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MAGAZIN FÜR MOBILITÄT # 02 / 2011

Bethany hamilton SuRFeN MIT NuR eINeM ARM alBert llovera ReNNFAhReR IM ROLLSTuhL aimee mullins SchöNheITSIdeAL MIT hANdIcAp reisen BARRIeReFReIe deSTINATIONeN Beruf BehINdeRuNG MuSS keIN MANkO SeIN Gesellschaft uSA, LANd deR uNBeSchRÄNkTeN(ZuGANGS-)MöGLIchkeITeN?

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Cover: Bethany Hamilton / Foto: Noah Hamilton

Aller guten Dinge sind zwei. Vorerst. Denn nachdem die erste Ausgabe des Autonomy Magazins ein so überaus positives Feedback von Lesern, Institutionen und auch Medien-auszeichnungen erhalten hat, machte die Arbeit an dieser Ausgabe noch mehr Spaß als ohnehin schon. Die Frage eines themenfremden Kollegen: „Ein Lifestyle-Magazin für Menschen mit körperlichen Behinderungen – ist es nicht schwer, gute Inhalte dafür zu finden?“ konnten wir ohne zu zögern verneinen. Im Gegenteil! Da während der aktuellen Recherche schon wieder so viele potentielle Artikelideen gesammelt, interessante Men-schen getroffen und neue Perspektiven gewonnen wurden, wünschen wir an dieser Stelle viel Spaß mit Ausgabe #2, und wir sorgen inzwischen dafür, dass das einleitende Sprich-wort beim nächsten Heft in seiner gewohnten Version verwendet wird. Die Autonomy-Redaktion

INTRO

Inhalt

04 Medien / Bücher, Filme, Magazine

05 Termine / Wo ist was los?

06 Sport / Albert Llovera: Rennfahrer im Rollstuhl

09 Menschen / Rund um den Globus

10 Sport / Bethany Hamilton: Surfen mit nur einem Arm

13 Gedankengang / Vom Geben und Nehmen als Behinderter

14 City-Check / Ein Tag in Berlin. Wie barrierefrei ist die Hauptstadt?

17 Car-Check / Was kann der Fiat Doblò mit Hochdach?

18 Personality / Nick Vujicic: Keine Beine, keine Arme, keine Sorgen

20 Blickfang / Dürfen wir vorstellen...

22 Berufsleben / Warum Behinderung im Job kein Nachteil sein muss

24 Gesellschaft / USA, Land der unbegrenzten (Zugangs-)Möglichkeiten?

27 Reisen / Barrierefreie Destinationen

28 Personality / Erwin Aljukic: Was kommt nach „Marienhof“?

30 Zum Schluss / Über das Handicap von Schönheitsidealen

31 Impressum

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TermineMedien

Behinderte (nicht nur) für dummies

annäherunG im Bärenkostüm

ein mann, ein Bein, ein Buch

radeln für die Gute sacheDas Thema Behinderung in den Medien. Ein Auszug.

21.-24. rehacare. Internationale Fachmesse und Kongress für Rehabilitation, Pflege, Prävention und Integration in Düsseldorf. www.rehacare.de 24.-25. Zweiter „moBicup - nord“ in Flensburg. Die größte integrative Sport- und Gesundheits-Aktionsmesse in Schleswig-Holstein. www.mobi-cup-nord.de

01. Erster Spieltag der ersten rollstuhlBasketBall - Bundesliga. www.rbbl.de

07.-08. Deutsche Meisterschaft im tischtennis für Senioren und Allgemeinbehinderte in Geroldsgrün, Bayern. www.dbs-npc.de 21.-23. rollstuhltanz-Festival in Duisburg/Wedau. www.bsnw.de

02.-03. 13. Fachmesse und Kongress des Sozialmarktes („consozial“) im Messezentrum Nürnberg. www.consozial.de 26. Deutsche Meisterschaft für Verbandsmannschaften im G-Judo in Berlin. www.dbs-npc.de 26.-27. Deutsche Kurzbahn-Meisterschaft im schwimmen in Remscheid. www.dbs-npc.de 03. Internationaler taG der menschen mit BehinderunG 21.-22. Finale der ersten rollstuhlBasketBall - Bundesliga. www.rbbl.de 05. Europäischer protesttaG zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung 15.-18. orthopädie und reha-technik 2012 in Leipzig. www.ot-leipzig.de 20.-26. special olympics national summer Games in München. Teil der weltweit größten, vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) offiziell anerkannten Sport- bewegung für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Über 4.500 Athletinnen und Athleten werden in 20 Sportarten hauptsächlich im Münchener Olympiagelände gegeneinander antreten. www.specialolympics.de

septemBer

novemBer

oktoBer

dezemBer

april

mai

Das preisgekrönte Gesellschaftsmagazin „Dummy“ widmet sich

vierteljährlich unter dem Motto „Jedesmal neu. Jedesmal anders.“

grundlegenden Themen wie „Liebe“, „Freiheit“ oder „Glauben“.

Im März 2011 erschien das Magazin unter dem Titel „Behinderte“.

„Hau ab, ich schaff‘ das schon allein“ oder „Hundestellung klappt

sehr gut“ – in manchem Artikel wagten sich die Autoren an Themen

heran, die im Medienalltag sonst leider oft ausgespart werden.

In Gesprächen „mit kranken Schwestern über Sex“, Erfahrungsbe-

richten aus dem Rollstuhl oder einem Artikel über Behindertendis-

cos wird hier in die Tiefe gegangen, anstatt oberflächlich schön zu

färben. Auch wenn uns nicht alle Ansätze zu Begeisterungsstürmen

hingerissen haben, wünschen wir uns doch: mehr! Bitte viel mehr

davon! Diese und weitere Ausgaben des Dummy Magazins sind

unter www.dummy-magazin.de zu bestellen.

Wie er da so in der Züricher Fußgängerzone steht, der Unbekannte

in seinem hellbraunen, flauschigen Bärenkostüm mit der pinken

Schnauze und dem breiten Lachen auf dem Gesicht, kann man

gar nicht anders, als ihn zu umarmen. Groß und Klein, Jung und

Alt, alle knuddeln, drücken und herzen den Stoffbären. Der „Kom-

men Sie näher“- Bär ist der Star der neuen Kampagne von „Pro

Infirmis“, der Schweizer Fachorganisation für behinderte Menschen.

Die Idee, die dahinter steckt: Berührungsängste überwinden und

die unsichtbare Wand durchbrechen, die immer noch zwischen

gesunden und körperlich oder geistig eingeschränkten Menschen

steht. Denn am Ende des Videoclips lüftet der Bär sein Geheimnis.

Er nimmt den Kopf ab und offenbart, dass ein junger Mann mit

Behinderung in dem Kostüm steckt. Der Slogan darunter: „Müssen

wir uns verkleiden, damit wir uns näher kommen?“ Ein ergreifender

Spot, der wachrüttelt. Den Link zum Video gibt es auf unserer

Webseite unter www.fiatautonomy.de

Na, haben Sie ihn erkannt? Genau, das ist Mario Galla, der schö-

ne Hamburger, von dem wir schon in der letzten Ausgabe die

Augen nicht lassen konnten. Nun veröffentlicht das Model sein

erstes Buch. In „Mit einem Bein im Model Business: Wie ich trotz

Handicap zum Model wurde“ erzählt er von seinen positiven und

negativen Erfahrungen im Umgang mit seiner Behinderung in der

Modeszene. Er geht aber auch auf besondere Ereignisse seines

Lebens wie langwierige Krankenhausaufenthalte, seine erste

große Liebe oder die Abiturzeit ein. „Die Message ist generell‚ live

your dream‘, egal welche Einschränkungen du hast, oder welche

Steine dir im Weg liegen. Du kannst das vermeintlich Unmögliche

erreichen“, beschreibt Mario die Botschaft seines Erstlingswerks.

Das Vorwort wurde vom Modemacher Michael Michalsky verfasst,

welcher Mario die Möglichkeit bot, auf dem Laufsteg der Berliner

Fashionweek 2010 erstmals sein Handicap selbstbewusst in kur-

zen Hosen zu präsentieren. „Mit einem Bein im Model Business“

ist am 19. September 2011 im Mosaik Verlag erschienen.

2.643 Kilometer in 36 Tagen. Diese beachtliche Strecke durch

Deutschland, Dänemark, Holland und Polen legten Sportler mit

und ohne Handicap auf Fahrrädern und Handbikes in diesem

Frühjahr zurück. Unter dem Motto „Inklusion beginnt im Kopf“ hieß

es für die Teilnehmer der „R4H mobil“-Tour strampeln, schwitzen

und immer wieder an die eigenen körperlichen Grenzen gehen.

Athleten und R4H-Botschafter, wie der paralympische Winter-

sportler Josef Giesen oder die Rollstuhlbasketball-Weltmeisterin

Heidi Kirste sind Vorbilder und wollen Menschen mit und ohne

Handicap dazu animieren, selbst aktiv zu sein. Denn sie sind sich

einig: Durch sportliche Aktivitäten – egal welcher Art und welchen

Umfangs – können viele Missstände und Probleme seelischen und

körperlichen Ursprungs überwunden werden. Für das kommende

Jahr steht eine Tour mit einer Gesamtstrecke von 5.000 Kilome-

tern auf dem Programm. Neben Deutschland und Dänemark soll

die Strecke auch durch Österreich, Italien und die Schweiz bis

nach England führen. Aus England wird das vereinseigene Projekt

„R4H – das Radio für barrierefreie Köpfe“ im Anschluss dann zwei

Wochen lang täglich live von den Paralympischen Sommerspielen

2012 berichten. Alle weiteren Informationen zur „R4H mobil“-Tour

gibt es unter www.r4h-mobil.de.

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SportSport

Albert, du warst schon immer sehr aktiv, bist schon früh bei Skiwettbewerben mitgefahren und hast sogar an den Olym-pischen Spielen teilgenommen, bevor du als Teenager bei einem Skirennen verunglückt bist. Du scheinst generell ein sehr ehrgeiziger Mensch zu sein, oder?

Ich habe Sport schon immer des Wettbewerbs und Gewinnens wegen gemacht. das ist mir angeboren. In meiner Jugend habe ich auf den parkplätzen der Skigebiete immer kleine Auto- rennen mitgemacht und war da ganz gut, also lag Motorsport wohl irgendwie nahe [lacht]. es ist übrigens nicht ungewöhn-lich, dass gute Skifahrer auch gute Autorennfahrer sind, denn Ski- und Motorsport sind sich in Bezug auf Linienführung, ins Schleudern geraten und so weiter ziemlich ähnlich.

Was braucht ein guter Rennfahrer?

er muss natürlich in erster Linie gut fahren können. die theoretische und mentale Vorbereitung auf ein Rennen ist aber nicht minder wichtig. und dann braucht er noch ein gutes Team, einen starken Sponsor und selbstverständlich jede Menge Geld!

Erzähl uns mehr über dein Team.

Mein Team ist mindestens genauso wichtig oder sogar noch wichtiger als ich. Ohne meine crew wäre ich heute zwei-felsohne nicht da, wo ich bin. Mein Team besteht aus drei Mechanikern, einem chefmechaniker, einer koordinatorin, einem Ingenieur, einem Trainer, der mich körperlich fit macht, einer physiotherapeutin und einer presseabteilung.

Was ist die Aufgabe des Kopiloten?

der kopilot ist äußerst wichtig. er muss mir nicht nur die Streckenspezifika ansagen, sondern auch eng mit dem Inge-nieur und dem restlichen Team zusammenarbeiten, um die Zeiten zu kontrollieren. Wir müssen ein sehr gutes Verhältnis zueinander haben, denn während der Wettbewerbe sind wir manchmal 23 Stunden am Tag zusammen. eine Stunde ist dafür reserviert, getrennt auf die Toilette zu gehen [lacht].Wir sind beinahe wie ein ehepaar! Mein momentaner kopilot ist diego Vallejo, der im Jahr zuvor mit dani Sordo gefahren ist. Wir verstehen uns wirklich sehr gut und ich fühle mich wohl an seiner Seite.

Wie würdest du die Beziehung zu deinem Auto beschreiben?

