Transcript
  • CharlesDickens

    DavidCopperfieldDieLebensgeschichte,Abenteuer,ErfahrungenundBeobachtungenDavidCopperfieldsdes

    JüngerenRoman

    AlbertLangenVerlag,München,1910ÜbertragungvonGustavMeyrink

    BibliothekvonngiyaweBooks

    Illustration:CovereinerAusgabeum1900NachderTranskriptionvonbrucewelch

  • ErsterBand

  • ErstesKapitel.IchkommezurWelt.

    ObichmichindiesemBuchezumHeldenmeinereignenLeidensgeschichte entwickeln werde, oder ob jemandandersdieseStelleausfüllensoll,wirdsichzeigen.UmmitdemBeginnmeinesLebensanzufangen,bemerkeich,daßich,wiemanmirmitgeteilthat,undwieichauchglaube, an einemFreitag umMitternacht zurWelt kam.Esheißt,daßdieUhrzuschlagenbegann,geradealsichzuschreienanfing.Was den Tag und die StundemeinerGeburt betrifft, sobehauptetendieKindsfrauundeinigeweiseFraueninderNachbarschaft, die schon Monate zuvor, ehe wir nocheinander persönlich vorgestellt werden konnten, einelebhafteTeilnahmefürmichgezeigthatten,erstens: Daß es mir vorausbestimmt sei, nie im LebenGlückzuhaben,undzweitens:Daß ichdieGabebesitzenwürde,GeisterundGespenster sehen zu können. Wie sie glaubten, hingendiese beiden Eigenschaften unvermeidlich all denunglücklichen Kindern beiderlei Geschlechts an, die inderMitternachtsstundeeinesFreitagsgeborensind.ÜberdenerstenPunktbraucheichnichtsweiterzusagen,weil jameineGeschichte am besten zeigenwird, ob er

  • eingetroffenistodernicht.Wasden zweiten anbelangt,will ichnur feststellen, daßichbishernochnichtsbemerkthabe.–VielleichthabeichschonalsganzkleinesKinddiesenTeilmeinerErbschaftangetreten und aufgebraucht. Ich beklage mich auchdurchausnicht,fallsmirdieseschöneGabevorenthaltenbleibensollte.Undwennsichirgendjemandandersihrervielleicht bemächtigt hat, mag er sie in Gottesnamenbehalten.IchkamineinemHautnetzzurWelt,dasspäterumdenniedrigen Preis von fünfzehnGuineen in denZeitungenzum Verkauf ausgeschrieben wurde. Ob damals dieSeereisenden gerade knapp bei Kasse waren oderschwach im Glauben und daher Korkjacken vorzogen,weißichnicht;ichweißbloßsoviel,daßnureineinzigesAngeboteinliefundzwarvoneinemAnwaltderzugleichWechselagentwar und zwei Pfund bar und denRest inSherry geben wollte und es entschieden ablehnte, umeinenhöhernPreisdieseGarantiegegendasErtrinkenzuerwerben. Die Annonce wurde zurückgezogen – dennwas Sherry anbelangte, so wurde meiner armen liebenMuttereignerSherrygeradedamalsversteigert.DasHautnetzwurdezehnJahrespäterinunsererGegendineinerLotterieunterfünfzigPersonenausgeknobelt; jefünfzigBewerberzahlteneinehalbeKroneperKopf,undder Gewinner hatte noch fünf Schillinge daraufzulegen.

  • Ich selbst war gegenwärtig und erinnere mich, wieunbehaglichundverlegenmir zuMutewar, als einTeilmeines eignenSelbsts aufdieseWeiseveräußertwurde.Ichweißnoch,daßeinealteDamemiteinemHandkorbdasNetzgewannunddieausgemachtenfünfSchillingeinlauterHalfpennystückenzögerndherausholte.Es fehltendamalsnochzweiundeinhalberPenny,wasman ihr nur mit einem großen Aufwand an Zeit undArithmetik begreiflichmachen konnte.Tatsache ist, daßdie alte Dame wirklich nie ertrank, sonderntriumphierendimBettestarb;zweiundneunzigJahrealt.Ich ließ mir erzählen, daß sie sich bis an ihr Endeaußerordentlich damit brüstete, in ihrem ganzen LebenniemalsaufdemWassergewesenzusein,höchstensaufeiner Brücke, und daß sie bei ihrem Tee, dem sie sehrzugetanwar, stets ihreEntrüstungüberdieGottlosigkeitder Seeleute aussprach, die sich auf dem Meere»herumtrieben«.Es war vergebens, ihr vorzustellen, wie vieleAnnehmlichkeiten wir, den Tee zum Beispiel mitinbegriffen,dieserUnsitteverdanken.Stetserwidertesiemit noch größerm Nachdruck und mit instinktivemBewußtsein vonderGewalt ihresEinwandes: »Manhatsichtrotzdemnichtherumzutreiben.«Um mich aber nicht selbst herumzutreiben undabzuschweifen, will ich wieder zu meiner Geburt

  • zurückkehren.Ich erblickte in Blunderstone in Suffolk oder daherum,wieman inSchottland sagt, dasLicht derWelt. Ichbinein nachgebornesKind.MeinesVatersAugen schlossensichsechsMonatefrüher,alsdiemeinigensichöffneten.EsliegtetwasSeltsamesfürmichindemGedanken,daßmein Vater mich niemals gesehen hat, und nochSeltsameresinderschattenhaftenErinnerungausmeinerersten Kinderzeit an den weißen Grabstein auf demKirchhof.IchempfandunsäglichenKummer,daßerdortdraußen allein liegen mußte in der dunklen Nacht,währendunserkleinesWohnzimmerwarmundhellwarvonFeuer undLicht unddasTor unseresHauses – fastgrausam kam esmirmanchmal vor – für ihn verriegeltundverschlossen.Eine Tante meines Vaters, folglich eine Großtante vonmir,vonderichbaldmehrzuerzählenhabenwerde,galtals die angesehenste Person in unserer Familie. MißTrotwood oderMißBetsey,wiemeine armeMutter sieimmer nannte, wenn sie ihre Angst vor dieserschrecklichen Persönlichkeit so weit überwand, sieüberhaupt zu erwähnen, war verheiratet gewesen miteinemManne, der jünger als sie selbst und sehr hübschwar. Allerdings nicht in dem Sinn des Sprichworts,»hübsch ist, wer sich hübsch beträgt,« – denn er standstarkindemVerdacht,daßerMißBetseydurchzuprügeln

  • pflegte und einmal sogar wegen einer strittigenUnterstützungsfrage schnelle, aber entschlosseneVorbereitungengetroffenhätte,sieauseinemFensterimzweitenStockhinauszuwerfen.DieseoffenkundigenBeweiseunverträglicherGemütsartbewogen schließlich Miß Betsey ihn mit Geldabzufertigen und eine Scheidung auf gegenseitigeÜbereinkunftdurchzusetzen.ErgingmitdemKapitalnachIndienundwurdedortnacheiner wilden Legende in unserer Familie einmal aufeinem Elefanten reiten gesehen in Gesellschaft einesBabu.EswirdwohleinPaviangewesensein–odereineBegum! Wie dem auch sei, ehe zehn Jahre um waren,kamausIndiendieKundevonseinemTod.Wie meine Tante es aufgenommen hat, weiß niemand.Gleich nach der Scheidung nahm sie ihrenMädchennamenwieder an, kaufte sich einHäuschen ineinemWeilerweitdraußenanderSeeküsteundlebtedortmit einer einzigen Dienerin in unerbittlicherZurückgezogenheit.MeinVatermußte einst ihrLiebling gewesen sein, aberseineHeirat hatte sie tödlichbeleidigt, dameineMutternachihrerAnsichtnureine»Wachspuppe«war.SiehattemeineMutterwohlniegesehen,wußteaber,daßsiesehrjungwar–nochnichtzwanzig.MeinVaterundMißBetseysaheneinanderniewieder.Er

  • wardoppelt soalt alsmeineMutter, als er sieheiratete,undvonzarterGesundheit.EinJahrdaraufstarber;wieich schon gesagt habe, sechsMonate, ehe ich zurWeltkam.So lagen dieDinge an jenem,wie ichwohl sagen darf,ereignisvollenundwichtigenFreitag. IchweißnatürlichübersienichtsauseignerAnschauungundstützemeineErinnerungenauchnichtaufeigneSinneswahrnehmung.Meine Mutter saß am Feuer, körperlich schwach undgeistig sehr niedergedrückt, schaute, die Augen vollTränen, in das Feuer und sann trübe nach über dasSchicksaldesvorderGeburtverwaistenKindes,dessenAnkunft binnen kurzem erwartet wurde, und über ihreeigeneZukunft.Eswareinheller,windigerHerbstnachmittag,undsiesaßbetrübt und niedergeschlagen da und von bangenZweifelnerfüllt,obsiewohlglücklichdiezuerwartendeschwere Stunde überstehen werde, als sie, ihre Augentrocknend, aufblickte und durch das gegenüberliegendeFenstereinefremdeDameindenGartenhereinkommensah.BeimzweitenBlickhattemeineMutterschondiesichereAhnung, daß es Miß Betsey wäre. Die untergehendeSonneschienüberdenGartenzaunaufdiefremdeDame,und diese schritt auf die Türe zu mit einer sounbeugsamen Strenge in Gesicht und Haltung, daß es

  • niemandandersseinkonnte.AlssiedasHauserreichte,liefertesienocheinenandernBeweisihrerIdentität.MeinVaterhatteofterwähnt,daßsie sich selten wie ein gewöhnlicher Christenmenschbenehme;undnuntratsiewirklich,anstattdieGlockezuziehen,andasnächsteFensterunddrückteihreNasemitsolcherEnergiegegendasGlas,daßdieseimAugenblickganz platt und weiß wurde, wie meine Mutter ofterzählte.Sie bekamdarüber einen solchenSchrecken, daß ich esmeiner Überzeugung nach nur Miß Betsey zu dankenhabe,wennichaneinemFreitagzurWeltkam.MeineMutterwar in ihrerAufregung aufgestandenundhinter den Stuhl in eine Ecke getreten.Miß Betsey sahsich durch die Scheiben langsam und forschend imZimmerum,wobeisieamandernEndederStubeanfing,undwendeteautomatenhaftwieeinTürkenkopfaufeinerSchwarzwälderwanduhr dasGesicht, bis ihreBlicke aufmeinerMutter haften blieben.Dann zog sie dieBrauenzusammen und winkte wie jemand, der zu befehlengewohnt ist, daß man ihr die Türe aufmachen solle.MeineMuttergehorchte.»Mrs.DavidCopperfieldvermutlich,«sagteMißBetseymit einer Emphase, die sich wahrscheinlich auf dieTrauerkleider meiner Mutter und auf ihren Zustandbezog.

  • »Ja,«antwortetemeineMutterschüchtern.»HabenSieschonvonMißTrotwoodgehört?«fragtedieDame.MeineMutterentgegnete,siehabedasVergnügengehabt,hatteaberdabeidasunangenehmeGefühl,nichtdarnachauszusehen, als ob es ein überwältigendes Vergnügengewesenwäre.»Jetzt steht sie vor Ihnen,« sagte Miß Betsey. MeineMutterverbeugtesichundbatdieDame,einzutreten.Sie gingen in dasWohnzimmer, aus demmeineMuttergekommen,denndasBesuchzimmeraufderandernSeitedesGangeswarnichtgeheiztundnichtgeheiztgewesenseitmeinesVatersLeichenbegängnis.AlssiebeidePlatzgenommen hatten, Miß Betsey aber nichts sprach, fingmeineMutter,nacheinemvergeblichenBemühensichzufassen,zuweinenan.»O still, still, still!« sagteMiß Betsey hastig. »Nur dasnicht.Laßdas,laßdas!«Meine Mutter aber konnte sich nicht helfen, und ihreTränenflossen,bissiesichausgeweinthatte.»NimmdeineHaubeab,Kind,«sagteMißBetsey,»damitichdichsehenkann.«MeineMutterwarvielzusehreingeschüchtert,umdiesesseltsame Verlangen abzuschlagen, selbst, wenn siegewollthätte.DaherentsprachsiedemWunscheundtatesmitsozitterndenHänden,daßihrHaar,dassehrreich

  • und schön war, sich löste und auf ihre Schulternherabfiel.»Gott bewahre!« rief Miß Betsey, »du bist ja noch einwahresWickelkind.«Allerdings sah meineMutter selbst für ihre Jahre nochsehrjugendlichaus.SieließdenKopfhängen,alsobesihre Schuld wäre, und sagte schluchzend, daß sie auchfürchte, sie sei ein wahres Kind von einer Witwe undwerdeaucheinKindvoneinerMuttersein,wennsieamLebenbliebe.InderkurzenPause,diedarauffolgte,kamesihrfastvor,alsobMißBetsey ihrHaarberührteundzwarnichtmitunsanfter Hand; aber wie sie schüchtern hoffendaufblickte,hattesichdieDamemitaufgeschürztemKleidbereits hingesetzt, dieHändeüber einKniegefaltet, dieFüße auf das Kamingitter gestützt, und starrte grimmiginsFeuer.»Um Gotteswillen?« fragte Miß Betsey plötzlich.»WarumeigentlichKrähenhorst?«»SiemeinendasHaus,Madame?«»Warum Krähenhorst?« fragte Miß Betsey. »Hühnerhofwäre passender gewesen, wenn ihr beide einen BegriffvompraktischenLebengehabthättet.«»Mr. Copperfield hat ihm den Namen gegeben,«erwidertemeineMutter.»AlserdasHauskaufte,meinteer, es müßte hübsch sein, wenn Krähen darin nisten

