht; und daß ihrnicht aber die Wiesen hinauf und unter denBäumen lauft. Etwa kommt gegen Abendein Wind, da müßt ihr langsamer gehen.Grüßet Vater und Mutter und, sagt, sie sol-len recht glückliche Feiertage haben."

Die Großmutter küßte beide Kinder auf die

Wangen und schob sie durch die Türhinaus. Nichtsdestoweniger ging sie aberauch selber mit, geleitete sie durch denGarten, ließ sie durch das Hinterpförtchen

hinaus, schloß wieder und ging in das Hauszurück.

Die Kinder gingen an den Eistäfelchenneben den Werken des Großvaters vorbei,

sie gingen durch die Millsdorfer Felder undwendeten sich gegen die Wiesen hinan.

Als sie auf den Anhöhen gingen, wo, wiegesagt wurde, zerstreute Bäume und Ge-büschgruppen standen, fielen äußerst lang-sam einzelne Schneeflocken.

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"Siehst du, Sanna", sagte der Knabe, "ichhabe es gleich gedacht, daß wir Schneebekommen; weißt du, da wir von Hauseweggingen, sahen wir noch die Sonne, dieso blutrot war wie eine Lampe bei dem hei-ligen Grabe, und jetzt ist nichts mehr vonihr zu erblicken, und nur der graue Nebelist über den Baumwipfeln oben. Das

bedeutet allemal Schnee."Die Kinder gingen freudiger fort, und

Sanna war recht froh, wenn sie mit demdunkeln Ärmel ihres Röckchens eine der

fallenden Flocken auffangen konnte, undwenn dieselbe recht lange nicht auf demÄrmel zerfloß. Als sie endlich an demäußersten Rand der Millsdorfer Höhen an-gekommen waren, wo es gegen die dunkelnTannen des Halses hineingeht, war die di-chte Waldwand schon recht lieblich ge-sprenkelt von den immer reichlicher herab-fallenden Flocken. Sie gingen nunmehr in

den dicken Wald hinein, der den größten

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Teil ihrer noch bevorstehenden Wanderungeinnahm.

Es geht von dem Waldrande noch immer

aufwärts, und zwar bis man zur rotenUnglücksäule kommt, von wo sich, wieschon oben angedeutet wurde, der Weg ge-gen das Tal von Gschaid hinabwendet. DieErhebung des Waldes von der Millsdorfer

Seite aus ist sogar so steil, daß der Wegnicht gerade hinangeht, sondern daß er insehr langen Abweichungen von Abend nachMorgen und von Morgen nach Abend hin-

anklimmt. An der ganzen Länge des Wegeshinauf zur Säule und hinab bis zu denWiesen von Gschaid sind hohe, dichte, un-gelichtete Waldbestände, und sie werdenerst ein wenig dünner, wenn man in dieEbene gelangt ist und gegen die Wiesen desTales von Gschaid hinauskommt. Der Halsist auch, wenn er gleich nur eine kleine Ver-bindung zwischen zwei großen Ge-

birgshäuptern abgibt, doch selbst so groß,

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daß er, in die Ebene gelegt, einen bedeu-tenden Gebirgsrücken abgeben würde.

Das erste, was die Kinder sahen, als sie die

Waldung betraten, war, daß der gefrorneBoden sich grau zeigte, als ob er mit Mehlbesät wäre, daß die Fahne manches dünnenHalmes des am Wege hin und zwischen denBäumen stehenden dürren Grases mit

Flocken beschwert war, und daß auf denverschiedenen grünen Zweigen der Tannenund Fichten, die sich wie Hände öffneten,schon weiße Fläumchen saßen.

"Schneit es denn jetzt bei dem Vater zuHause auch?" fragte Sanna. "Freilich", ant-wortete der Knabe, "es wird auch kälter,und du wirst sehen, daß morgen der ganze

Teich gefroren ist.""Ja, Konrad", sagte das Mädchen.

Es verdoppelte beinahe seine kleinen Sch-ritte, um mit denen des dahinschreitenden

Knaben gleich bleiben zu können.

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Es war große Ruhe eingetreten. Von denVögeln, deren doch manche auch zuweilenim Winter in dem Walde hin und her flie-gen, und von denen die Kinder im Her-übergehen sogar mehrere zwitschern ge-hört hatten, gar nichts zu vernehmen, siesahen auch keine auf irgendeinem Zweigesitzen oder fliegen, und der ganze Wald war

gleichsam ausgestorben.Weil nur die bloßen Fußstapfen der Kinder

hinter ihnen blieben, und weil vor ihnender Schnee rein und unverletzt war, so war

daraus zu erkennen, daß sie die einzigenwaren, die heute über den Hals gingen.

Sie gingen in ihrer Richtung fort, sienäherten sich öfter den Bäumen, öfter ent-

fernten sie sich, und wo dichtes Unterholzwar, konnten sie den Schnee auf den Zwei-gen liegen sehen.

Ihre Freude wuchs noch immer; denn dieFlocken fielen stets dichter, und nach kur-zer Zeit brauchten sie nicht mehr den

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Schnee aufzusuchen, um in ihm zu waten;denn er lag schon so dicht, daß sie ihnüberall weich unter den Sohlen empfanden,und daß er sich bereits um ihre Schuhe zulegen begann; und wenn es so ruhig undheimlich war, so war es, als ob sie das Kn-istern des in die Nadeln herabfallendenSchnees vernehmen könnten. "Werden wir

heute auch die Unglücksäule sehen?" fragtedas Mädchen, "sie ist ja umgefallen, und dawird es darauf schneien, und da wird dierote Farbe weiß sein."

"Darum können wir sie doch sehen," ant-wortete der Knabe, "wenn auch der Schneeauf sie fällt, und wenn sie auch weiß ist, somüssen wir sie liegen sehen, weil sie einedicke Säule ist, und weil sie das schwarzeeiserne Kreuz auf der Spitze hat, das dochimmer herausragen wird.

"Ja, Konrad."

Indessen, da sie noch weiter gegangenwaren, war der Schneefall so dicht

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geworden, daß sie nur mehr die allernäch-sten Bäume sehen konnten.

Von der Härte des Weges oder gar von

Furchenaufwerfungen war nichts zu em-pfinden, der Weg war vom Schnee überallgleich weich und war überhaupt nur daranzu erkennen, daß er als ein gleichmäßigerweißer Streifen in dem Walde fortlief. Auf 

allen Zweigen lag schon die schöne weißeHülle.

Die Kinder gingen jetzt mitten auf demWege, sie furchten den Schnee mit ihren

Füßlein und gingen langsamer, weil das Ge-hen beschwerlicher ward. Der Knabe zogseine Jacke empor an dem Halse zusam-men, damit ihm nicht der Schnee in den

Nacken falle, und er setzte den Hut tiefer indas Haupt, daß er geschützter sei. Er zogauch seinem Schwesterlein das Tuch, dasihm die Mutter um die Schultern gegebenhatte, besser zusammen und zog es ihm

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mehr vorwärts in die Stirne, daß es einDach bilde.

Der von der Großmutter vorausgesagte

Wind war noch immer nicht gekommen,aber dafür wurde der Schneefall nach undnach so dicht, daß auch nicht mehr dienächsten Bäume zu erkennen waren, son-dern daß sie wie neblige Säcke in der Luft

standen.Die Kinder gingen fort. Sie duckten die

Köpfe dichter in ihre Kleider und gingenfort.