Mein Auto ist unentbehrlich für mich. Ich kenne meinen Fiat in- und auswendig. er gefällt mir ungemein. Anders als eine Frau keift mich mein Auto nie an. es will eher immer mehr und ich gebe ihm, was es will... [lacht].

Du nimmst an der Rallye-Weltmeisterschaft teil und bist auch schon die Rallye von Dakar mitgefahren. Welches Rennen hat dir bisher am besten gefallen?

die Rallye Mexiko. das ist ein sehr kompliziertes Rennen, weil es auf über 2.000 Höhenmetern stattfindet, aber die Straßen und die Streckenführung begeistern mich einfach. Außerdem legt sich das publikum dort wahnsinnig ins Zeug. es ist toll, so eine energie von den Leuten zu spüren.

Hast du das Gefühl, dass du in irgendeiner Art anders behandelt wirst?

Nein, ganz im Gegenteil. Ich fühle mich wie einer von ihnen, gänzlich ebenbürtig. Ich habe die unterstützung der besten piloten der Welt wie Loeb, Solberg, Al-Attiyah oder Gassner.

Was ist das für ein Gefühl, wenn du bei einem Rennen Vollgas gibst?

Das ist einfach wahnsinnig cool. Völlig ausflippen könnte ich da! Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals dahin komme, wo ich jetzt bin, und schon gar nicht zum Rallyefahren. Ich bin wirklich glücklich.

Autorennen werden ja als etwas sehr Hartes und Männliches angesehen, während eine Behinderung von vielen Menschen als Schwäche betrachtet wird. Wie hat die Rennsportszene auf dich reagiert?

Zuerst waren die Leute überrascht, aber dann erhielt ich jede Menge unterstützung, Anerkennung und Bewunderung.

„wir sind beinahe wie ein ehepaar!“

Inwiefern hast du es als querschnittsgelähmter Fahrer schwerer?

die Weltmeisterschaftsrennen sind körperlich sehr anstrengend und erfordern eine intensive Vorbereitung. Mit meinen Schal-tungen und Armaturen zur handbedienung und dem Rollstuhl im Wagen, wiegt dieser noch mal 70 kilo mehr und das merkt man natürlich.

Ist dein Auto auch ein Mittel, um deine Einschränkung zu egalisieren? Quasi: Du kannst zwar nicht laufen aber hinter dem Steuer sind alle gleich?

Auf jeden Fall. Genau das ist es, was ich will. Ich empfinde es schon so, dass wir alle auf dem gleichen Level fahren, obwohl es offensichtlich ist, dass nur mit den händen zu fahren etwas anderes ist, als auch seine Beine einsetzen zu können. der kraftaufwand in den Armen, händen und Fingern ist enorm.

Willst du, dass das bei deinen Ergebnissen berücksichtigt wird oder willst du auch in dieser Hinsicht nicht, dass ein Unter-schied zwischen dir und den anderen Fahrern gemacht wird?

es gefällt mir, wenn meine erfolge unabhängig von meiner Behinderung betrachtet werden. Aber ich verstehe, wenn sie aufgrund meiner persönlichen umstände vielleicht höher gewertet werden.

Text: Anke Eberhardt / Fotos: www.albertllovera.com

alBert llovera

rennsport ist was für echte männer. harte kerle, die vor lauter ps und potenz nach dem aussteigen kaum laufen können und sich auch im straßenverkehr von Geschwindigkeitsbegrenzungen nichts sagen lassen – so das klischee. wenn albert llovera in seinem rennwagen um eine kurve schießt und wahlweise staub, kies oder wasser durch die luft wirbelt, sieht man ihn schon einer hostess bei der siegerehrung auf den po klatschen. wenn albert aus seinem auto steigt, stemmt er sich jedoch zunächst in einen rollstuhl. er ist der erste und einzige körperlich eingeschränkte rennfahrer, der bei der rallye-weltmeisterschaft wrc an den start gehen und mit nicht behinderten fahrern unter gleichen wettbewerbsbedingungen Gas geben darf. deswegen kann es aber trotzdem passieren, dass er einem schönen Boxenmädchen nicht nur Blicke hinter-herwirft, denn der mann aus andorra hat mindestens so viel selbstvertrauen wie ps.

„mobilität ist für mich gleichbedeutend mit freiheit.“

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Berufsleben

Du gibst außerdem Fahrtrainings für Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Was ist hierbei wichtig?

Theorie und Praxis sind gleich bedeutsam. Ich finde einen passenden Sitz enorm wichtig und die Füße müssen, je nach höhe der Rückenmarksverletzung, richtig befestigt sein, um krämpfe zu vermeiden. Ich betone immer wieder, dass man sich dessen, was man macht und was man in den händen hält, sehr bewusst sein muss.

Es wurde auch ein Dokumentarfilm über dich gedreht, in dem unter anderem der Hollywood-Schauspieler Javier Bardem zu sehen ist. Wie war die Zusammenarbeit mit ihm?

Wir haben uns während der dreharbeiten kennengelernt. das war wirklich toll. Javier ist ein witziger Typ, ein bisschen ungehobelt, so wie ich. Ich habe sehr schöne erinnerungen an die gemeinsamen Momente und unterhaltsamen Abendessen, die sich bis in die Morgenstunden ausdehnten.

Wie würdest du dich selbst beschreiben?

Als sehr „klein“ [lacht], da ich ja immer im Rollstuhl unter-wegs bin. ein bisschen verrückt, humorvoll, immer zu Scher- zen aufgelegt und durchaus partybegeistert. Ich habe auch immer Spaß auf dem Podium und flitze den hübschen Hostes- sen hinterher oder mache pirouetten und drehungen mit meinem Rollstuhl. das gefällt auch dem publikum immer sehr. Ich halte mich weder für Superman noch für invalide. Ich habe lediglich Selbstvertrauen, die Bereitschaft sehr hart zu arbeiten und den nötigen kampfgeist, um Schwierig- keiten zu überwinden. Ich kenne und akzeptiere meine einschränkung und davon ausgehend habe ich mir meine eigenen Ziele gesteckt und Träume verfolgt.

Was bedeutet Mobilität für dich?

Mobilität ist für mich gleichbedeutend mit Freiheit. Überall-hin gelangen zu können und auch dinge zu machen, die man niemals gedacht hätte zu schaffen.

Fährst du auf normalen Straßen auch sehr schnell, oder ist das ein Rennfahrer-Klischee?

In meinem Fall ist das kein klischee. Ich bin nicht leicht-sinnig, aber ich fahre einfach sehr gerne Auto.

Weitere Infos zu Albert finden sich auf www.albertllovera.com, dort ist auch der Teaser seines spanischen Dokumentarfilms „Las Alas del Fénix“ („Die Flügel des Phönix“) zu sehen.

Du arbeitest auch an Umrüstungslösungen für Autos mit, richtig?

Zusammen mit Guidosimplex Italia haben wir die Schaltungen sowohl für mein Straßen- als auch für mein Rallyeauto gebaut und weiterentwickelt. Ich fahre schließlich Tausende und aber Tausende kilometer, dabei teste ich die Schaltungen und brin-ge danach Tipps und Verbesserungsvorschläge in den entwick-lungsprozess ein. es ist für Menschen, die im Rollstuhl sitzen oder eine Gehhilfe haben, sehr wichtig Auto zu fahren und diese unabhängigkeit erleben zu können.

„mein auto ist un-entbehrlich für mich. ich kenne meinen fiat in- und aus-wendig. er gefällt mir ungemein.“

8 Menschen9

Früher arbeitete der Fotograf Rick Guidotti mit weltbekannten

Models wie Cindy Crawford und Claudia Schiffer. Doch irgendwann

hatte der Amerikaner genug von der Scheinwelt Mode und begann,

sich für die Schönheit ganz normaler Menschen zu interessieren.

„Redefining Beauty“ hieß seine erste Fotostrecke zum Thema

Albinismus, die 1998 im renommierten „Life Magazine“ erschien

und für so viel Begeisterung sorgte, dass Guidotti beschloss, eine

Stiftung zu gründen. „Positive Exposure“ hat es sich zum Ziel

gesetzt, auf das Leben von Menschen mit Gendefekten aufmerk-

sam zu machen. Mit Fotoausstellungen auf der ganzen Welt will die

Organisation ihre Message in alle Teile der Gesellschaft transpor-

tieren: Ein anderes Äußeres ist kein Stigma, sondern Ausdruck der

menschlichen Vielfalt. Die neueste Idee, das „Pearls Project“, soll

Toleranz dort fördern, wo Anderssein oftmals soziales Exil bedeu-

tet: in Schulen. Guidotti fotografierte elf junge Erwachsene mit

unterschiedlichen Behinderungen und stellte die Bilder Schulklas-

sen zur Verfügung, die im Unterricht darüber diskutierten und mit

den Betroffenen in Kontakt treten konnten. Dank des großen

Erfolges wird das Projekt demnächst auf weitere Schulen in den

USA ausgeweitet und wir würden uns wünschen, dass es bald

auch nach Deutschland kommt.

Nicht einmal sechzig Sekunden lang bebte die Erde am 12. Januar

2010 in Haiti und verwüstete das ohnehin arme Land verheerend.

Auch das Leben von Fabienne Jean veränderte sich schlagartig,

als die junge Frau beim Versuch aus ihrer Wohnung zu fliehen,

unter Trümmern begraben wurde. Sie überlebt, doch ihr musste

das rechte Bein unterhalb des Knies amputiert werden. Eine

Katastrophe für jeden Menschen, doch ein noch größerer Schlag

für Jean, schließlich war sie bis zu diesem Zeitpunkt Primaballerina

am Nationaltheater in Port-au-Prince. Doch bereits als sie die

ersten Schritte auf Krücken machte und mit ihrem Gleichgewicht

kämpfte, hatte sie nur ein Ziel: wieder zu tanzen. Heute ist sie

aufgrund des Einsatzes einer Hilfsorganisation wieder gesund und

kann dank einer speziell für sie angefertigten Prothese und ihres

unbändigen Willens endlich wieder tanzen.

Der Neuseeländer Mark Inglis lebt nach dem Motto: „Um einen

Traum zu verwirklichen, musst du den ersten Schritt machen und

dann einfach immer weitergehen.“ Dass das nicht immer leicht

ist, weiß kaum jemand besser als er. Als 23-Jähriger wurden ihm

beide Beine knapp unterhalb der Knie amputiert, nachdem er zwei

Wochen in einer Schneehöhle auf Neuseelands höchstem Berg,

dem Mt. Cook, überlebt hatte. Aber wie alle leidenschaftlichen

Bergsteiger ist Inglis es gewohnt, sich Herausforderungen zu stel-

len und neue Gipfel zu erobern. „Mir wurde schnell klar, dass ich

meine Träume verwirklichen kann, wenn ich in jeder Situation den

Vorteil sehe, nicht den Nachteil.“ Gesagt, getan. 2006 erfüllte er

sich seinen Lebenstraum und bestieg als erster Mensch mit zwei

Beinprothesen den Mount Everest. Seitdem reist er um die Welt

und erzählt als Motivationsredner seine Geschichte. Am liebsten

ist er aber noch immer im Himalaya unterwegs, wo er als Berg-

führer Touren rund um den höchsten Berg der Welt anbietet.

