Einführung in die testbasierte Intelligenzdiagnostik bei Kindern
SS 2009
Dipl.-Psych. Michael Lichtblau
2. VA – 16.04.2008
Thema
Historische Entwicklung der Diagnostik von Intelligenz – von der Kraniometrie zur testbasierten Intelligenzdiagnostik.
Historische Entwicklung
19. Jahrhundert - Gesellschaftlicher Kontext• 1878 Gründung des Deutschen Reiches• Industrialisierung - Neue Technologien verändern die
Welt: Dampftechnik, Elektrizität,Telegrafie etc.• Ab 1870 - 1914 Hochzeit des Imperialismus • Rechtfertigung: Überlegenheit der weißen Rasse. • Rechtfertigung: Überlegenheit der weißen Rasse.
Deutscher Kolonialherr in Togo (ca. 1885), damals
deutsche und später französische Kolonie
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Kolonialismus.
Historische Entwicklung
19. Jahrhundert• Intelligenz „eine einzige, angeborene, vererbte und
messbare Sache“ (Gould, 1983, S. 20) • Biologischer Determinismus
• Das individuelle Erleben und Verhalten ist allein durch die biologischen Voraussetzungen des jeweiligen Menschen festgelegt.
• Biol. Determinismus dient weniger der Erklärung sondern in erster • Biol. Determinismus dient weniger der Erklärung sondern in erster Linie der Legitimierung von sozialen Ungleichheiten.
• Wissenschaftliche Grundlage des Rassedenkens dieser Zeit.• Bildung einer rassischen Rangordnung.• Übertritt oder Assimilation unmöglich.
Historische Entwicklung
19. Jahrhundert – (Pseudo)-Wissenschaftliche Methoden• Kraniometrie – Schädelvermessung (lat. cranium = Schädel)
– Sitz der Intelligenz im Gehirn – Form des Schädels bestimmt die Abstammung und damit die Güte der Intelligenz.
– Heute von historischer Bedeutung (Zitat Huxley).
Vertreter: u. a.
Typen der Menschheit:Unilineare Skala menschlicher Rassen und niederer Stammesverwandter nach Nott & Gliddon (1868) aus Gould (1983).
Kraniometer
Vertreter: u. a. Broca (1824-1880); Morton (1799-1851).
Historische Entwicklung
19. Jahrhundert – (Pseudo)-Wissenschaftliche Methoden• Kraniometrie – Schädelvermessung
– Die vermeintlich objektive Methode: Broca, Binet und das Ende der Schädelmessung zur Bestimmung der Intelligenz.
– Schädeluntersuchung von Binet & Simon (1900) an N = 230 Schulkindern.
– Unterschied zwischen leistungsstarken und –schwachen – Unterschied zwischen leistungsstarken und –schwachen Schülern 3 mm.
– Neben den kleinsten auch die größten Schädel von Leistungsschwachen.
Ergebnis: Methode nicht valide und Vorsicht vor der eigenen unbewussten Einflussnahme!
Historische Entwicklung
20. Jahrhundert – Beginn der testbasierten Diagnostik
• 1904 – Binet erhält Auftrag vom französischen Erziehungsminister
• Auftrag zur Frage der spezifischen Unterrichtsplanung bei Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf.
• Binet & Simon entschieden zunächst eine objektive Diagnostik zu gewährleisten.Diagnostik zu gewährleisten.
• Pragmatisches Vorgehen: Entwicklung einer Reihe von Aufgaben in Form von Alltagsproblemen – ohne schulische Fertigkeiten.
• Vorgehen selbst- und gesellschaftskritisch und Ergebnis lediglich auf die konkrete Fragestellung anwendbar – Warnung vor Halo-Effekt, Self-fulfilling Prophecy, Generalisierung des Testwertes etc.
• Binet weist speziell auf die Grenzen der Aussagekraft seines Verfahrens hin (Zitate 2-4).
Historische Entwicklung
20. Jahrhundert – Beginn der testbasierten Diagnostik• Binet-Simon-Intelligenztest (1905)
– Innovation: Quantifizierung der Leistung.
– Damit Mitbegründer der Psychometrie.
– Diagnostik kognitiver Basiskompetenzen: „Ordnen, Verstehen, Erfinden und Korrigieren“ (Binet, 1909).
– Vergleich der Testwerte mit Normwerten (durchschnittlich Leistungsfähige Kinder).Kinder).
– Bestimmung des Intelligenzalters (IA).
Beispiel für ein 8 Jahre altes Kind:
Ergebnis: Intelligenzalter des Kindes 6 Jahre
Altersstufe 5 6 7 8 9 10
Normwert 15 18 22 25 28 30
Testwert 18
Historische Entwicklung
20. Jahrhundert – Beginn der testbasierten Diagnostik• Binet-Simon-Intelligenztest (1905)• Prinzipien Binet´s:1. Punktzahl bildet nicht Intelligenz ab – Sie definiert nichts
Angeborenes und Unveränderliches!2. Test praktisches Hilfsmittel zur Auffindung lernbehinderter Kinder
und kein Mittel zur Bildung einer Rangfolge!und kein Mittel zur Bildung einer Rangfolge!3. Werte sind Hinweise für spezifische Fördermaßnahmen und nicht
Mittel zur Stigmatisierung von Problemfällen!
Historische Entwicklung
20. Jahrhundert – Weiterentwicklung in den USA• Intelligenz = vererbte und von der Umwelt
unbeeinflusste Persönlichkeitseigenschaft.• Historische Ereignisse und die sozio-politische Lage
führt zur Entwicklung einer „Intelligenztestindustrie“ (Zimbardo, 1999).