Sanna nahm den Riemen, an welchemKonrad die Kalbfelltasche um die Schulterhängen hatte, mit den Händchen, hielt sichdaran, und so gingen sie ihres Weges.

Die Unglücksäule hatten sie noch immernicht erreicht. Der Knabe konnte die Zeitnicht ermessen, weil keine Sonne am Him-mel stand, und weil es immer gleichmäßig

grau war.

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"Werden wir bald zu der Unglücksäulekommen?" fragte Sanna.

"Ich weiß es nicht", antwortete der Knabe,

"ich kann heute die Bäume nicht sehen undden Weg nicht erkennen, weil er so weiß ist.Die Unglücksäule werden wir wohl garnicht sehen, weil so viel Schnee liegen wird,daß sie verhüllt sein wird, und daß kaum

ein Gräschen oder ein Arm des schwarzenKreuzes hervorragen wird. Aber es machtnichts. Wir gehen immer auf dem Wegefort, der Weg geht zwischen den Bäumen,

und wenn er zu dem Platze der Unglück-säule kommt, dann wird er abwärtsgehen,wir gehen auf ihm fort, und wenn er ausden Bäumen hinausgeht, dann sind wirschon auf den Wiesen von Gschaid, dannkommt der Steg, und dann haben wir nichtmehr weit nach Hause."

"Ja, Konrad", sagte das Mädchen.

Sie gingen auf ihrem aufwärtsführendenWege fort. Die hinter ihnen liegenden

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Fußstapfen waren jetzt nicht mehr langesichtbar; denn die ungemeine Fülle desherabfallenden Schnees deckte sie bald zu,daß sie verschwanden. Der Schnee knistertein seinem Falle nun auch nicht mehr in denNadeln, sondern legte sich eilig und heim-lich auf die weiße schon darlegende Deckenieder. Die Kinder nahmen die Kleider

noch fester, um das immerwährende all-seitige Hineinrieseln abzuhalten.

Sie gingen sehr schleunig, und der Wegführte noch stets aufwärts.

Nach langer Zeit war noch immer dieHöhe nicht erreicht, auf welcher dieUnglücksäule stehen sollte, und von wo derWeg gegen die Gschaider Seite sich hinun-

terwenden mußte.Endlich kamen die Kinder in eine Gegend,in welcher keine Bäume standen.

"Ich sehe keine Bäume mehr", sagte

Sanna.

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wir saßen, und wo wir den Rasen be-trachteten, der nacheinander hinaufgeht,und wo die schönen Kräuterbüschel wach-sen. Wir werden da jetzt gleich rechtshinabgehen.""Ja, Konrad."

"Der Tag ist kurz, wie die Großmuttergesagt hat und wie du auch wissen wirst,wir müssen uns daher sputen.'""Ja, Konrad", sagte das Mädchen.

"Warte ein wenig, ich will dich besser ein-richten", erwiderte der Knabe.

Er nahm seinen Hut ab, setzte ihn Sannaauf das Haupt und befestigte ihn mit denbeiden Bändchen unter ihrem Kinne. DasTüchlein, welches sie umhatte, schützte sie

zu wenig, während auf seinem Haupte einesolche Menge dichter Locken war, daß nochlange Schnee darauf fallen konnte, eheNässe und Kälte durchzudringen vermocht-

en. Dann zog er sein Pelzjäckchen aus und

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selber nur einen immer kleineren Kreis umsie zog und dann in einen lichten, streifen-weise niederfallenden Nebel überging, derjedes Weitere verzehrte und verhüllte Undzuletzt nichts anderes war als der unersätt-lich niederfallende Schnee.

"Warte, Sanna", sagte der Knabe, "wirwollen ein wenig stehen bleiben und

horchen, ob wir nicht etwas hören können,was sich im Tale meldet, sei es nun einHund oder eine Glocke oder die Mühle,oder sei es ein Ruf, der sich hören läßt,

hören müssen wir etwas, und dann werdenwir wissen, wohin wir zu gehen haben."

Sie blieben nun stehen, aber sie hörtennichts. Sie blieben noch ein wenig länger

stehen, aber es meldete sich nichts, es warnicht ein einziger Laut, auch nicht derleiseste außer ihrem Atem zu vernehmen, jain der Stille, die herrschte, war es, als soll-ten sie den Schnee hören, der auf ihre

Wimpern fiel. Die Voraussage der

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Großmutter hatte sich noch immer nichterfüllt, der Wind war nicht gekommen, jawas in diesen Gegenden selten ist, nicht dasleiseste Lüftchen rührte sich an dem ganzenHimmel.Nachdem sie lange gewartet hatten, gingen

sie wieder fort.

"Es tut auch nichts, Sanna", sagte derKnabe, "sei nur nicht verzagt, folge mir, ichwerde dich doch noch hinüberführen. -Wenn nur das Schneien aufhörte!"

Sie war nicht verzagt, sondern hob die

Füßchen, so gut es gehen wollte, und folgteihm. Er führte sie in dem weißen, lichten,regsamen, undurchsichtigen Raume fort.

Nach einer Weile sahen sie Felsen. Sie

hoben sich dunkel und undeutlich aus demweißen und undurchsichtigen Lichte em-por. Da die Kinder sich näherten, stießensie fast daran. Sie stiegen wie eine Mauer

hinauf und waren ganz gerade, so daßkaum ein Schnee an ihrer Seite haften

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konnte. "Sanna, Sanna", sagte er, "da sinddie Felsen, gehen wir nur weiter, gehen wirweiter."

Sie gingen weiter, sie mußten zwischen dieFelsen hinein und unter ihnen fort. DieFelsen ließen sie nicht rechts und nichtlinks ausweichen und führten sie in einemengen Wege dahin. Nach einer Zeit verloren

sie dieselben wieder und konnten sie nichtmehr erblicken. So wie sie unversehensunter sie gekommen waren, kamen siewieder unversehens von ihnen. Es war

wieder nichts um sie als das Weiß, undringsum war kein unterbrechendes Dunkelzu schauen. Es schien eine große Lichtfüllezu sein, und doch konnte man nicht dreiSchritte vor sich sehen; alles war, wennman so sagen darf, in eine einzige weißeFinsternis gehüllt, und weil kein Schattenwar, so war kein Urteil über die Größe derDinge, und die Kinder konnten nicht wis-

sen, ob sie aufwärts oder abwärts gehen

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würden, bis eine Steilheit ihren Fuß faßteund ihn aufwärts zu gehen zwang.

"Mir tun die Augen weh", sagte Sanna.

"Schaue nicht auf den Schnee", antworteteder Knabe, "sondern in die Wolken. Mir tunsie schon lange weh; aber es tut nichts, ichmuß doch auf den Schnee schauen, weil ichauf den Weg zu achten habe. Fürchte dichnur nicht, ich führe dich doch hinunter insGschaid."

"Ja, Konrad."

Sie gingen wieder fort; aber wie sie auchgehen mochten, wie sie sich auch wendenmochten, es wollte kein Anfang zum Hinab-wärtsgehen kommen. An beiden Seitenwaren steile Dachlehnen nach aufwärts,

mitten gingen sie fort, aber auch immeraufwärts. Wenn sie den Dachlehnen en-trannen und sie nach abwärts beugten,wurde es gleich so steil, daß sie wieder

umkehren mußten, die Füßlein stießen oft

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auf Unebenheiten, und sie mußten häufigBüheln ausweichen.

