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Page 1: Hereditäre spastische Paraplegien

Unter dem Begriff hereditäre spastischeParaplegien (HSP), auch als hereditärespastische Spinalparalysen,familiäre spas-tische Paraplegien bzw.Strümpell-Lorrain-Syndrom bezeichnet, werden eine Reihevon neurodegenerativen Erkrankungenverstanden, die alle durch eine langsamprogrediente spastische Paraparese oderPlegie der unteren Extremitäten,eine leich-te,distal betonte Pallhypästhesie und Bla-senentleerungsstörungen charakterisiertsind [8,9,14].Erste ausführliche Beschrei-bungen stammen von Seeligmüller 1876und Strümpell 1880 [22, 24]. Diese Über-sichtsarbeit fasst die klinischen, patholo-gischen und genetischen Aspekte dieserKrankheitsgruppe zusammen.

Klassifikation

Die HSP können nach verschiedenen Ge-sichtspunkten eingeteilt werden:

▂ Entsprechend dem Erbgang werdenautosomal dominante, autosomal re-zessive und X-chromosomale HSPunterschieden.

▂ Entsprechend dem klinischen Er-scheinungsbild werden unkompli-zierte Formen (spastische Parapareseder unteren Extremitäten, Pallhypäs-thesie in den distalen unteren Extre-mitäten, Blasenentleerungsstörun-gen) von komplizierten Formen (zu-sätzlich zu den bei den unkompli-zierten Formen beschriebenen Aus-fällen finden sich eine Epilepsie, De-menz, ein Katarakt, extrapyramidaleStörungen, eine Amyotrophie, Dysar-thrie, Polyneuropathie oder Ichthyo-

Übersicht

J. Finsterer · Neurologische Abteilung, Krankenanstalt Rudolfstiftung Wien

Hereditäre spastische Paraplegien

sis) unterschieden [13].Auch bei denkomplizierten Formen der HSP istdie spastische Paraparese meist dasführende Zeichen.

▂ Entsprechend den Genen, in denenMutationen nachgewiesen wurden,werden bis dato 20 verschiedene For-men HSP 1–20 unterschieden (⊡ Ta-belle 1). Einzelne Mutationen könnensowohl zu einer komplizierten alsauch unkomplizierten Form der HSPführen (⊡ Tabelle 1) [14].

Häufigkeit

Die Prävalenz der HSP variiert in verschie-denen Studien, bedingt durch unter-schiedliche diagnostische Kriterien, un-terschiedliche epidemiologische Metho-den und geografische Faktoren [14]. DiePrävalenz wird, in Abhängigkeit von deruntersuchten Population,mit 2,7 (Molise,Italien), 4,3 (Aostatal, Italien), 2,0 (Portu-gal) und 9,6 (Cantabria, Spanien) pro100.000 angegeben [14,17,23].Für die rest-liche Bevölkerung Europas wird eine ähn-liche Inzidenz vermutet

Klinisches Erscheinungsbild

Symptome

Bei der unkomplizierten Form berichtenbetroffene Patienten über eine Gangstö-rung, schleichend beginnende und lang-sam progrediente Schwäche der Beine,Steifigkeitsgefühl,einschießende Spasmennachts,nach Belastung und bei Kälte,Bla-senentleerungsstörungen wie imperativerHarndrang, Dranginkontinenz, Pollakis-

urie (33% der Patienten) und Parästhesien.Bei frühem Beginn ist das Erlernen desGehens verzögert.Ungefähr ein Viertel derGenträger bleibt asymptomatisch.

Bei der komplizierten Form beklagenbetroffene Patienten zusätzlich Vergess-lichkeit und Konzentrationsstörungen(HSP 1, 4, 7, 11, 14, 16, 20), Sehstörungen(HSP 2,7,9, 15, 16),Schwindel,Zittern undSprechstörungen (HSP 1, 2, 7, 11, 15), Ge-fühlsstörungen (HSP 7,11),Muskelschwund(HSP 15, 17), epileptische Anfälle (HSP 4),Schluckstörungen (HSP 7) und Schwächeder Arme (HSP 11; ⊡ Tabelle 1).Die Fami-lienanamnese ist oft positiv für Parapare-sen, distale Tiefensensibilitätsstörungenund Blasenentleerungsstörungen.

Neurostatus

Bei der unkomplizierten Form finden sichim neurologischen Status im Bereich derHirnnerven normale Verhältnisse, insbe-sondere keine bulbären Ausfälle, und imBereich der oberen Extremitäten manch-mal übermittellebhafte oder gesteigerteMuskeleigenreflexe.Kraft und Tonus sindan den oberen Extremitäten aber normal.Im Bereich des Rumpfes ist die Motorikund Sensibilität intakt. Insbesondere fin-det sich kein sensibles Niveau.Häufig be-steht eine lumbale Hyperlordose.An denunteren Extremitäten finden sich einesymmetrische diffuse Paraparese, einespastische Tonuserhöhung, gesteigerteMuskeleigenreflexe,positive Pyramiden-zeichen,und distal ein abgeschwächtes Vi-brationsempfinden.