  • würden.«DerAbendwindfegte indiesemAugenblicksogewaltigdurch die alten hohen Ulmen im Garten, daß sowohlmeineMutterwieMißBetseyunwillkürlichhinaussahen.Als sich dieBäume zueinander neigtenwieRiesen, diesich Geheimnisse zuflüsterten, und gleich darauf inheftige Bewegung gerieten und mit ihren zackigenArmen wild in der Luft herumfuhren, als ob dieseGeheimnisse zu gräßlich für ihre Seelenruhe wären,wurdeneinpaaralte,vomSturmzerzausteKrähennesterauf den höchsten Zweigen wieWracks auf stürmischerSeehinundhergeworfen.»WosinddieVögel?«verhörteMißBetsey.»Was?«MeineMutterhatteanetwasanderesgedacht.»DieKrähen,–wosiehingekommensind?«»Eswarenüberhauptniewelcheda, seitwirhiergelebthaben,« sagte meine Mutter. »Wir dachten, – Mr.Copperfield dachte, es sei ein großer Krähenhorst, aberdie Nester waren alt und von den Vögeln längstverlassen.«»Echt David Copperfield,« rief Miß Betsey. »DavidCopperfield, wie er leibt und lebt! Nennt das HausKrähenhorst,wo gar keineKrähe da ist, und nimmt dieVögelaufgutenGlauben,weilerdieNestersieht.«»Mr.Copperfieldisttot,«gabmeineMutterzurAntwort,»undwennSiesichunterstehen,unfreundlichüberihnzu

  • sprechen,–«Ich glaube, meine arme, liebe Mutter hatte einenAugenblick die Absicht, sich an der Tante tätlich zuvergreifen. Diese hätte sie wohl leicht mit einer Handbezwungen, selbst wenn meineMutter in einer bessernVerfassungfüreinensolchenKampfgewesenwärealsandiesem Abend. Aber es blieb bei einem schüchternenAufstehen. Dann setzte sich meine Mutter wiederschwachniederundfielinOhnmacht.Als sie wieder zu sich kam, sah sie Miß Betsey amFenster stehen. Es war mittlerweile ganz dunkelgeworden,undsoundeutlichsieeinanderunterschieden,hätten sie doch auch das nicht ohne den Schein desFeuerskönnen.»Nun?«fragteMißBetseyundtratwiederzudemStuhl,alshättesiebloßeinenBlickausdemFenstergeworfen,»undwannerwartestdu–––?«»IchzittereamganzenLeibe,«stammeltemeineMutter.»Ichweißnicht,wasesist,ichsterbesicherlich.«»Nein, nein, nein,« sagteMißBetsey; »trink eineTasseTee!«»Ach Gott, ach Gott, meinen Sie, daß mir das gut tunwird?«riefmeineMutterinhilflosemTone.»Selbstverständlich!«sagteMißBetsey.»EsistallesbloßEinbildung.WieheißtdenndasMädchen?«»Ich weiß doch nicht, ob es ein Mädchen sein wird,

  • Madame,«sagtemeineMutterunschuldsvoll.»GottsegnediesesKind!«riefMißBetseyaus,unbewußtden Sinnspruch auf dem Nadelkissen in der Schubladedes obernStocks anführend, aber nichtmitAnwendungauf mich, sondern auf meine Mutter. »Das meine ichdochnicht.IchmeinedochdasDienstmädchen.«»Peggotty,«sagtemeineMutter.»Peggotty!«wiederholteMißBetseyentrüstet.»Willstdudamit sagen, Kind, daß ein menschliches Geschöpf ineinechristlicheKirchegegangenistundsichhatPeggottytaufenlassen?«»Es ist ihr Familienname,« sagte meine Mutterschüchtern. »Mr. Copperfield nannte sie so, weil ihrTaufnamederselbeistwiemeiner.«»Heda, Peggotty!« rief Miß Betsey und öffnete dieZimmertür. »Tee! Deine Herrschaft ist ein bißchenunwohl,aberrasch!«Nachdem sie diesen Befehl so gebieterischausgesprochen, als wäre sie von jeher Herrin diesesHauses, und aus dem Zimmer hinausgespäht hatte, umnachdererstauntenPeggottyzusehen,diebeidemKlangeinerfremdenStimmemiteinemLichtdenGangentlangkam,schloßsiedieTürwiederundsetztesichniederwiezuvor,dieFüßeamKamingitter, dasKleid aufgeschürztunddieHändeübereinKniegefaltet.»Dumeintest,eswerdeeinMädchenwerden,«sagteMiß

  • Betsey. »Ich zweifle keinenAugenblickdaran. IchhabeeinVorgefühl,daßeseinMädchenwird.Nun,Kind!VondemMomentderGeburtdiesesMädchensan––«»Vielleicht ists einKnabe,« erlaubte sichmeineMutter,siezuunterbrechen.»Ichsagtedirbereits,ichhabedasVorgefühl,daßeseinMädchen ist,«entgegneteMißBetsey.»Widersprichmirnichtimmer.AlsovondemAugenblickderGeburtdiesesMädchens an werde ich seine Freundin sein, Kind. Ichwill seine Patin sein, und sie hat Betsey Trotwood-Copperfield zu heißen. Mit dieser Betsey Trotwood-Copperfield soll es im Leben glatt gehen. Mit ihrenGefühlendarfnichtgespieltwerden.ArmesKleines.Siemußguterzogenundinachtgenommenwerden,daßsieihr Vertrauen nicht auf törichte Weise jemand schenkt,deresnichtverdient.DaslaßmeineSorgesein.«BeijedemdieserSätzezuckteMißBetseymitdemKopf,als ob das erlittene Unrecht vergangener Zeiten in ihrwieder lebendig würde und sie einen deutlicherenHinweis darauf nur mit Überwindung unterdrückte. Sovermutete wenigstens meine Mutter, als sie sie beimschwachen Schimmer des Feuers beobachtete, aber zusehrvon ihremWesenerschrecktwarund innerlichvielzu unruhig und zu verwirrt, um überhaupt irgend etwasklarbeobachtenzukönnen.»Und war David gut gegen dich, Kind?« fragte Miß

  • Betsey, nachdem sie eine Weile geschwiegen und dieBewegungihresKopfsallmählichaufgehörthatte.»Habtihreuchgutvertragen?«»Wir waren sehr glücklich,« sagte meine Mutter. »Mr.Copperfieldwarvielzugutzumir.«»Erhatdichalsoverzogen?«»Alleinundverlassenzu seinundohneStütze indieserrauhen Welt dazustehen,« schluchzte meine Mutter,»dazuhatermichwohlnichterzogen.«»Gut.Weine nicht,« sagteMißBetsey. »Ihr paßtet ebennicht zusammen, Kind, – zwei Menschen könnenüberhaupt nicht zusammenpassen – deshalb fragte ich.DuwarsteineWaise,nichtwahr?«»Ja.«»UndGouvernante?«»Ich war Bonne in einer Familie, die Mr. Copperfieldhäufigbesuchte.Mr.Copperfieldwarsehrfreundlichundaufmerksam gegen mich und machte mir zuletzt einenHeiratsantrag.Undichsagteja.UndsowurdenwirMannundFrau,«sagtemeineMuttereinfach.»Ha!ArmesKind!«murmelteMißBetseyundsahimmernochgrimmiginsFeuer.»Verstehstduetwas?«»Ich bitte um Verzeihung,Madame?« stammelte meineMutter.»VonderWirtschaftzumBeispiel,«sagteMißBetsey.

  • »Ich fürchte, nicht viel. Nicht so viel, wie ich möchte.AberMr.Copperfieldunterrichtetemich,–«»Weilerselbersovieldavonverstand,«warfMißBetseyhin.»– und ich glaube, ich hätte bald Fortschritte gemacht,dennichwareifrigimLernenundereinsehrgeduldigerLehrer, wenn nicht das große Unglück – –,« meineMutter verlor wieder die Fassung und konnte nichtweitersprechen.»Schongut,schongut,«sagteMißBetsey.»IchführtemeinWirtschaftsbuchregelmäßigundschloßesmitMr.Copperfield pünktlich jedenAbend ab,« riefmeineMuttermiteinemneuenAusbruchdesSchmerzes.»Schon gut, schon gut,« riefMiß Betsey. »Hör endlichaufzuweinen.«»Und es war nie ein Wort des Streites dabei oder derUneinigkeit, außer wenn Mr. Copperfield tadelte, daßmeineDreierundFünfereinanderzuähnlichsähen,oderdaß ichmeinenSiebnernundNeunernkrauseSchwänzegäbe,«begannmeineMuttervonneuemundwiedervoneinerTränenflutunterbrochen.»Duwirst dich krankmachen,« sagteMiß Betsey, »Duweißt doch, daß das weder für dich noch für meinPatenkindgutist.Komm,dumußtdasbleibenlassen.«Dieses Argument trug einigermaßen dazu bei, meineMutter zum Schweigen zu bringen, obgleich ihr

  • zunehmendes Übelbefinden die Hauptursache seinmochte.EinelängereStilletratein,dienurunterbrochenwurdevoneinemgelegentlichen»Ha!«MißBetseys,dieimmernochmitdenFüßenaufdemKamindasaß.»DavidhatsichmitseinemGeldeineLeibrentegekauft,«sagtesieendlich,»undwiehaterfürdichgesorgt?«»Mr.Copperfield,«sagtemeineMuttermitAnstrengung,»war so vorsichtig und gut, mir die Anwartschaft aufeinenTeildavonzusichern.«»Wieviel?«fragteMißBetsey.»HundertundfünfPfundjährlich.«»Er hätte es noch schlimmer machen können,« sagtemeineTante.DasWort paßte gut für denAugenblick.MeinerMuttergingessovielschlimmer,daßPeggotty,dieebenmitdemTeebrettundLichternhereinkamundaufdenerstenBlicksah,wiekranksiewar,–MißBetseyhätteesschonehersehenkönnen,wenneshellgenuggewesenwäre,–siesoraschwiemöglich indieobereStubehinaufbrachteundsofortHamPeggotty,ihrenNeffen,derseiteinigenTagenohne Wissen meiner Mutter als Bote fürunvorhergesehene Fälle im Hause verborgen gehaltenwurde,nachderHebammeunddemDoktorschickte.Diese verbündetenMächte, die sich imVerlaufwenigerMinuten zusammenfanden, waren sehr erstaunt, einefremde Dame von strengem Aussehen vor dem Feuer

  • sitzen zu sehen, den Hut am linken Arm hängend, undsichdieOhrenmitJuwelierbaumwollezustopfend.Da Peggotty nichts über sie wußte und meine Mutternichtsübersiehattefallenlassen,bliebsieeinungelöstesRätsel in derWohnstube, und derUmstand, daß sie einBaumwollenmagazin in der Tasche trug und sich dieWatteaufbesagteWeise indieOhrenstopfte, raubte ihrnichtsvonihremAnsehen.Nachdem der Doktor oben gewesen und wiederheruntergekommen war und offenbar vermutete, daß ermit der unbekannten Dame einige Stunden würdezusammenbleibenmüssen, bemühte er sich, höflich undgesellig zu erscheinen. Er war der sanfteste seinesGeschlechts, der mildeste aller kleinen Männer. ErdrücktesichbeimEin-undAusgehenseitwärtsdurchdieTüren,ummöglichstwenigRaumeinzunehmen.Ergingso leise wie der Geist des Hamlet aber noch viellangsamer.ErtrugdenKopfaufeineSeitegeneigt, teilsausBescheidenheit, teilsausEntgegenkommen.Eswärezuweniggesagt,daßernichteinmalfüreinenHundeinböses Wort gehabt hätte. Er hätte nicht einmal einemtollenHundeinbösesWortsagenkönnen.Höchstenseinsanftes oder ein halbes oder ein Bruchstück davon, –dennersprachsolangsam,wieerging,–abererwürdenicht grob gegen ihn gewesen sein. Nicht einmal einrasches,nichtumallesinderWelt.

  • Mr.ChillipsahalsomeineTante,denKopfaufdieSeitegeneigt, sanft an, machte eine kleine Verbeugung undsagte,aufdieWatteanspielend,indemerseinlinkesOhrberührte:»LokaleReizung,Madame?«»Was?« fragtemeineTanteundzogdieBaumwollewieeinenKorkauseinemOhr.Mr.ChilliperschraksosehrüberihrbarschesWesen,wieer spätermeinerMuttererzählte,daßesnocheinGlückwar,daßerdieFassungnichtverlor.Erwiederholtesanft:»LokaleReizung,Madame?«»Unsinn!« antwortetemeineTante und verstopfte sofortdasOhrwieder.Mr. Chillip konnte nun weiter nichts tun, als Platznehmenundsieschüchternansehen,wiesiesodasaßundinsFeuerstarrte,biserwiederhinaufgerufenwurde.Nach viertelstündiger Abwesenheit kehrte er wiederzurück.»Nun?«fragtemeineTanteundnahmdieWatteausdemihmamnächstenliegendenOhre.»Nun, Madame,« antwortete Mr. Chillip, »wir – wirmachenlangsamFortschritte.«»Ba-a-ah,« sagtemeineTante, denverächtlichenAusrufförmlich hervorstoßend, und verstopfte sich wieder wievorhin.