Sie merkten auch, daß ihr Fuß, wo er tiefer

durch den jungen Schnee einsank, nicht er-digen Boden unter sich empfand, sondernetwas anderes, das wie älterer, gefrornerSchnee war; aber sie gingen immer fort,und sie liefen mit Hast und Ausdauer.

Wenn sie stehen blieben, war alles still, un-ermeßlich still; wenn sie gingen, hörten siedas Rascheln ihrer Füße, sonst nichts; denndie Hüllen des Himmels sanken ohne Laut

hernieder und so reich, daß man den Sch-nee hätte wachsen sehen können. Sie selberwaren so bedeckt, daß sie sich von demallgemeinen Weiß nicht hervorhoben undsich, wenn sie um ein paar Schrittegetrennt worden wären, nicht mehr gese-hen hätten.

Eine Wohltat war es, daß der Schnee sotrocken war wie Sand, so daß er von ihren

Füßen und den Bundschühlein und

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Körper auch schief oder gerade aufwärts, sohoch wie der Kirchturm in Gschaid oderwie Häuser. In einigen waren Höhleneingefressen, durch die man mit einemArme durchfahren konnte, mit einemKopfe, mit einem Körper, mit einem ganzengroßen Wagen voll Heu. Alle diese Stückewaren zusammen- oder emporgedrängt

und starrten, so daß sie oft Dächer bildetenoder Oberhänge, über deren Ränder sichder Schnee herüberlegte und herabgriff wielange, weiße Tatzen. Selbst ein großer,

schreckhaft schwarzer Stein, wie ein Haus,lag unter dem Eise und war emporgestellt,daß er auf der Spitze stand, daß kein Sch-nee an seinen Seiten liegen bleiben konnte.Und nicht dieser Stein allein -- noch mehr-

ere und größere staken in dem Eise, dieman erst später sah, und die wie eineTrümmermauer an ihm hingen.

"Da muß recht viel Wasser gewesen sein,

weil so viel Eis ist", sagte Sanna.

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"Nein, das ist von keinem Wasser", ant-wortete der Bruder, "das ist das Eis desBerges, das immer oben ist, weil es so ein-gerichtet ist."

"Ja, Konrad", sagte Sanna.

"Wir sind jetzt bis zu dem Eise gekom-men", sagte der Knabe, "wir sind auf demBerge, Sanna, weißt du, den man von un-serem Garten aus im Sonnenscheine soweiß sieht. Merke gut auf, was ich dir sagenwerde. Erinnerst du dich noch, wie wir oftnachmittags in dem Garten saßen, wie es

recht schön war, wie die Bienen um unssummten, die Linden dufteten und dieSonne von dem Himmel schien?"

"Ja, Konrad, ich erinnere mich."

"Da sahen wir auch den Berg. Wir sahen,wie er so blau war, so blau wie das sanfteFirmament, wir sahen den Schnee, deroben ist, wenn auch bei uns Sommer war,

eine Hitze herrschte und die Getreide reif wurden."

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"Ja, Konrad."

"Und unten, wo der Schnee aufhört, dasieht man allerlei Farben, wenn man genau

schaut, grün, blau, weißlich - das ist dasEis, das unten nur so klein ausschaut, weilman sehr weit entfernt ist, und das, wie derVater sagte, nicht weggeht bis an das Endeder Welt. Und da habe ich oft gesehen, daß

unterhalb des Eises die blaue Farbe nochfortgeht, das werden Steine sein, dachteich, oder es wird Erde und Weidegrundsein, und dann fangen die Wälder an, die

gehen herab und immer weiter herab, mansieht auch allerlei Felsen in ihnen, dann fol-gen die Wiesen, die schon grün sind, unddann die grünen Laubwälder, und dannkommen unsere Wiesen und Felder, die indem Tale von Gschaid sind. Siehst du nun,Sanna, weil wir jetzt bei dem Eise sind, sowerden wir über die blaue Farbe hinabge-hen, dann durch die Wälder, in denen die

Felsen sind, dann über die Wiesen, und

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ihren Füßen hatten sie glattes Eis. In derganzen Höhlung aber war es blau, so blau,wie gar nichts in der Welt ist, viel tiefer undviel schöner blau als das Firmament,gleichsam wie himmelblau gefärbtes Glas,durch welches Lichter Schein hineinsinkt.Es waren dickere und dünnere Bogen, eshingen Zacken, Spitzen und Troddeln

herab, der Gang wäre noch tiefer zurück-gegangen, sie wußten nicht wie tief, aber siegingen nicht mehr weiter. Es wäre auchsehr gut in der Höhle gewesen, es war

warm, es fiel kein Schnee, aber es war soschreckhaft blau, die Kinder fürchtetensich, und gingen wieder hinaus. Sie gingeneine Weile in dem Graben fort und kletter-ten dann über seinen Rand hinaus.

Sie gingen an dem Eise hin, sofern es mög-lich war, durch das Getrümmer und zwis-chen den Platten durchzudringen.

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"Wir werden jetzt da noch hinübergehenund dann von dem Eise abwärts laufen",sagte Konrad.

"Ja", sagte Sanna und klammerte sich anihn an.

Sie schlugen von dem Eise eine Richtungdurch den Schnee abwärts ein, die sie indas Tal führen sollte. Aber sie kamen nichtweit hinab. Ein neuer Strom von Eis,gleichsam ein riesenhaft aufgetürmter undaufgewölbter Wall, lag quer durch denweichen Schnee und griff gleichsam mit Ar-

men rechts und links um sie herum. Unterder weißen Decke, die ihn verhüllte, glim-merte es seitwärts grünlich und bläulichund dunkel und schwarz und selbst gelblich

und rötlich heraus. Sie konnten es nun auf weitere Strecken sehen, weil das ungeheureund unermüdliche Schneien sich gemilderthatte und nur mehr wie an gewöhnlichenSchneetagen vom Himmel fiel. Mit dem

Starkmute der Unwissenheit kletterten sie

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in das Eis hinein, um den vorgeschobenenStrom desselben zu überschreiten unddann jenseits weiter hinabzukommen. Sieschoben sich in die Zwischenräume hinein,sie setzten den Fuß auf jedes Körperstück,das mit einer weißen Schneehaube verse-hen war, war es Fels oder Eis, sie nahmendie Hände zur Hilfe, krochen, wo sie nicht

gehen konnten, und arbeiteten sich mitihren leichten Körpern hinauf, bis sie dieSeite des Walles überwunden hatten undoben waren. jenseits wollten sie wieder

hinabklettern.Aber es gab kein Jenseits.

So weit die Augen der Kinder reichen kon-nten, war lauter Eis. Es standen Spitzen

und Unebenheiten und Schollen empor wielauter furchtbares, überschneites Eis. Stattein Wall zu sein, über den man hinüberge-hen könnte und der dann wieder von Sch-nee abgelöst wurde, wie sie sich unten

dachten, stiegen aus der Wölbung neue

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Wände von Eis empor, geborsten undgeklüftet, mit unzähligen blauen geschlän-gelten Linien versehen, und hinter ihnenwaren wieder solche Wände, und hinterdiesen wieder solche, bis der Schneefall dasWeitere mit seinem Grau verdeckte."Sanna, da können wir nicht gehen", sagteder Knabe.