„Scharf nach links, holprig, holprig, holprig!“ schreit jemand, Fahr-

geräusche, die auf eine hohe Geschwindigkeit schließen lassen,

sind zu hören, der Bildschirm ist schwarz. So beginnt ein Film

über Bobby McMullen. „The Way Bobby Sees It“ ist eine Doku-

mentation über den Mountainbiker aus Kalifornien und beginnt

genau damit, was er bei einer Abfahrt sieht: nichts. (Zu sehen auf

www.rideblindracing.com) McMullen erblindete 1993 innerhalb

nur eines Monats aufgrund einer Diabetes-Erkrankung. Vorange-

gangen waren Jahre der Dialyse und zwei Nieren- und Bauch-

speicheldrüsentransplantationen. Trotzdem tat McMullen alles

andere, als seinen Körper zu schonen und hat sich bis heute

bei diversen Sportarten mehr Knochen gebrochen, als er zählen

kann. Er lernte, mit einem Guide Ski zu fahren, war Mitglied des

US-Abfahrtsteams und Teilnehmer der Paralympics. Im Sommer

tauscht er die Ski inzwischen gegen das Mountainbike und nimmt

als einziger Mountainbiker mit eingeschränkter Sehfähigkeit an

irrsinnig waghalsigen Rennen wie dem „Megavalanche“ in Frank-

reich teil. Bei diesem Rennen starten 1.000 Fahrer zur gleichen

Zeit und legen auf einer Strecke von 30 Kilometern mehr als

3.000 Höhenmeter zurück. Völlig hirnverbrannt einerseits,

überaus bewundernswert andererseits.

fotokünstler

primaBallerina

Gipfelstürmer

trailmeister

Foto: Matthew Mallory

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Personality10 11

als Bethany hamilton ihren linken arm verlor, spürte sie keinen schmerz. sie schrie auch nicht. Alles, was sie sagte, war: „Ich glaube, ich wurde gerade von einem Hai gebissen.“ Dann fing sie an, auf ihrem surfboard in richtung strand zu paddeln.

Sport

Text : Melanie Schönthier / Fotos: Noah Hamilton

Bethany hamilton

„surfen ist mein leben“

Bis zu diesem Tag galt die damals 13-Jährige als eine der talen-tiertesten Nachwuchs-Surferinnen Amerikas. Aufgewachsen auf der hawaiianischen Insel kauai, stand sie bereits mit vier Jahren das erste Mal auf einem Surfboard, mit acht gewann sie ihren ersten Wettbewerb, Sponsorenverträge folgten. Bethanys chancen, bald als professionelle Surferin ihren Lebensunter-halt zu verdienen, standen gut. Jede freie Minute verbrachte sie im Wasser, manchmal surfte sie sogar von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Nicht einmal die Schule musste sie dafür schwänzen, denn ihre eltern, beide leidenschaftliche Surfer, hatten das Talent ihrer Tochter früh erkannt und unterrich-teten sie zu hause. So konnte Bethany morgens surfen und nachmittags lernen. Ihr Ziel war es, einmal Weltmeisterin im Wellenreiten zu werden. durchaus möglich, wie Rainos hayes, ehemaliger Profi-Surfer und Coach der hawaiianischen Surf-Nationalmannschaft, damals fand: „In ihrer Altersklasse gibt es kein Mädchen, das besser surft“.

doch dann kam der 31. Oktober 2003. Bethany sah den fünf Meter langen Tigerhai nicht kommen, obwohl das Wasser kris-tallklar war. Sie kannte die Bucht von Tunnels Beach gut, denn der bei Surfern beliebte Strand an der Nordküste kauais liegt nur 20 Minuten Autofahrt vom haus der hamiltons entfernt. die Wellen brechen hier rund 400 Meter vor dem ufer über ein seichtes korallenriff und vom Wasser aus hat man einen atem-beraubenden Ausblick auf die zerklüfteten, üppig bewachsenen Berge der Napali coast. Bereits im Morgengrauen war Bethany gemeinsam mit ihrer besten Freundin Alana, deren Bruder und Vater hinaus gepaddelt und wartete auf ihrem Surfboard liegend

BH

auf die nächste Welle, als sie aus dem Augenwinkel einen grauen Schatten wahrnahm. „Man denkt, es würde wehtun, wenn einem der Arm abgebissen wird“, erinnert sie sich. „Aber alles, was ich spürte, war ein Schlag und ein Rütteln. dann färbte sich das Wasser um mich herum rot und ich sah, dass mein Arm knapp unterhalb der Schulter abgetrennt war.“ kein Schmerz, kein Schrei – Bethany begann einfach nur, mechanisch in Richtung Strand zu paddeln, so als wäre nichts geschehen. Alanas Vater half ihr, indem er ihr Surfbrett immer wieder anschob, trotzdem dauerte der Weg zurück fast 15 Minuten. Bethany kam es vor wie eine halbe ewigkeit: „erst als ich merkte, wie stark mein Arm blutete und wie weit wir noch vom ufer entfernt waren, bekam ich Angst. plötzlich wurde mir bewusst, dass ich sterben könnte.“ Am Strand band ihr Alanas Vater den Arm mit der Leine seines Surf-boards ab und rettet ihr so wahrscheinlich das Leben.

„Wann kann ich wieder surfen?“, war Bethanys erster Satz, als sie aus der Narkose erwachte. eigentlich standen die chancen schlecht, dass sie jemals wieder eine Welle reiten würde. Sie hatte 60 prozent ihres Blutes und den linken Arm verloren. Aber die Wunde verheilte schnell. Bereits nach einer Woche konnte sie das krankenhaus verlassen und einen Monat später stand sie wieder auf dem Surf- board. „es war wie nach einer langen Reise nach hause zurückzukehren“, erzählt sie. „Surfen ist einfach mein Leben. Ich hatte viel größere Angst davor, den Sport auf- geben zu müssen, als noch einmal von einem hai ange- griffen zu werden.“

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Gedankengang

vom GeBen & nehmen oder: ist man als behinderter mensch

immer in der Bringschuld?Text: Hiltrud Walter / Foto: Ragnar Schmuck

In letzter Zeit ist viel von kapital die Rede. hier soll es aber nicht um Staatshaushalt und Wirtschaftskrise gehen, sondern um den sozialen Gewinn und Verlust, den wir als Mensch jeden Tag mit einem unsichtbaren handschlag besiegeln. un-sere persönlichen Beziehungen sind genauso ökonomisch und zweckorientiert wie die wirtschaftlichen. Wir leben in einer Austauschgesellschaft, denn obwohl Nächstenliebe, hilfsbe-reitschaft und Selbstlosigkeit als erstrebenswerte eigenschaf-ten geschätzt werden, beruht jeder kontakt auf dem unausge-sprochenen kapitalprinzip: Geben mit erwartung; Investieren, um zu gewinnen. Man unterstützt gerne einen Freund, hilft, wenn er krank im Bett liegt und investiert Zeit und kraft. Man erwirbt sich damit aber auch das Recht, in eigenen Notsitua-tionen bei eben diesem Freund anzuklopfen. eine Beziehung lebt durch diesen handel mit sozialem kapital. Man investiert und erwartet dankbarkeit, soziale Wertschätzung oder eine sichtbare Gegenleistung. Ist die Rechnung ausgeglichen, wird eine zwischenmenschliche Beziehung nicht belastet. Empfin-det man sich aber als einziger Investor in die Freundschaft, droht ihr konkurs. und so ungern wir es uns selbst eingestehen möchten: der eigene erfolg setzt attraktive Ressourcen voraus.

Wie steht es also um die soziale Wirtschaftlichkeit eines be-hinderten Menschen, der lebenslang auf hilfe angewiesen ist? Wie ausgeglichen sind die Marktanteile, wenn man sich gerade gestritten hat, am liebsten Türen knallen möchte, aber just in diesem Moment eine helfende hand im Bad benötigt? es geht schnell, dass man sich als Behinderter als einseitig hilfebe-dürftiger, Rücksicht nehmender und um dankbarkeit bemühter Mensch fühlt. und dass ein hilfsbereiter Freund im Gegenzug als edel und gut erscheint, mit schier unerschöpflicher Investi-tionsbereitschaft.

Ich selbst habe im Laufe meines Lebens gewisse Strategien im umgang mit meinen Mitmenschen entwickelt. Auch mit dem hintergedanken, meine nötigen Alltagshilfen zu bekommen. Geschäft ist Geschäft. Ich versuche, immer wieder nachsichtig und verständig zu sein. Oder ich höre mich zum x-ten Male überbetont für die erhaltene Leistung danken. Auch durch Witz und einen gewissen charme gelingt es mir stets hilfe zu be-kommen. Ich habe oft erlebt, dass Leute mich als Seelsorgerin brauchen und ihre Gegenleistung erbringen, indem sie mir hel-fen. dann wiederum gibt es Menschen, von denen ich bereit-willig unterstützt und auch nach meinen Gedanken und prob-lemen gefragt werde, umgekehrt aber nichts von deren Sorgen oder Freuden erfahre. So fühle ich mich ausgegrenzt. Vielleicht genügt ihnen ja das „gute Gefühl“ zu helfen. und schließlich sind auch meine dankbarkeit und die Anerkennung für ihr Gutmenschentum in ihren kreisen eine Form der Vergütung ihrer hilfe – doch sie wollen sich nicht mit mir auf eine Stufe stellen. die erwartungshaltung, auf dauer auch etwas zurück zu bekommen, sehe ich übrigens als nichts unmoralisches. Im Gegenteil: Das zeigt, dass ich nicht nur als hilflos und einsam

wahrgenommen, sondern als ebenbürtiger Geschäftspartner akzeptiert werde. Wer von mir keine Gegenleistung erwartet, nimmt mich nicht ernst! Bei bestimmten Leuten verzichte ich deshalb auch aus prinzip auf hilfe. kein Ausverkauf.

Am leichtesten ist es, Alltagshilfe selbstbestimmt anzunehmen, wenn ich dafür bezahlen kann. das aber setzt Geld voraus – jenes direkte und allgemein gebräuchlichste Mittel der Gegen-leistung – das ich in dem umfang, in dem ich hilfe benötige, aber nicht habe. und selbst wenn ich die entsprechenden Finan-zen hätte und allein mit persönlichen Assistenten mein Leben organisieren würde, wäre ich zwar gut unterstützt, aber doch allein. egal, ob behindert oder nicht: Niemand von uns lebt auf einer Insel und kann sich selbst versorgen, was wiederum bedeutet, dass Abhängigkeiten die Voraussetzung für zwischen-menschliche Beziehungen sind. Also das, wonach sich jeder Mensch sehnt. Warum also dieses unabhängigkeitsstreben? Ganz einfach: Weil wir uns nur in Beziehungen wohl fühlen, in denen jeder von jedem irgendwie, irgendwann abhängig ist und gegenseitiger Respekt herrscht. Geben und Nehmen.

Ich kenne Menschen, in deren Gegenwart ich mich völlig auf Augenhöhe fühle. In diesen Beziehungen ist es unerheblich, ob ich im Rollstuhl sitze oder nicht. es wird mir das Gefühl gegeben, als persönlichkeit wahrgenommen zu werden, mit allen ecken und kanten, nur eben mit der zusätzlichen eigen-schaft „Behinderung“. Ich erhalte hilfe, nicht weil ich behin-dert bin, sondern weil es in einer Freundschaft normal ist. dann freut mich auch der Satz: „du bist für mich gar nicht (mehr) behindert.“ Ich bin akzeptiert, ohne dass meine Behinderung damit kleingeredet wird.

um allen Menschen ein solches Geben und Nehmen zu erleichtern, ist es zum einen nötig, in der Gesellschaft end-lich ein ebenbürtiges, neutrales Bild behinderter Menschen zu vermitteln. JedeR Mensch hat seinen eigenen, für andere gewinnbringenden Wert. In Zeiten, in denen Beziehungen aufgrund persönlicher oder beruflicher Veränderungen allge-mein schneller gelöst, aber auch geknüpft werden, gewinnen zum Beispiel zwischenmenschliche kompetenzen an Wich-tigkeit. Andererseits muss auch das Vertrauen in die eigenen Ressourcen bei Behinderten aktiv gefördert werden. dazu sind sowohl höchstmögliche Bildung als auch ein ausreichendes einkommen erforderlich, damit sie sich von diesem Minus auf dem sozialen kontostand befreien und darüber hinaus das Anderssein für sich als Gewinn schätzen lernen. das wäre ein Anfang, um dem großen Ziel – der Inklusion aller Menschen – näherzukommen.

Hiltrud Walter, 45, mit ausgeprägten spastischen Herausforderungen, ist Diplom-Ökonomin und Diplom-Sozialwissenschaftlerin ohne Erwerbs- tätigkeit und lebt in Berlin.