Der Grad der Paresen ist sehr variabelund reicht von asymptomatischen Fällen

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Nervenarzt 2003 · 74:497–504DOI 10.1007/s00115-003-1516-3Online publiziert: 7. Mai 2003© Springer-Verlag 2003

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Tabelle 1

Hereditäre spastische Paraplegien [6, 25]

Typ Gen Vererbung Genlocus Genprodukt AUF UF KF

HSP 1 SPG 1 XR Xq28 L1CAM 7 Ja Geistige Retardierung, Hydrozephalus, Aphasie, adduzierte

Daumen (CRASH-Syndrom)

HSP 2 SPG 2 XR Xq22 Proteolipoprotein 4 Ja Optikusatrophie, Ataxie, Nystagmus, Leucenzephalopathie

HSP 3 SPG 3 AD 14q11-q21 Atlastin 5 Ja Nein

HSP 4 SPG 4 AD 2p22 Spastin 50%a Ja Demenz, Epilepsie

HSP 5 SPG 5 AR 8q nb 6 Ja Nein

HSP 6 SPG 6 AD 15q11.1 nb 1 Ja Nein

HSP 7 SPG 7 AR 16q24.3 Paraplegin 5 Ja Optikusatrophie, kortikale und zerebelläre Atrophie,

abnorme Mitochondrien, Dysarthrie, Dysphagie, axonale

PNP, Balkenatrophie

HSP 8 SPG 8 AD 8q23-q24 nb 2 Ja Nein

HSP 9 SPG 9 AD 10q23.3-q24.2 nb 1 Nein Katarakt, gastroösophagealer Reflux, mPNP, Amyotrophie

HSP 10 SPG 10 AD 12q13 KIF5A 2 Ja Nein

HSP 11 SPG 11 AR 15q13-q15 nb 7 Ja Geistige Retardierung, sPNP, Balkenatrophie, Dysarthrie,

Nystagmus, Parese der oberen Extremität

HSP 12 SPG 12 AD 19q13 nb 1 Ja Nein

HSP 13 SPG 13 AD 2q24-q34 HSP 60 1 Ja Nein

HSP 14 SPG 14 AR 3q27–28 nb 1 Nein Geistige Retardierung, mPNP

HSP 15 SPG 15 AR 14q22-q24 nb 1 Nein Makulopathie, distale Amyotrophie, Dysarthrie, geistige

Retardierung

HSP 16 SPG 16 XR Xq11.2 nb 1 Ja Aphasie, Sehstörung, geistige Retardierung, Inkontinenz

HSP 17 SPG 17 AD 11q12-q14 nb 1 Nein Amyotrophie der Handmuskeln (Silver-Syndrom)

HSP 18 SPG 18 AR ? nb 1 Ja Nein

HSP 19 SPG 19 AD 9q33-q34 nb 1 Ja Nein [25]

HSP 20 SPG 20 AR 13q12.3 Spartin 1 Nein Troyer-Syndrom (Dysarthrie, distale Amyotrophie,

gestörtes endosomales Trafficking)

AUF Anzahl der untersuchten Familien, UF unkomplizierte Form,KF komplizierte Form, XR X-chromosomal-rezessiv,AD autosomal-dominant, AR autosomal-rezessiv,L1CAM neural cell adhesion molecule, mPNP motorische Polyneuropathie, sPNP sensible Polyneuropathie,nb nicht bekannt, a 50% aller Familien mit dominantem Erbgang

Übersicht

bzw.einer geringen Paraparese ohne funk-tionelle Einschränkung bis hin zur Para-plegie mit Rollstuhlpflicht. Der Behinde-rungsgrad nimmt mit zunehmenderKrankheitsdauer zu.Die Paresen sind amstärksten in den Fußhebern, den Knie-beugern und im M. iliopsoas ausgeprägt.Häufig besteht eine Diskrepanz zwischennur geringer Parese aber ausgeprägterSpastik. Dies kann dazu führen, dass Pa-tienten auf Grund der Spastik rollstuhl-pflichtig werden aber eine normale Krafthaben.Bei ausgeprägter Adduktorenspas-tik kommt es zum klassischen Bild desScherenganges.Die Trophik ist meist nor-mal.Wenn Atrophien auftreten,dann erstnach längerer Krankheitsdauer, mit nurgeringer Ausprägung und distal betont.Faszikulationen fehlen.Häufig findet sicheine leichte bis mäßige Pallhypästhesie an

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der unteren Extremität bzw. in einigenFällen eine reduzierte Oberflächensensi-bilität und Temperaturwahrnehmung(10–65% der Patienten) [10, 20, 22]. Häu-fig findet sich ein Pes cavus (Hohlfuß,33%der Patienten).Der Gang gehfähiger Pati-enten ist durch große,ausladende Schrit-te,Fallfuß.Zirkumduktion und,bei Spas-tik der Kniebeuger,Beugestellung im Kniegekennzeichnet [8].

Bei der komplizierten Form können zu-sätzlich zerebelläre Zeichen wie Nystag-mus, Dysarthrie, Ataxie (HSP 2, 7, 11, 15,20), Zeichen des zerebralen Abbaus(HSP 1, 4, 7, 11, 14, 16),Aphasie (HSP 1, 16),Dysphagie (HSP 7), Epilepsie (HSP 4),Dystonie und Choreoathetose, einseitigeAtrophie (HSP 15,17,20),Visusminderungdurch Katarakt,Makuladegeneration oderOptikusatrophie (HSP 2, 7, 9, 15, 16) und

Polyneuropathie mit Sensibilitätsstörungund trophischen Ulzera (HSP 7,11) auftre-ten (⊡ Tabelle 1) [14].Es gibt Hinweise da-für, dass bei sorgfältiger Untersuchungunkomplizierter Fälle kognitive Defizitegefunden werden,wodurch diese zu kom-plizierten Fällen werden.