"Nein", antwortete die Schwester."Da werden wir wieder umkehren und an-

derswo hinabzukommen suchen."

"Ja, Konrad."

Die Kinder versuchten nun von demEiswalle wieder da hinabzukommen, wo siehinaufgeklettert waren, aber sie kamennicht hinab. Es war lauter Eis, als hätten sie

die Richtung, in der sie gekommen waren,verfehlt. Sie wandten sich hierhin und dor-thin und konnten aus dem Eise nichtherauskommen, als wären sie von ihm um-

schlungen. Sie kletterten abwärts und ka-men wieder in Eis. Endlich, da der Knabe

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die Richtung immer verfolgten in der sienach seiner Meinung gekommen waren,gelangten sie in zerstreutere Trümmer,aber sie waren auch größer und furcht-barer, wie sie gerne am Rande des Eises zusein pflegen, und die Kinder gelangtenkriechend und kletternd hinaus. An demEisessaume waren ungeheure Steine, sie

waren gehäuft, wie sie die Kinder ihr Lebenlang nicht gesehen hatten. Viele waren inWeiß gehüllt, viele zeigten die unterenschiefen Wände sehr glatt und feingeschlif-

fen, als wären sie darauf geschobenworden, viele waren wie Hütten und Däch-er gegeneinandergestellt, viele lagen aufein-ander wie ungeschlachte Knollen. Nichtweit von dem Standorte der Kinder standen

mehrere mit den Köpfen gegeneinandergelehnt, und über sie lagen breite, gelagerteBlöcke wie ein Dach. Es war ein Häuschen,das gebildet war, das gegen vorne offen,

rückwärts und an den Seiten aber geschätzt

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war. Im Innern war es trocken, da dersteilrechte Schneefall keine einzige Flockehineingetragen hatte. Die Kinder warenrecht froh, daß sie nicht mehr in dem Eisewaren und auf ihrer Erde standen.Aber es war auch endlich finster

geworden.

"Sanna", sagte der Knabe, "wir könnennicht mehr hinabgehen, weil es Nacht ge-worden ist, und weil wir fallen oder gar ineine Grube geraten könnten. Wir werden daunter die Steine hineingehen, wo es trocken

und so warm ist, und da werden wirwarten. Die Sonne geht bald wieder auf,dann laufen wir hinunter. Weine nicht, ichbitte dich recht schön, weine nicht, ich gebe

dir alle Dinge zu essen, welche uns dieGroßmutter mitgegeben hat."

Sie weinte auch nicht, sondern, nachdemsie beide unter das steinerne Überdachhineingegangen waren, wo sie nicht nur be-quem sitzen, sondern auch stehen und

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herumgehen konnten, setzte sie sich rechtdicht an ihn und war mäuschenstille.

"Die Mutter", sagte Konrad, "wird nicht

böse sein, wir werden ihr von dem vielenSchnee erzählen, der uns aufgehalten hat,und sie wird nichts sagen; der Vater auchnicht. Wenn uns kalt wird - weißt du - dannmußt du mit den Händen an deinen Leib

schlagen, wie die Holzhauer getan haben,und dann wird dir wärmer werden."

"Ja, Konrad", sagte das Mädchen.

Sanna wär nicht gar so untröstlich, daß sie

heute nicht mehr über den Berg hinabgin-gen und nach Hause liefen, wie er etwaglauben mochte; denn die unermeßlicheAnstrengung, von der die Kinder reicht ein-

mal gewußt hatten, wie groß sie gewesensei, ließ ihnen das Sitzen süß, unsäglich süßerscheinen, und sie gaben sich hin.

Jetzt machte sich aber auch der Hunger

geltend. Beide nahmen fast zu gleicher Zeitihre Brote aus den Taschen und aßen sie.

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Sie aßen auch die Dinge - kleine StückchenKuchen, Mandeln und Nüsse und andereKleinigkeiten - die die Großmutter ihnen indie Tasche gesteckt hatte.

"Sanna, jetzt müssen wir aber auch denSchnee von unsern Kleidern tun," sagte derKnabe, "daß wir nicht naß werden."

"Ja, Konrad", erwiderte Sanna.

Die Kinder gingen aus ihrem Häuschen,und zuerst reinigte Konrad das Schwester-lein von Schnee. Er nahm die Kleiderzipfel,schüttelte sie, nahm ihr den Hut ab, den er

ihr aufgesetzt hatte, entleerte ihn von Sch-nee, und was noch zurückgeblieben war,das stäubte er mit einem Tuche ab. Dannentledigte er auch sich, so gut es ging, des

auf ihm liegenden Schnees.Der Schneefall hatte zu dieser Stunde ganz

aufgehört. Die Kinder spürten keine Flocke.

Sie gingen wieder in die Steinhütte und

setzten sich nieder. Das Aufstehen hatte

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Die Nacht brach mit der in großen Höhengewöhnlichen Schnelligkeit herein. Baldwar es ringsherum finster, nur der Schneefuhr fort, mit seinem. bleichen Lichte zuleuchten. Der Schneefall hatte nicht nuraufgehört, sondern der Schleier an demHimmel fing auch an, sich zu verdünnenund zu verteilen; denn die Kinder sahen ein

Sternlein blitzen. Weil der Schnee wirklichgleichsam ein Licht von sich gab, und weilvon den Wolken kein Schleier mehr herab-hing, so konnten die Kinder von ihrer

Höhle aus die Schneehügel sehen, wie siesich in Linien von dem dunkeln Himmelabschnitten. Weil es in der Höhle vielwärmer war, als es an jedem andern Platzeim ganzen Tage gewesen war, so ruhten die

Kinder enge aneinander sitzend und ver-gaßen sogar die Finsternis zu fürchten. Baldvermehrten sich auch die Sterne, jetzt kamhier einer zum Vorscheine, jetzt dort, bis es

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doch, von den vielen Lichtern, die heute indem Tale brannten, kam nicht ein einzigeszu ihnen herauf; sie sahen nichts als denblassen Schnee und den dunkeln Himmel,alles andere war ihnen in die unsichtbareFerne hinabgerückt. In allen Tälern beka-men die Kinder in dieser Stunde die Ges-chenke des heiligen Christ: nur die zwei

saßen oben am Rande des Eises, und dievorzüglichsten Geschenke, die sie heutehätten bekommen sollen, lagen in ver-siegelten Päckchen in der Kalbfelltasche im

Hintergrunde der Höhle.Die Schneewolken waren ringsum hinterdie Berge hinabgesunken, und ein ganzdunkelblaues, fast schwarzes Gewölbespannte sich um die Kinder voll von dicht-en, brennenden Sternen, und mitten durchdiese Sterne war ein schimmerndes,breites, milchiges Band gewoben, das siewohl auch unten im Tale, aber nie so deut-

lich gesehen hatten. Die Nacht rückte vor.

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Die Kinder wußten nicht, daß die Sterne ge-gen Westen rücken und weiter wandeln,sonst hätten sie an ihrem Vorschreiten denStand der Nacht erkennen können; aber eskamen neue und gingen die alten, sie aberglaubten, es seien immer dieselben. Eswurde von dem Scheine der Sterne auchLichter um die Kinder; aber sie sahen kein

Tal, keine Gegend, sondern überall nurWeiß - lauter Weiß. Bloß ein dunkles Horn,ein dunkles Haupt, ein dunkler Arm wurdesichtbar und ragte dort und hier aus dem

Schimmer empor. Der Mond war nirgendsam Himmel zu erblicken, vielleicht war erschon frühe mit der Sonne untergegangen,oder er ist noch nicht erschienen.

