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Politische Partizipation älterer Menschen: damit Städte altersfreundlich werden Fachtagung 2017 zur Frage, wie sich die ältere Generation an der Gestaltung alterspolitischer Massnahmen beteiligen kann.

Schweizer Netzwerk altersfreundlicher Städtewww.altersfreundlich.net

eine Kommission des Schweizerischen Städteverbands

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Altersfreundliche Städte

Das «Schweizer Netzwerk altersfreundlicher Städte» wurde 2012 gegründet und ist seit 2015 eine Kom-mission des Schweizerischen Städteverbands. Es orientiert sich an den Richtlinien der Weltgesund-heitsorganisation (WHO) für altersfreundliche Städ-te. Das Netzwerk ist Plattform für den Austausch unter Altersverantwortlichen der Mitgliedstädte. Sind Sie noch nicht Mitglied?

Informationen: altersfreundlich.net

Präsident: Simon Stocker, Stadtrat, Sozial- und Sicherheitsreferent der Stadt Schaffhausen

Geschäftsleitung: Rita Gisler, Expertin für Altersfragen [email protected]

Informationen zum Schweizerischen Städteverband: www.staedteverband.ch

Impressum

Herausgeber: Schweizer Netzwerk altersfreundlicher Städte

Text: Marietherese Schwegler, Luzern

Fotos: Joseph Schmidiger, Fotograf, Luzern

Gestaltung und Produktion: Seline Aldridge, rubmedia, Wabern/Bern

Oktober 2017

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Vorwort

Alterspolitik gewinnt angesichts der alternden Gesellschaft an Bedeutung. Das gilt nicht nur für den Bund und die Kantone. Sehr direkt sind auch die Städte gefordert. In der Stadt, im Quartier findet der Alltag der älteren Generation statt, hier zeigt sich, was Lebensqualität ausmacht. Altersgerechte Lebensräume und Städte sollten aber nicht allein Sache von Politik und Verwaltung sein. Menschen im dritten und vierten Lebensalter sind die besten Expertinnen und Experten, wenn es um ihre Lebensbedin-gungen geht. Deshalb sollen sie diese mitplanen und mitgestalten können – nicht nur bei politischen Abstimmungen. Vielmehr sind weitere Formen der Beteiligung gefragt. Doch wie kann diese Partizipation von unten aussehen? Und wie holen wir auch An-liegen von Menschen ab, die schwer erreichbar sind?

Das Schweizer Netzwerk altersfreundlicher Städte hat solche Fragen an der Fachta-gung 2017 unter dem Titel «Politische Partizipation» diskutiert: mit Politikerinnen, Fachleuten – und mit Beteiligung der älteren Generation.

Simon StockerPräsident Schweizer Netzwerk altersfreundlicher StädteStadtrat, Sozial- und Sicherheitsreferent der Stadt Schaffhausen

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TAGUNGSBERICHT

Politische Partizipation älterer Menschen – damit Städte altersfreundlich werden

Die Gesellschaft altert, was sich besonders deutlich in den Städten zeigt. Das Schweizer Netzwerk altersfreundlicher Städte hat an einer Fachtagung Politische Partizipation zum Thema gemacht: Wie kann sich die ältere Generation beteiligen, damit ihre Anliegen und ihr Wissen in die Stadtgestaltung einfliessen?

Das Ziel der Tagung war hoch gesteckt: Politische Partizipation umfassend verstehen und begrifflich klären; die Rollen von Politik, Verwaltung, Zivilgesellschaft und Fachorganisationen auseinanderhalten; alle politischen Ebenen im Blick haben. Spezi-ell im Fokus stehen sollten Menschen, die schwer erreichbar sind, so Simon Stocker, Netzwerk-Präsident und Tagungsmoderator.