12 13Sport

heute, fast sieben Jahre später, surft Bethany nicht nur wieder, sondern zählt sogar zu den 20 besten Surferinnen der Welt. Geschafft hat sie das dank ihres eisernen Willens, harten Trainings und einer speziellen Technik: Während ihre konkurrentinnen scheinbar mühelos mit ihren Armen Wellen anpaddeln, schlägt Bethany wie wild mit ihren Beinen, um genügend Geschwindigkeit aufzunehmen. das sieht im ers-ten Moment zwar recht schwerfällig aus, aber kaum hat sie der Sog des heranrollenden Brechers erfasst, springt Bethany blitzschnell auf und gleitet die Wasserwand mit der gleichen eleganz wie die anderen Surferinnen entlang. Ihr einziges hilfsmittel ist eine kleine plastikschlaufe an der Spitze ihres Boards, an der sie sich mit dem rechten Arm festhält, wenn sie unter einer heranrollenden Welle hindurchtauchen muss. Bethany weiß, dass sie mit zwei Armen besser surfen würde und dass sich ihr Traum vom Weltmeistertitel vielleicht nie erfüllen wird, trotzdem hat die inzwischen 21-Jährige nie mit ihrem Schicksal gehadert. „Natürlich habe ich mich ab und zu gefragt, wieso das ausgerechnet mir passiert ist. Ich glaube, dass ich die Antwort mittlerweile weiß: um Men-schen in einer ähnlichen Situation zu zeigen, dass sie alles erreichen können, wenn sie es nur wollen. der hai hat mir zwar meinen Arm, aber nicht meinen Traum vom Surfen nehmen können.“

„es war wie nach einer langen reise nach hause zurückzukehren“

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City-Check

BERLIN.City-Check

Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin! sehenswürdigkeiten an jeder ecke, eine vielfältige kulturszene und ein mix aus Gastronomie, shopping und entspannung für jeden Geschmack – die deutsche hauptstadt ist immer eine reise wert. doch wie sieht es mit Barrierefreiheit in der spree-metropole aus? zwei gebürtige Berlinerinnen haben uns einen tag durch ihre stadt geführt.

Wie barrierefrei ist die Hauptstadt? Der City-Check an der Spree.

Text : Anke Eberhardt / Fotos: Ragnar Schmuck

#1

#2

sieGessäule / tierGarten /

BrandenBurGer tor

reGierunGsviertel

Annette hat den entscheidenden Tipp gleich zu Anfang parat: „Lie-

ber morgens bei den Klassikern anfangen, damit man nicht später

mit den Schulklassen um die Fotomotive kämpfen muss.“ Mit un-

serem Fiat Doblò biegen wir deshalb schon am frühen Morgen auf

die Straße des 17. Juni ab und werden von der Siegessäule begrüßt,

die seit kurzem wieder in neuem Glanz erstrahlt. Wir haben Lust,

ein wenig zu schlendern und parken kurz hinter der „Goldelse“ auf

dem erhöhten Mittelstreifen, der unzählige offizielle Parkplätze und

Annette jede Menge Platz zum Aussteigen mit dem flotten Heck-

lift bietet. Nach einem Spaziergang durch den zu jeder Jahreszeit

schönen Tiergarten erreichen wir das Brandenburger Tor. Ein Glück,

dass Napoleon die Quadriga wieder abgenommen wurde und dass

das Tor inzwischen kein Symbol mehr für das geteilte Berlin, son-

dern im Gegenteil, für die Einheit des Landes ist. Trotz der geball-

ten Bedeutsamkeit hat Simone erst einmal Lust auf einen Kaffee.

Während sich die ersten Straßenkünstler in Position bringen, gehen

wir in Ruhe unsere Route für den Tag durch. www.berlin.de( Tourismus Sehenswürdigkeiten. Mit vielen hilfreichen Infos.)

Gleich um die Ecke befinden sich weitere Wahrzeichen Berlins:

Der Reichstag und das Bundeskanzleramt. Diesen mächtigen Nach-

barn stattet man ebenfalls am besten morgens einen Besuch ab,

bevor der große Ansturm beginnt. Wer die 800 Tonnen schwere

Kuppel des Reichstags besichtigen und über zwei spiralförmig

angelegte Wege bis zu einer Aussichtsplattform wandeln möchte,

muss sich allerdings vorab anmelden und darf keine Angst vor

langen Schlangen haben. (Alle Infos gibt es auf der Website des

Bundestags oder unter Tel.: 030 / 2273 2152.) www.bundestag.de

#3

#4

#5zooloGischer Garten

kadewe

museumsinsel

Nach all den geschichtsträchtigen Bauwerken ist es Zeit für Ab-

wechslung. Im Doblò schlängeln wir uns durch den Stadtverkehr

und Annette lotst uns zum Hardenberger Platz am berühmten

Bahnhof Zoo. Hier parken wir entspannt auf einem der vorbildlich

ausgeschilderten Bereiche und stehen direkt vor dem Eingang

Löwentor. Sage und schreibe 17.134 Tiere in 1.554 Formen war-

ten dahinter, denn der Zoologische Garten Berlin nennt sich nicht

umsonst artenreichster Zoo der Welt. Spitzmaulnashorn, Anden-

flamingo oder Ringelschwanz-Felsenkänguru kann ein Besuch

abgestattet werden, Pflicht ist allerdings auch das Erinnerungs-

foto am Elefantentor auf der anderen Seite des Geländes. Dort

befindet sich ebenfalls der Zugang zum Aquarium, das über eine

Rampe problemlos zu erreichen ist. Will man ausschließlich in die

Unterwasserwelt eintauchen, lassen sich die Stufen des separaten

Eingangs an der Budapester Straße mit einem Aufzug überwin-

den. Verbesserungswürdig ist allerdings, dass hierfür erst oben an

der Kasse Bescheid gegeben werden muss. Ist man also allein im

Rollstuhl unterwegs, ist man auf die Aufmerksamkeit des Kassen-

personals oder andere Besucher angewiesen. Als Begleitperson

erhält Simone hier ebenfalls eine Eintrittsermäßigung – was erfreu-

licherweise bei den meisten Berliner Sehenswürdigkeiten üblich

ist – und die beiden schauen auf einen Besuch bei den Haien

vorbei. www.zoo-berlin.de

Nach so viel bummeln macht sich langsam unser Magen bemerkbar.

Zudem darf bei einem Berlin-Ausflug natürlich auch die Shopping-

Pause nicht fehlen. Wir machen uns auf ins nahe gelegene KaDeWe. Das Kaufhaus des Westens ist schließlich schon seit 1907 viel mehr

als ein ordinäres Geschäft. Zugegeben, die Designer-Handtaschen

und sonstigen Luxusgüter sprengen unser Budget, aber das An-

gebot auf über 60.000 qm ist auch ohne Einkauf beeindruckend

genug. Bis zu 180.000 Menschen flanieren täglich durch die Etagen

und über zahlreiche Aufzüge lassen sich sämtliche Abteilungen auch

im Rollstuhl problemlos erreichen. Im riesigen Lichthof geht es nach

oben in die Feinschmeckerabteilung. Von Austern und Champagner

über exotische Speisen und Gewürze bis hin zu feinsten Backwaren

wird hier nur das Beste vom Besten angeboten. Im Wintergarten

in der siebten Etage leisten wir uns ein paar kleine Köstlichkeiten

mit Blick über die Innenstadt. www.kadewe.de / Foto: 1 © KaDeWe

Nach Konsum ist nun Kultur an der Reihe. Auch hier ist das Ange-

bot in der Hauptstadt riesig. Die Klassiker finden sich netterweise

alle dicht beieinander auf der Museumsinsel, die zum UNESCO

Weltkulturerbe zählt. Zu Recht! Malerisch in der Spree gelegen

und über pittoreske Brücken zu erreichen, ließe sich allein hier ein

ganzer Kurzurlaub verbringen. Annette und Simone amüsieren sich

unterwegs noch über die klassischen Russenmützen eines Stra-

ßenverkäufers und haben dann die Qual der Wahl zwischen dem

Neuen Museum, in dem die Büste der Nofretete wartet, der Alten

Nationalgalerie, in der Malerei und Skulpturen des 19. Jahrhun-

derts ausgestellt werden oder dem Bodemuseum, dessen kom-

plett saniertes Gebäude Skulpturen und Gemälde von der Antike

bis zum 18. Jahrhundert beherbergt. Natürlich nicht zu vergessen

der Publikumsmagnet Pergamonmuseum mit dem berühmten

Pergamonaltar und das Alte Museum mit seiner Antikensammlung.

„Schön, dass hier nur der jeweilige Kunstgeschmack entscheidet,

was man sich als Rollstuhlfahrer ansehen möchte“, freut sich

Annette. Denn fast alle Häuser sind komplett barrierefrei.

www.smb.museum

1

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Car-Check City-Check

#7hackescher markt

Obwohl der Hackesche Markt längst kein Geheimtipp mehr ist,

sondern hoch frequentierter Touristen-Favorit, darf er bei keinem

Berlin-Besuch fehlen. Hier reihen sich hippe Designer-Geschäfte

an Cafés, Dönerbuden an Kunstgalerien, Confiserien an Nacht-

clubs und ergeben eine bunte Mischung aus Kunst, Kultur, Shop-

ping, Wohnen und Gastronomie. Besonders beliebt sind die ver-

zweigten Hackeschen Höfe, dieser einzigartige Hinterhofkomplex,

der mit seinen wunderschönen Fassaden heute noch das Flair der

Gründerzeit versprüht. Dort ist zwar ebenfalls viel los, in einem

bequemen Restaurantstuhl sind die vorbeiströmenden Menschen

allerdings eine willkommene Unterhaltung. So zum Beispiel im

ebenerdigen Café Oxymoron, gleich hinter dem Hackeschen Hof, wo sich Annette und Simone nach einem windigen Tag eine heiße

Schokolade gönnen. Über einen Aufzug im Hof lässt sich mit dem

Euro-Schlüssel die Behindertentoilette erreichen und am Abend

lädt das ebenfalls mit einem Aufzug ausgestattete ChamäleonTheater nebenan zur „Caveman“-Comedy-Show ein oder es

stehen bis in die Morgenstunden jede Menge Bars und Clubs

zur Wahl. www.hackescher-markt.de, www.hackesche-hoefe.com,www.chamaeleonberlin.de

Nachdem der Tag mit Annette und Simone so viel Spaß gemacht hat, kommen wir vielleicht für einen „Berlin bei Nacht“-Check wieder. Danke ihr beiden! Und jetzt, liebe Leser: Nachmachen!

#6Berliner dom

Nur einen Steinwurf entfernt befindet sich ein weiterer Klassiker

auf der Touristen-To-Do-Liste: der Berliner Dom. Kaum zu glauben,

dass die Kuppel im zweiten Weltkrieg komplett zerstört wurde, so

beeindruckend wie sie heute über dem Lustgarten thront. 70 Meter

ist sie hoch und wird innen von aufwendigen Mosaiken geziert, von

denen jedes aus über 500.000 Steinchen besteht. Ein Besuch in

der größten Kirche Berlins ist aber nicht nur deshalb empfehlens-

wert, sondern auch wegen des vorbildlichen barrierefreien Zugangs.

Denn Annette kann nicht nur zwischen zahlreichen Behinderten-

parkplätzen wählen und mit viel Platz aussteigen, auch die Granit-

treppe am Haupteingang lässt sich mit Hilfe eines Aufzuges über-

winden, der Pförtner praktisch über eine Klingel samt Gegensprech-

anlage an der linken Seite der Hauptfront rufen. Da drückt Annette

auch ein Auge zu, dass der Kuppelrundgang mit dem grandiosen

Ausblick auf die Museumsinsel, die Synagoge, den Gendarmen-

markt, den Reichstag und das Rote Rathaus nur über 270 Stufen

zu erreichen ist. Das Siegel „Berlin barrierefrei“ hat sich der Dom

auf jeden Fall verdient – ganz im Gegensatz zum Fernsehturm, der

als Negativbeispiel gleich hinter der Kuppel emporragt. Hier gibt

es zwar einen Aufzug, doch aus Brandschutzgründen ist Rollstuhl-

fahrern der Zugang nicht gestattet. Nur gut, dass sich Annette im

Umkehrschluss nicht generell nur in Erdgeschossen aufhalten darf.