Als eine lange Zeit vergangen war, sagteder Knabe: "Sanna, du mußt nicht schlafen;denn weißt du, wie der Vater gesagt hat,wenn man im Gebirge schläft, muß man er-frieren, so wie der alte Eschenjäger auch

geschlafen hat und vier Monate tot auf dem

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Steine gesessen ist, ohne daß jemandgewußt hatte, wo er sei."

"Nein, ich werde nicht schlafen", sagte das

Mädchen matt.Konrad hatte es an dem Zipfel des Kleidesgeschüttelt, um es zu jenen Worten zuerwecken.

Nun war es wieder stille.Nach einer Zeit empfand der Knabe einsanftes Drücken gegen seinen Arm, das im-mer schwerer wurde. Sanna war eingesch-lafen und war gegen ihn herübergesunken.

"Sanna, schlafe nicht, ich bitte dich, sch-lafe nicht", sagte er.

"Nein", lallte sie schlaftrunken, "ich sch-lafe nicht."

Er rückte weiter von ihr, um sie in Bewe-gung zu bringen, allein sie sank um undhätte auf der Erde liegend fortgeschlafen.Er nahm sie an der Schulter und rüttelte

sie. Da er sich dabei selber etwas stärker

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bewegte, merkte er, daß ihn friere und daßsein Arm schwerer sei. Er erschrak undsprang auf. Er ergriff die Schwester, schüt-telte sie stärker und sagte: "Sanna, steheein wenig auf, wir wollen eine Zeit stehen,daß es besser wird."

"Mich friert nicht, Konrad", antwortete sie.

"Ja, ja, es friert dich, Sanna, stehe auf",rief er."Die Pelzjacke ist warm", sagte sie.

"Ich werde dir empor helfen", sagte er.

"Nein", erwiderte sie und war stille.Da fiel dem Knaben etwas anderes ein. DieGroßmutter hatte gesagt: Nur einSchlückchen wärmt den Magen so, daß esden Körper in den kältesten Wintertagennicht frieren kann.Er nahm das Kalbfellränzchen, öffnete es

und Griff so lange, bis er das Fläschchenfand, in welchem die Großmutter der Mut-

ter einen schwarzen Kaffeeabsud schicken

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wollte. Er nahm das Fläschchen heraus, tatden Verband weg und öffnete mit An-strengung den Kork. Dann bückte er sich zuSanna und sagte: "Da ist der Kaffee, den dieGroßmutter der Mutter schickt, koste ihnein wenig, er wird dir warm machen. DieMutter gibt ihn uns, wenn sie nur weiß,wozu wir ihn nötig gehabt haben."

Das Mädchen, dessen Natur zur Ruhe zog,antwortete: "Mich friert nicht."

"Nimm nur etwas", sagte der Knabe, "danndarfst du schlafen."

Diese Aussicht verlockte Sanna, sie be-wältigte sich so weit, daß sie das fast einge-gossene Getränk verschluckte. Hierauf trank der Knabe auch etwas.

Der ungemein starke Auszug wirktesogleich, und zwar um so heftiger, da dieKinder in ihrem Leben keinen Kaffeegekostet hatten. Statt zu schlafen, wurde

Sanna nun lebhafter und sagte selber, daßsie friere, daß es aber von innen recht warm

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sei und auch schon in die Hände und Füßegehe. Die Kinder redeten sogar eine Weilemiteinander.

So tranken sie trotz der Bitterkeit immerwieder von dem Getränke, sobald dieWirkung nachzulassen begann, und steiger-ten ihre unschuldigen Nerven zu einemFieber, das imstande war, den zum Schlum-

mer ziehenden Gewichten entgegen zuwirken.

Es war nun Mitternacht gekommen. Weilsie noch so jung waren und an jedem heili-

gen Abende in höchstem Drange derFreude stets erst sehr spät entschlummer-ten, wenn sie nämlich der körperlicheDrang übermannt hatte, so hatten sie nie

das mitternächtliche Läuten der Glocken,nie die Orgel der Kirche gehört, wenn dasFest gefeiert wurde, obwohl sie nahe an derKirche wohnten. In diesem Augenblicke derheutigen Nacht wurde un mit allen Glocken

geläutet, es läuteten die Glocken in

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Millsdorf, es läuteten die Glocken in Gs-chaid, und hinter dem Berge war noch einKirchlein mit drei hellen, klingendenGlocken, die läuteten.

In den fernen Ländern draußen waren un-zählige Kirchen und Glocken, und mit allenwurde zu dieser Zeit geläutet, von Dorf zuDorf ging die Tonwelle, ja man konnte wohl

zuweilen von einem Dorfe zum anderndurch die blätterlosen Zweige das Läutenhören: nur zu den Kindern herauf kam keinLaut, hier wurde nichts vernommen; denn

hier war nichts zu verkündigen. In denTalkrümmen gingen jetzt an den Berghän-gen die Lichter der Laternen hin, und vonmanchem Hofe tönte das Hausglöcklein,um die Leute zu erinnern; aber dieses kon-nte um so weniger herauf gesehen und ge-hört werden, es glänzten nur die Sterne,und sie leuchteten und funkelten ruhig fort.

Wenn auch Konrad sich das Schicksal des

erfrornen Eschenjägers vor Augen hielt,

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wenn auch die Kinder das Fläschchen mitdem schwarzen Kaffee fast ausgeleert hat-ten, wodurch sie ihr Blut zu größererTätigkeit brachten, aber Gerede dadurcheine folgende Ermattung herbeizogen: sowürden sie den Schlaf nicht haben über-winden können, dessen verführendeSüßigkeit alle Gründe überwiegt, wenn

nicht die Natur in ihrer Größe ihnen bei-gestanden wäre und in ihrem Innern eineKraft aufgerufen hätte, welcher imstandewar, dem Schlafe zu widerstehen.

In der ungeheueren Stille, die herrschte, inder Stille, in der sich kein Schneespitzchenzu rühren schien, hörten die Kinder dreim-al das Krachen des Eises. Was das Starrstescheint und doch das Regsamste undLebendigste ist, der Gletscher, hatte dieTöne hervorgebracht. Dreimal hörten siehinter sich den Schall, der entsetzlich war,als ob die Erde entzweigesprungen wäre,

der sich nach allen Richtungen im Eise

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gewesen war, geschah etwas anderes. Esfing der Himmel an, heller zu werden, lang-sam heller, aber doch zu erkennen; eswurde seine Farbe sichtbar, die bleichstenSterne erloschen, und die anderen standennicht mehr so dicht. Endlich wichen auchdie stärkeren, und der Schnee vor denHöhen wurde deutlicher sichtbar. Zuletzt

färbte sich eine Himmelsgegend gelb, undein Wolkenstreifen, der in derselben war,wurde zu einem leuchtenden Faden entzün-det. Alle Dinge waren klar zu sehen, und die

entfernten Schneehügel zeichneten sichscharf in die Luft.

"Sanna, der Tag bricht an", sagte derKnabe.