  • InderTat–inderTat,Mr.Chillipwargeradezubestürzt,–wie er spätermeinerMutter gestand; – natürlich bloßvomärztlichenGesichtspunktaus.Aber trotzdemstarrteer Miß Betsey fast zwei Stunden lang an, bis er vonneuemgerufenwurde.NachlängererAbwesenheitkehrteerwiederumzurück.»Nun?«fragtemeineTanteundnahmabermalsdieWatteausdemgleichenOhr.»Nun, Madame,« antwortete Mr. Chillip, »wir – wirmachenlangsamFortschritte,Madame.«»Ja-a-a,«knurrtemeineTanteMr.Chillipderartan,daßeresfürwahrnichtlängermehraushaltenkonnte.Eswarfastdarnachangetan, ihmallenMutzunehmen,äußerteerspäter.Darumginger lieberhinausund setzte sichdraußen imDunkelnaufdiezugigeTreppe,bismanwiedernachihmschickte.HamPeggotty, der in dieVolksschule ging undwie einDrache über seinem Katechismus zu sitzen pflegte unddeshalb sicher als glaubwürdiger Zeuge gelten kann,erzählteamnächstenTag,erhätteeineStundespäterzurStubentür hereingeguckt und wäre sogleich von MißBetsey, die in großer Erregung auf- und abgegangen,erspäht und gepackt worden, ehe er die Flucht habeergreifenkönnen.Erberichteteferner,daßmanzuweilendasGeräusch vonFußtritten undStimmen in den obern

  • Zimmerngehörthätte,daswahrscheinlichdieWattenichtganz abhielt,wie er aus demUmstande schloß, daß ihndie Dame wie ein Opfer festhielt und an ihm ihreüberströmende Aufregung ausließ, wenn die Geräuscheam lautesten waren. Sie hätte ihn am Kragen gepacktgehaltenundinderStubeauf-und»abgeführt«(alsoberzuviel Laudanum genossen), hätte ihn geschüttelt, ihmdieWäsche zerzaust und dieOhren verstopft, als ob esihre eignen gewesen wären, und ihn auf andere Weisemißhandelt. Sein Bericht wurde zum Teil von Peggottybestätigt, die ihn um halb ein Uhr, kurz nach seinerBefreiung,nochganzrotgesehenhatte.Der sanfte Mr. Chillip konnte niemand böse sein undwenn überhaupt je, so am allerwenigsten in solcherStunde. Er drückte sich deshalb in das Wohnzimmer,sobalderabkommenkonnteundsagtezumeinerTanteinseinenmildestenTönen:»Madame, es freut mich, Sie beglückwünschen zukönnen.«»Wozu?«fragteMißBetseymitSchärfe.Mr. Chillip, wiederum verwirrt durch dieaußerordentliche Schroffheit meiner Tante, machte ihreine kleine Verbeugung und lächelte sie an, um sie zubesänftigen.»OdieserMensch,wasernurmacht,« riefmeineTanteungeduldig,»kannerdennnichtsprechen!«

  • »Beruhigen Sie sich,meine teuereMadame,« sagteMr.ChillipmitseinenweichstenLauten.»EsistnichtlängerUrsache zur Besorgnis mehr vorhanden, Madame.BeruhigenSiesich.«ManhatesspäterfüreinWunderangesehen,daßmeineTanteihnnichtschüttelte,umdas,waserzusagenhatte,aus ihm herauszuschütteln. Was sie schüttelte, war nurder Kopf, den aber so drohend, daß es den Doktorerzitternmachte.»Nun,Madame,«begannMr.Chillipvonneuem,sobalder wieder Mut gefaßt, »es freut mich, Siebeglückwünschen zu können. Alles ist nun vorbei,Madame,undglücklichvorbei.«Während der fünf Minuten, die Mr. Chillip zu dieserRede brauchte, sah ihnmeine Tante lauernd und scharfan.»Wie befindet sie sich?« fragte meine Tante undverschränkteihreArme,andereneinemimmernochderHuthing.»Nun, Madame, sie wird bald wieder ganz wohl sein,hoffe ich,«antworteteMr.Chillip,»sowohl,wiewiresvon einer jungen Mutter unter so getrübten häuslichenVerhältnissennurerwartenkönnen.WennSiesiesogleichsehen wollen, steht dem nichts im Wege, Madame.Vielleichttutesihrsogargut.«»Undsie?Wiegehtesihr?«

  • Mr.ChillipneigteseinenKopfnocheinbißchenmehraufdieSeiteundsahmeineTanteanwieeinliebenswürdigerVogel.»DasBaby?«sagtemeineTante,»wiegehtesihr?«»Madame,« erwiderte Mr. Chillip. »Ich nahm an, Siewüßtenesschon.EsisteinKnabe.«Meine Tante sprach keinWort, nahm ihren Hut an denBändernwie eine Schleuder, führte einen Streich damitgegenMr.ChillipsKopf, stülpte ihn aufsHaupt, schritthinausundkamniemalswieder.Sieverschwand,wieeineunzufriedeneFeeoderwieeinsjener übernatürlichen Wesen, die ich nach demVolksglaubenberechtigtwar, sehenzukönnen;ginghinundwardnichtmehrgesehen.Ich lag in meiner Wiege und meine Mutter im Bett.Betsey Trotwood-Copperfield aber blieb für immer imLande der Träume und Schatten, in jener grauenvollenRegion, die ich jüngst durchwandert. Und das LichtunseresZimmersschienhinausaufdasirdischeZielallerWanderer aus dieser Region: auf den Hügel über derAsche und dem Staube dessen, der einst hieniedengeweilt,undohnedenichniegewordenwäre.

  • ZweitesKapitel.Ichbeobachte.

    DieerstenGegenstände,diebestimmteUmrissevonmirannehmen, wenn ich weit zurück in die Leere meinerKindheit blicke, sind meine Mutter mit ihrem schönenHaar und den jugendlichen Formen und Peggotty mitüberhaupt gar keiner Form und mit so dunkeln Augen,daß sie ihre Umgebung im Gesicht dunkel zu machenscheinen, und mit Armen und Backen so rot, daß ichmich stets wunderte, warum die Vögel nicht lieber anihnenstattandenÄpfelnherumpickten.Ichglaube,michnochdaranerinnernzukönnen,wiediebeidenFraueninkleinerEntfernungvoneinanderaufdemBoden knieten, und ich unsicher von einer zur andernwankte. Ich habe auch noch eine dunkle Erinnerung anPeggottysZeigefinger,dervonderNadelsorauhwarwieeinTaschenmuskatnußreibeisen.Das mag Einbildung sein, aber ich glaube, daß dasGedächtnis der meisten Menschen weiter in dieKinderzeit zurückreicht, als man gewöhnlich annimmt;ebensoglaubeich,daßdieBeobachtungsgabebeivielenkleinen Kindern an Schärfe und Genauigkeit ganzwunderbar ist. Ich glaube sogar, daß man von denmeisten Erwachsenen, die in dieser Hinsichtbemerkenswert sind, viel eher sagen könnte, sie hätten

  • diese Fähigkeit nicht verloren, als, sie hätten sie erstspäter erworben; um so mehr, als solche Menschenüberdies eine gewisse Frische und Sanftmut und eineFähigkeit, sich über irgend etwas zu freuen, besitzen,lauter Eigenschaften, die sie ebenfalls aus der Kindheitmitherübergenommenhaben.Wennichalso,wiegesagt,indieLeeremeinerfrühestenJugendzurückblicke,sinddieerstenGegenstände,derenichmichentsinnenkann,unddieausdemWirrwarrderDinge hervorstechen, meine Mutter und Peggotty. Wasweißichsonstnoch?Wollenmalsehen.EsscheidetsichausdemNebelunserHausinseinermirin frühester Erinnerung vertrauten Gestalt. ImErdgeschoß geht Peggottys Küche auf den Hinterhofhinaus;dasind: inderMitteeinTaubenschlagaufeinerStange, aber ohne Tauben; eine große Hundehütte ineiner Ecke, aber kein Hund darin, und eine AnzahlHühner,diemir erschrecklichgroßvorkommen,wie siemitdrohendemundwildemWesenherumstolzieren.EinHahnfliegtaufeinenPfosten,umzukrähen,undscheintseinAuge ganz besonders aufmich zu richten, wie ichihndurchdasKüchenfensterbetrachte;undichzitterevorFurcht,weilersobösist.VondenGänsenaußerhalbderSeitentür, die mir mit langausgestreckten Hälsennachlaufen, wenn ich vorbeigehe, träume ich die ganzeNacht, wie ein Mann, den wilde Tiere umgeben, von

  • Löwenträumenwürde.Dann ist ein langer Gang da, – für mich eine endlosePerspektive – der von Peggottys Küche zum Haupttorführt. Eine dunkle Vorratskammer mündet auf diesenGang; – so recht ein Ort, um des Nachts daran scheuvorbeizulaufen –, denn ich weiß nicht, was zwischendiesen Tonnen undKrügen und alten Teekisten steckenmag –, wenn sich nicht gerade jemand mit einembrennenden Licht in der Kammer befindet. Einedumpfige Luft, mit der sich der Geruch von Seife,Mixed-Pickles, Pfeffer, Kerzen und Kaffee vermischt,strömt heraus. Dann sind die beiden Wohnzimmer da:Daseine,indemabendsmeineMutter,ichundPeggottysitzen,–dennPeggottyleistetunsGesellschaft,wennwirallein sind, und sie ihre Arbeit gemacht hat, – und dasEmpfangszimmer, wo wir Sonntags sitzen, prunkvoll,abernichtsotraulich.FürmichhatdiesesZimmeretwasSchwermütiges,dennPeggottyhatmirerzählt,–ichweißzwarnichtmehr,wann,aberesmußlangehersein–alsmeinVater begrabenwurde,wären die Trauergäste drinmitschwarzenMäntelnumhergegangen.Dort liest jedenSonntagabendsmeineMutterPeggottyundmirvor,wieLazarus von den Toten auferweckt wurde. Und ichängstigemichsosehrdarüber,daßsiemichdannausdemBette herausnehmen und mir aus demSchlafzimmerfensterdenstillenKirchhofzeigenmüssen,wodieToten im feierlichenMondlicht in ihrenGräbern

  • ruhen.Auf der ganzenWelt, soviel ich weiß, ist nirgends dasGrasnurhalbsogrün,wieaufdiesemKirchhof,nirgendssind die Bäume halb so schattig, und nichts ist so still,wie die Grabsteine. Die Schafe weiden dort, wenn ichfrühmorgensindemkleinenBettindemAlkovenhintermeiner Mutter Schlafzimmer kniee und hinausschaue,und ich sehe das rötliche Licht auf die Sonnenuhrscheinen und denke bei mir: Freut sich die Sonnenuhr,daßsiedieZeitangebenkann?Dann ist unser Betstuhl in der Kirche da. Was für einhochrückigerStuhl!DanebenisteinFenster,vondemausman unser Haus sehen kann. Und oftmals während desMorgengottesdienstesblicktPeggottyhinaus,umsichzuvergewissern,obnichteingebrochenoderetwasinBrandgesteckt wird. Wenn sie selbst auch ihre Augenumherwandern läßt, so wird sie doch böse, wenn ichdasselbe tue, undwinktmir zu, wenn ich auf dem Sitzstehe, daß ichdenGeistlichen anblicken solle.Aber ichkann ihndochnicht immerfort ansehen– ich kenne ihndoch sowieso auchohnedasweißeDing, das er umhat,und fürchte immer, er könne plötzlich wissen wollen,warum ich ihn so anstaune, und vielleicht gar denGottesdienstunterbrechen,ummichdarüberzubefragen,–undwassollteichdanntun?EsistetwasSchreckliches,zugähnen.Aberirgendetwas

  • mußichdochmachen.IchblickemeineMutteran,abersie tut, als ob sie mich nicht sähe. Ich schaue einenJungenimSeitenschiffan;erschneidetmirGesichter.Ichsehe auf die Sonnenstrahlen, die durch die offne Türhereinfallen,unddaerblickeicheinverirrtesSchaf,–ichmeinenicht–einenSünder,sonderneinenHammel,derMienemacht, indieKirchezu treten. Ich fühle,daß ichnicht länger hinschauen kann, denn ich könnte inVersuchung kommen, etwas laut zu sagen, und waswürde dann aus mir werden. Ich blicke auf dieGedächtnistafeln an der Wand und versuche, an denverstorbenen Mr. Bodgers zu denken, und welcher ArtwohlMrs.BodgersGefühlegewesenseinmögen,alsihrMann solange krank lag und die Kunst der Ärztevergebens war. Ich fragemich, ob sie auchMr. Chillipvergeblichgerufenhabenundwenn,obes ihmrecht ist,daranjedeWocheeinmalerinnertzuwerden.Ichschauevon Mr. Chillip in seinem Sonntagshalstuch nach derKanzel hin und denke, was für ein hübscher Spielplatzdas sein müßte, und was das für eine feine Festungabgeben würde, wenn ein anderer Junge die Treppenheraufkäme zum Angriff, und man könnte ihm dasSamtkissenmit den Troddeln auf den Kopf schmeißen.Undwenn sich nach und nachmeine Augen schließen,und ich anfangs den Geistlichen in der Hitze noch einschläfriges Lied singen höre, vernehme ich bald garnichtsmehr.Dann falle ichmit einemKrachvomSitze

  • und werde mehr tot als lebendig von Peggottyhinausgetragen.Und dann wieder sehe ich die Außenseite unseresHauses, und die Fensterläden des Schlafzimmers stehenoffen, damit die würzige Luft hineinströmen kann, undim Hintergrund des Hauptgartens hängen in den hohenUlmendiezerzaustenKrähennester.JetztbinichindemGartenhinterdemHofmitdemleerenTaubenschlagundderHundehütte – einwahrer Park für Schmetterlinge –mit seinem hohen Zaun und seiner Türe mitVorhängeschlössern, und das Obst hängt dick an denBäumen, reifer und reicher als in irgendeinem andernGarten, und meine Mutter pflückt die Früchte in einKörbchen,währendichdabeisteheundheimlicheinpaarabgezwickteStachelbeerenraschindenMundsteckeundmichbemühe,unbeteiligtauszusehen.Ein starkerWind erhebt sich und imHandumdrehen istder Sommer weg. Wir spielen im Winterzwielicht undtanzen in der Stube herum. Wenn meine Mutter außerAtemistund imLehnstuhlausruht, sehe ich ihrzu,wiesie ihre glänzenden Locken um die Finger wickelt undsich dasLeibchen glatt zieht, und niemandweiß so gutwie ich,daß sie sich freut, sogut auszusehen,und stolzist,sohübschzusein.DassindsoeinigevonmeinenfrühestenEindrücken.DasundeinGefühl,daßwirbeideeinbißchenAngsthatten