Da sich nach all dem Sightseeing sowieso der Hunger erneut be-

merkbar macht, verzichten wir auf einen Ausflug auf den Alexan-

derplatz, lassen den Fernsehturm Fernsehturm sein und steuern

bereits in Richtung unseres letzten Stopps. www.berlinerdom.de

Eines sticht bei unserem Gefährt natürlich als Erstes ins Auge:

das Hochdach. Was jedem Mitfahrer angenehm viel Raum im

Inneren beschert, ist für Rollstuhlfahrer noch wesentlich essen-

tieller. Denn so kann Annette entspannt im Rollstuhl sitzend ins

Auto gelangen, hat schön viel Platz rundherum und durch die

riesige Fensterfront einen uneingeschränkten Blick nach vorne.

Glück für uns, denn so kann sie uns durch den Berliner Stadt-

verkehr navigieren.

Komfortabel im Doblò chauffieren lassen kann man sich also alle-

mal, da Annette aber auch einen Führerschein hat, zieht es sie auf

den Fahrersitz. „Das ist die Standardausstattung“, hat uns Herr

Kopitzki vom Umrüster REHA Group Automotive am Morgen noch

erklärt. „Im Normalfall wird jedes Auto individuell an den Fahrer

angepasst.“ Allein bei der Handgasanlage gibt es zig Varianten,

aus denen sich Annette ihren Favoriten aussuchen könnte. Die

standardisierten Vorrichtungen lassen sich auch direkt beim

Fahrzeugkauf mitbestellen.

Wenn ansonsten Ledersitze und Wurzelholzarmaturen zu den

Extras gehören, würde Annette eher auf einen Schwenksitz oder

ein Rollstuhlverladesystem setzen. Hierfür, wie auch für den

Multicommander am Lenkrad wäre ebenfalls Herr Kopitzki ihr

Mann. „Wir suchen für jeden Kunden die passenden Komponen-

ten aus und arbeiten mit internationalen Herstellern zusammen,

um die bestmögliche Abstimmung zu garantieren. Jeder Mensch

ist anders und das Auto muss perfekt zum Fahrer passen. Das ist

ein intensiver Prozess und dass der TÜV und die DEKRA am Ende

ihren Segen geben, dafür sorgen wir natürlich ebenso wie für die

Absprache mit dem Kostenträger.“ Gegen ein Sahnehäubchen wie

die Blue & Me Kommunikations- und Multimedia-Vorrichtung am

Lenkrad hätte Annette jedenfalls nichts einzuwenden.

Der Fiat Doblò mit Hochdach bringt schon ab Werk die entschei-

denden Kriterien mit, damit nicht nur ein City-Check, sondern

auch tägliche Mobilität kein Problem ist. Mit einer Umrüstung

durch die REHA Group wird aus jedem Auto ein Unikat, das für

seinen Fahrer maßgeschneidert ist. Trotzdem bleibt es aber auch

für Menschen ohne Einschränkung fahrbar, weswegen es sich

Annette auch jederzeit wieder im Heckbereich bequem machen

und Simone die Heimfahrt übernehmen kann.

Beim ersten Stopp an der Siegessäule kam der Hecklift zum

Einsatz. Er ist platzsparend im Heckbereich verstaut und gewährt

dem Fahrer freie Sicht nach hinten. Simone braucht dank der

kinderleichten Nummerierung der Fernbedienung nicht einmal

eine Einführung und Annette kann in Nullkommanichts aus- oder

einsteigen und freut sich außerdem darüber, dass der Lift – im

Gegensatz zu anderen, die sie bereits benutzt hat – fast geräusch-

los in die gewünschte Position fährt. Bis 300 Kilo kann er heben,

Leichtgewicht Annette könnte also noch jede Menge KaDeWe-

Shoppingtüten auf dem Schoß transportieren.

hochdach

lift

handGasanlaGe

extras

fazit

www.fiatdoblo.de, www.reha.com

hoch, höher, doBlò. das city-check- fahrzeuG unter der lupenachdem wir im fiat doblò die deutsche hauptstadt auf Barrierefreiheit getestet haben, macht unsere city- checkerin annette gleich bei unserem fahrzeug weiter.

Fotos: Ragnar Schmuck

1716City-Check

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BerufslebenPersonality

nick vujicic ist alles andere als ein klassisches idol. doch für viele menschen ist sein auftreten beeindrucken-der als die sonst so populäre kombination aus schönheit, ruhm und reichtum. Jeden dritten tag tritt der mo-tivationsredner in einer anderen stadt auf, begeistert, gibt hoffnung und verändert so manches leben. wäh-rend seines ersten deutschlandbesuchs gewährte uns der australier, der ohne arme und Beine zur welt kam, einen einblick in die Geschichte, die hinter seinen einundneunzig zentimetern geballter lebensfreude steckt.

nick vuJicic

Sitzt man Nick Vujicic gegenüber, kann man sich kaum vorstellen, wie sehr der heute 28-Jährige früher mit seinem Aussehen zu kämpfen hatte. „Lass dich drücken“ lautet seine Begrüßung. denn Nick schüttelt keine hände, er lässt sich lieber umarmen. und das kann er richtig gut. So gut, dass man meint, seine Arme auf dem eigenen Rücken zu spüren. und er strahlt Selbstvertrauen aus. Selbstvertrauen gepaart mit einer großen portion innerer Ruhe. dann erzählt er. Von seiner kindheit in Australien und von den schweren depres-sionen, mit denen er in seiner Jugend zu kämpfen hatte und die ihn bis zu einem Selbstmordversuch trieben. Immer als „anders“ zu gelten und auch so behandelt zu werden, machte ihm schwer zu schaffen. „Ich wollte endlich keine Last mehr für meine Familie sein und hatte die hänseleien in der Schule satt.“ doch mit hilfe seiner eltern war er bald selb-ständiger als viele Gleichaltrige. Gemeinsam entwickelten sie Tricks, mit denen er sich im Alltag beinahe völlig alleine bewegen konnte. „Zum Beispiel hatte ich, um meine haare selbst waschen zu können, eine Art Fuß-pumpe, aus der ich das Shampoo direkt an die duschwand beförderte. Wenn ich dann meinen kopf an der Wand rieb, wurde das Shampoo einmassiert.“ Mit zunehmender Selbständigkeit schwanden seine Ängste. Stück für Stück rückten seine Begabungen in den Vordergrund und ließen die dinge, die er nicht so gut konnte, unwichtiger werden.

Text: Hanna Marlene Dittmer / Fotos: Brunnenverlag

So lernte er schon im Alter von zwei Jahren schwimmen, entdeckte seine Fähigkeit außergewöhnlich lange die Luft anhalten zu können und war ab diesem Zeitpunkt kaum mehr aus dem pool heraus zu bekommen. Wie man ohne Arme und Beine schwimmen kann? das haben wir uns auch ge-fragt. Aber Nick kann ziemlich viel, was man ihm aufgrund seines Aussehens nicht zutrauen würde. Sein „little chicken drum stick“, wie er seinen kleinen linken Fuß selbstironisch nennt, ist ihm dabei ein unersetzbares Werkzeug. „Beim Schwimmen nutze ich ihn wie einen propeller, der mich über Wasser hält. Aber vor allem beim Schreiben auf der Tastatur, beim Telefonieren und natürlich bei der Bedienung meines elektrorollstuhls ist er mir eine große hilfe“, erklärt Nick. In seinem gerade in deutschland erschienenen Buch „Leben ohne Limits“ erzählt er, dass der witzige Name von seiner Schwester Michelle stammt. denn als sie noch klein waren, hatte ihr hund immer versucht, an Nicks linkem Füßchen zu knabbern und die einzige für Michelle logische erklä-rung dafür war, dass er ihn wohl mit einer hähnchenkeule verwechseln musste.

„ich bin kein superheld, aber dafür weiß ich, dass man viel mehr aus einem harten tag lernt als aus einem sorgenfreien.“

Von diesen Anekdoten hat Nick eine Menge auf Lager und er freut sich, wenn er die kleinen und Großen in seinem publi-kum damit zum Lachen bringen und zum Nachdenken anregen kann. Über 37 Länder von Ägypten über Serbien bis nach china hat er schon besucht und es ist vor allem Inspiration und kraft, was Nick den kindern, häftlingen und Gläubigen in den Gesprächen gibt – und selbst schöpft. er erinnert sich noch ganz genau an den Moment, als während seines ersten großen Auftritts ein junges Mädchen mit Tränen in den Augen zu ihm auf die Bühne kam: „Als sie mich umarmte und mir sagte, dass ich mit meinen Worten ihr Leben verändert hätte, wusste ich, dass ich meine Bestimmung gefunden hatte. Wenn es mir gelingt, mit meiner Geschichte auch nur ein fremdes Leben zu berühren, so ist das ein Wunder und mein Leben bereits lebenswert.“ dass er solche Aussagen im Verlauf der Jahre immer mehr mit einer religiösen Bedeutung versieht und sich seine Wahlheimat Amerika auch auf die Tonalität seiner Vorträge niederschlägt, sagt manchen Menschen mehr, ande-ren weniger zu. doch egal, ob man nun selbst gläubig ist oder nicht, amerikanisches pathos schätzt oder eben nicht – es gibt kaum jemanden, der nicht von Nicks Auftreten beeindruckt ist. Schließlich hat er auch abseits des Rednerpults erstaunliches erreicht. Obwohl es zunächst schwer vorstellbar ist, zählen Surfen (unter anderem mit Bethany hamilton, siehe Seite 10), Golfen, Angeln und Fußballspielen heute ebenso zu Nicks großen Leidenschaften wie seit kurzem die Schauspielerei. Für seine Darstellung des „Will“ im Kurzfilm „Butterfly circus“ wurde er beim Method Film Festival 2010 sogar mit einem Award als „Bester Schauspieler“ ausgezeichnet.

Lässt man sich all das von ihm erzählen, kommen einem tat-sächlich Bilder von Superhelden in den Sinn. Von solchen, die ohne Flügel fliegen können, oder mit ihren Gedanken das Böse ausschalten. Aber Gott sei dank hat auch Nick eine mensch-liche Seite: „Natürlich habe ich auch schlechte Tage – ich bin kein Superheld. Aber dafür weiß ich, dass man viel mehr aus einem harten Tag lernt als aus einem sorgenfreien.“ und er gibt zu, dass er überhaupt nicht mit Menschen zurechtkommt, die mit seinem Tempo nicht mithalten können. „Ich bewege mich immer sehr schnell und wenn jemand langsam neben mir her-läuft, kann mich das zur Weißglut bringen. Ich kann schreck-lich ungeduldig sein.“

Allein im letzten Jahr hat Nick 120 Mal ein Flugzeug be-stiegen, um jeden dritten Tag vor einem anderen publikum seine Geschichte zu erzählen. Aber jetzt möchte er gerne einen Gang zurückschalten, vielleicht an seiner Filmkarriere arbeiten oder mal wieder auf ein Surfbrett steigen. und ganz wichtig: die hoffnung nie aufgeben. „Als ich jünger war, habe ich immer davon geträumt, eines Tages ein eigenes Auto fah-ren zu können. Mit dem kapitel habe ich zwar vorerst abge-schlossen, aber wer weiß, vielleicht wird doch irgendwann ein Auto gebaut, das ich mit einem Joystick mit meinem Füßchen bedienen kann. die hoffnung gebe ich nicht auf. Genauso wie ich ein paar Schuhe in meinem Schrank stehen habe – denn man kann ja nie wissen.“

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„ich habe ein paar schuhe in meinem schrank stehen – denn man kann ja nie wissen.“

NV

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20Blickfang

Mehr über dieses ungewöhnliche Model gibt es auf Seite 30.

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Berufsleben Berufsleben

„seht eure vorteile, nicht eure nachteile!“warum Behinderung im Beruf kein manko sein muss.simon voit ist 28 Jahre alt und seine zwei wohnorte „münchen und chiemsee“ hört man ihm an. Jeder süddeutsche fühlt sich bei seinem sympathischen lokalkolorit sofort sprachlich zu hause. emmering vor den toren münchens ist ebenso bayerisch und standort der firma streifeneder – einem der führen-den unternehmen im Bereich prothetik in deutsch-land, simons arbeitgeber und gleichzeitig hersteller seiner eigenen prothese. ist das nun eine notlösung oder im Gegenteil eine „win-win-situation“?