Varianten formeller und informeller Partizipation

Zum Start befragte der Moderator die Solothurner Nationalrätin Bea Heim und die Berner Gemeinderätin (Exekutive) Franziska Teuscher. Beide waren schon in jungen Jahren politisch aktiv, etwa in der Umweltdebatte und gegen die Atomkraft. Heute sind sie gewählte Bundes- und Stadtpolitikerin. Alter sei in der Politik eher negativ be-setzt und werde primär als Kostenfaktor gesehen, sind sie sich einig. «Überalterung und Umverteilung von Jung zu Alt sind oft gehörte Klagen. Doch die ältere Generati-on hat der Gesellschaft viel gebracht. Sie verdient Wertschätzung», sagte Franziska Teuscher. Bea Heim, die auch die Pro Senectute des Kantons Solothurn präsidiert und Mitglied der Grauen Panther ist, warf die Frage auf, ob der Königsweg für alterspoliti-sches Engagement in der Zivilgesellschaft liege. Dezidiert forderte sie: «Die Alten dür-fen sich nicht zurückziehen. Sie müssen sich öffentlich Gehör verschaffen, auch in Gemeinden und Medien.»

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Politisches Engagement: Historisch und vielfältig

Alexandre Lambelet, Professor an der Fachhoch-schule Westschweiz, hat über politisches Engage-ment der Rentnergeneration publiziert. Er stellte an der Tagung zentrale Aspekte vor. Zuerst wies er auf das überdurchschnittliche Gewicht der 60plus bei Abstimmungen hin – eine Tatsache, die in Politik und Medien oft problematisiert werde. Gründe für dieses politische Gewicht seien u.a. eine hohe Stimmbeteili-gung und die demografische Alterung der Gesell-schaft. Dann lieferte der Referent einen Überblick über die Entwicklung von Rentnervereinigungen. Ers-te Gruppierungen seien in den 1910er-Jahren ent-standen. 2001 haben sich die wichtigsten Organisa-tionen unter dem Dach des Schweizerischen Senio-renrats (SSR) vereint.

Heterogenität schwächt politische Schlagkraft

Die Motive für ein Engagement der Älteren seien vielfältig. So wollten sich manche als Experten wei-terbetätigen, andere unter Gleichgesinnten wirken, etwa im Kampf um den Sozialstaat. Weitere Motive seien ehrenamtliche Tätigkeit oder gemeinsame Freizeitaktivitäten. Lambelet wies auf die grosse Vielfalt innerhalb dieser Generation hin was soziale Herkunft, Bildung, Interessen und Alter betrifft. Verbände, insbesondere der SSR, hätten es deshalb schwer, ihre Interessen landesweit repräsentativ zu vertreten.

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Feste feiern!

Wie können Städte die Schwächeren der Gesellschaft erreichen, Zugewanderte, die unsere Sprache nicht sprechen, oder isoliert lebende Ältere? fragte Simon Stocker. «Es muss nicht jede und jeder partizipieren. Aber wir müssen dafür sorgen, dass auch die Bedürfnisse jener aufgenommen werden, die sich nicht selber äussern», meinte Fran-ziska Teuscher. Da hätten Organisationen wie Spitex oder Pro Senectute eine Vermitt-lerrolle. Auch informelle Plattformen und Treffpunkte seien nötig.

Im Dialog mit den Netzwerkmitgliedern – alle Altersverantwortliche in ihren Städten – kam zum Ausdruck, dass es sehr wohl Anlässe gibt, wo Austausch möglich wird, wo Einzelne aus der Isolation finden können. Eine gute Sache seien z.B. Nachbarschafts-feste. Da könnten sich Menschen ungezwungen begegnen und Beziehungen entste-hen. Franziska Teuscher nahm die Städte in die Pflicht: «Städte müssen solches er-möglichen. Es braucht Anlaufstellen zur Unterstützung.» Bea Heim bekräftigte: «Feste feiern! Da entstehen Kontakte.»