Verlauf

Der Beginn der Erkrankung ist sehr va-riabel und betrifft alle Altersabschnittevon der frühen Kindheit bis hin zur 8.De-kade [14,26].Meist liegt die Erstmanifes-tation vor dem 40.Lebensjahr.Typischer-weise beginnt die Schwäche in beiden Bei-nen zugleich und in gleicher Intensität.Bei asymmetrischem Verlauf sollte an dieDifferenzialdiagnosen der HSP (⊡ Tabel-le 2) gedacht werden.

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Zusammenfassung · Abstract

In den meisten Fällen ist die Parapa-rese langsam progredient. In größerenStudien zeigt sich jedoch, dass die Pro-gredienz umso geringer ist je früher dieKrankheit beginnt [20].Das Erstsymptomist meist die Paraparese,gefolgt von Spas-tik und Blasenentleerungsstörung.In sel-tenen Fällen sind Spastik und Blasenent-leerungsstörung das Erstsymptom. Ins-gesamt ist die Erkrankung bezüglich Be-ginn,Schweregrad und Progredienz auchinnerhalb einer einzigen Familie äußerstvariabel [8].

Zusatzuntersuchungen

Sowohl bei der unkomplizierten als auchder komplizierten Form ergibt die Blut-chemie, insbesondere die Lues-Serologie,der Vitamin-B12- und Folsäurespiegel,dieBestimmung langkettiger Fettsäuren,Gan-gliosidantikörper, Galactocerebrosidase,β-Hexosaminidasen A und B und Laktatnormale Werte. Die Arylsulfatase A imHarn liegt in Normbereich. Liquorunter-suchungen sind meist normal [6].In selte-nen Fällen kann das Eiweiß erhöht sein.

Sowohl bei der komplizierten als auchunkomplizierten Form zeigt das spinaleMRI eine Atrophie des Myelons, speziellim thorakolumbalen Übergangsbereich.Bei der HSP 2 können zusätzlich Demye-linisierungsherde im Myelon beobachtetwerden. Das MRI des Zerebrums ist beider unkomplizierten Form normal.Bei derkomplizierten Form zeigt sich eine zere-brale oder zerebelläre Atrophie (HSP 7),eine Balkenatrophie (HSP 11) oder eineOptikusatrophie (HSP 2, 7; ⊡ Tabelle 1).

Bei der unkomplizierten Form ist dasEMG üblicherweise normal. In der Elek-troneurographie kann die sensible Ner-venleitgeschwindigkeit an den unterenExtremitäten vermindert sein, ohne dasssich klinisch Sensibilitätsstörungen fin-den.Mittels Tibialis-SSEPs kann eine ver-minderte spinale Leitungszeit sensiblerBahnen nachgewiesen werden. Die Me-dianus-SSEPs sind normal oder zeigeneine leichte Amplitudenreduktion der kor-tikalen Komponente N20. Bei der trans-kraniellen Magnetstimulation zeigt sicheine verlängerte zentralmotorische Lauf-zeit mit verlängerten Latenzen zu denMuskeln der unteren Extremität,währenddie Latenzen zu den Muskeln der oberen

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Nervenarzt 2003 · 74:497–504DOI 10.1007/s00115-003-1516-3© Springer-Verlag 2003

J. Finsterer

Hereditäre spastische Paraplegien

den Ausschluss aller in Frage kommenden Diffe-renzialdiagnosen.Neuropathologisch findet sicheine Degeneration kortikospinaler Fasciculusgracilis und teilweise auch spinozerebellärer Axo-ne.Bisherige Erkenntnisse über die Funktion derbekannten SPG-Gen-Produkte deuten daraufhin, dass die Degeneration der längsten Axonedes ZNS durch eine Störung der Energieversor-gung für den raschen, langstreckigen, antero-und retrograden axonalen Transport bedingt ist.

SchlüsselwörterErbkrankheiten · Mutationen · Rückenmark · Genetik · Gangstörung

ZusammenfassungHereditäre spastische Paraplegien (HSP) sinddurch eine symmetrische spastische Paraparese,Pallhypästhesie und Harninkontinenz gekenn-zeichnet (unkomplizierte HSP).Wenn zusätzlicheine Epilepsie, Demenz, ein Katarakt, extrapyra-midale Störungen, eine Amyotrophie, Polyneuro-pathie oder Ichthyosis auftreten, handelt es sichum eine komplizierte HSP.Die HSP sind klinischsehr ähnlich, genetisch aber sehr heterogener.Verursacht werden die HSP durch Mutationen in20 verschiedenen Genen (SPG 1–20), von denenbisher 8 identifiziert wurden.Trotz der Möglich-keit der DNA-Analyse stützt sich die DiagnoseHSP nach wie vor in erster Linie auf die Klinik und

SummaryHereditary spastic paraplegias (HSP) are charac-terised by symmetric spastic paraplegia, pall-hypaesthesia, and urinary dysfunction (uncom-plicated HSP).Complicated HSP is present if un-complicated HSP additionally presents with epi-lepsy, dementia, cataract, extrapyramidal dys-function, amyotrophy, polyneuropathy, or ich-thyosis.Clinically, HSP are similar but geneticallyeven more heterogeneous.The disease course isslowly progressive and, the earlier the diseaseonset, the slower the course.Causes of HSP aremutations in 20 different genes, of which eighthave been identified so far.A single mutation cancause complicated and uncomplicated HSP.On-

set and severity can be quite variable betweenboth groups and within families.Despite mole-cular genetic advances, diagnosis of HSP still relies on clinical features and the exclusion of va-rious differential diagnoses.Neuropathologically,there is degeneration of corticospinal, posteriorcolumn, and spinocerebellar axons.Most likely,degeneration of the longest CNS axons is due toan impaired energy supply of the anterogradeand retrograde axonal transport.