Simon, du hattest im Alter von 17 Jahren einen Moped-Unfall und dein linkes Bein musste amputiert werden. Gab es beruf- liche Pläne, die du deswegen verwerfen musstest?

Aber hättest du auch ohne deinen Unfall angefangen im Bereich Prothetik zu arbeiten?

Im Grunde genommen hast du deinen Kollegen gegenüber also sogar einen Vorteil durch deine Behinderung.

Was ist deine Aufgabe bei Streifeneder?

Wie viele Menschen mit körperlichen Einschränkungen arbeiten sonst noch in deinem Büro?

Von einer Firma, die selbst in diesem Bereich tätig ist, erwartet man eigentlich eine höhere Behinderten-Quote.

Du warst als Sportschütze und alpiner Skifahrer bei den Paralympics. Bist du also generell sehr ehrgeizig? Wie zeigt sich das im Job?

Gibt es etwas in deinem Job, worauf du besonders stolz bist?

Und früher?

Was würdest du jungen Behinderten mitgeben, die ins Berufsleben einsteigen wollen?

Was meinst du, woran das liegt?

Erschwerend hinzu kommt, dass Personaler eventuell befürch- ten, ein körperlich eingeschränkter Mensch könnte nicht genauso leistungsfähig sein wie seine gesunden Kollegen.

Nein. Ich wollte schon immer Maschinenbau studieren und das hab ich dann auch gemacht.

das liegt aber nicht am unternehmen, sondern an den Bewerbern. In unserem Fall existieren die Leute einfach nicht. es wundert mich total, dass sich nicht mehr Men-schen, die selbst betroffen sind, für den Bereich interes-sieren. Bei mir an der uni waren insgesamt maximal fünf Leute, die eine Behinderung hatten, im Maschinenbau war ich allein. das ist leider an fast jeder hochschule so.

Ich habe zwar keine „Jetzt-erst-recht-perspektive“, aber ich bin schon sehr zielgerichtet. Ich glaube, wenn man einmal die erfahrung gemacht hat, dass man sich etwas vorgenom-men und auch erreicht hat, dann nimmt man immer wieder neue herausforderungen an. das habe ich durch den Behin-dertensport gelernt und dadurch Selbstvertrauen aufgebaut. dass man mit seiner Behinderung zurechtkommt, ist dann irgendwann selbstverständlich. darüber mache ich mir heute überhaupt keine Gedanken mehr und meine Ziele stecke ich mir völlig unabhängig davon.

Nun ja, so lange bin ich ja noch nicht dabei. Aber um ein bisschen zu fachsimpeln: Ich habe zum Beispiel basierend auf neuen Berechnungsmethoden die Gelenkkette des 3A2000 kniegelenks angepasst. das heißt ganz einfach, dass das Ge-lenk in der Standphase jetzt sicherer ist. Am tollsten finde ich, an innovativen produkten mitzuarbeiten, die es so noch nicht gibt. Wir haben natürlich einige Ideen, die im Moment in der entwicklung stecken, aber darüber kann ich nicht sprechen. [Grinst]

Ich habe schnell gemerkt, dass ich mich nicht auf meiner Behinderung ausruhen kann. Nach den paralympics in Turin war es ziemlich schwer für mich, wieder ins Studium zu finden und ich musste ganz normal die verpassten Prüfun-gen nachholen. Am Anfang war ich davon ausgegangen, dass mich die Fh für die paralympics in jeglicher hinsicht unterstützen würde. Mit zwei Fristverlängerungen hat das auch gut funktioniert, alles Weitere war denen aber ziem-lich egal und mir wurde klar, dass ich mich genau wie alle anderen auf meinen Allerwertesten setzen muss – und eben noch mehr, wenn ich nebenbei Leistungssport machen will. Am ende habe ich das Vordiplom nur mit Ach und krach geschafft [lacht]. Aber ich habe nicht aufgegeben und das zahlt sich jetzt aus. Ich hatte natürlich auch Glück, dass Streifeneder die Vorteile erkannt hat, jemanden wie mich im Boot zu haben. Mein beruflicher Plan ist also aufge-gangen und dadurch habe ich auch wieder Selbstvertrauen gewonnen. Früher war ich total unsicher, wenn ich einem professor gegenübergesessen bin, mittlerweile habe ich zu internationalen Lehrstühlen kontakt, reise viel und gehe auf kongresse. das hätte ich mir damals nicht träumen lassen!

dass man durch seine Behinderung nicht eingeschränkt wird, wenn man es nicht zulässt und dass man seine Ziele verfolgen soll, so wie jeder andere auch. und je optimistischer man etwas angeht, desto besser. Am ende kommt einem die Behinderung vielleicht auch wieder zugute. denn wenn man in seinem Job gut ist, macht das mitunter doppelt eindruck. das hört sich zwar blöd an, aber man muss seine einschränkung in manchen dingen auch ausnutzen können, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Ich parke sehr gerne auf dem Behindertenparkplatz, anstatt stundenlang nach einem normalen zu suchen und viel-leicht hätte ich meinen Job mit zwei Beinen heute nicht. Also seht eure Vorteile, nicht eure Nachteile!

egal, ob im schulischen System oder im Beruf, eine körper-liche Behinderung wird immer noch als Manko angesehen – aber das ist sie eigentlich nicht, denn sie schränkt einen nicht im denken ein. das ist auch ein gesellschaftliches problem, das schon damit anfängt, dass körperlich behinderte kinder zum Teil auf Förderschulen geschickt werden. dadurch wird ihnen der Weg aufs Gymnasium oder die uni verwehrt. und dann müssen es sich die Menschen natürlich auch selbst zutrauen, was noch viel schwerer ist, wenn man nicht von Anfang an unterstützt, sondern eher aufs Abstellgleis geschoben wird. das ist ein Teufelskreis!

Man darf natürlich nicht verallgemeinern. Zuallererst kommt es natürlich auf die Schwere der einschränkung und die spe- zifischen Anforderungen für den Job an. Dann gibt es aber leider Leute, die ihre Behinderung als Vorwand nutzen, wenn sie etwas nicht machen wollen. Oder solche, die überehrgei- zig sind und meinen, jetzt erst recht 150 prozent geben zu müssen. Grundsätzlich fordern wir Behinderten ja immer, ganz normal behandelt zu werden. und dazu gehört nun mal auch, dass man einen Job nicht bekommt, wenn man nicht für ihn geeignet ist.

Nein, wahrscheinlich nicht. Vorher war für mich eher die Autoindustrie interessant. Aber dann dachte ich: eigentlich wäre ich doch der perfekte Ingenieur für die Branche, da ich die produkte ja selber testen kann.

[Lacht] Ja, denn es ist gar nicht so einfach, gute Testperso-nen zu finden, die Zeit haben, um uns wichtiges Feedback zu geben. da ist es natürlich praktisch, wenn ich ganz unbürokratisch selbst eine prothese ausprobieren kann.

Ich bin in der produktentwicklung und im produktmanage-ment, zum Beispiel für cpI-Füße, die wir aus den uSA zukaufen. dort habe ich letztes Jahr auch meine diplom-arbeit geschrieben.

In der Abteilung Technik und entwicklung keiner, im unter-nehmen sind es insgesamt 22 bei fast 500 Mitarbeitern.

„am ende kommt einem die Behinde-rung vielleicht auch wieder zugute.“

SV

Text: Anke Eberhardt / Fotos: Hansi Herbig

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BerufslebenGesellschaft

Von einer belebten Straße in Los Angeles biegt ein blauer Minivan in die einfahrt eines Möbelgeschäfts und hält auf dem einzigen Behindertenparkplatz. Langsam klappt sich eine Laderampe an der Seite des Vans aus und streckt sich in einen mit diagonalen Linien markierten Bereich auf dem Asphalt, der davon abhalten soll hier zu parken. Vollständig ausgefah- ren reicht die Rampe allerdings weit über den parkplatz hinaus. Wollte der Fahrer, Tom Mundy, hier wirklich herunterrollen, würde er direkt in ein paar Büschen landen, denn die gestreifte Fläche ist nur anderthalb Meter breit. Gesetzlich vorgeschrie-ben sind hingegen knapp zweieinhalb Meter. „Ich bin in mei- nem Auto gefangen“, sagt er, in seinem Rollstuhl oben an der Rampe sitzend. „Ich kann nicht raus.“

es gibt eine Vorgeschichte zu Tom Mundy und diesem park-platz. das erste Mal fuhr er hierher, um einen esstisch zu kau-fen. Aber nachdem er nicht aus seinem Van aussteigen konnte, verklagte er den Besitzer des Geschäfts. die nationale Gesetz-gebung für die Rechte behinderter Menschen, der „Americans with disabilities Act“ (AdA), erlaubt es einzelpersonen in ganz Amerika, Geschäfte auf barrierefreien Zugang zu ver-klagen. Allerdings ist kalifornien einer der wenigen Staaten, in denen auch Geldbußen gezahlt werden müssen – und zwar Tausende von dollars, direkt an den kläger. und so verdient Tom Mundy, ebenso wie eine handvoll weiterer Menschen, seinen Lebensunterhalt. Allein in seiner Nachbarschaft kann Mundy ein halbes dutzend parkplätze aufzählen, deren Besit-zer er wegen nicht vorhandener oder nicht vorschriftsmäßiger Barrierefreiheit verklagt hat. er schätzt, seit seinem umzug nach kalifornien vor drei Jahren, über fünfhundert Verfahren eingeleitet zu haben. Wie viel er dabei verdient hat, will er nicht sagen, aber ein Anwalt, der Geschäftsbesitzer in eini-gen dieser Fälle beraten hat, schätzt, dass Mundy inzwischen rund eine halbe Million dollar durch solche klagen verdient hat. „Viele Menschen denken nur ans Geld, aber es geht nicht immer nur darum“, entgegnet Mundy. „es geht um die einhal-tung der Gesetze. das hätte alles schon erledigt sein müssen, bevor ich kam.“

Mundy sitzt seit einem Motorradunfall 1988 im Rollstuhl. Nach Inkrafttreten des AdA 1990 überprüfte er für eine Firma Gebäude auf ihre Übereinstimmung mit den Vorschriften zur Barrierefreiheit. In einem Fall lagen die betreffenden Büros

im zweiten Stock, nur erreichbar über eine Treppe. Also arbeitete Mundy allein in einer Abstellkammer im erdge-schoss. die Toiletten befanden sich allerdings ebenfalls im zweiten Stock. um entsprechenden Bedürfnissen nachzu-gehen, musste er daher das Gebäude verlassen, in seinen Van steigen und zur nächsten Tankstelle fahren. Vom Bedarf überzeugt, versuchte er, seine eigene Beratungsfirma zu gründen und unternehmen dabei zu helfen, die gesetzlichen Auflagen zu erfüllen. Doch die waren nicht interessiert. So beschloss Mundy fünfzehn Jahre nach Verabschiedung des AdA, immer noch ständig mit dessen Nichteinhaltung und entsprechenden hindernissen in seinem Alltag konfrontiert, die Samthandschuhe auszuziehen. und zwar mit hilfe eines Anwalts: Morse Mehrban.

Mehrban hat schon mehrere tausend prozesse in Sachen Behindertenrecht geführt. Auf seiner Website heißt es: „Sie sind Rollstuhlfahrer in kalifornien? Sie kaufen in einem Baumarkt ein und müssen die Toilette benutzen, aber es gibt keine haltegriffe? Sie könnten 4.000 dollar zugesprochen bekommen. Sie sind in einem Restaurant und möchten sich frisch machen, doch der Spiegel auf der Toilette ist zu hoch für sie angebracht? Sie könnten 4.000 dollar zugesprochen bekommen.“ Mehrban betont, dass das Gesetz auf Geld-anreize angewiesen ist. „Schon im Wilden Westen gab es monetäre Aufwandsentschädigungen, wenn jemand einen Verbrecher gestellt und ihn der Justiz übergeben hat“, argu-mentiert er. der Vergleich ist treffend gewählt, zumal keine staatliche Stelle existiert, die die einhaltung der amerikani-schen Behindertengesetze überwacht und Vergehen bestraft. Nicht die Bundesbehörden, nicht die Staaten – niemand. die einzigen kontrollen werden tatsächlich von einzelpersonen durchgeführt, die selbst körperlich eingeschränkt sind und das Risiko und die kosten eines prozesses in kauf nehmen. die einhaltung der gesetzlichen Vorschriften ist in den meis-ten Staaten daher bestenfalls sporadisch festzustellen. Aber Anwälte wie Mehrban und eine handvoll seiner kollegen, die sich ebenfalls auf diese problematik spezialisiert haben, konnten dazu beitragen, dass kalifornien inzwischen zu den barrierefreiesten Staaten der uSA zählt. und zu jenen, in denen am meisten geklagt wird. Juristen schätzen, dass allein im Golden State bisher über 14.000 AdA-bezogene klagen eingereicht wurden.

in kalifornien kann barrierefreier zugang bei Geschäften eingeklagt werden. dass die verhängten Geldstrafen dem kläger zugesprochen werden, hat nicht nur positive effekte.