  • vor Peggotty und uns in den meisten Fällen ihrenAnordnungen fügten, gehört zu den ersten Schlüssen, –wenn ichso sagendarf,–die ichausdemzog,was ichsah.Peggotty und ich saßen eines Abends allein in derWohnstube vor dem Kamin. Ich hatte Peggotty vonKrokodilenvorgelesen.Ichmußwohlkaumsehrdeutlichgelesen haben, oder die arme Seele muß in tiefenGedankengewesensein,denn icherinneremich,als ichfertigwar, hatte sie so eine Idee,Krokodilewären eineArtGemüse.IchwarvomLesenmüdeundsehrschläfrig,aber da ich die besondere Erlaubnis bekommen hatte,aufzubleiben, bismeineMutter von einemBesuch nachHausekäme,wäreichnatürlichlieberaufmeinemPostengestorbenalszuBettgegangen.IchwarbereitsaufeinemStadium von Schläfrigkeit angekommen, wo Peggottymirimmergrößerundgrößerzuwerdenschien.IchhieltmeineAugenmitdenbeidenZeigefingernoffenundsahsieununterbrochenan,wiesieauf ihremStuhlesaßundarbeitete, betrachtete dann das kleine StückchenWachslicht,mitdemsieihrenZwirnwichste,–wiealtesaussahmitseinenRunzelnkreuzundquer–dasHüttchenmit dem Strohdach, worin das Ellenmaß wohnte, dasArbeitskästchen mit dem Schiebedeckel und einerAnsicht darauf von der St. Paulskirche mit einerpurpurroten Kuppel, den messingnen Fingerhut und sieselbst,diemirungemeinschönvorkam.Ichwarsomüde,

  • daßichfühlte,ichwürdeeinschlafen,wennichnureinenAugenblickmeineAugenabwendete.»Peggotty,« sagte ich dann plötzlich: »Bist du einmalverheiratetgewesen?«»Herr Gott, Master Davy!« erwiderte Peggotty, »wiekommstdunuraufsHeiraten?«Sie antwortete soüberrascht, daß ichganzwachwurde.Dannhieltsie innein ihrerArbeitundsahmichan,denFadeninseinerganzenLängestraffgezogen.»Aber du warst doch einmal verheiratet, Peggotty?«fragteich.»Dubistdochwunderschön,nichtwahr?«Ichhielt sie allerdings für eine andere Stilart als meineMutter, aber nach einer andern Schule vonSchönheitsbegriff gesehen, kam sie mir alsvollkommenesMuster vor. In unserm EmpfangszimmerwareinrotsamtenesFußbänkchen,aufdasmeineMuttereinen Blumenstrauß gemalt hatte. Dieser Samt undPeggottys Haut schienenmir ganz gleich. Die FußbankwarglattundweichundPeggottyrauh,aberdasmachtekeinenUnterschied.»Ich,schön,Davy!«sagtePeggotty.»OGott,nein,meinliebesKind.AberwiekommstduaufsHeiraten?«»Ich weiß nicht. – Du darfst nicht mehr als einen aufeinmalheiraten,nichtwahr,Peggotty?«»Gewiß nicht,« sagte Peggotty mit größterEntschiedenheit.

  • »AberwenndueinenMannheiratestunderstirbt,danngeht's,nichtwahr,Peggotty?«»Es geht schon, wenn man will, liebes Kind,« sagtePeggotty.»DasistdannebenmeineSache.«»AberwasistdeineMeinung,«fragteich.Bei dieser Frage blickte ich sie neugierig an, weil siemichsoseltsammusterte.»Meine Meinung ist,« sagte Peggotty, als sie nachkurzem Zögern ihre Augen von mir abgewendet undwieder zu arbeiten begonnen hatte, »daß ich selbstniemals verheiratet gewesen bin,MasterDavy, und daßichauchnichtdarandenke.Dasistalles,wasichvonderSacheweiß.«»Dubistdochnichtböse,Peggotty?«fragteich,nachdemicheineWeilestillgewesen.Ichglaubteeswirklich,sokurzhattesiemichabgefertigt,mußte aber wohl im Irrtum sein, denn sie legte ihrStrickzeug weg, öffnete ihre Arme, nahm meinenlockigen Kopf und drückte mich fest an sich. Daß siemich derb an sich preßte, wußte ich, denn da sie sehrbeleibtwar, sopflegten stets,wenn sie angekleidetwar,beijederkleinenAnstrengungeinpaarKnöpfehintenanihrem Kleid abzuspringen. Und ich erinnere mich, daßzwei Stück in die entgegengesetzte Zimmerecke flogen,alssiemichumarmte.»Nun lies mir noch etwas von den Krorkingdilen vor,«

  • sagte Peggotty, die in diesem Namen noch nicht rechtsattelfest war, »ich habe noch lange nicht genug vonihnengehört.«Ich konnte nicht recht begreifen, warum Peggotty sowunderlicheAugenmachteunddurchauswiedervondenKrokodilen hören wollte. Mit großem Eifer meinerseitskehrtenwirjedochwiederzudenUngeheuernzurückundließendieSonneihreEierimSandeausbrüten,rissenvorihnen aus und entrannen ihnen durch plötzlichesUmkehren, was sie ihres ungeschlachten Baues wegennicht so rasch nachmachen konnten, verfolgten sie alsEingeborene ins Wasser und steckten ihnenscharfgespitzte Holzstücke in den Rachen, kurz, ließensie förmlich Spießruten laufen. Ich wenigstens tat es,hatteaberbetreffsPeggottyssomeineZweifel,dennichsah, wie sie sich die ganze Zeit über in Gedankenversunken mit der Nadel in verschiedene Teile ihresGesichts und ihrer Arme stach. Wir hatten endlich dieKrokodile erschöpft und begannen eben mit denAlligatoren, als die Gartenglocke läutete. Wir gingenhinaus und fanden da meine Mutter, die mirungewöhnlichhübschvorkam,undbeiihrstandderHerrmit schönem, schwarzem Haar und Backenbart, derschon am letzten Sonntagmit uns aus der Kirche nachHausegegangenwar.Als meineMutter mich auf der Schwelle in ihre Arme

  • nahmundmichküßte,sagtederHerr,ichseiglücklicheralseinKönig–oderetwasÄhnliches–; ichfühlewohl,daßmirmeinspäteresVerständnishierzuHilfekommt.»Was heißt das?« fragte ich ihn über ihre Schulterhinweg.Er klopftemich auf denKopf, aber ich konnte ihn undseinetiefeStimmenichtleidenundwareifersüchtig,daßseineHanddiemeinerMutterberührte,undichstießihnweg,sogutichkonnte.»AberDavy,«ermahntemichmeineMutter.»Der liebe Junge,« sagtederHerr. »IchkannmichüberseineLiebenichtwundern.«Noch nie hatte ich meinerMutter Gesicht so schön rotgesehen. Sie schalt mich milde aus wegen meinerUnhöflichkeit und sprach, indem sie mich fest an sichdrückte, ihren Dank dem Herrn aus, der so freundlichgewesen, sie nach Hause zu begleiten. Sie reichte ihmihre Hand hin bei diesenWorten, und als er sie nahm,kamesmirvor,alsobsiemichanblickte.»Jetzt wollen wir uns gute Nacht wünschen, meinhübscher Junge,« sagte der Herr zu mir, als er seinGesicht, wie ich wohl bemerkte, auf meiner MutterkleinenHandschuhneigte.»GuteNacht,«sagteich.»Wir müssen noch die besten Freunde von der Weltwerden,«lachtederHerr,»gibmirdieHand.«

  • Meine rechteHand lag inmeinerMutterLinkenund sogabichihmdieandere.»Aber das ist ja die falsche, Davy,« sagte er wiederlachend.Meine Mutter zog meine rechte Hand hervor, aber ichwarentschlossen,sieihmnichtzugebenundtatesauchnicht.Soreichteichihmdieandereunderschütteltesieundsagte,ichseieinbraverJunge,undgingfort.Und noch jetzt seh ich ihn, wie er sich im Gartenumdrehte und uns einen letzten Blick aus seinenunangenehmen,schwarzenAugenzuwarf,eheerdasTorschloß.Peggotty, die kein Wort gesprochen und keinen Fingergerührthatte,schobsofortdieRiegelvor,undwirgingenalleindasWohnzimmer.AnstattsichwiegewöhnlichindenLehnstuhlnebendemKaminzusetzen,bliebmeineMutteramandernEndedesZimmersundsangvor sichhin.»– hoffe, Sie haben einen angenehmen Abend verlebt,Ma'am,« sagte Peggotty, die mit einem Leuchter in derHandsteifwieeineTonnemittenimZimmerstand.»Danke schön, Peggotty,« erwiderte meine Mutter sehraufgeräumt. »Ich habe einen sehr angenehmen Abendverbracht.«»Eine neue Bekanntschaft ist immer eine angenehmeAbwechslung,«bemerktePeggotty.

  • »Eine sehr angenehme Abwechslung,« erwiderte meineMutter.Peggotty blieb regungslos in der Mitte des Zimmersstehen,meineMutter fingwieder zu singen an, und ichschlief ein,wenn auch nicht so fest, daß ich nicht nochhätte Stimmen hören können, ohne aber zu verstehen,was sie sagten. Als ich aus diesem unbehaglichenSchlummerhalberwachte,sahich,daßmeineMutterundPeggotty beide weinten und in großer Aufregungmiteinandersprachen.»So einer wie dieser hätte Mr. Copperfield nichtgefallen,« sagte Peggotty. »Das ist meineMeinung unddiebeschwörich.«»Gott imHimmel!« riefmeineMutter. »Duwirst michnoch wahnsinnig machen. Wurde jemals ein armesMädchenvonseinenDienstbotensomißhandelt.Warumfüge ich mir das Unrecht zu und nenne mich einMädchen? War ich vielleicht niemals verheiratet,Peggotty?«»Gott weiß, daß Sie es waren, Ma'am,« erwidertePeggotty.»Wiekannst du es dannwagen,« sagtemeineMutter, –»du weißt, ich meine nicht, wie du es wagen kannst,Peggotty,sondernwieduesübersHerzbringenkannst,–michsozuverstimmenundmirsoböseWortezusagen,wo du doch recht gut weißt, daß ich außer demHause

  • nichteineneinzigengutenFreundhabe.«»Um so mehr Grund für mich, Ihnen zu sagen, daß esnicht geht,« entgegnete Peggotty. »Nein, es geht nicht,nein,umkeinenPreis.Nein!«Ichdachteschon,Peggottywürde den Leuchter wegwerfen, so energisch schwangsieihn.»Wie kannst du es nur so aufbauschen,« sagte meineMutter und fing von neuem an zu weinen, »und soungerecht sein. Du tust so, als wenn alles schonabgemachtwäre,Peggotty,und ichsagedirdoch immerund immer wieder, du grausames Ding, daß außer dengewöhnlichsten Höflichkeiten nichts vorgefallen ist. DusprichstvonBewunderung.Waskannichdafür,wenndieLeutesoalbernsind,solchenGefühlennachzugeben, istdasmeineSchuld?Wassollichdenntun,frageichdich?Willstduvielleicht,daßichmirdieHaareschneidenoderdasGesichtschwärzenodermichdurcheinenBrandfleckoder heißes Wasser oder sonst etwas Ähnlichesverunstalten soll? Ich glaube, du wärst es imstande,Peggotty. Ich glaube, du würdest dich sogar drüberfreuen.«PeggottyschiensichdieseZumutungsehrzuHerzenzunehmen,wiemirvorkam.»Undmein lieber Junge,« schriemeineMutter, kam zumirindenLehnstuhlundliebkostemich.»MeineinzigerkleinerDavy!Lasse ich es vielleicht anLiebe fürmein

  • Herzblattfehlen?FürdenallerbestenkleinenJungen,denesjegegebenhat?«»KeinMenschhatdasbehauptet,«sagtePeggotty.»Jadu,Peggotty,«gabmeineMutterzurück,»duweißtesganz gut.Was soll ich denn anderes aus deinenWortenschließen,duunfreundlichesGeschöpf,wodudochrechtgut weißt, daß ich mir bloß seinetwegen keinen neuenSonnenschirmgekaufthabe,obwohlderalte,grüneganzabgeschoben ist und gar keine Fransen mehr hat. Duweißt es, Peggotty, und kannst es nicht leugnen.«Dannwandtesiesichwiederzärtlichzumir, legte ihreWangeanmeine.»Bin ichdir einenichtsnutzigeMama,Davy?Bin ich eine hartherzige, grausame, selbstsüchtige,schlechteMama?SagJa,meinKind,undPeggottywirddichlieben,undPeggottysLiebeistvielbesseralsmeine,Davy.Ichliebedichgarnicht,nichtwahr?«Darüberfingenwiralleanzuweinen.Ichglaube,ichwarderlautestevonihnen,aberichweißsicher,wirmeintenes alle gleich aufrichtig. Ich war tief unglücklich undhabe, fürchte ich, in der ersten Aufwallung verletzterZärtlichkeit Peggotty ein »Biest« genannt. Ich erinneremich noch, das ehrliche Geschöpf geriet in die tiefsteBetrübnisundmußbeidieserGelegenheitganzknopflosgeworden sein, denn eine ganzeSalve dieserGeschosseflogab,alssievormeinemStuhleniederkniete,umsichmitmeinerMutterundmirzuversöhnen.