KeywordsHereditary disease · Mutations · Spinal cord · Genetics · Gait disturbance

Hereditary spastic paraplegias

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Tabelle 2

Differenzialdiagnosen der HSP [6, 14, 26]

Erkrankung Diagnostische instrumentelle Untersuchungen

Multiple Sklerose MR, Liquor, VEP

DOPA-sensitive Dystonie (Segawa-Syndrom) Besserung aud L-DOPA, Genetik

Vitamin-B12-Mangel (funikuläre Myelose) Blutbild, Vitamin-B12-Spiegel, Elektrophysiologie

Tethered-Cord-Syndrom Spinales MR

Kompression des Myelons (zervikal oder thorakal) Spinale MR, Myelographie

Tertiäre Syphillis (Meningomyelitis syphylitica) VDRL, FTA-ABS (Serum/Liquor), MR

Sporadische ALS Elektrophysiologie, TMS, MR

Familiäre ALS (SOD-Gen, Alsingen) Elektrophysiologie, TMS, MR, Genetik

Primäre Lateralsklerose Elektrophysiologie

Mitochondriopathie Laktat/Pyruvat (Serum/Liquor), Biopsie, Biochemie, Genetik

Spinale AV-Malformation MR, spinale Angiographie

M. Pelizaeus-Merzbacher MR, Genetik

M. Krabbe Cerebrosid-ββ-Galaktosidase, MR, Elektrophysiologie

Metachromatische Leukodystrophie Arylsulfatase A, MR, Elektrophysiologie, Biopsie

Adrenoleukodystrophie Langkettige Fettsäuren

Machado-Joseph-Krankheit (SCA 3) Elektrophysiologie, Genetik

Friedreich-Ataxie Elektrophysiologie, Genetik

Neuro-Lathyrismus Keine, Ernährung mit Lathyrus sativa (Indien)

Folsäuremangel Folsäurespiegel, Blutbild, Histidinbelastungstest

Vitamin-E-Mangel Vitamin-E-Spiegel

Konzo (Neuro-Cassavaismus) Keine, Ernährung mit Cassava-Wurzeln (Afrika)

Zervikale Myelopathie MR, Myelograpbie, TMS

HIV-assoziierte vakuoläre Myelopathie HIV-AK, MR, CD4-count

Tropische spastische Paraplegie (HTLV1-Myelitis) HTLV1-AK (Serum/Liquor)

HMSN V Elektrophysiologie, Genetik

Hallervorden-Spatz-Krankheit MR, Histologie

GM2-Gangliosidose (Hexosaminidasemangel) Augenhintergrund, Hexosaminidase A und B

Abetalipoproteinämie Lipide, Lipidelektrophorese, Blutbild

Spinale Raumforderung (Neurinom, Meningeom) MR, Myelographie, Liquor

Zerebrale parasaggitale Raumforderung MR, Liquor

Syringomyelie Spinales MR

Fehlbildung des kraniozervikalen Übergangs (Chiari) CT, MR

Chronische Borelliose Borellien-AK im Serum und Liquor, MR

Arginasemangel Plasmaarginin, Aminoazidurie

Infantile Zerebralparese MR

SCA spinozerebelläre Ataxie, CT Computertomographie, MR Magnetresonanz, TMS transkranielle Magnetstimulation

Übersicht

Extremität normal sind.Bei einigen Pati-enten finden sich auch pathologischeVEPs mit einer verlängerten Latenz zurKomponente P100 und einer verminder-ten Amplitude P100/N145. Bei der kom-plizierten Form der HSP 7, 9 und 14 istauch die Elektroneurographie motori-scher Nerven abnorm (⊡ Tabelle 1).

Bei den unkomplizierten Formen istdie Muskelbiopsie üblicherweise normal.

Bei der HSP 7 finden sich Ragged-red-Fa-sern, eine verstärkte Succinat-Dehydro-genase-Färbung und Cytochrom-Oxida-se (COX)-negative Muskelfasern (⊡ Tabel-le 1) [8].

Neuropathologie

Die neuropathologische Untersuchungdes Zerebrums bzw. Myelons zeigt eine

axonale Degeneration kortikospinalerBahnen mit einem Maximum im thora-kolumbalen Übergangsbereich und desFasciculus gracilis mit einem Maximumim zervikomedullären Abschnitt. Leichtbetroffen von der axonalen Degenerationsind auch spinozerebelläre Bahnen (50%der Patienten).