"Ja, Konrad", antwortete das Mädchen."Wenn es nur noch ein bißchen hellerwird, dann gehen wir aus der Höhle undlaufen über den Berg hinunter."

Es wurde heller, an dem ganzen Himmelwar kein Stern mehr sichtbar, und alle

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Gegenstände standen in der Morgendäm-merung da.

"Nun, jetzt gehen wir", sagte der Knabe.

"Ja, wir gehen", antwortete Sanna.Die Kinder standen auf und versuchten

ihre erst heute recht müden Glieder. Ob-wohl sie nichts geschlafen hatten, waren sie

doch durch den Morgen gestärkt, wie dasimmer so ist. Der Knabe hing sich das Kalb-fellränzchen um und machte dasPelzjäckchen an Sanna fester zu. Dannführte er sie aus der Höhle.

Weil sie nach ihrer Meinung nur über denBerg hinabzulaufen hatten, dachten sie ankein Essen und untersuchten das Ränzchennicht, ob noch Weißbrote oder andere

Eßwaren darinnen seien.Von dem Berge wollte nun Konrad, weil

der Himmel ganz heiter war, in die Tälerhinabschauen, um das Gschaider Tal zu

erkennen und in dasselbe hinunterzugehen.

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Aber er sah gar keine Täler. Es war nicht,als ob sie sich auf einem Berge befänden,von dem man hinabsieht, sondern in einerfremden, seltsamen Gegend, in der lauterunbekannte Gegenstände sind. Sie sahenheute auch in größerer Entfernung furcht-bare Felsen aus dem Schnee emporstehen,die sie gestern nicht gesehen hatten, sie

sahen das Eis, sie sahen Hügel und Sch-neelehnen emporstarren, und hinter diesenwar entweder der Himmel oder es ragte dieblaue Spitze eines sehr fernen Berges am

Schneerande hervor.In diesem Augenblicke ging die Sonne auf.

Eine riesengroße, blutrote Scheibe erhobsich an dem Schneesaume in den Himmel,

und in dem Augenblicke errötete der Sch-nee um die Kinder, als wäre er mit Million-en Rosen überstreut worden. Die Kuppenund die Hörner warfen sehr lange grünlicheSchatten längs des Schnees.

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glattem Eise fortgingen, sie sahen hie undda Stücke, die immer mehr wurden, diesich näher an sie drängten und die siewieder zu klettern zwangen.

Aber sie verfolgten doch ihre Richtung.

Sie kletterten neuerdings an Blöcken em-por. Da standen sie wieder auf dem Eis-felde. Heute bei der hellen Sonne konntensie erst erblicken, was es ist. Es war unge-heuer groß, und jenseits standen wiederschwarze Felsen empor, es ragte gleichsamWelle hinter Welle auf, das beschneite Eis

war gedrängt, gequollen, emporgehoben,gleichsam als schöbe es sich nach vorwärtsund flösse gegen die Brust der Kinder her-an. In dem Weiß sahen sie unzählige vor-

wärtsgehende geschlängelte blaue Linien.Zwischen jenen Stellen, wo die Eiskörpergleichsam wie aneinandergeschmettertstarrten, gingen auch Linien wie Wege,aber sie waren weiß und waren Streifen, wo

sich fester Eisboden vorfand, oder die

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Stücke doch nicht gar so sehr verschobenwaren. In diese Pfade gingen die Kinderhinein, weil sie doch einen Teil des Eisesüberschreiten wollten, um an den Bergrandzu gelangen und endlich einmal hinun-terzusehen. Sie sagten kein Wörtlein. DasMädchen folgte dem Knaben. Aber es warauch heute wieder Eis, lauter Eis. Wo sie

hinüber gelangen wollten, wurde es gleich-sam immer breiter und breiter. Da schlugensie, ihre Richtung aufgebend den Rückwegein. Wo sie nicht gehen konnten, griffen sie

sich durch die Mengen des Schneeshindurch, der oft dicht vor ihrem Augewegbrach und den sehr blauen Streifen ein-er Eisspalte zeigte, wo doch früher allesweiß gewesen war; aber sie kümmerten sich

nicht darum, sie arbeiteten sich fort, bis siewieder irgendwo aus dem Eiseherauskamen.

"Sanna", sagte der Knabe, "wir werden gar

nicht mehr in das Eis hineingehen, weil wir

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in demselben nicht fortkommen. Und weilwir schon in unser Tal gar nicht hinabsehenkönnen, so werden wir gerade über denBerg hinabgehen. Wir müssen in ein Talkommen, dort werden wir den Leutensagen, daß wir aus Gschaid sind, die wer-den uns einen Wegweiser nach Hausemitgeben."

"Ja, Konrad", sagte das Mädchen.So begannen sie nun in dem Schnee nach

jener Richtung abwärts zu gehen, welchesich ihnen eben darbot. Der Knabe führte

das Mädchen an der Hand. Allein nachdemsie eine Weile abwärts gegangen waren,hörte in dieser Richtung das Gehänge auf,und der Schnee stieg wieder empor. Also

änderten die Kinder die Richtung und gin-gen nach der Länge einer Mulde hinab.Aber da fanden sie wieder Eis. Sie stiegenalso an der Seite der Mulde empor, umnach einer anderen Richtung ein Abwärts

zu suchen. Es führte sie eine Fläche hinab,

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Der Knabe sagte diesen Gedanken demSchwesterchen, und diese folgte. Alleinauch der Weg auf den Hals hinab war nichtzu finden.

So klar die Sonne schien, so schön die Sch-neehöhen dastanden und die Schneefelderdalagen, so konnten sie doch die Gegendennicht erkennen, durch die sie gestern

heraufgegangen waren. Gestern war allesdurch den fürchterlichen Schneefall ver-hängt gewesen, daß sie kaum einige Sch-ritte vor sich gesehen hatten, und da war

alles ein einziges Weiß und Grau durchein-ander gewesen. Nur die Felsen hatten siegesehen, an denen und zwischen denen siegegangen waren: allein auch heute hattensie bereits viele Felsen gesehen, die alle dennämlichen Anschein gehabt hatten wie diegestern gesehenen. Heute ließen sie frischeSpuren in dem Schnee zurück; aber gesternsind alle Spuren von dem fallenden Schnee

verdeckt worden. Auch aus dem bloßen

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Anblicke konnten sie nicht erraten, welcheGegend auf den Hals führe, da alle Ge-genden gleich waren. Schnee, lauter Sch-nee. Sie gingen aber doch immer fort undmeinten, es zu erringen. Sie wichen densteilen Abstürzen aus und kletterten keinesteilen Anhöhen hinauf.

Auch heute blieben sie öfter stehen, um zu

horchen; aber sie vernahmen auch heutenichts, nicht den geringsten Laut. Zu sehenwar auch nichts als der Schnee, der helleweiße Schnee, aus dem hie und da die

schwarzen Hörner und die schwarzenSteinrippen emporstanden.