  • WirgingensehrniedergeschlagenzuBett.MeinWeinenhielt mich lange wach, und wenn mich ein besondersheftigesSchluchzen indieHöhe riß, sah ich,daßmeineMutteraufdemBettrandsaßundsichübermichbeugte.DannschlummerteichinihrenArmenfestein.Ob schon am folgenden Sonntag der Herr wieder kam,oder ob ein längerer Zeitraum dazwischen lag, ist mirnicht mehr erinnerlich. In der Zeitrechnung bin ichmeinernichtganzsicher.AbererwarinderKircheundbegleiteteunsdannnachHause.Er trat auch zu uns herein, um ein schönes Geraniumanzusehen,dasimFensterstand.Eskammirnichtsovor,alsoberesbesondersbeachtete,abereheerging,batermeine Mutter, ihm eine Blüte davon zu geben. Sie batihn,sichselbsteineauszusuchen,aberdaswollteernicht,– warum, war mir unbegreiflich –, und so pflückte sieihm denn eine Blüte und gab sie ihm in die Hand. Ersagte, er werde sich niemals im Leben davon trennen,und ich dachte mir, er müsse sehr dumm sein, weil ernicht wisse, daß die Blätter in ein oder zwei Tagenausfallenwürden.Peggottyfingan,unsabendswenigeroftGesellschaftzuleisten als früher. Meine Mutter gab ihr in sehr vielenDingennach,mehrnochalsgewöhnlich,wiemirschien,undwirbliebenalledreidieallerbestenFreunde.Aberdochwareszwischenunsandersgeworden,undes

  • war uns nicht mehr so behaglich zu Mute. Manchmalkamesmirsovor,alsobPeggottynichtrechtzufriedenwäre,wennmeineMutterdieschönenKleideranzog,diesie im Schrank hängen hatte, und so oft die Nachbarnbesuchenging.Aberichwarganzfroh,daßichmirkeineGedankendarüberzumachenbrauchte.Allmählichgewöhnteichmichdaran,denHerrnmitdemschwarzen Backenbart zu sehen. Er gefiel mir nichtbesseralsamAnfang,undichfühlteimmernochdieselbeunbestimmte Eifersucht. Aber wenn ich außer eineminstinktiven,kindlichenWiderwillenunddemGedankenim allgemeinen, daß Peggotty und ich vollkommenausreichenmüßten,meineMutterohneweiternBeistandglücklich genug machen zu können, noch einen andernGrunddafürhatte,waresdochgewißnichtder,den ichim reifern Alter für meine Abneigung herausgefundenhätte. Nichts Derartiges fiel mir ein. Ich konnte wohlstückweisebeobachten,aberaussolchenFädeneinNetzzu machen und darin jemand zu fangen, das ging undgehtnochjetztübermeinKönnenhinaus.AneinemHerbstmorgenstand ichmitmeinerMutter indemVorgarten,alsMr.Murdstone,ichkanntejetztseinenNamen, vorbeigeritten kam. Er hielt sein Pferd an, ummeine Mutter zu begrüßen, und sagte, er ritte nachLowestoft,umeinigeFreundezubesuchen,diedorteineJacht hätten, und machte den lustigen Vorschlag, mich

  • vorsichaufdenSattelzunehmen,wennichreitenwollte.DasWetterwarsowunderschön,unddasPferdschnaubteundstampftesomuntervorderGartentür,daßichgroßeLust dazu hatte. Meine Mutter schickte mich daher zuPeggotty hinauf zum Anziehen, und mittlerweile stiegMr.Murdstoneabundschritt,dieZügelüberdemArm,langsamvorderRosenheckeaufundab,währendmeineMutter an der innern Seite neben ihm herging. Icherinnere mich noch, wie Peggotty und ich aus demkleinenFensterhinabsahen,erinneremichauchnoch,wieeifrigmeineMutterundMr.MurdstonedieRosenheckezwischensichzubetrachtenschienen,währendsiedaranentlangschlenderten, und wie Peggotty, die vorher inwahrer Engelslaune gewesen, plötzlich ganz ärgerlichwurdeundmeinHaarwütendgegendenStrichbürstete.Mr.Murdstoneundichwarenbaldunterwegsundtrabtenauf dem grünen Rasen neben der Landstraße dahin. Erhielt mich leichtmit einemArm, und ich glaube nicht,daß ich besonders unruhig war. Aber ich konnte michnichtenthalten,vonZeitzuZeitdenKopfzuwendenundihminsGesichtzusehen.Er hatte jeneArt seichter schwarzerAugen, – ich findekeinen bessern Ausdruck dafür, –, die, wenn sienachsinnen, durch irgendeine sonderbare Lichtbrechungzu schielen scheinen. VerschiedeneMale, wenn ich ihnansah, bemerkte ich das mit einer Art Scheu und hätte

  • gern gewußt, worüber er wohl so tief nachdenke. SeinHaar und sein Bart waren in der Nähe noch schwärzerund dichter, als ich geglaubt. Das starke Kinn und dieschwarzenPunkte,dievondemsorgfältigrasiertenBarteübrig blieben, erinnerten mich an eine Wachsfigur, dievoreinemhalbenJahrinunsererGegendgezeigtwordenwar. Dieses, seine regelmäßigen Augenbrauen und dasreiche Weiß, Schwarz und Braun seines Teints, –verwünschtseiseinTeintundverwünschtseinAndenken–machten,daßichihntrotzmeinerAbneigungfüreinenschönenMannhielt. Ich zweiflenicht, daßmeine arme,liebeMutterganzderselbenMeinungwar.WirgingenineinGasthausamMeere,wozweiHerrenineinemZimmerZigarrenrauchten.Jedervonihnenlagaufmindestens vier Stühlen und hatte eine weite zottigeJacke an. In einer Ecke lagen auf einem Haufenübereinander Röcke und Bootsmäntel und eine Flagge.Beide Herren richteten sich schwerfällig auf, als wireintraten, und riefen: »Hallo, Murdstone! Wir dachtenschon,duwäresttot.«»Nochnicht,«sagteMr.Murdstone.»Was ist das für ein Gelbschnabel?« fragte einer derGentlemanundfaßtemichamArm.»DasistDavy,«antworteteMr.Murdstone.»WasfüreinDavy?«fragtederHerrJones.»Copperfield,«sagteMr.Murdstone.

  • »Was?DerhimmlischenMrs.CopperfieldBeigabe?DerreizendenkleinenWitwe?«»Quinion,« sagte Mr. Murdstone, »nimm dich in acht,manistschlau.«»Werdenn?«fragtederGentlemanlachend.Ichblickteraschauf,dennichhätteesauchgerngewußt.»BloßBrooksvonSheffield,«sagteMr.Murdstone.Ichfühltemichordentlicherleichtert,daßesbloßBrooksvon Sheffield sei, denn anfangs hatte ich wirklichgeglaubt,manmeinemich.Mr. Brooks von Sheffield mußte wohl jemand sehrKomisches sein, denn die beiden Gentlemen lachtenherzlich,alsseinNamefiel,undMr.Murdstonewarauchsehrbelustigt.NachlängeremLachensagtederHerr,derQuinion hieß: »Und wie ist Mr. Brooks' von SheffieldMeinunginbetreffdesgeplantenGeschäftes.«»Hm, ichweiß nicht, obBrooks vorderhand viel davonversteht,« entgegnete Mr. Murdstone, »aber ich glaube,imallgemeinenisterihmnichtbesondersgünstig.«Darüberwurdenochvielmehrgelacht,undMr.Quinionsagte, er wolle nach Sherry klingeln, um auf BrooksGesundheitzutrinken.Dastaterdann,undalsderWeinkam, gab er mir ein wenig davon und ein Biskuit, undbevor ich trank, stand er auf und sagte: »VerwirrungkommeüberBrooksvonSheffield.«

  • DerToastwurdemit großemBeifall und so herzlichemGelächteraufgenommen,daßichselbstmitlachenmußte,worüber sie dann nochmehr lachten.Kurz, eswar sehrlustig.Wir gingen hierauf an den Klippen des Strandesspazieren und setzten uns ins Gras und schauten durcheinFernrohr–;ichkonntenichtssehen,alssieesmirvordasAuge hielten, behauptete aber, ich könnte es, – unddanngingenwirzurückindasHotel,umzeitigzuMittagzuessen.Während unseres Spazierganges rauchten die beidenHerren unaufhörlich, was sie – nach dem Geruch ihrerzottigenRöckezuschließen–wohlseitdemerstenTagean gemacht haben mußten, seit sie sie vom Schneiderbekommenhatten.Ichdarfnichtvergessen,daßwirauchanBordder Jachtgingen,wosiealledrei indieKajütehinunterstiegen und sich eifrig mit verschiedenenPapieren beschäftigten. Ich sah sie angestrengt arbeiten,wennichdurchdasoffeneLukenfensterhinunterblickte.DieganzeZeitüberließensiemichinGesellschafteinessehr netten Mannes mit einem großen Kopf voll roterHaareundeinemsehrkleinenlackiertenHut.ErhatteeinbuntgestreiftesHemdan,mitdemWorte»Feldlerche«ingroßenBuchstabenquerüberdieBrust.Ichdachte,esseiseinNameunderschreibeihnaufdieBrust,weileraufdem Schiffe wohnte und kein Haustor hatte, worauf er

  • ihn hätte anschlagen können. Als ich ihn aber Mr.Feldlerchenannte,sagteer,dasSchiffhießeso.Den ganzenTag über bemerkte ich, daßMr.Murdstoneernster und verschlossener war als die beiden andernHerren. Diese waren sehr lustig und ungezwungen,scherztenmiteinander, aber seltenmit ihm. Er kammirgescheiter und kühler vor als sie, und sie mochtenziemlich meiner Meinung sein. Ich bemerkte nämlich,daßMr.Quinioneinoderzweimal,wenner sprach,Mr.Murdstone von der Seite ansah, wie um sich zuüberzeugen,obihmnichtirgendetwasmißfiele,unddaßer einmal, alsMr.Paßnidge, der andereHerr, besondersausgelassen war, diesem auf den Fuß trat und ihmheimlichmitdenAugenzuwinkte,aufMr.Murdstonezuachten, der stumm und verdrossen dasaß. Ich erinneremichauchnicht,daßMr.MurdstonedenganzenTagübereinmalgelachthätte,außerüberdenSheffield-Witz,denerjaübrigensselbergemachthatte.Wir gingen abends zeitig nach Hause. Es war ein sehrschöner Abend, und meine Mutter und Mr. Murdstonegingenwieder an der Rosenhecke auf und ab, währendichhineingeschicktwurde,ummeinenTeezutrinken.Als erweggegangenwar, fragtemichmeineMutter ausüber die Tageserlebnisse. Ich erzählte, was sie über siegeäußert hatten, und sie lachte und sagte, es seienunverschämteBurschen,dieUnsinnschwatzten,aberich

  • merkteganzgut,daßes ihrgefiel.Sogenau,wie ichesjetztweiß.IchbenutztedieGelegenheit,siezufragen,obsie einen gewissen Brooks aus Sheffield kenne, sieerwiderte, nein, aber es müsse ein Messer-undGabelfabrikantsein.Kann ich von ihrem Gesicht, so sehr es sich späterveränderte,soverblühtichesweiß,–sagen,esseinichtmehr,wenneshierindiesemAugenblicksodeutlichmirvor Augen tritt, wie jedes beliebige Gesicht, das aufbelebter Straße an mir vorbeigeht? Kann ich von ihrerunschuldsvollen,mädchenhaftenSchönheitsagen,sieseiverwelkt und dahin, wenn ihr Atem jetzt meineWangeberührt,wieeresan jenemAbend tat?Kann ich sagen,siehabesichjemalsverändert,wennmeineErinnerungensienurmitdiesenZügeninsLebenzurückrufen?Ichschilderesiegenauso,wiesiewar,alsichnachdieserUnterhaltungzuBettgegangenund sie zumirkam,ummirguteNachtzu sagen.SieknietenebenmeinemBettnieder,legteihrKinnaufihreHändeundfragtelachend:»Was sagten sie,Davy?Sag es noch einmal. Ich kann'snichtglauben.«»Derhimmlischen––––«fingichan.SielegtemirdieHandaufdenMund.»Himmlischgewißnicht,«sagtesielachend.»Himmlischkannesnichtgewesensein,Davy.Jetztweißichs,daßesnichtwahrist.«

  • »Doch!DerhimmlischenMrs.Copperfield,«wiederholteichstandhaft,»undderreizenden––«»Nein, nein, reizend gewiß nicht. Nicht reizend,«unterbrachmichmeineMutter und legtemirwieder dieFingeraufdieLippen.»Ja,eswarso.DerreizendenkleinenWitwe.«»Wasfürnärrische,unverschämteMenschen!«riefmeineMutter lachend und bedeckte ihr Gesicht, »was füralberneBurschen,nichtwahr,meinlieberDavy?«»Jawohl,Mama.«»SagPeggottynichts.Siekönntebösedrüberwerden.Ichbin auch sehr böse drüber, aber es ist besser, Peggottyerfährtnichtsdavon.«Ichversprachesnatürlich,undwirküßtenunsnochvieleMale,undbaldlagichinfestemSchlaf.Nachderlangen,inzwischenvergangenenZeitkommtesmir jetzt so vor, als ob mir bereits am Tage daraufPeggottydensonderbarenVorschlagmachte,vondemichsogleicherzählenwill,–aberwahrscheinlichlagenzweiMonatedazwischen.Wir saßen wieder eines Abends, als meine Mutter aufBesuch war, in Gesellschaft des Strumpfes, desEllenmaßes, desWachsstückchens, des Kastens mit derSt. Paulskirche und des Krokodilbuchs beisammen,Peggotty und ich, als sie (nachdem sie mich mehrmalsangeblickt und den Mund aufgerissen, als wollte sie

  • sprechen,–ichhieltesfürbloßesGähnen,sonsthätteesmich beunruhigt, –) endlich mit einschmeichelnderStimmesagte:»MasterDavy,wiewärees,wenndumitmir auf vierzehn Tage meinen Bruder in Yarmouthbesuchtest?Wärdasnichtfein?«»Ist dein Bruder ein angenehmer Mann?« fragte ichvorsichtig.»O was für ein angenehmer Mann!« rief Peggotty undstrecktedieHändeindieHöhe.»UnddannistdasMeerda und die Boote und die Schiffe und der Strand undHamzumSpielen.«Ham war Peggottys Neffe, wie bekannt. Ich war ganzaufgeregt über die in Aussicht gestellten Freuden vonYarmouth und erwiderte, daß es freilich herrlich seinmüßte,aberwaswohldieMutterdazusagenwürde.»Ich möchte eine Guinee wetten, daß sie uns dieErlaubnisdazugibt.Wennduwillst,frageichsie,sobaldsienachHausekommt.Abgemacht.«»Aberwaswirdsieanfangen,wennwirfortsind?«fragteich und legte meine Ellbogen auf den Tisch, um dieSache gründlich zu besprechen. »Sie kann doch nichtalleinbleiben?«WennPeggottyganzplötzlichjetztnacheinemLocheinder Strumpfferse spähte, muß es wahrhaftig ganz kleinunddesStopfensnichtwertgewesensein.»Peggotty!Hördoch.Siekanndochnichtalleinbleiben.«