Auffällig ist,dass von der axonalen De-generation jene 3 Bahnsysteme betroffen

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Page 5: Hereditäre spastische Paraplegien

Tabelle 3

Diagnostische Maßnahmen bei Verdacht auf HSP

Anamnese

Status

Augenhintergrund

Urodynamik

Blutchemie (HIV-AK, Luesserologie, Borellien-

AK,HTLV1-AK,Vitamin-B12,Folsäure,Vitamin E,

Laktat/Pyruvat, langkettige Fettsäuren,

Arylsulfatase A, Cerebrosid-ββ-Galaktosidase,

Hexosaminidase A und B)

Liquor (Borellien-AK, HIV-AK, Laktat,

HLVT1-AK,VDRL)

Myelographie

MRI der gesamten Wirbelsäule und des

Zerebrums

Angiographie bei Verdacht auf spinale

AV-Malformation

NLG, EMG,VEPs, SSEPs,TMS

Muskel-/Nervbiopsie

DNA-Analyse

NLG Nervenleitgeschwindigkeit, EMG Elektro-myographie, VEP visuell-evozierte Potenziale,SSEP somatosensorisch evozierte Potenziale,TMS: transkranielle Magnetstimulation

sind, in denen die längsten Axone desZNS, die gleichzeitig auch den größtenEnergiebedarf haben,liegen.Der Grad derbegleitenden Demyelinisierung entsprichteher dem einer primären axonalen Läsi-on als dem einer primär demyelinisieren-den Läsion. In einigen Fällen ist die Zahlder kortikospinalen Axone und Vorder-hornzellen vermindert. Spinalganglien,Hinterwurzeln und periphere Nerven sindaber neuropathologisch unauffällig. Diedistale Degeneration der längsten Axonedes ZNS legte den Veracht nahe, dass beiden HSP eine Störung des axonalen Trans-ports vorliegt [12, 14].

Axonaler Transport

Wegen ihrer Länge sind Axone von einemfunktionstüchtigen Transportsystem ab-hängig, welches eine korrekte Verteilungvon Zellkomponenten bis in das distaleEnde des Axons garantiert [1].Unterschie-den werden ein langstreckiger Transport,der über polarisierte Mikrotubuli erfolgtund ein kurzstreckiger Transport,der übermembrangebundenes Aktin läuft [2].Derlangstreckige Transport kann rasch oderlangsam erfolgen.Der langsame langstre-ckige Transport erfolgt ausschließlich an-terograd, während der schnelle langstre-ckige Transport sowohl antero- als auchretrograd erfolgt.Der anterograde schnel-le Transport wird durch Kinesine ange-trieben und befördert Vesikel, Membra-nen und membranöse Organellen wie z.B.Mitochondrien. Der schnelle retrogradeTransport wird durch Dyneine angetrie-ben und befördert Endosomen, andereOrganellen und neurotrophische Signal-proteine zurück zum Zellkörper.

Endosomen fungieren als zentrale Sor-tierstelle sowohl für die Biosynthese alsauch die Degeneration.Durch Endozyto-se aufgenommene Substanzen bewegensich entlang dem Aktin Zytoskelett vonfrühen Endosomen zu Endosomen dieTubulin wiederaufbereiten oder retrogradüber Carrier-Vesikel entlang den Mikro-tubuli hin zu späten Endosomen oder Ly-sosomen. Zwei Typen von Endosomenwerden unterschieden: stationäre rund-lich-ovale Endosomen und hochmobiletubulovesikale Endosomen, die sich ent-lang der Mikrotubuli bewegen [18]. Diebevorzugte Affektion langer ZNS Axone

wird damit erklärt,dass sie für ihren axo-nalen Transport einen höheren Energie-bedarf benötigen als kurze Axone.

Genetik

Bezüglich der molekulargenetischenGrundlagen hat sich der Wissensstand ge-rade in den letzten Jahren deutlich erwei-tert. Insbesondere hat die Identifizierungmehrerer Gene und Kandidatengene zurKlärung des pathogenetischen Hinter-grundes der HSP beigetragen. Dabei hatsich gezeigt, dass die HSP genetisch sehrheterogen ist. Bisher wurden 10 autoso-mal-dominant vererbte, 7 autosomal-re-zessiv vererbte und 3 X-chromosomal ver-erbte Loci entdeckt.Mutationen in 15 Loci(SPG 1–8,10–13,16,18,19) gehen mit einerunkomplizierten Form und Mutationenin 11 Loci (SPG 1, 2, 4, 7, 9, 11, 14–17, 20) miteiner komplizierten Form der HSP ein-her. Bei den Mutationen handelt es sichum Missense-,Nonsense- oder Splice-site-Mutationen. Bei der HSP 6, 8 und 13 be-ginnt die Gangstörung um das 20.Lebens-jahr, bei den HSP 3, 10, 12 bereits um das10.Lebensjahr.Bis auf den Krankheitsbe-ginn lassen sich die unkomplizierten For-men klinisch nicht unterscheiden. Diehäufigsten dominant vererbten Formensind die HSP 4 (45% aller dominanten For-men) und die HSP 3 (10% aller dominan-ten Formen). Die häufigste rezessiv ver-erbte Form ist die HSP 11 (50% aller re-zessiven Formen).

Bisher wurden 8 mit HSP assoziierteGene (SPG 1–4, 7, 10, 13, 20) mit ihren ent-sprechenden Genprodukten identifiziert.Bei letzteren handelt es sich um das Zellad-häsionsmolekül L1,Proteolipoprotein,At-lastin, Spastin, Paraplegin, Kinesin(KIF5A),Hitzeschockprotein 60 (HSP 60)und Spartin (⊡ Tabelle 1).Linkage-Analy-sen deuten darauf hin, dass noch weitere12 Gene mit dem Krankheitsbild der HSPin Verbindung stehen (⊡ Tabelle 1) [14].