– 1. Anpassung und Überarbeitung des Binet-Simon-Tests.– 2. Entwicklung eines Armee-Eignungstests.
Historische Entwicklung
20. Jahrhundert – Weiterentwicklung in den USAAnpassung und Überarbeitung des Binet-Simon-Tests durchTerman (1916) – Stanford-Binet-Test.• Anpassung der Items an amerikanische Verhältnisse.• Sprachliche Fähigkeiten entscheidend.• Standardisierung der Durchführung.• Berechnung von Normwerte anhand großer Stichprobe N > 1000.• Berechnung von Normwerte anhand großer Stichprobe N > 1000.• Verwendung des Intelligenzquotienten von Stern (1914) (auch
Altersquotient genannt).
Effekt: Gewichtung der unterschiedlichen Bedeutung von Intelligenzalterunterschieden je nach Lebensalter.
Historische Entwicklung
20. Jahrhundert – Weiterentwicklung in den USAStanford-Binet-Test (Terman ,1916):• Wurde Standard Instrument der klinischen Psychologie und
Psychiatrie sowie der Erziehungsberatung.• Annahme Intelligenz sei vererbt und IQ beschreibe wesentliche
Aspekte dieser menschlichen Eigenschaft.• Letzte Revision von Terman & Merrill (1972):• Letzte Revision von Terman & Merrill (1972):
– Beachtung des Flynn- Effektes (Flynn, 1984).– Übernahme des Abweichungsquotienten anstelle des
Altersquotienten.
1916 1937
Historische Entwicklung
20. Jahrhundert – Abweichungsquotient.Abweichungsquotient nach Wechsler (1932).• Vergleich des Testwertes mit der Verteilung von Testwerte einer
adäquaten Vergleichsstichprobe gleichen Alters.• Standard: Mittelwert = 100; Standardabweichung = 15.
– Def. Standardabweichung: Maßzahl für die Streuung von Werten um einen Mittelwert.
– Grundsätzlich bei Normalverteilung: 68,3% zwischen +/- 1 SD; 95,4% zwischen +/- 2 SD und 99,7% zwischen +/- 3 SD.
• Vorteil: a) Der Vergleich verschiedener Alterstufen miteinander wird vermieden und b) relevante Unterschiede auch in höherem Alter können diagnostiziert werden.
Historische Entwicklung
20. Jahrhundert – Abweichungsquotient.Abweichungsquotient nach Wechsler (1932).
Historische Entwicklung
20. Jahrhundert – Abweichungsquotient.Bedeutung der Werte nach ICD-10.IQ < 70 = leichte Intelligenzminderung.IQ < 50 = mittelgradige Intelligenzminderung.IQ < 35 = schwere Intelligenzminderung.IQ < 20 = schwerste Intelligenzminderung.
Hochbegabung kein klinisch-pathologisches Phänomen.Populär – IQ > 130Anmerkung: Aktuelle wissenschaftliche Sichtweise misst dem
Intelligenztestwert nur eine nebengeordnete Bedeutung im Rahmen der Diagnostik von Hochbegabung zu.
Historische Entwicklung
20. Jahrhundert – Abweichungsquotient.• Wechsler kritisiert die Sprach- und Kulturabhängigkeit des
Stanford-Binet-Intelligenztests• Benachteiligung von sprach-behinderten Kindern oder Kindern mit
Migrationshintergrund.
• Lösung: sprachfreie und/oder kulturfaire Tests.
• Wechsler entwickelt: – Wechsler Bellevue Intelligence Scale (1939) – Wechsler Bellevue Intelligence Scale (1939)
– Wechsler Intelligence Scale for Children (1949)
– Wechsler Adult Intelligence Scale (1955)
– Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence (1967)
– Aktuelle dt. Fassungen: HAWIE-R (1991); HAWIK-IV (2007), HAWIVA-III (2007)
• Raven entwickelt: – Standard Progressive Matrices (1956) – sprach- und kulturfrei (?)
Historische Entwicklung
20. Jahrhundert – AbweichungsquotientStandard Progressive Matrices (1956) – sprach- und kulturfrei (?) Internettest nach Raven: http://iqtest.dk/main.swf
Beispiel:
Historische Entwicklung
20. Jahrhundert – Zusammenfassung1. Entwicklung von einer physiognomischen (Kraniometrie) zu einer
verhaltensbezogenen (Psychometrie) Diagnostik.2. Entwicklung von einer biologisch deterministischen Sichtweise zur
Auffassung, dass Erbe (Gene) und Umwelt in einem kontinuierlichen Wechselwirkungsverhältnis stehen.
3. Entwicklung vom Altersquotienten hin zum Abweichungsquotienten.Abweichungsquotienten.
4. Entwicklung der Sichtweise, dass Intelligenztestergebnisse erheblich durch die individuellen kulturellen Erfahrungen beeinflusst werden.
Historische Entwicklung
Prinzipien Binet´s (1905):1. Punktzahl bildet nicht Intelligenz ab – Sie definiert nichts
Angeborenes und Unveränderliches!2. Test praktisches Hilfsmittel zur Auffindung lernbehinderter Kinder
und kein Mittel zur Bildung einer Rangfolge!3. Werte sind Hinweise für spezifische Fördermaßnahmen und nicht
Mittel zur Stigmatisierung von Problemfällen!