  • »AchGott,richtig,«sagtePeggottyundsahmichendlichwiederan.»Weißtduesnochnicht?SiegehtaufvierzehnTage auf Besuch zu Mrs. Grayper. Mrs. GrayperbekommteineMengeGäste.«DadieSachesostand,warichganzbereitzurReise.IngrößterUngeduldwarteteich,bismeineMuttervonMrs.Grayper, unsrerNachbarin, nachHause kam, um sie zufragen,obsiemitdemgroßenPlaneinverstandensei.Garnicht so überrascht, wie ich vermutet hatte, gingmeineMutter bereitwillig darauf ein, und die Sache wurdediesen Abend noch abgemacht undWohnung und KostfürmichfürdievierzehnTagebezahlt.DerTagunsererAbreisekambaldheran.Erwarsonaheangesetzt,daßerselbst fürmichbaldkam,wo ichdochförmlichvorErwartungfieberteundimmerfürchtete,einErdbebenoderein feuerspeienderBergodereineanderegroßeKatastrophekönntealleshinausschieben.Wir sollten mit einem Fuhrmann reisen, der diesenMorgennachdemFrühstück aufbrach. Ichwürde etwasdarumgegebenhaben,wennmanmirerlaubthätte,michschonüberNachtindenMantelwickelnundmitHutundStiefeln schlafen zu dürfen. Es erschüttert mich jetztnoch,wennichessoleichthinerzähleundbedenke,wieungeduldig ich mich von dem glücklichen Heimwegsehnte,ohnezuahnen,wasichfürimmerverließ.EsstehtwieeinefroheErinnerungvormir,alsderWagen

  • vorderTürehieltundmeineMuttermichküßte,undichfreuemich,daß ichvorzärtlicherLiebezu ihrunddemaltenHause, das ich noch nie verlassen,weinenmußte,freuemichüberdieErinnerung,daßauchmeineMutterweinteundichihrHerzanmeinemschlagenfühlte.UndalsderWagendavonfuhr,dakammeineMutternocheinmal zur Gartentür heraus und ließ halten, um michnoch einmal zu küssen. Ich verweile gern in Gedankenbei der Innigkeit undLiebe,mit der siemir insGesichtblickteundmirnocheinenletztenAbschiedskußgab.AlssiemittenaufderStraßestandundunsnachsah,tratMr.MurdstonezuihrundschienihrVorstellungenwegenihrer großen Rührung zu machen. Ich sah um dieWagenplachte herum zurück und war mir nicht klardarüber, was ihn denn eigentlich die ganze Sacheanginge.Peggotty,die aufder andernSeiteherausschaute, schiennichts weniger als zufrieden zu sein, wie ihr Gesichtverriet,alssiedenKopfwiederzurückzog.Ich saß eine Zeitlang stumm neben ihr in TräumereiversunkenüberdieLösungderFrage:obich,ähnlichwieder Däumling im Märchen, wohl imstande sein würde,mitHilfeihrerKnöpfewiederheimzufinden.

  • DrittesKapitel.EineVeränderung.

    DasPferddesFuhrmannswardasfaulstePferdderWelt,kammirvor.Es trottetemitgesenktemKopfdieStraßeentlang, als gefiele es ihm, die Leute, denen es Paketebrachte,möglichstlangewartenzulassen.Ichbildetemirein,esmanchmaldeutlichkicherngehörtzuhaben,abermansagtemir,eshättebloßHusten.DerFuhrmann ließ ebenfalls denKopf hängenwie seinGaulundnickteschläfrigbeimkutschieren,dieArmeaufdasKniegestützt.Ichsage»kutschieren«,aberesscheintmir,derWagenwäreebensogutohneihnnachYarmouthgekommen,denndasPferdbesorgteesganzallein.Undwas die Unterhaltung betrifft, so konnte er nichts alspfeifen.Peggotty hatte einen Korb mit Eßwaren auf dem Knie,die reichlich bis London gelangt hätten. Wir aßen vielundschliefenviel.Peggotty schlief immer mit dem Kinn auf demKorbhenkel, den sie nie losließ. Ichwürde nie geglaubthaben, wenn ich es nicht selbst gehört hätte, daß eineinziges schutzloses Weib soviel zusammenschnarchenkönne.WirmachtenUmwegeundbrauchtensolangeZeitdamitzu,eineBettstelleineinemWirtshausabzugebenundan

  • verschiedenenOrten vorzusprechen, daß ich ganzmüdeundsehrfrohwar,alsYarmouthinSichtkam.Essäheschwammigundvollgesogenaus,meinteich,alsich meine Augen über die große, langweilige EinödejenseitsdesFlussesschweifen ließ; ichkonntemirnichthelfen, aber ich staunte, wie das Geographiebuchbehauptenkonnte,dieWeltseiwirklichsorund,wenneinTeilderselbensoflachwar.Dannüberlegte ichmir,daßYarmouth möglicherweise an einem der beiden Poleliegen könnte, und gab mich mit dieser Erklärungzufrieden.AlswiretwasnäherkamenunddieganzeLandschaftwieeine gerade niedrige Linie unter dem Himmel liegensahen, bemerkte ich zu Peggotty, daß ein kleinerHügeloderdergleichenverschönerndwirkenmüßte,unddaßeshübscherwäre,wenndasLandetwasdeutlichervonderSeegeschiedenunddieStadtunddieFlutnicht so sehruntereinander gemischt wie Mehl und Wasser seinwürden. Aber Peggotty sagte mit größerem Nachdruckalsgewöhnlich,daßwirdieDingeebennehmenmüßten,wie wir sie fänden, und daß sie ihrerseits stolz sei, ein»HeringvonYarmouth«zusein.Als wir in die Straße einbogen und den Fisch-, Pech-,Werg- und Teergeruch einsogen und die Seeleuteumhergehen, unddieKarrenüberdieSteine schwankensahen, fühlte ich, daß ich einem so geschäftigen Orte

  • Unrecht getan hatte. Ich gestand es Peggotty ein, diemeine Ausdrücke des Entzückens sehr wohlgefälligaufnahm und mir sagte, es sei allgemein bekannt(wahrscheinlichunterdenen,diedasgroßeGlückhaben,geborene Yarmouth-Heringe zu sein), daß YarmouthüberhauptdieschönsteStadtderErdesei.»Da ist mein Ham«, schrie sie plötzlich auf, »inGelehrsamkeitaufgewachsen.«Wirklich erwartete Ham uns beim Gasthause underkundigte sich nach meinem Befinden wie ein alterBekannter.Anfangsschienesmirnicht,alsobichihnsogut kenne, wie er mich, weil er seit der Nacht, als ichgeborenwurde,nichtinunserHausgekommenwar.Begreiflicherweise hatte er in dieser Hinsicht einenVorsprung vor mir. Aber unsere Vertraulichkeit wuchssehr,alsermichaufdenRückennahmundnachHausetrug.Erwar jetzt ein großer, starkerBursche von sechsFuß Höhe, entsprechender Breite und massivenSchultern, aber einem Dummenjungengesicht, undkrausem hellenHaar, das ihn etwas schafartig aussehenmachte. Sein Anzug bestand aus einer Segeltuchjackeund einem Paar so steifer Hosen, daß sie ganz alleinhätten aufrecht stehen können. Daß er einen Hut trüge,hätteniemandsorechtbehauptendürfen.EsschienehereinaltesHausmiteinwenigPechdaraufzusein.Ham trug mich auf dem Rücken und unsere kleine

  • Schachtel unter dem Arm, während Peggotty einenHandkoffer schleppte. So gingen wir durch schmaleGäßchen, die mit Abfall von Zimmerholz und kleinenSandhäuschen bedeckt waren, an Gasanstalten,SeilerstättenundWerften,woSchiffeundBootegebaut,zerlegt, kalfatert und aufgetakeltwurden, an SchmiedenundKalköfenvorbei,biswiraufdieödeFlächekamen,die ich schon von weitem gesehen hatte. Da rief Ham:»DatsunserHus,MasrDavy.«IchsahmichnachallenSeitenumundließmeineAugenüber die öde Ebene, über das Meer und den Flußhinschweifen, aber nirgends konnte ich ein Hausentdecken.NichtweitvonunsaufeinerkleinenAnhöheerblickte ich wohl ein schwarzes Boot, eine ArtausgedienterBarke,ausdemeinStückeisernesRohralsSchornsteinherausragteundsehrgemütlichrauchte,abersonstwarnichtsda,wasnacheinerWohnungausgesehenhätte.»Es istdochnichtdasdort?«fragte ich.»DasDing,daswieeinSchiffaussieht?«»Djewoll,MasrDavy,«antworteteHam.Ich glaube, wenn es Aladins Palast gewesen wäre oderdas Ei des Vogels Roc, hätte ich nicht entzückter seinkönnen, als über den romantischen Gedanken, hierwohnenzudürfen.IndieSeitenwandwareineköstlicheTürgeschnitten,mit

  • einem Dach darüber, und kleine Fenster sahen heraus;aberderwunderbarsteReizfürmichlagdarin,daßeseinwirkliches Boot war, das gewiß hundertmal auf demWasser geschwommen und niemals dazu bestimmtgewesenwar,auffestemLandezurWohnungzudienen.Das fesselte mich ganz und gar. Wenn es jemals vonAnfang an hätte ein Haus sein sollen, würde es mirvielleichtkleinderunbequemodereinsamvorgekommensein.SoabererschienesmirvollkommeninjederArt.Innen war alles außerordentlich reinlich und so hübschwiemöglich.Ein Tisch und eine Schwarzwälder Wanduhr und eineKommode, und auf der Kommode stand ein Teebrett,daraufwar eineDamemit einemSonnenschirmgemalt,undnebenihrspazierteeinmilitärischaussehendesKindmit einemReifen.DasTeebrettwurde durch eineBibelam Herunterfallen gehindert und hätte, wenn esabgerutschtwäre,eineMengeTassenundeineTeekanne,diealleumdasBuchherumstanden,zerschlagen.AnderWand hingen ein paar roh gemalte Bilder aus derHeiligen Schrift,wie ich sie seitdemnie inTrödellädensehenkann,ohnedaßnichtsofortdasganzeInnerejenesHausesklarvormeinenAugensteht.EinroterAbrahamimBegriffeinenblauenIsaakzuopfern,undeinDanielingelbuntergrüneLöwengeworfen,stachenammeistenhervor.

  • ÜberdemKaminsimshingeinBilddesLuggers»SarahJane«, in Sunderland gebaut, mit einem wirklichenkleinen,hölzernenSchiffshinterteildaran,einKunstwerk,das Gemälde und Zimmermannsarbeit vereinigt zeigteundmir als eines der neidenswertesten Besitztümer derWelt erschien. Im Deckbalken staken ein paar Haken,deren Bestimmung mir rätselhaft war, und einigeSchiffskisten undKoffer standen umher und dienten alsStühle.Diesallesübersah ichaufdenerstenBlick,wieesnachmeiner Ansicht Kinder zu tun pflegen; dann öffnetePeggotty eine kleine Tür und zeigte mir meinSchlafzimmer. Es war das vollkommenste undwünschenswertesteSchlafzimmer,dasichjemalsgesehenhabe, im Hinterteil des Schiffes mit einem kleinenFenster,–da,wofrüherdasSteuerdurchgegangen,–miteinem kleinen Spiegel, gerade in der rechten Höhe fürmich an die Wand genagelt und mit Austernschaleneingerahmt, einem kleinenBett und gerade genug Platzdavor, um hinaussteigen zu können, und einem Straußvon Seegras in einem blauen Krug auf dem Tisch. DieWände waren so weiß getüncht wie Milch. DieBettdecke, aus Flecken kunterbunt zusammengesetzt,blendetemeineAugenfastdurchihreFarbenpracht.GanzbesondersgefielmirindiesemherrlichenHausederFischgeruch, der so durchdringend war, daß mein

  • Taschentuch,alsicheseinmalherauszog,geradesoroch,alsobeinHummerdarineingewickeltgewesenwäre.Alsich diese Entdeckung Peggotty anvertraute, belehrte siemich, daß ihr Bruder mit Hummern, Krabben undKrebsenhandelte.Späterfandichheraus,daßeinHaufendieserGeschöpfein wunderbarer Verknäuelung, in der sie nicht wiederlosließen,wassieeinmalmitihrenScherengefaßthatten,draußen in einem kleinen hölzernen Schuppen, in demTöpfeundKesselhingen,aufbewahrtwurden.EinesehrhöflicheFraumitweißerSchürze,dieichschondraußeninderTürehatteknixensehen,alsichaufHamsRückennocheineViertelmeilevomHauseentferntwar,empfing uns. Desgleichen ein sehr schönes, kleinesMädchen– sokamsiemirwenigstensvor,–miteinemHalsbandausblauenGlasperlen.Die Kleine ließ sich nicht küssen, als ich sie dazuaufforderte, sondern rannte fort und versteckte sich.Später,alswireinprächtigesMittagessen,bestehendausgekochtenFischen,geschmolzenerButterundKartoffeln,sowie einer Hammelrippe für mich, zu uns genommenhatten, kam ein stark behaarter Mann mit sehrgutmütigem Gesicht nach Hause. Er nannte Peggotty»Mächen«undgabihreinenherzhaftenSchmatzaufdieWange, woraus ich bei der sonstigen Züchtigkeit ihresWesensschloß,daßes ihrBruderseinmüßte.Erwares

  • auch und wurde mir als Mr. Peggotty, der Herr desHauses,vorgestellt.»Freutmich, Sie zu sehen, Sir,« sagteMr. Peggotty »–werdenunsrauhfinden,aberstetsbereit.«IchdankteihmundgabzurAntwort,daßichmichansoeinemangenehmenOrtgewißwohlbefindenwürde.»WiegeitstoHus,Sir?«fragteMr.Peggotty,plötzlichinseinenSchifferdialektverfallend.»HabenSieIhreMamafrischundmunterverlassen?«IchteilteMr.Peggottymit,daßsiesomunterundfrischsei,wie ichnurwünschenkönnte,unddaß sie sich ihmempfehlen ließe, was eine kleine, höfliche Lügemeinerseitswar.»IckbünnEhrsehrverbunnen,«antworteteMr.Peggotty.»WennSejethierforteinDaguthollenköntmitderda,«ernickteseinerSchwesterzu,»undHamund lüttEmly,sünnwistolzopEhrGesellschaft.«NachdemMr.Peggotty in sogastfreundlicherWeisedieHonneurs seinesHauses gemacht hatte, ging ermit derBemerkung,kaltesWasserrichtegegenDrecknichtsaus,hinaus,umsichwarmzuwaschen.