SPG-1-Gen (Zelladhäsionsmolekül L1). DasSPG-1-Gen ist auf Chromosom Xq28 lo-kalisiert und kodiert für das Zelladhäsi-onsmolekül L1 (L1CAM).Bei L1CAM han-delt es sich um ein transmembranes Gly-koprotein mit extrazellulären Wiederho-lungen, die den Immunoglobulinen bzw.Fibronektin 2 ähnlich sind. L1CAM wird

hauptsächlich in Neuronen und Schwann-Zellen expremiert. L1CAM mediiert dieZelladhäsion, stimuliert das Neuriten-wachstum und potenziert die neuronaleMigration [5]. L1CAM spielt eine wichti-ge Rolle bei der normalen Entwicklungdes ZNS. Es ist für das Auswachsen vonAxonen und deren Orientierung verant-wortlich. Mutationen im SPG-1-Gen ver-ursachen nicht nur die HSP 1, sondernauch den X-chromosomalen Hydrozepha-lus,das MASA- (mental retardation,apha-sia, shuffling gait, adducted thumb) Syn-drom und das CRASH- (corpus callosumhypoplasia,retardation,adducted thumb,spastic paraparesis,hydrocephalus) Syn-drom.

SPG-2-Gen (Proteolipoprotein). Das SPG-2-Gen ist auf Chromosom Xq22 lokalisiertund kodiert für das Proteolipoprotein undsein Isomer DM-20, einem der wichtigs-ten Myelinproteine [6].Das Proteolipopro-tein ist für die Reifung und Kompaktie-rung des Myelins verantwortlich und beider HSP 2 vermindert.Mutationen im SPG-

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Übersicht

2-Gen führen aber nicht nur zur HSP 2,sondern auch zur Pelizaeus-Merzbacher-Erkrankung,die durch eine Verminderungdes DM-20-Isomers,eine ausgeprägte De-myelinisierung im ZNS und Störung derOligodendrozytenfunktion charakterisiertist.Warum Mutationen im SPG-2-Gen zumBild der HSP 2 führen ist nicht vollständiggeklärt. Angenommen wird eine Störungdes axonalen Transports [6].

SPG-3-Gen (Atlastin). Das SPG-3-Gen ist aufChromosom 14q11-q21 lokalisiert und ko-diert für Atlastin. Das SPG-3-Gen wurdeerstmals von Zhao et al. mit der HSP 3 inZusammenhang gebracht [27].Obwohl dasSPG-3-Gen keine Homologien mit Spas-tin oder Spartin aufweist, besitzt Atlastinstrukturelle Homologien mit Proteinender Dynamin-Familie. Dynamine spieleneine entscheidende Rolle beim Transportvon Vesikeln, der für die Wirkung neuro-trophischer Faktoren und die Neurotrans-mission wichtig ist.Dynamine sind darü-ber hinaus bei der Formation von Vesikelnbeteiligt, spielen eine Rolle im Membran-verkehr und beteiligen sich an der Formie-rung und Freisetzung von Vesikeln aus se-kretorischen Kompartimenten [6].Bei At-lastin handelt es sich um eine GTPase de-ren Funktion im Detail noch nicht bekanntist. Ebenso ist noch unklar, warum Muta-tionen in diesem Gen zum Phänotyp derHSP 3 führen.Bei 25% der Betroffenen be-ginnt die Erkrankung bereits im Kindesal-ter. Sensibilitäts- und Blasenentleerungs-störungen fehlen häufig.

SPG-4-Gen (Spastin). Das SPG 4 Gen ist aufChromosom 2p22 lokalisiert und kodiertfür Spastin. Spastin gehört zu den so ge-nannten AAA (ATPase associated with di-verse cellular activities)-ATPasen. AAA-ATPasen spielen eine Rolle bei der Regu-lation des Zellzyklus, dem Proteinabbau,der Biogenese von Organellen und Steue-rung von Proteinfunktionen.Das SPG-4-Gen setzt sich aus 17 Exons zusammen,die einen Gesamtumfang von 96 kb auf-weisen.Auch von Spastin ist die Funktionbisher nicht genau bekannt. Es gibt aller-dings Hinweise darauf,dass es mit α- oderβ-Tubulin interagiert bzw.bei der Assem-blierung von Mikrotubuli eine Rolle spieltund damit für deren korrekte Funktionmitverantwortlich ist. Die Bindung von

Spastin an Microtubuli ist ATP-abhängig[7]. Bisher wurden mehr als 40 Mutatio-nen im SPG-4-Gen beschrieben [13].

SPG-7-Gen (Paraplegin). Das SPG-7-Gen istauf Chromosom 16q lokalisiert und ko-diert für Paraplegin.Paraplegin ist ein nu-kleär kodiertes, mitochondriales Proteinmit großer Homologie zu verschiedenenMetalloproteinasen,die sowohl proteoly-tisch als auch Chaperon-ähnlich (assem-blieren Proteinkomponenten und aktivie-ren Atmungskettenkomplexe) wirken [5].Wie Spastin so enthält auch Paraplegineine so genannte AAA-Domäne, die beider Proteindenaturierung,bei intrazellu-lären Proteinverkehr und bei der Bioge-nese von Zellorganellen eine Rolle spielt.In Mäusen,denen Paraplegin fehlt, findensich in Axonenanhäufungen von abnor-men Mitochondrien und Filamenten lan-ge vor der Degeneration dieser Axone.Dies lässt vermuten, dass bei der HSP 7eine mitochondriale Dysfunktion zu ei-ner Störung des axonalen Transports undletztlich axonalen Degeneration führt.Möglicherweise ist das der Grund,warumbei einigen Patienten in der Muskelbiop-sie auch Veränderungen der Mitochon-drien im Sinne von Ragged-red-Fasern,verstärkter Succinat-Dehydrogenase-Zeichnung (Ragged-blue-Fasern) undCOX-negativen Fasern gefunden werden.Warum einige Patienten den komplizier-ten und einige Patienten den unkompli-zierten Phänotyp entwickeln ist bishernoch unklar [8, 14].