Text: Alex MacInnis / Fotos: Alex MacInnis

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usa, land derunBeGrenzten (zuGanGs-)moGlichkeitenauch für rollstuhlfahrer?

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kim Blackseth betreibt eine Beratungsfirma, die Unterneh-men dabei hilft, die komplexen Richtlinien für behindertenge-rechten Zugang einzuhalten. die Gesetze sind extrem detailliert und technisch – und manchmal widersprechen sich nationale und staatenspezifische Vor-schriften sogar. So schreibt ein

Gesetzbuch vor, dass eine Gehwegrampe für Rollstuhlfahrer stufenlos enden muss, während ein anderes eine kante von sechs Millimetern fordert, um es Blinden zu erleichtern, ihren Stock zu benutzen. Außerdem schwanken je nach Größe des unternehmens die Anforderungen. Auch ein kleiner Fami- lienbetrieb muss kos-tengünstige Anpassun-gen vornehmen, was ein Grund dafür ist, warum viele der kla-gen minimale „forma-le“ Gesetzesübertretun-gen monieren. „es gibt kein einziges Gebäude in ganz kalifornien, in dem ich nicht min-destens eine formale Hürde finden kann“, so Blackseth. „es ist keine herausforderung, runter auf die Straße zu gehen und de facto strafbare Zustände aus-findig zu machen. Und wenn das jemandes Ziel ist, kann er jeden Tag aufs Neue pro-zessieren gehen. die Frage ist nur: Wann ist es wirklich wichtig?“

Blackseth, der nach ei-nem unfall 1979 selbst im Rollstuhl sitzt, hält den umstand, dass ka- lifornien so vorbild- lich barrierefrei ist, ebenfalls für ein Ver-dienst der klagen. er ist allerdings auch davon überzeugt, dass deren Aus- maß inzwischen dazu geführt hat, Geschäftsinhaber gegen-über behinderten Menschen misstrauisch zu machen. „Wenn ich in ein Restaurant komme oder ein hotelzimmer mieten will, merke ich die Anspannung der Leute. Man kann ihnen ihre Sorge quasi von der Stirn ablesen: ‚Wird mich der kerl verklagen?’ kunden, die zum Beispiel ein Motel besitzen, geben zu, dass sie barrierefreie Zimmer oft nicht vermieten. das Risiko, dass irgendetwas nicht stimmt und sie verklagt werden, ist es im Vergleich zur einnahme einer Übernachtung einfach nicht wert. dann ist das hotel plötzlich ausgebucht.“

Margaret Johnson ist Anwältin und steht kaliforniens größter Interessensgruppe vor, die sich für die Rechte von Behinderten einsetzt. Sie war an einigen der größten Sammelklagen in die- ser causa beteiligt. Als jemand, der aber auch selbst den größ- ten Teil seines Lebens im Roll-stuhl verbracht hat, weiß sie aus eigener erfahrung, dass für viele Menschen nicht monetäre, sondern soziale und emotionale Aspekte im Vordergrund ste-hen, wenn geklagt wird. Vor einem Jahr übermalte ihr Friseur gesetzeswidrig die Markierungen auf seinem parkplatz, die

es ihr bisher ermöglicht hatten, die Rampe für ihren Rollstuhl auszufah-ren. „Ich habe das meiner Friseurin gesagt und sie meinte, sie würde die Be-sitzer darauf hinweisen“, erzählt Johnson. doch selbst nach mehreren Besuchen und weiteren diskussionen blieb alles unverändert. „da ist also ein Geschäft, das sogar barrierefreien Zugang hat-te, ihn beseitigt hat, ohne zu wissen warum und noch nicht mal Interesse daran zeigt, ihn wieder herzustellen“, fasst John-son resigniert zusammen. „Ich mag meinen Friseur so sehr, dass ich mich damit abgefunden habe. Ich habe keinen Brief geschrieben, ich habe keine klage eingereicht. Aber solche umstände können einen in die Lage eines zickigen, nervigen, fordernden, behinderten Menschen drängen, den niemand leiden kann und mit dem sich niemand herumschlagen will. deswegen sind die Straf-zahlungen manchmal eher eine Art emotionale ent-

schädigung. Ich meine: Warum kann ich nicht einfach sagen ‚hier gibt es ein problem, bitte beheben Sie es’, und es wird erledigt? Warum muss ich bis zu dem punkt getrieben werden, an dem ich mich genötigt fühle zu klagen?“

doch der Staat lässt ihr wenig andere Möglichkeiten. Nach-dem es keine Überwachungsinstanzen gibt, die die einhal-tung der Gesetze kontrollieren, werden einzelpersonen dazu gezwungen, ihre Rechte selbst einzufordern. Sie müssen für sich selbst entscheiden, was sie bereit sind in kauf zu nehmen, für was es sich zu kämpfen lohnt und wann – wenn überhaupt jemals – es sich auszahlt, einfach nett zu fragen.

Reisen

Als Ludwig II. 1869 den Grundstein für Schloss Neuschwanstein

legte, ahnte er nicht, dass 150 Jahre später jährlich rund 1,3

Millionen Besucher sein Zuhause betreten würden. Normaler-

weise müssen während der 35-minütigen Führung 346 Stufen

erklommen werden, doch für Rollstuhlfahrer gibt es einen ganz

besonderen Service: einen Aufzug vom Erdgeschoss bis hinauf

in den 3. Stock, in die ehemalige königliche Privatwohnung. So

stehen jedem die prunkvollen Gemächer des Märchenschlosses

offen. Etwa der Thronsaal und seine riesigen goldenen Kron-

leuchter, die künstliche Tropfsteinhöhle mit Wasserfall oder das

Schlafzimmer, an dessen detaillierten Holzverzierungen vierzehn

Schnitzer vier Jahre lang gearbeitet haben. Wer in diese Traum-

welt eintauchen möchte, sollte sich vorher im Ticket-Center

Hohenschwangau (Tel. 08362 930830, www.hohenschwangau.

de) anmelden. Von dort aus fahren dann am Ausflugstag Kutschen

hinauf zum Schloss und der zusammengeklappte Rollstuhl kann

mit an Bord. Bis zum barrierefreien Haupteingang sind es auf

geteerter Straße noch etwa 500 Meter bei 10% Steigung. Ab hier

steht ein Angestellter der Schlossverwaltung als Begleitung für

die Dauer der gesamten Führung zur Verfügung. Täglich geöffnet,

von April bis September von 9 bis 18 Uhr, von Oktober bis März

von 10 bis 16 Uhr, Eintritt: 12,- Euro. www.neuschwanstein.de

Mitten im Deutsch-Belgischen Naturpark Hohes Venn-Eifel liegt

ein Nationalpark, der größer als das Saarland ist und seit Mai

dieses Jahres einen barrierefreien Natur-Erlebnisraum beherbergt.

Fein geschotterte Wege (insgesamt 4,7 Kilometer) erschließen den

Bergrücken des Wilden Kermeter im Herzen des Parks und führen

die Besucher zu beliebten Aussichtspunkten und an zahlreichen

Rastmöglichkeiten vorbei. Auch alle anderen Einrichtungen wie

Parkplatz, Bushaltestelle und Sanitäranlagen sind barrierefrei. Wer

nicht auf eigene Faust losziehen möchte, kann den Park bei einer

Führung bequem vom Planwagen aus kennenlernen, denn eine

Rampe steht zur Verfügung. Ganzjährig, täglich und ohne Öff-

nungszeiten zugänglich, Eintritt frei. Die Planwagen-Rundfahrt wird

von April bis Oktober jeden 1. und 3. Sonntag jeweils um 11.30

und 14.15 Uhr für 9,- Euro angeboten, keine Voranmeldung nötig.

Tel. 02444 951071, www.nationalpark-eifel.de und www.eifel-barrierefrei.de

Statt der Savanne gibt es hier aktiven Tagebau zu erkunden,

statt Großwild gigantische Maschinen zu bestaunen. Drei bis

vier Stunden dauern die barrierefreien Jeeptouren (Kostenpunkt:

49,- Euro) durch eine Landschaft, die stark an die Sahara erin-

nert, aber mitten in Deutschland, genauer in der Niederlausitz in

Brandenburg liegt. Definitiv ein ungewöhnliches Ausflugsziel, denn

wer kann schon behaupten, einmal live dabei gewesen zu sein,

wenn pro Sekunde eine Tonne Kohle zu Tage gefördert wird? Und

auch die umliegende Seenlandschaft und der nahe Spreewald

sind einen Besuch wert! Das barrierefreie Besucherzentrum ist

von November bis März jeweils Montag bis Freitag von 10 bis 16

Uhr geöffnet, von April bis Oktober täglich von 10 bis 18 Uhr. Tel.

035751 275050. Geführte Touren und weitere Informationen finden

sich auf www.bergbautourismus.de. Auf www.niederlausitz.de gibt

es einen eigenen „Barrierefrei“-Button für weitere Tipps.

Drei der schönsten barrierefreien Ausflugsziele in Deutschland safari mal anders

tagebau in der lausitz

natur im üBerfluss

naturpark hohes venn-eifel

daheim Beim märchenköniG

schloss neuschwanstein

Auf und davonGesellschaft

Fotos: 1 © Oliver Bothe, 2 © Mützenich 2010, 3 © Naturpark Nordeifel e.V., 4 © Bayerische Schlösserverwaltung

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BerufslebenPersonality

Erwin, du warst jahrelang im Fernsehen. Wie hat sich dein per-sönlicher Umgang mit den Medien im Laufe der Zeit verändert?

Wie hast du den Umgang mit deiner Behinderung am Set vom „Marienhof“ wahrgenommen?

In Sachen pR-Arbeit habe ich mich am Anfang, als ich noch keinerlei erfahrung hatte, auf dinge eingelassen, die ich heute nie mehr machen würde. Zum Beispiel war ich bei der Talkshow „hans Meiser“ eingeladen. das Thema war: „Schaut mich nicht so an, nur weil ich anders aussehe“. das war wirklich furchtbar, so ein... mir fehlen die Worte – ja, ein Skurrilitäten-kabinett. Ich hatte mich zusammen mit meiner presse-dame natürlich vorher abgesichert, dass das Thema in unserem Sinne behandelt wird und dann sitze ich da, rechts neben mir ein kind mit progeria, also der krankheit des schnellen Alterns, und links neben mir ein Mann mit nur ei-nem halben Gesicht. das war genau das, was ich nicht wollte, denn das war im Grunde nicht anders als die präsentation von ‚Aussätzigen’ auf den Jahrmärkten vor hunderten von Jahren.

eigentlich genauso wie überall sonst. Am Anfang war schon eine gewisse unsicherheit unter den kollegen und dem Team vorhanden, aber das hat sich schnell gelegt. eher ich selbst bin viel zu lange falsch mit meiner Behinderung um-gegangen, habe versucht, mich von diesem Teil von mir zu emanzipieren und somit auch die Rolle des Frederik von sei-ner Behinderung abzukoppeln. doch dann war ich im letzten Jahr auf einem „Mental coaching“-Seminar in der Schweiz. das klingt jetzt erst mal sehr spirituell, aber seitdem haben sich mein Leben und mein denken wirklich komplett ver-ändert. erst dort ist mir klar geworden, wie viele Menschen ständig gegen etwas ankämpfen, anstatt die dinge zuzulas-sen. das ganze Leben rennt man einem Bild von sich hinter-her. Im Beruf und im privatleben denkt man immer, dies und jenes erreichen zu müssen, anstatt in sich rein zu horchen und auf seine innere Stimme und sein Bauchgefühl zu hören: ‚Was brauche ich? Wer bin ich?’ erst durch diese ‚Bewusst-seinswerdung’ – was für ein hochtrabendes Wort [lacht] – habe ich verstanden: Genau das macht die Rolle doch für die Zuschauer aus. Sie finden es gerade interessant zu sehen, wie Frederik mit seiner Behinderung ein ganz normales Leben führt. da wäre es ja komplett unnatürlich, die Behinderung von der Rolle zu trennen.