Organisiert oder spontan

Dass politisches Engagement im Alter eine lange Geschichte hat, zeigte anschliessend Alexandre Lambelet, Professor an der Fachhochschule Westschweiz. Sein Referat (siehe Box) galt primär den Rentnervereinigungen, von denen die ersten vor über hundert Jahren entstanden – mit unterschiedlichen Motiven, z.B. Einsatz für den Sozialstaat, ehrenamt-liche Arbeit oder gemeinsame Freizeitaktivitäten. 2001 haben sich zahlreiche Organisa-tionen unter dem Dach des Schweizerischen Seniorenrats (SSR) zusammengeschlossen.

Am Podiumsgespräch beteiligte sich denn auch der Co-Präsident des SSR, Michel Pil-lonel. Er sprach eher die problematischen Seiten des grossen Gebildes an. So sei es schwierig, zu gewissen Themen den erforderlichen Konsens zu finden, was den SSR oft hindere, politisch Position zu beziehen. Sonja Kuchen, Leiterin Gemeinwesenarbeit Pro Senectute Schweiz, vertrat einen Ansatz, der es nicht-organisierten Menschen er-mögliche, sich vor Ort, speziell im Quartier, für ihre Anliegen zu engagieren. Blaise Kropf von der Stadtberner Präsidialdirektion sagte, es bringe einer Stadt viel, wenn sich die ältere Generation einbringen könne – nicht zu unterschätzen sei aber der Ar-beitsaufwand, der bei der Verwaltung mit einer ausgebauten Partizipation ausgelöst werde. Bern kenne die strukturierte Form des Seniorenrats. Zudem könne sich die Be-völkerung an thematischen Projekten beteiligen. Entscheidend sei dabei, dass sie sich in einem möglichst frühen Stadium einbringen könne. Sonja Kuchen und Michel Pillo-nel plädierten für mehr Mut auch zu generationenübergreifender Partizipation.

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Politische Partizipation: Was funktioniert?

Wie die Beteiligung von Älteren – zum Beispiel in Seniorenräten, Alterskommissionen, Initiativgruppen oder Foren für 60plus – konkret aussehen könnte, haben die Tagungsteilnehmenden in drei Workshops vertieft. Die Essenz daraus:

Workshop 1

Fokus im ersten Workshop war die Frage: Wie finden wir Zugang zu schwer erreichba-ren Menschen? Das können Menschen sein, die knappe Ressourcen haben in Bezug auf Gesundheit, Bildung, Finanzen und Soziales oder unsere Sprache nicht sprechen. Was verstehen wir unter Erreichbarkeit, und weshalb sollten die älteren Menschen er-reicht werden? Wir verstehen darunter, sie wahrzunehmen, mit ihnen in Beziehung zu treten und zu wissen, was sie brauchen, um gesellschaftlich integriert zu bleiben. Aber auch, um ihre Erfahrungen und ihr Wissen kennenzulernen, um ihnen Informationen zu vermitteln, ihr Wohlergehen zu steigern. Denn Alterspolitik und Dienstleistungen sollen im Sinne von Chancengleichheit allen offenstehen. Wie wird der Zugang zu die-ser Gruppe möglich? Mit methodischem und kreativem Vorgehen: Türöffner können Menschen sein, die den Alltag mit ihnen teilen, Nachbarn im Quartier, im Sozialraum, die Coiffeuse, auch Spitex oder Pro Senectute. Kooperation zwischen Freiwilligen, Dienstleistern und Politik sowie personelle und finanzielle Mittel sind Voraussetzun-gen fürs Gelingen.