SPG-10-Gen (KIF5A, Kinesin). Das SPG-10-Gen liegt auf Chromosom 12q13 und ko-diert für die schwere Kette von Kinesin.Kinesin ist ein Teil des heterotetramerenMotor-Protein-Komplexes,der Lasten an-terograd entlang der Mikrotubuli trans-portiert (anterograde Transportmaschi-nerie). Die einzige bisher identifizierteMutation findet sich an einer Stelle dieeine entscheidende Rolle für die motori-sche Funktion von Kinesin spielt. Kine-sin-Mutationen in Mäusen führen zu ei-nem defekten Verkehr entlang der Mikro-tubuli und konsekutiv zur Degenerationvon Axonen des ZNS und PNS [10].

SPG-13-Gen (HSP 60,Chaperonin). Das SPG-13-Gen liegt auf Chromosom 2q24–34 und

kodiert für das Hitzeschockprotein 60(HSP 60,mitochondriales Chaperon),dasauch als Chaperonin bezeichnet wird.Kürzlich wurde gezeigt,dass eine einzigeMissense-Mutation im SPG-13-Gen zurdominant vererbten HSP 13 führt [11].Wie-so diese Mutation zum Bild der HSP 13führt ist unklar.Angenommen wird aber,dass durch Haploinsuffizienz die HSP-60-Aktivität vermindert wird.Alternativ wirdangenommen,dass mutierte Untereinhei-ten die allosterische Anordnung von Wild-type-Molekülen stören und damit einendominant-negativen Effekt auslösen [6].

SPG-20-Gen (Spartin). Das SPG-20-Genliegt auf Chromosom 13q12.3 und kodiertfür Spartin [15].Eine homozygote Deleti-on eines einzigen Basenpaares im Exon 4verursacht die HSP 20, die auch als Troy-er-Syndrom bezeichnet wird [15].Drei Do-mänen des Spartinmoleküls werden nurunter Stressbedingungen wie Dehydrie-rung und Alterung expremiert.Das N-ter-minale Ende von Spartin enthält eine sogenannte ESP-Domäne, die so benanntwird, weil sie auch in 3 anderen Molekü-len (End13/Vsp4,SNX15,Pal13) vorkommt.Bei diesen Molekülen handelt es sich umessenzielle Komponenten von Proteinendie für den intrazellulären Proteinverkehrverantwortlich sind [16].SNX15 findet sichsowohl im Zytosol als auch in der Nähevon Membranen. Es wird angenommen,dass SNX15 normalerweise in frühen En-dosomen lokalisiert ist und dass derenÜberexpression zu einer abnormen Ver-kehr von Proteinen von der Plasmamem-bran zum Golgi-Netzwerk oder zum Ab-bau von Endosomen führt [4]. Eine ESP-Domäne wurde auch in Spastin gefunden.Vsp4 ist eine essenzielle Komponente derintrazellulären Protein Transport Maschi-nerie und spielt auch bei der Regulationder Endosomen Morphologie eine we-sentliche Rolle [3].

Routinemäßig wird derzeit nur dieAnalyse des SPG-4- (Spastin) und desSPG-2- (Proteolipoprotein) Gens angebo-ten.Die Untersuchung der SPG 1,3,7,10,13und 20 Gene auf Mutationen ist derzeitnur auf wissenschaftlicher Basis möglich.

Die große genetische Heterogenität derHSP und die bevorzugte Affektion langerAxone wird damit erklärt, dass die vonden Mutationen betroffenen Proteine in

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irgendeiner Form am axonalen Transportbeteiligt sind und dass lange Axone einenhöheren Energiebedarf als kurze Axonehaben [6].Mutationen im Atlastingen be-einträchtigen den axonalen Transport ver-mutlich durch eine Störung des intrazel-lulären Vesikeltransportes,Mutationen imParaplegingen durch eine vermindertemitochondriale Energieproduktion,Mu-tationen im Spastingen durch eine gestör-te Zusammensetzung der Mikrotubuli,Mutationen im Kinesingen durch eine Stö-rung der anterograden Transportmaschi-nerie und Mutationen im Spartingendurch eine Störung der Endosomenbil-dung. Wie Mutationen in den Genen fürdas Zelladhäsionsmolekül L1,Proteolipo-protein und für Chaperonin sich auf denaxonalen Transport auswirken ist nochunklar. Warum Mutationen in ubiquitärexpremierten Genen zu einer selektivenStörung in den langen Axonen von Mo-torneuronen und sensiblen Neuronen füh-ren, wird damit erklärt, dass der axonaleTransport in langen Axonen besondersvulnerabel ist [6].

Genetische Beratung

Die genetische Beratung bei HSP ist er-schwert durch die große Variabilität be-züglich Krankheitsbeginn und Schwere-grad und den sehr heterogenen pathoge-netischen Hintergrund. In einer Familiekönnen Individuen mit rasch progredien-ter schwerer Paraparese und solche miteiner kaum merklichen Gangstörung le-ben. Darüber hinaus finden sich in denmeisten Familien zu wenig Mitglieder,umdie Variabilität des Krankheitsbeginns unddes Schweregrades zu bestimmen. Es istdaher meist schwierig das Alter, ab demein Proband nur mehr ein geringes Risi-ko hat an einer HSP zu erkranken, zu be-stimmen.