Endlich war es dem Knaben, als sähe erauf einem fernen schiefen Schneefelde ein

hüpfendes Feuer. Es tauchte auf, es tauchtenieder. jetzt sahen sie es, jetzt sahen sie esnicht. Sie blieben stehen und blickten un-verwandt auf jene Gegend hin. Das Feuerhüpfte immer fort, und es schien, als ob es

näher käme; denn sie sahen es größer und

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sahen das Hüpfen deutlicher. Es ver-schwand nicht mehr so oft und nicht mehrauf so lange Zeit wie früher. Nach einerWeile vernahmen sie in der stillen, blauenLuft schwach, sehr schwach etwas wie ein-en lang anhaltenden Ton aus einem Hirten-borne. Wie aus Instinkt schrieen beideKinder laut. Ich einer Zeit hörten sie den

Ton wieder. Sie schrieen wieder undblieben auf der nämlichen Stelle stehen.Das Feuer näherte sich auch. Der Tonwurde zum dritten Male vernommen, und

dieses Mal deutlicher. Die Kinder antwor-teten wieder durch lautes Schreien. Nacheiner geraumen Welle erkannten sie auchdas Feuer. Es war kein Feuer, es war einerote Fahne, die geschwungen wurde.

Zugleich ertönte das Hirtenborn näher, unddie Kinder antworteten.

"Sanna", rief der Knabe, "da kommenLeute aus Gschaid, ich kenne die Fahne, es

ist die rote Fahne, welche der fremde Herr,

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der mit dem jungen Eschenjäger den Garsbestiegen hatte, auf dem Gipfel aufpflanzte,daß sie der Herr Pfarrer mit dem Fernrohresähe, was als Zeichen gälte daß sie oben sei-en, und welche Fahne damals der fremdeHerr dem Herrn Pfarrer geschenkt hat. Duwarst noch ein recht kleines Kind."

"Ja, Konrad."

Nach einer Zeit sahen die Kinder auch dieMenschen, die bei der Fahne waren, kleineschwarze Stellen, die sich zu bewegenschienen. Der Ruf des Hornes wiederholte

sich von Zeit zu Zeit und kam immer näher.Die Kinder antworteten jedes Mal.

Endlich sahen sie über den Schneeabhanggegen sich her mehrere Männer mit ihren

Stöcken herabfahren, die die Fahne in ihrerMitte hatten. Da sie näher kamen, erkan-nten sie dieselben. Es war der Hirt Philippmit dem Horne, seine zwei Söhne, dann derjunge Eschenjäger und mehrere Bewohnervon Gschaid.

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"Gebenedeit sei Gott", schrie Philipp, "daseid ihr ja. Der ganze Berg ist voll Leute.Laufe doch einer gleich in die Sideralpehinab und läute die Glocke, daß die dorthören, daß wir sie gefunden haben, undeiner muß auf den Krebsstein gehen unddie Fahne dort aufpflanzen, daß sie dieselbein dem Tale sehen und die Böller ab-

schießen, damit die es wissen, die im Mills-dorfer Walde suchen, und damit sie in Gs-chaid die Rauchfeuer anzünden, die in derLuft gesehen werden und alle, die noch auf 

dem Berge sind, in die Sideralpe hin-abbedeuten. Das sind Weihnachten!"

"Ich laufe in die Alpe hinab", sagte einer.

"Ich trage die Fahne auf den Krebsstein",

sagte ein anderer."Und wir werden die Kinder in die Sider-alpe hinabbringen, so gut wir es vermögen,und so gut uns Gott helfe", sagte Philipp.

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Ein Sohn Philipps schlug den Weg nachabwärts ein, und der andere ging mit derFahne durch den Schnee dahin.

Der Eschenjäger nahm das Mädchen beider Hand, der Hirt Philipp den Knaben. Dieandern Halfen, wie sie konnten. So begannman den Weg. Er ging in Windungen. Baldgingen sie nach einer Richtung, bald schlu-

gen sie die entgegengesetzte ein, bald gin-gen sie abwärts, bald aufwärts. Immer ginges durch Schnee, immer durch Schnee, unddie Gegend blieb sich beständig gleich.

Ober sehr schiefe Flächen taten sie Steigeis-en an die Füße und trugen die Kinder. End-lich nach länger Zeit hörten sie einGlöcklein, das sanft und fein zu ihnenheraufkam und das erste Zeichen war, dasihnen die niederen Gegenden wiederzusandten. Sie mußten wirklich sehr tief herabgekommen sein; denn sie sahen einSchneehaupt recht hoch und recht blau

über sich ragen. Das Glöcklein aber, das sie

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hörten, war das der Sideralpe, das geläutetwurde, weil dort die Zusammenkunft ver-abredet war. Da sie noch weiter kamen,hörten sie auch schwach in die stille Luftdie Böllerschüsse herauf, die infolge derausgesteckten Fahne abgefeuert wurden,und sahen dann in die Luft feine Rauchsäu-len aufsteigen. Da sie nach einer Weile über

eine sanfte, schiefe Fläche abgingen,erblickten sie die Sideralphütte. Sie gingenauf sie zu. In der Hütte brannte ein Feuer,die Mutter der Kinder war da, und mit

einem furchtbaren Schrei sank sie in denSchnee zurück, als sie die Kinder mit demEschenjäger kommen sah.

Dann lief sie herzu, betrachtete sie überall,wollte ihnen zu essen geben, wollte sie wär-men, wollte sie in vorhandenes Heu legen;aber bald überzeugte sie sich, daß dieKinder durch die Freude stärker seien, alssie gedacht hatte, daß sie nur einiger warm-

er Speise bedurften, die sie bekamen, und

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daß sie nur ein wenig ausruhen mußten,was ihnen ebenfalls zuteil werden sollte.

Da nach einer Zeit der Ruhe wieder eine

Gruppe Männer über die Schneefläche her-abkam, während das Hüttenglöcklein im-mer fortläutete, liefen die Kinder selber mitden anderen hinaus, um zu sehen, wer essei. Der Schuster war es, der einstige Alpen-

steiger, mit Alpenstock und Steigeisen, beg-leitet von seinen Freunden undKameraden.

"Sebastian, da sind sie", schrie das Weib.

Er aber war stumm, zitterte und lief auf siezu. Dann rührte er die Lippen, als wollte eretwas sagen, sagte aber nichts, riß dieKinder an sich und hielt sie lange. Dann

wandte er sich gegen sein Weib, schloß esan sich und rief. "Sanna, Sanna!"

Nach einer Weile nahm er den Hut, derihm in den Schnee gefallen war, auf, trat

unter die Männer und wollte reden. Er

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sagte aber nur: "Nachbarn, Freunde, ichdanke euch."

Da man noch gewartet hatte, bis die

Kinder sich zur Beruhigung erholt hatten,sagte er: "Wenn wir alle beisammen sind,so können wir in Gottes Namenaufbrechen."

"Es sind wohl noch nicht alle", sagte derHirt Philipp, "aber die noch abgehen, wis-sen aus dem Rauche, daß wir die Kinderhaben, und sie werden schon nach Hausegehen, wenn sie die Alphütte leer finden."

Man machte sich zum Aufbruche bereit.Man war auf der Sideralphütte nicht gar

weit von Gschaid entfernt, aus dessen Fen-stern man im Sommer recht gut die grüne

Matte sehen konnte, auf der die graueHütte mit dem kleinen Glockentürmleinstand; aber es war unterhalb eine fallrechteWand, die viele Klafter hoch hinabging,

und auf der man im Sommer nur mitSteigeisen, im Winter gar nicht

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hinabkommen konnte. Man mußte daherden Umweg zum Halse machen, um vonder Unglücksäule aus nach Gschaid hin-abzukommen. Auf dem Wege gelangte manüber die Siderwiese, die noch näher an Gs-chaid ist, so daß man die Fenster des Dör-fleins zu erblicken meinte.