Wie hat sich dein Leben verändert, seitdem du nicht mehr für „Marienhof“ vor der Kamera stehst?

es fühlt sich so an, als wären mir ketten abgenommen wor-den. Ich kann es gar nicht richtig beschreiben. Zum ersten Mal in meinem Leben kann ich tun und lassen was ich will. Zurückblickend weiß ich, dass mein denken all die Jahre sehr begrenzt war. Ich hatte einfach zu oft das Gefühl, im-mer wieder zurechtgestutzt zu werden, an Grenzen zu stoßen und das hat mich zurückgeworfen. heute bin ich dagegen voller energie und liebe das Gefühl, mal wirklich nur das zu machen, was mir Spaß macht. Im Moment arbeite ich zum Beispiel an meinem ersten eigenen Theaterstück, das vor-aussichtlich im Oktober aufgeführt wird. das wäre gar nicht möglich gewesen, wäre ich immer noch bei „Marienhof“. In das Stück stecke ich einfach alles von mir rein und ich kann all die Ideen einbringen, die mir wichtig sind. Wie habe ich neulich zu jemandem gesagt: ‚Ich flirte gerade mit dem Leben.’ [Lacht] Alles was schön ist, nehme ich mit. In mir reift zum Beispiel auch der Wunsch heran, mich tänzerisch auszudrücken. Sobald das Theaterprojekt abgeschlossen ist und ich mehr Zeit habe, könnte ich mir vorstellen, zu einer ganz tollen Tanzkompanie nach London zu gehen, in der Behinderte und Nicht-Behinderte zusammen tanzen und international auf Tour gehen.

Hast du einen Tipp für Menschen mit körperlicher Einschrän-kung, die den Wunsch haben, Schauspieler zu werden?

ein paar Jahre nachdem ich bei „Marienhof“ angefangen habe, wurde an der Akademie für darstellende kunst in ulm der erste Schauspiel-Studiengang deutschlands entwickelt, der integrativ arbeitet – also Schauspieler, Regisseure und drehbuchautoren mit Behinderung ausbildet. diesen Studi-engang würde ich jedem ans herz legen, denn die Arbeit, die dort geleistet wird, ist wirklich großartig. und es ist immer noch der einzige Studiengang dieser integrativen Art in ganz deutschland.

„Ich flirte gerade mit dem leben.“

Ich glaube, dass gerade hinsichtlich dieses Themas immer noch viel zu wenig getan wird. Zum Beispiel ist es immer noch viel zu umständlich, ein Auto zu bekommen, wenn man im Rollstuhl sitzt. Auch für mich war das ein richtiger kampf, bis alles passend umgebaut war und ich endlich das erste Mal mit meinem eigenen Auto fahren konnte. Ich habe meinen Führerschein vor acht Jahren gemacht, aber ich musste noch ganze anderthalb Jahre warten, nachdem ich den Lappen in der hand hatte, bis der Antrag für den umbau meines Autos durch war. Bis dahin hatte ich das Fahren schon fast wieder verlernt [lacht]. hätte ich das gewusst, hätte ich den Antrag schon lange vor der ersten Fahrstunde gestellt. das ist nur ein Beispiel dafür, wie man die Leute besser und umfassender informieren und somit ein großes Stück zu einer verbesserten Mobilität beitragen könnte.

„marienhof“, klappe die 2956te.

dreizehn Jahre lang spielte erwin aljukic den frederik neuhaus in der ard-vorabendserie „marienhof“. anfang dieses Jahres wurde die sendung nach über 4000 folgen abgesetzt. wir haben ihn auf einen kaffee getroffen, um zu erfahren, wie das leben als einer der bekanntesten deutschen schauspieler im rollstuhl so ist, welche rolle die medien seiner meinung nach für den umgang mit dem thema Behinderung spielen und vor allem, wie es nun für ihn weitergeht nach 2956 folgen „marienhof“.

Text: Hanna Marlene Dittmer / Foto: Manuel Liemann

Integration ist ein gutes Stichwort. Bist du der Meinung, dass in Sachen Ausbildung und Berufsleben in Deutschland noch integrativer gearbeitet werden müsste?

Nicht mal unbedingt integrativer, aber ich finde, es muss einfach jeder die chance bekommen, das zu machen, was er gerne möchte. So war es bei mir und der AMd [Akade-mie Mode und Design München, Anm. d. Red.]. Ich war damals beim Tag der offenen Tür des Studiengangs „Mode-journalismus“, der – ebenso wie die kurse – in einer alten Villa mit Hochparterre stattfindet. Das waren eigentlich die ungünstigsten Voraussetzungen für mich, aber ich habe mir das angehört und wusste sofort: Genau das ist es, was ich studieren möchte. Im nächsten Augenblick kam allerdings sofort der Gedanke: Wie soll ich drei Jahre lang morgens und nachmittags diese Treppen hoch und runter kommen? doch die Studienleitung meinte nur: ‚erwin, schreib dich ein, wenn du es wirklich willst und dann schaffen wir auch das mit den Stufen. Sonst improvisieren wir einfach.’ Spätes-tens seitdem bin ich der Meinung, dass Leute manchmal genau zum richtigen Zeitpunkt in dein Leben treten, um dir etwas zu ermöglichen, was du dir nie erträumt hättest. der einbau eines Treppenlifts in das denkmalgeschützte Gebäu-de war dann so ein heckmeck, dass dem Antrag erst an dem Tag, als ich meine diplomarbeit angefangen habe, also drei Jahre später, stattgegeben wurde. Ist doch unglaublich oder [lacht]? Aber ich hatte ja meine Mädels, die mich morgens und nachmittags auf ihren Stöckelschuhen die Treppen rauf und runter getragen haben [lacht weiter].

Wie du weißt, geht es in diesem Magazin auch viel um Mobilität. Was bedeutet dir deine eigene Mobilität?

Lieber Erwin, vielen Dank für das Gespräch! Erwin Aljukics Theaterstück wird voraussichtlich ab Oktober auf der Kleinkunstbühne von Heppel und Ettlich in München Schwabing aufgeführt. Alle Infos unter www.heppel-ettlich.de

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und was kommt jetzt, herr aljukic?

EA

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Zum Schluss

Konzeption, Art Direction & Design: Millhaus GmbH, München Chefredaktion: Anke Eberhardt Projekt Koordination: Millhaus GmbH, München Alexander Schwan, Oliver Glück, Ines Bugner, Alex Lotz (Design) Kontakt: [email protected]

Projekt Direktion: Fiat Group Automobiles Germany AG,Giuseppe Fiordispina

Fiat Group Automobiles Germany AGFiat Marketing Hanauer Landstraße 17660314 Frankfurt am Main

Sitz der Gesellschaft: Handelsregister Frankfurt am Main HRB 82136Ust-IdNr. DE145763422

IMPRESSUMhaben Sie es auf den ersten Blick gemerkt? die Frau auf Seite 20 ist kein gewöhnliches Model. die Amerikanerin Aimee Mullins stand schon für die ganz großen Modefotografen vor der kamera, ihr Gesicht war auf und in den Top-Magazinen Vogue, elle und dazed & confused zu sehen und sie gehört neben claudia Schiffer, Laetitia casta oder Milla Jovovich zum L’Oréal Beauty Team. Soweit alles sehr gewöhnlich für ein Topmodel. ungewöhnlich jedoch für eine junge Frau ohne unterschenkel. der heute 35-Jährigen mussten bereits im Säuglingsalter wegen eines Gendefekts beide Beine unterhalb der knie amputiert werden. doch für die aus pennsylvania stammende Aimee kein Grund sich unterkriegen zu lassen. Sie stellte bei den paralympics in Atlanta 1996 Sprint-Weltrekorde auf und debütierte drei Jahre später auf dem Laufsteg des in-ternational renommierten Modedesigners Alexander McQueen. Auf speziell für sie angefertigten holzprothesen überzeugte sie auf dem catwalk. das darauf folgende Medienecho war gewaltig. die Süddeutsche Zeitung sah eine „Gratwanderung zwischen Schock und Schick“, die französische Tageszeitung Le Figaro sprach dagegen von Ausbeutung. Man fragte sich: „darf man das?“

hat es die Modebranche also in diesem Fall zu weit getrieben und ein Tabu zu viel gebrochen? Wollte der designer auf kos-ten eines körperlich behinderten Menschen schockieren? Wur-de hier „Leid“ kommerzialisiert, um kleidung zu verkaufen? und wer spricht da eigentlich von Ausbeutung, davon, etwas zu dürfen oder nicht? es ist auf jeden Fall nicht Aimee Mullins, die es sich stattdessen nach eigener Aussage zur Aufgabe gemacht hat, „das Finden des persönlichen und einzigartigen Ausdrucks von Schönheit“ öffentlich zu thematisieren, „um die herrschende Meinung darüber, was schön ist und was nicht, in Frage zu stellen.“ Sie hat sich bewusst für ihren Auftritt entschieden.

Wer sich da erzürnt, sind nicht-behinderte Menschen, die solche Aktionen der Modebranche als provokant und sogar persönlichkeitsverletzend ansehen. Ist diese haltung also Schutz für die vermeintlich Schwächeren? Oder ist es in Wahrheit Schutz für einen selbst, vor der Anomalie, davor, in seiner heilen Welt gestört zu werden? Behinderte Models auf Laufstegen, Werbeplakaten und Anzeigen konfrontieren die öffentlichkeit mit Fakten, die viele auszublenden versu-chen. Weil sie Mitleid haben? Nein. Weil sie nicht wissen, wie damit umzugehen. peter Radtke, Autor, Schauspieler und Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien bringt es auf den punkt: „Nicht die Tatsache, Werbeträger zu sein, diskriminiert behinderte Menschen“, dies geschieht vielmehr „dadurch, dass jemand davon aus- geschlossen wird, als Werbeträger in Frage zu kommen“.

Zwölf Jahre sind seit Aimee Mullins’ medienträchtigem Auftritt vergangen. Zwölf Jahre, in denen die Modebran-che abwechselnd auf dicke, dünne, alte oder transsexuelle Models gesetzt hat. War das alles also nur eine phase? So kurzlebig wie die Mode selbst? Allein, dass wir immer noch darüber reden, diskutieren und uns damit auseinandersetzen, ist ein erfolg. es zeigt, dass es möglich ist, durch so etwas „Banales“ wie Mode, Augen zu öffnen, einen Austausch zu erreichen und unterschiede zu akzeptieren. Wenn Menschen abseits der Norm zu Werbeträgern werden, wird dies so lange eine Gratwanderung bleiben, bis die Norm ihr eigenes unbehagen beim Anblick eines nicht perfekten körpers überwunden hat. und das geschieht nun einmal nur, wenn Behinderungen im Alltag präsent werden. und was ist all-täglicher als Mode?

eine gute Lösung hat da vielleicht das britische kaufhaus debenhams gefunden, das in seiner Sommermodekampagne erstmals ein Model im Rollstuhl verpflichtet hat. Shannon Murray wurde im kreise ethnisch unterschiedlicher Frau-en von jung bis alt, dick bis dünn fotografiert. Hier wurde nicht schockiert, hier wurde auf einem Werbeplakat Vielfalt zelebriert. ein kleiner Meilenstein, zwölf Jahre nach Aimee Mullins’ fulminantem Laufstegdebüt.

Text: Miriam Dembach / Foto:

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über das handicap von schönheitsidealen

AM

Ja, sie kennen diese frau.

von seite 20.

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www.fiatautonomy.de


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