Workshop 2

Im zweiten Workshop, geleitet von Simone Gretler Heusser, Professorin an der Hoch-schule Luzern, wurden Formen politischer Partizipation diskutiert. Theoretisch kann der Prozess (nach Maria Lüttringhaus) als Kontinuum von Information, Austausch und Dialog, partnerschaftlicher Kooperation, Mitentscheidung bis hin zur Selbstorga-nisation gegliedert werden. Er läuft nicht linear ab, ein Hin und Zurück ist die Regel. Auch der (Informations-)Austausch zwischen Verwaltung und beteiligten Stadtbe-wohnern ist wechselseitig. Konkret wäre zu klären, welcher Grad von Partizipation den Anliegen der älteren Menschen und auch der Verwaltung am besten entgegen-kommt. Und es stellen sich Fragen, wie z.B. die Migrationsbevölkerung für Partizi - pa tion gewonnen werden kann. Stichworte dazu auch hier: Nachbarschaftshilfe, Quartiertreffs, Kinderbetreuung …

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Workshop 3

Ein weiterer Workshop ging der Frage nach, wie sich Interessenvertreter der älteren Generation selber politische Partizipation vorstellen. Er wurde moderiert von Liselotte Lüscher, Vorstandsmitglied des Schweizerischen Seniorenrats; dieser hat sich zum Ziel gesetzt, Seniorenräte in den Kantonen und Städten zu fördern. Entsprechend interes-sierte die Frage, wo die Städte heute stehen. In einigen Städten gibt es dafür sehr un-terschiedliche, mehr oder weniger formalisierte Plattformen. Andere Städte – oder Äl-tere selber – sehen dafür keine Notwendigkeit. Was wären Anforderungen an solche Partizipationsgefässe? Sollen sie repräsentativ sein, unabhängig, politisch zusammen-gesetzt, beratend für die Politik, mit einem verbindlichen Leistungsvertrag oder Regle-ment versehen? Die Vorstellungen waren sehr unterschiedlich. Die Städte befinden sich offensichtlich – nicht zuletzt mangels allgemeingültiger Standards – noch in Suchprozessen.

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Fazit aus der Tagung

Eine zentrale Frage ist die Erreichbarkeit: Wie sind ältere Menschen anzusprechen, die sich zu alterspolitischen und gesellschaftlichen Themen längerfristig und verbindlich engagieren wollen? Wie sind sie für Initiativen für ein besseres Zusammenleben, für Nachbarschaftshilfe, ehrenamtliches Engagement oder Kulturaktivitäten zu gewin-nen? Lösungsansätze bieten womöglich folgende Vorgehensweisen: systematisches Anschreiben der älteren Menschen oder persönliche Kontaktaufnahme an besonderen Anlässen, z.B. in Quartiertreffs. Zu beachten ist dabei, dass Menschen am ehesten über ihre Interessen und Anliegen zur Partizipation zu bewegen sind.

Man fand nicht das allgemeingültige Rezept oder die optimale Form von Partizipati-on, aber sehr wohl Klärung und nützliche Anregungen, wie etwa der Zugang über Nachbarschaft und Quartier. Wenn Städte zum Ziel kommen wollen – einer für alle Beteiligten befriedigenden Partizipation – dann müssen sie verschiedene Vorgehens-weisen ausprobieren. Aus Sicht der Verwaltung gilt es dafür auch genügend Zeit und Kompetenzen vorzusehen.

Pragmatismus statt Perfektion

Zum Schluss resümierte der Netzwerk-Präsident Simon Stocker die grosse Vielfalt dessen, was Politische Partizipation der Älteren heissen kann: Angesiedelt im Quartier oder in der Stadt bis hin zum Nationalrat; spontan von unten kommend oder ange-stossen von der Verwaltung oder von Fachleuten der Quartier- und Gemeinwesenar-beit. Stocker erwähnte auch Grenzen: Es sei kaum möglich, alle zu beteiligen. «Wir müssen nicht Perfektion anstreben, sondern pragmatisch bleiben.» Er empfahl den Städten, den Austausch zu pflegen und voneinander zu lernen.

Studie mit Hintergrundinformation Gestaltung der Alterspolitik, Beteiligung und Partizipation in ausgewählten Schweizer Städten und Gemeinden. Jürgen Stremlow u.a. (2016). Kölner Schriftenreihe für Management und Organisation No. 4. Technische Hochschule Köln, Institut für angewandtes Management und Organisation in der Sozialen Arbeit. Download: altersfreundlich.net


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