Als man über diese Wiese ging, tönte hell

und deutlich das Glöcklein der GschaiderKirche herauf, die Wandlung des heiligenHochamtes verkündend.

Der Pfarrer hatte wellen der allgemeinen

Bewegung, die am Morgen in Gschaid war,die Abhaltung des Hochamtes verschoben,da er dachte, daß die Kinder zumVorscheine kommen würden. Allein end-

lich, da noch immer keine Nachricht ein-traf, mußte die heilige Handlung dochvollzogen werden.

Als das Wandlungsglöcklein tönte, sankenalle, die über die Siderwiese gingen, auf dieKnie in den Schnee und beteten. Als der

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Klang des Glöckleins aus war, standen sieauf und gingen weiter.

Der Schuster trug meistens das Mädchen

und ließ sich von ihm alles erzählen.Als sie schon gegen den Wald des Halseskamen, trafen sie Spuren, von denen derSchuster sagte: "Das sind keine Fußstapfenvon Schuhen meiner Arbeit."

Die Sache klärte sich bald auf. Wahr-scheinlich durch die vielen Stimmen, dieauf dem Platze tönten, angelockt, kamwieder eine Abteilung Männer auf die Her-

abgehenden zu. Es war der aus Angstaschenhaft entfärbte Färber, der an derSpitze seiner Knechte, seiner Gesellen undmehrerer Millsdorfer bergab kam.

"Sie sind über das Gletschereis und überdie Schründe gegangen, ohne es zu wissen",rief der Schuster seinem Schwiegervater zu.

"Da sind sie ja - da sind sie ja - Gott sei

Dank", antwortete der Färber, "ich weiß es

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schon, daß sie oben waren, als dein Bote inder Nacht zu uns kam und wir mit Lichternden ganzen Wald durchsucht und nichts ge-funden hatten - und als dann das Morgen-grau anbrach, bemerkte ich an dem Wege,der von der roten Unglücksäule links gegenden Schneeberg hinanführt, daß dort, woman eben von der Säule weggeht, hin und

wieder mehrere Reiserchen und Rütchengeknickt sind, wie Kinder gerne tun, wo sieeines Weges gehen - da wußte ich es - dieRichtung ließ sie nicht mehr aus, weil sie in

der Höhlung gingen, weil sie zwischen denFelsen gingen, und weil sie dann auf demGrat gingen, der rechts und links so steil ist,daß sie nicht hinabkommen konnten. Siemußten hinauf. Ich schickte nach dieser

Beobachtung gleich nach Gschaid, aber derHolzknecht Michael, der hinüberging, sagtebei der Rückkunft, da er uns fast am Eiseoben traf, daß ihr sie schon habet, weshalb

wir wieder heruntergingen."

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"Ja", sagte Michael, "ich habe es gesagt,weil die rote Fahne schon auf demKrebssteine steckt und die Gschaider diesesals Zeichen erkannten, das verabredetworden war. Ich sagte euch, daß auf diesemWege da alle herabkommen müssen, weilman über die Wand nicht gehen kann."

"Und kniee nieder und danke Gott auf den

Knien, mein Schwiegersohn", fuhr derFärber fort, "daß kein Wind gegangen ist.Hundert Jahre werden wieder vergehen,daß ein so wunderbarer Schneefall nieder-

fällt, und daß er gerade niederfällt, wie nas-se Schnüre von einer Stange hängen. Wäreein Wind gegangen, so wären die Kinderverloren gewesen."

"Ja, danken wir Gott, danken wir Gott",sagte der Schuster.

Der Färber, der seit der Ehe seiner Tochternie in Gschaid gewesen war, beschloß, dieLeute nach Gschaid zu begleiten.

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Da man schon gegen die rote Unglücksäulezukam, wo der Holzweg begann, warteteein Schlitten, den der Schuster auf alle Fälledahin bestellt hatte. Man tat die Mutterund die Kinder hinein, versah sie hin-reichend mit Decken und Pelzen, die imSchlitten waren, und ließ sie nach Gschaidvorausfahren.

Die anderen folgten und kamen am Nach-mittage in Gschaid an.

Die, welche noch auf dem Berge gewesenwaren und erst durch den Rauch das Rück-

zugszeichen erfahren hatten, fanden sichauch nach und nach ein. Der letzte, welchererst am Abende kam, war der Sohn desHirten Philipp, der die rote Fahne auf den

Krebsstein getragen und sie dort aufgep-flanzt hatte.

In Gschaid wartete die Großmutter, welcheherübergefahren war.

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"Nie, nie", rief sie aus, "dürfen die Kinderin ihrem ganzen Leben mehr im Winterüber den Hals gehen."

Die Kinder waren von dem Getriebebetäubt. Sie hatten noch etwas zu essenbekommen, und man hatte sie in das Bettgebracht. Spät gegen Abend, da sie sich einwenig erholt hatten, da einige Nachbarn

und Freunde sich in der Stube eingefundenhatten und dort von dem Ereignisse rede-ten, die Mutter aber in der Kammer an demBettchen Sannas saß und sie streichelte,

sagte das Mädchen: "Mutter, ich habe heutenachts, als wir auf dem Berge saßen, denheiligen Christ gesehen."

"O du mein geduldiges, du mein liebes, du

mein herziges Kind", antwortete die Mut-ter, "er hat dir auch Gaben gesendet, die dubald bekommen wirst."

Die Schachteln waren ausgepackt worden,die Lichter waren angezündet, die Tür indie Stube wurde geöffnet, und die Kinder

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sahen von dem Bette auf den verspäteten,hell leuchtenden, freundlichen Christbaumhinaus. Trotz der Erschöpfung mußte mansie noch ein wenig ankleiden, daß sie hin-ausgingen, die Gaben empfingen, bewun-derten und endlich mit ihnen entschliefen.

In dem Wirtshause in Gschaid war es andiesem Abende lebhafter als je. Alle, die

nicht in der Kirche gewesen waren, warenjetzt dort, und die andern auch. jedererzählte, was er gesehen und gehört, was ergetan, was er geraten und was für Begegn-

isse und Gefahren er erlebt hat. Besondersaber wurde hervorgehoben, wie man alleshätte anders und besser machen können.

Das Ereignis hat einen Abschnitt in die

Geschichte von Gschaid gebracht, es hat auf lange den Stoff zu Gesprächen gegeben,und man wird noch nach Jahren davon re-den, wenn man den Berg an heitern Tagenbesonders deutlich sieht, oder wenn man

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den Fremden von seinen Merkwürdigkeitenerzählt.

Die Kinder waren von dem Tage an erst

recht das Eigentum des Dorfes geworden,sie wurden von nun an nicht mehr alsAuswärtige, sondern als Eingeborne be-trachtet, die man sich von dem Berge her-abgeholt hatte. Auch ihre Mutter Sanna war

nun eine Eingeborne von Gschaid.Die Kinder aber werden den Berg nicht

vergessen und werden ihn jetzt noch ern-ster betrachten, wenn sie in dem Garten

sind, wenn wie in der Vergangenheit dieSonne sehr schön scheint, der Lindenbaumduftet, die Bienen summen und er so schönund so blau wie das sanfte Firmament auf 

sie herniederschaut.

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Ende


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