    Er kehrte bald zurück und sah viel besser aus, aber sogerötet, daß ich mich des Gedankens nicht erwehrenkonnte,seinGesichthabemitdenHummernundKrebsendas eine gemein, daß es schwarz in das warmeWasser

  • hineinundrotwiederherauskomme.AlsnachdemTeedieTürfestzugemachtwar,–denndieNächtewaren kalt und neblig, – erschienmir dasHausals die prächtigste Unterkunft, die menschlicheEinbildungskraft ersinnen kann. DenWind draußen aufdemMeerebrausenzuhören, zuwissen,daßderNebelsichüberdietrostloseEbeneausbreitete,indasFeuerzusehenundzudenken,daßkeinHausweitundbreitaußerdiesemdasei,unddaßdieseseineeinSchiffwar,wirktewieZauberei.EmlyhatteihreScheuüberwundenundsaßnebenmiraufder niedrigsten und kleinsten der Schiffskisten, die,geradegroßgenugfürunsbeide,genauindieOfeneckepaßte.Mrs. Peggotty in ihrer weißen Schürze strickte auf derandern Seite des Feuers. Peggotty selbst war bei ihrerArbeitebensozuHause,wiemitderSt.PaulskircheunddemStückchenWachslicht, alshätte sienie eineandereWohnung gekannt. Ham versuchte mit schmutzigenKarten wahrzusagen und prägte jedem Blatt, das eraufschlug, die fischigen Abdrücke seines Daumens auf.Mr.PeggottyrauchteseinePfeife.Ich fühlte die Zeit zu vertraulicher Unterhaltunggekommen:»Mr.Peggotty!«»Sir?«

  • »HabenSieIhrenSohnHamgenannt,weilerineinerArtArchewohnt?«Mr.PeggottyschiendasfüreinentiefsinnigenGedankenzuhaltenundantwortete:»Nein,Sir.IchhewjemniekeenenNamennichgewen.«»Wer hat ihm denn diesen Namen gegeben?« forschteich, Frage Nummero 2 aus dem Katechismus Mr.Peggottyvorlegend.»Nun,Sir,sienVadderhettemdenNamengewen,«sagteMr.Peggotty.»Ichdachte,SiewärenseinVater?«»MienBruderJoewarsienVadder.«»Tot,Mr.Peggotty?«fragte ichnacheinerrespektvollenPause.»Ertrunken,«sagteMr.Peggotty.Ichwarsehrerstaunt,daßMr.PeggottynichtHamsVaterwar, und hätte gernGenaues über seineVerwandtschaftzu den andern Anwesenden gekannt. Ich brannte sodarauf,daßichbeschloß,esherauszukriegen.»Die kleine Emly,« sagte ich mit einem Blick auf dasMädchen, »Sie ist Ihre Tochter, nicht wahr, Mr.Peggotty?«»Nein,Sir.MienSchwagerTomwarihrVadder.«Ichkonntemichnichtmehrzurückhalten:»Tot, Mr. Peggotty?« fragte ich zögernd, wieder nach

  • einervorsichtigenPause.»Ertrunken,«sagteMr.Peggotty.Ich fühlte die Schwierigkeit der Sachlage, aber es warnochnichtallesergründet,undsomußteichdochweiterforschen.»HabenSiekeineKinder,Mr.Peggotty?«»Nein,Master«, antwortete ermit kurzemLachen. »IckbünneenJunggesell.«»Junggesell?«fragteichganzverwundert.»Weristdenndas,Mr. Peggotty?« und ich wies auf die Frau mit derweißenSchürze.»DasisMrs.Gummidge.«»Gummidge,Mr.Peggotty?«Aber hier machte Peggotty – ich meine meine eigenePeggotty–sodeutlicheGebärden, ichsollenichtweiterfragen, daß ich nichts mehr tun konnte als dieschweigsame Gesellschaft ansehen, bis es Zeit war, zuBett zu gehen. Dann in der Zurückgezogenheit meinereigenenkleinenKabine teilte siemirmit,daßHamundEmly beide Waisen seien, die ihr Bruder in frühesterKindheit zu sich genommen hatte, und daß Mrs.Gummidge dieWitwe seines ehemaligenBootteilhaberssei, der sehr arm gestorbenwar. Peggotty selbst sei nureinarmerMann,aberechtwieGoldundtreuwieStahl.Das waren meiner Kindsfrau eigene Vergleiche. Daseinzige,sagtesiemir,worübererjeheftigwerdenkönnte

  • bis zum Fluchen, wäre, wenn man auf sein gutes Herzanspiele. Wenn man nur davon spräche, schlüge er sofurchtbaraufdenTisch,–erhätte ihnbeieiner solchenGelegenheit oft schon zerbrochen, – und schwüre einenentsetzlichenEid, daß er »gormet« seinwollte,wenn ernichtindieweiteWeltginge,sobaldnochjemanddavonanfinge. Auf meine Nachfragen stellte sich heraus, daßniemand wußte, was unter diesem schrecklichen Wort»gormet« zu verstehen sei; aber alle stimmten darinüberein,daßeseinhöchstfeierlicherSchwurwäre.Ich war natürlich sehr gerührt von der Gutherzigkeitmeines Wirtes und hörte in einer sehr behaglichenGemütsstimmung, die durch meine Schläfrigkeit nochvermehrt wurde, wie die weibliche Hälfte derBewohnerschaft in einer zweiten kleinen Kajüte amandern Ende des Schiffes zuBett ging, undwie er undHamfürsichzweiHängemattenandenfrühererwähntenHakenimDeckbalkenbefestigte.WährendderSchlafmichallmählichüberwältigte,hörteich draußen auf demMeer denWind so heulen und sogewaltig über dieEinöde hinbrausen, daßmich halb imTraumdieFurchtüberkam,dasMeerkönntewährendderNacht das Land überfluten. Aber ich beruhigte michdamit,daßichdochineinemSchiffwohnte,unddaßMr.Peggotty keine üble Person an Bord sei, wenn etwasgeschehensollte.

  • AberespassiertenichtsSchlimmeres,alsdaßderMorgenkam. Sobald er seine Strahlen auf denAusternschalenrahmenmeinesSpiegelswarf,warichausdemBetteundmitderkleinenEmlydraußenamStrandundsuchteMuscheln.»Du bist gewiß schon ein vollendeter Seemann,« sagteichzuEmilie.Ichglaubteselbstnicht,wasichsagte,aberichhieltesfürgalant,etwasderartigeszuäußern,undeinschimmerndes Segel dicht neben uns spiegelte sich sohübschinihremhellenAuge,daßmirdieseWortegeradeeinfielen.»Nein,« antwortete Emly und schüttelte denKopf, »ichhabeAngstvordemMeere.«»Angst?«sagteichundmachteselbsteinkühnesGesichtund sah mutig auf den mächtigen Ozean hinaus. »Ichnicht!«»O,es ist sehrgrausam,« sagteEmly,»ichhabees sehrgrausamgesehengegenunsereLeute. Ichhabegesehen,wie es ein Schiff, so groß wie unser Haus, in lauterStückezerbrach.«»DaswardochhoffentlichnichtdasSchiff,das–«»in dem der Vater ertrank?« fragte Emly. »Nein, dasnicht.Dashabichnichtgesehen.«»Auchihnnicht?«fragteich.DiekleineEmlyschütteltedenKopf.»Kannmichnichterinnern.«

  • Hier lag ein Fall vor wie der meine. Ich erging michsogleich in Erzählungen, daß auch ich meinen Vaterniemals gesehen hätte, und wie meine Mutter und ichstets allein in der größtenZufriedenheit gelebt, diemansich denken könnte, und noch so lebten und immer soleben wollten, und daß meines Vaters Grab auf demKirchhof nicht weit von unserm Hause läge, beschattetvoneinemBaum,unterdessenZweigenichanmanchemschönenMorgendemGesangderVögelgelauschthätte.Aber zwischenEmlysWaisenschaft undmeiner bestanddochnocheinkleinerUnterschied.Siehatte ihreMuttervor dem Vater verloren, und ihres Vaters Grab kannteniemand. Siewußte nur, daß er irgendwo in denTiefendesMeeresruhte.»Unddann,«sagteEmly,währendsienachMuschelnundKieseln ausschaute, »war deinVater einGentlemanunddeineMuttereineLady;meinVaterwarnureinFischerundmeineMutter eine Fischerstochter undmeinOnkelDanisteinFischer.«»DanistMr.Peggotty,nichtwahr?«fragteich.»OnkelDan–dort–«antworteteEmlyundnicktenachdemSchiffehin.»Ja,denmeineich.Ermußsehrgutsein,nicht?«»Gut? – Wenn ich einmal eine Lady werden sollte,schenke ich ihm einen himmelblauen Rock mitdiamantnen Knöpfen, Nankinghosen, eine rote

  • Samtweste, einenFederhut, einegroßegoldneUhr, einesilbernePfeifeundeinenKoffervollGeld.«Ichsagte, ichseiüberzeugt,daßMr.PeggottyalledieseSchätze wohl verdiene. Ich muß gestehen, daß es mirschwerfiel,mirihninruhigemBehagenindemAnzugevorzustellen, den seine dankbare kleine Nichte ihmzudachte,besondershatteichsomeineBedenkenwegendesFederhutes,aberichbehieltdieseGedankenfürmich.Die kleine Emly hatte in ihrer Beschäftigung innegehalten und zum Himmel aufgeblickt bei derAufzählungallerdieserGegenstände, alswären sie eineVision.DannfingenwirwiederanMuschelnundKieselnzusuchen.»DumöchtestwohlgerneineLadysein?«fragteich.Emlysahmichan,lachteundnickte,»ja.«»Das möcht ich wohl gern. Wir würden dann allevornehme Leute sein. Ich und derOnkel undHam undMrs.Gummidge;eswäreunsgleich,wennesstürmte,–unsertwegen meine ich, wegen der armen Fischer wärsunsnichtgleich,undwirwürdenihnenGeldgeben,wennsiezuSchadenkämen.«Das erschien mir als ein befriedigendes und daherdurchausnichtwahrscheinlichesBild.IchdrücktemeineFreude darüber aus und das ermutigte Emly zu derschüchternen Frage: »Glaubst du jetzt nicht, daß duAngstvordemMeerehast?«

  • Die See war in diesem Augenblick zu ruhig, um mirBesorgniseinzuflößen,aberichbinüberzeugt,wennnureinemäßiggroßeWelledahergebraustgekommenwäre,ichhättemichbeidemschrecklichenGedankenanEmlysertrunkene Verwandten sofort davon gemacht. Für alleFälle sagte ichnein,und fügtehinzu:»Duscheinstdichauchnichtsosehrdavorzufürchten,wiedusagst.«Sieging so nahe am Rande eines alten hölzerenHafendamms, daß ich Angst hatte, sie könntehinunterfallen.»So fürchte ichmichnicht,« sagte sie.»Aber ichbleibewach,wennes stürmt,unddenkemitZitternundAngstanOnkelDanundHam,und immerkommt esmir vor,alsob sieumHilfe riefen.Deshalbmöcht ichgerneineLady sein. Aber so fürcht ich mich nicht. Nicht einbißchen.Schaumalher.«SieranntevonmirwegundliefeinengekerbtenBalkenentlang,derohneGeländerziemlichhochüberdasMeerhinausragte.So deutlich steht der Vorfall noch vor meinemGedächtnis, daß ich es malen könnte, wäre ich einZeichner –, wie die kleine Emly ihremUntergang – soerschien es mir, – mit einem weit auf das Meerhinausgerichteten Blick, den ich nie vergessen habe,entgegeneilte. Ihre leichte, kühne, flatternde kleineGestalt kehrte um und gelangtewieder glücklich bis zu

  • mir,undbalddarauflachteichübermeineAngstunddenSchrei, den ich – in jedem Falle ganz nutzlos, denn eswarniemandinderNähe,–ausgestoßenhatte.Oft noch später habe ich darüber nachgesonnen, konntees nicht vielleicht eine von den uns verborgenenMöglichkeitengewesensein,daßderplötzlichenTollheitdes Kindes eine Verlockung zur Gefahr, ein unhörbarerRuf ihres totenVaters zugrunde lag, der an jenemTagebarmherzigihrLebenendenwollte?Es kam einmal eine Zeit, wo ich mich fragte, ob ichdamalseinenFingerzuihrerRettunghätterührensollen,wenn sich mir ihr späteres Leben in einem Blickgeoffenbart hätte?Es kameinmal eineZeit,wo ichmireinen Augenblick die Frage vorgelegt habe, würde esnichtbesserfürdiekleineEmlygewesensein,wenndasMeer sie an diesem Morgen vor meinen Augenverschlungenhätte?–––Wir schlenderten noch eine Weile spazieren und lasenDinge auf, die uns merkwürdig vorkamen, und setztenganz sorgsam ein paar gestrandete Seesternewieder insWasser–ichkennedieLebensgewohnheitendieserTierezu wenig, um zu wissen, ob wir ihnen damit einenGefallen taten, – und kehrten dann nachMr. PeggottysWohnungzurück.UnterdemSchattendesSchuppens,wodieKrebselagen,blieben wir stehen, gaben uns einen unschuldigen Kuß

  • undgingenvorGesundheit undFreude strahlendhineinzumFrühstück.»Wie zweiAmseln,« sagteMr. Peggotty, und ich nahmdasalsKomplimentauf.Natürlich war ich in die kleine Emly verliebt. Ich binüberzeugt,ichliebtedasKindsowahrhaftig,sozärtlich,undreinerundselbstloser,alsmanselbstimbestenFallein späteren Zeiten lieben kann. Ich weiß, daß meinePhantasie dieses blauäugige Kind mit einemGlorienschein umwob, der einenwahrenEngel aus ihmmachte.WennEmlyaneinemsonnigenMorgenmitpaarkleinenSchwingenvormeinenAugenweggeflogenwäre,so glaube ich kaum, daß ich darin etwasAußergewöhnlichesgesehenhätte.Stundenlang gingen wir auf der öden Fläche umYarmouth in liebender Eintracht spazieren. Die Tageeiltenanunsvorüber,alsobdieZeitselbstnocheinKindwäreundimmermitunsspielte.IchsagteEmly,daßichsieanbetete,undwennsienichtgestünde, daß siemich ebenfalls anbetete, somüßte ichmichmit einemSchwert selber töten.Und sie sagte, sieliebtemich,undichzweiflenicht,daßessowar.An Ungleichheit und zu große Jugend oder andereSchwierigkeitendachtenwirnicht,dennüberdieZukunftzerbrachenwirunsnichtdenKopf.Wir waren ein Gegenstand der Bewunderung für Mrs.

  • Gummidge und Peggotty, die sich abends,wennwir sozärtlichaufderSchiffskistesaßen,zuflüsterten:»OGott,ist das ein hübsches Paar.« Hinter seiner Pfeife hervorlächelte uns Mr. Peggotty an. Ham grinste den ganzenAbendundtatsonstnichts.Ichbemerktebald,daßsichMrs.Gummidgenichtimmerso angenehm machte, als man nach den Verhältnissen,unterdenensiebeiMr.Peggottywohnte,hätteerwartendürfen.Sie war etwas empfindlicher Natur und jammerte oftmehr, als für die andern Mitglieder eines so kleinenHaushaltes angenehm war. Sie tat mir wohl sehr leid,aber es gab Augenblicke, wo ich dachte, daß es wohlbesser wäre, wenn sie sich in ihr eigenes Zimmerzurückziehen wollte, um sich ihrem Schmerz zuüberlassen.Mr. Peggotty gingmanchmal in einWirtshaus, das denNamen»DerguteVorsatz«führte.IchmerkteesanseinerAbwesenheitbereitsamzweitenoderdrittenTagmeinesBesuchs und daran, daßMrs.Gummidge zwischen achtund neun Uhr immer nach der Schwarzwälderuhrhinaufsahund sagte, er sei dort, und sie habe es bereitsamMorgenvorausgesehen.Sie war schon den ganzen Tag sehr trüb gestimmtgewesen und in Tränen ausgebrochen, als der Ofenrauchte.»Ichbineinarmes,verlassenesWesen,«hattesie

  • dabeigesagt,»undallesgehtmichdieQuere.«»Ach, es wird ja bald vorbei sein!« hatte Peggotty –meine nämlich – gesagt, »und außerdem ist es dir auchnichtunangenehmeralsuns.«»Ichfühlesmehr,«hatteMr.Gummidgegeantwortet.Es war ein kalter Tag und der Wind wehte scharf undheftig. Mrs. Gummidges Ecke am Ofen schien mir diewärmste und gemütlichste in der Stube zu sein und ihrStuhlwarsicherlichderbequemste,abersiebefandsichheutenichtwohldarin.Sie jammertebeständigüberdieKälte,daßesihrimmerindenRückenbliese,undendlichvergoß sie Tränen und sagte wieder, sie sei ein armes,verlassenesWesen,undallesgingeihrderQuere.»Es ist rechtkalt,«bestätigtePeggotty,»dasfühltgewißjeder.«»Ich fühl es mehr als andere Leute,« klagte Mrs.Gummidge.Ebenso war es bei Tisch, wo Mrs. Gummidge immerunmittelbar nachmir dran kam,weil ich als vornehmerGastdenVorzughatte.DieFischewarenkleinundmagerunddieKartoffelneinwenigangebrannt.Wirgabenallezu, daß das nicht besonders angenehm sei, aber Mrs.Gummidge sagte, sie fühle esmehr alswir, undweintewieder und gab ihre frühere Erklärung mit großerBitterkeitzumbesten.Als Mr. Peggotty gegen neun Uhr nach Hause kam,

  • strickte die unglückliche Mrs. Gummidge injämmerlicher Stimmung in ihrer Ecke. Peggotty hattefröhlich ihre Arbeit getan, Ham ein paar großeWasserstiefel ausgebessert, und ich hatte ihnen, nebenEmly sitzend, vorgelesen. Mrs. Gummidge hatte nurzuweilen geseufzt und seit dem Tee die Augen nichtaufgeschlagen.»Nun,Stüerlüt,«sagteMr.Peggottyundsetztesich.»Wiegeitdat?«WiralleantwortetenfreundlichmitWortoderBlick,nurMrs. Gummidge schüttelte den Kopf über ihremStrickstrumpf.»Wofehlts?«fragteMr.Peggotty,»Kopfhoch,Mutting!«Mrs.Gummidgeaberschiennichtimstandezusein,sichaufzumuntern. Sie zog ein altes, schwarzseidenesTaschentuch hervor undwischte sich dieAugen, anstattesjedochwiederindieTaschezustecken,behieltsieesin derHand undwischte sich nochmals dieAugen undlegteesnebensich,umesimmerbereitzuhaben.»Wofehlts,Alte?«fragtePeggotty.»Nichts,«entgegneteMrs.Gummidge.»Dukommstausdem›gutenVorsatz‹,–Danl?«»Nun,ja,ichmachteeinenAbstecherheuteabendsinden›gutenVorsatz‹,«sagteMr.Peggotty.»Estutmirleid,daßichdichimmerdorthintreibe,«sagteMrs.Gummidge.

  • »Treiben! Bei mir brauchts kein Treiben,« erwidertePeggottylachend.»Ichgehnurzugernhin.«»Sehrgern,«sagteMrs.Gummidge,schütteltedenKopfundwischtesichdieAugen.»Ja,ja,sehrgern.Estutmirleid,daßichdranschuldbin.«Mr.Peggotty sagteweiter nichts, sondernbat bloßMrs.Gummidgenocheinmal,denKopfhochzuhalten.»Ich bin nicht, wie ich sein möchte,« sagte Mrs.Gummidge. »Ich fühle mein Unglück und das machtmich unangenehm. Ichwollte, es wäre anders, aber ichfühlenuneinmal so. Ichwollte, ichkönntesvergessen,aber es geht nicht. Ich mache das ganze Hausungemütlich.IchhabeschondenganzenTaglangdeinerSchwester das Leben sauer gemacht und Master Davydazu.«Ich wurde sofort gerührt und rief in großemSeelenschmerz ein lautes »nein, sicher nicht, Mrs.Gummidge.«»Esistgarnichtrechtvonmir,«fuhrsiefort,»ichsolltelieberinsArmenhausgehenundsterben.WennmichallesdieQueregeht,und ichallenderQuerebin, sowill ichauchderQuereinmeineHeimatgehen.Danl,besserichgingeinsArmenhausundstürbe;dannseidihrmichlos.«Mit diesenWorten begab sichMrs.Gummidge zuBett.Alssiefortwar,sahunsMr.Peggotty,derbeijedemWortnurdietiefsteTeilnahmegezeigthatte,derReihenachan,

  • nicktemitdemKopfundflüsterte:»SejhettanehrnOlendacht.«Ich verstand nicht recht, an was für einen Alten Mrs.Gummidgegedachthabensollte,bismirPeggotty,alssiemich zu Bett brachte, erklärte, daß es der selige Mr.Gummidgewäre,unddaßihrBruderesstetsbeisolchenGelegenheitenalsausgemachteWahrheitannähmeundesstetseinenrührendenEindruckaufihnmachte.NochinderHängemattehörteichihnzuHamsagen:Sejhett an ehrn Olen dacht! Und wann immer sich Mrs.GummidgeinähnlicherStimmungbefand,hatteerfürsieimmer dieselbe Entschuldigung und immer dasselbeaufrichtigeMitleid.So gingen die vierzehn Tage rasch dahin ohne andereVeränderung, als den Wechsel von Ebbe und Flut, derauchdieStunden,woMr.PeggottyundHamgingenundkamen,verschob.HatteHamnichtszutun,begleiteteerunsmanchmalandenHafenundzeigteunsdieBooteundSchiffe,undein-oder zweimal ruderte er uns spazieren. Ich weiß nicht,wie es kommt,warum so oft gerade ein unbedeutsamesBild immer an einemNamen am längsten haften bleibt.Nie höre oder lese ich den Namen Yarmouth, ohne aneinen gewissen Sonntagmorgen am Strande erinnert zuwerden,wodieGlockeninderKircheläuteten,diekleineEmly sich auf meinen Arm stützte, Ham nachlässig

  • SteineinsWasserwarf,unddieSonnedraußenüberdemMeer mühselig durch den dicken Nebel drang, und dieSchiffesichunssoundeutlichzeigten,alswärensieihreeignenSchatten.Endlich kam der Tag derHeimreise.Die Trennung vonMr. Peggotty und Mrs. Gummidge konnte ich nochverwinden. Aber der Abschied von der kleinen EmlyzerrißmirdasHerz.WirgingenArm inArmnachdemWirtshaus, wo der Fuhrmann anspannte und unterwegsversprach ich ihrzuschreiben.DiesesVersprechen lösteich spätermit einemAufwand von Buchstaben ein, diegrößer waren als die, mit denen man Mietanzeigen zuschreiben pflegt.Wir fühlten uns ganz vernichtet durchden Abschied, und wenn ich je in meinem Leben inmeinemHerzen eine unbeschreiblicheLeere empfundenhabe,sowaresanjenemTag.DieganzeZeitmeinesBesuchsüberwar ichundankbargegenmeinmütterlichesHausgewesenundhattewenigodernichtdarangedacht.AberkaumwendeteichmeineStritte ihmwieder zu, sowies auch schon vorwurfsvollmein jugendliches Gewissen mit standhaftem Fingerdorthin, und ich fühlte trotz der Bangigkeit desAbschieds, daß es meine Heimat und Mutter, meineTrösterin und Freundin war. Je näher wir dem ZielekamenundjevertrautermirdieUmgebungwurde,destostärker wuchs meine Sehnsucht, in ihre Arme zu eilen.

  • Peggotty,anstattdiesenDrangzuteilen,suchteihn,wennauchsanft,inmireherzuhemmen,undsahverlegenundverstimmtdrein.TrotzderLangsamkeitundLaunenhaftigkeitdesPferdeslangten wir doch endlich in Krähenhorst-Blunderstonean.Ichsehenochdenkalten,grauenNachmittagmitdemdunkeln,regnerischenHimmelvormir.Die Tür ging auf und ich erwartete, halb lachend, halbweinend vor Erregtheit meine Mutter zu sehen. Abernichtsie,sonderneinemirfremdeDienerintratheraus.»Ach, Peggotty!« sagte ich traurig. »Ist sie noch nichtwiederzuHause?«»Ja,ja,MasterDavy,«sagtePeggotty,»warteinbißchen,MasterDavy,undichwerdediretwassagen.«Teils aus Aufregung, teils aus natürlichem UngeschickmachtePeggottybeimHeraussteigenausdemWagendieseltsamstenManöver, aber ich fühltemich zu entmutigtund betroffen, um ihr etwas darüber zu sagen. Als sieglücklich draußen war, nahm sie mich bei der Hand,führtemich zumeinerVerwunderung in dieKüche undschloßdieTür.»Peggotty,« sagte ich, heftig erschrocken, »was istdenn?«»Du meine Güte, nichts ist, mein lieber Davy,«antwortete sie und setzte eine möglichst heitere Mieneauf.

  • »Esistetwasgeschehen,ichweißes,woistMama?«»WoMamaist,Davy?«wiederholtePeggotty.»Ja.Warum ist sie uns nicht entgegengekommen? Undweshalbsindwirhierhereingegangen?AchPeggotty!«Meine Augen standen voll Tränen und mir war zumumsinken.»Mein Gott, der gute Junge!« rief Peggotty und hieltmichaufrecht.»Wasistdir?Sprich,meinHerzblatt!«»Sieistdochnichttot?Nichttot?Peggotty?«»Nein,« schrie Peggotty mit erstaunlicher Kraft in derStimme.Dannsetztesiesichnieder, finganzukeuchenundsagte,ichhättesiefürchterlicherschreckt.Um daswieder gutzumachen, fiel ich ihr um denHals,stellte mich dann vor sie hin und sah sie mit bangerErwartungan.»Ja, schau, Liebling, ich hätte dirs schon früher sagensollen,aberichfandkeineGelegenheitdazu.Ichhätteeslängsttunsollen,aberichkonntemichpartuh«–daswarimmer der Stellvertreter in Peggottys Wörterheer für»durchaus«–»nichtdazuentschließen.«»Weiter Peggotty,« sagte ich noch mehr erschreckt alsvorher.»MasterDavy,«sagtePeggottyundknüpfteihrHutbandmitzitterndenHändenauf–siewarganzaußerAtem:–»Wasmeinstdu?DuhasteinenPapabekommen.«

  • Ichfuhrzusammenundwurdeblaß.EinEtwas–ichweißnichtwas–,dasmitdemGrabaufdemKirchhofundderAuferstehungderTotenzusammenhing,schienmichwieeingiftigerHauchzustreifen.»Einenneuen,«sagtePeggotty.»Einenneuen?«wiederholteich.Peggotty schluckte, als ob ihr etwas Hartes im Halsesteckengebliebenwäre,reichtemirdieHandundsagte:»Komm,dumußtihnsehen–«»Ichwillihnnichtsehen.«»–unddeineMama.«Ichwiderstand nicht länger, undwir gingen sogleich indasEmpfangszimmer,wosiemichverließ.AndereinenSeitedesKaminssaßmeineMutter,anderandern Mr. Murdstone. Meine Mutter ließ ihre Arbeitsinke


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