Wichtig für die Beratung ist auch,dassautosomal-dominante HSP mit einer ho-hen altersabhängigen Penetranz von70–85% vererbt werden. Wenn in einerkleinen Familie ein Kind erkrankt ist,dieEltern aber gesund sind,kann dies einer-seits auf einen autosomal-rezessiven Ver-lauf (25% Erkrankungsrisiko für die F1-Generation) oder auf einen autosomal-dominanten Erbgang mit großer Variabi-lität bezüglich Krankheitsbeginn und

Schweregrad (z. B. HSP 13) hinweisen. Ineinem derartigen Fall von unkomplizier-ter HSP und negativer Familienanamne-se ist die genetische Beratung nur einge-schränkt möglich.

Ein dominanter Erbgang kann dannübersehen werden, wenn die Famili-enanamnese falsch negativ ist,die Krank-heit bei Mutationsträgern erst im hohenAlter manifest wird,die Vaterschaft falschist, oder wenn es sich um eine neue Mu-tation handelt [8]. In einem einzigen Fallwurde bisher das Phänomen der Antizipa-tion (immer früherer Krankheitsbeginnund Zunahme des Schweregrades in denFolgegenerationen) beobachtet [14].

Diagnose und Differenzialdiagnosen

Bei Verdacht auf HSP sollten die in ⊡ Ta-belle 3 angeführten Untersuchungendurchgeführt werden. Die Differenzial-diagnosen der HSP sind in ⊡ Tabelle 2 zu-sammengefasst. Der Ausschluss von Dif-ferenzialdiagnosen erfolgt anhand der in⊡ Tabelle 2 angeführten Untersuchungen.

Therapie

Eine ursächliche Therapie der Erkran-kung steht derzeit nicht zur Verfügung.Die Erkrankung kann nicht zum Ver-schwinden gebracht werden,und ihr Auf-treten bzw. ihre Progredienz kann nichtverhindert werden.Symptomatische The-rapie ist aber sinnvoll und umfasst Physio-therapie,Peronäusfedern und antispasti-sche Medikation wie Baclofen, Tizanidinund Dantrolen.Botulinumtoxin kann ver-sucht werden,wenn eine funktionelle Bes-serung zu erwarten ist. Tizanidin undOxybutynin können bei Harninkontinenzbzw. imperativem Harndrang versuchtwerden. Eine Therapie mit Antispastikakann durch Abnahme des Tonus zu einerVerschlechterung im Sinne des Verlustesder Stabilität führen. Ob die intrathekaleApplikation von Baclofen hilfreich ist,wurde bisher nicht untersucht.

Prognose

Generell ist die Prognose der unkompli-zierten HSP als günstig einzustufen. Nurwenige Patienten werden nach langjähri-gem Verlauf rollstuhlpflichtig.Die Lebens-

erwartung bei den unkomplizierten HSPist nicht eingeschränkt. Die Erkrankungkann innerhalb einer Familie aber unter-schiedlich ausgeprägt sein und unter-schiedliche Schweregrade aufweisen. BeiKindern kann die Erkrankung früher ma-nifestieren als bei ihren Eltern (Antizipa-tion) [8].

Schlussbemerkung

Die zunehmenden Kenntnisse über diegenetischen Grundlagen der HSP eröff-nen neue Möglichkeiten der Diagnostik.Basierend auf diesen Erkenntnissen wirddarüber hinaus eine molekulargenetischorientierte Reklassifikation der HSP mög-lich. Möglicherweise erlauben zukünfti-ge Erkenntnisse über die pathogeneti-schen Grundlagen der HSP sogar einekausale Therapie dieser seltenen,den axo-nalen Transport betreffenden Erkrankun-gen.

Korrespondierender AutorDr. J. Finsterer

Neurologische Abteilung, Krankenanstalt Rudolfstiftung, Postfach 348, A-1180 WienE-Mail: [email protected]

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Leitlinien-ClearingberichtDepression

Zur Qualitätsförderung der Gesundheitsversor-gung von Menschen mit Depressionen verab-redeten die Spitzenverbände der Selbstverwal-tungskörperschaften im Gesundheitswesen imJahr 2001 die Durchführung eines Leitlinien-Clearingverfahrens zu deutsch- und englisch-sprachigen Depressions-Leitlinien. Zielsetzungwar die Recherche und die formale und inhalt-liche Bewertung der Leitlinien nach denMethoden der evidenzbasierten Medizin. DasClearingverfahren strebt die offene Qualitäts-darlegung für Leitlinien, die den internationa-len Standards entsprechen, an und beabsich-tigt die Formulierung von Empfehlungen füreine nationale evidenzbasierte LeitlinieDepression.

21 Leitlinien wurden formal mit der Check-liste „Methodische Qualität von Leitlinien“ desLeitlinien-Clearingverfahrens bewertet. DieBewertung erfolgte durch eine Fokusgruppevon Leitlinienanwendern aus ambulanter undstationärer Versorgung sowie Methodikern(Expertenkreis Depression des Ärztlichen Zen-trums für Qualität in der Medizin).

Deutliche Unterschiede in der Qualität fan-den sich bezüglich des Entwicklungsprozesses,der Verknüpfung der Empfehlungen mit derEvidenz und Empfehlungen zur Implementie-rung.

Keine der bewerteten Leitlinien entsprichtvollständig den folgenden inhaltlichenEckpunkten, die die Fokusgruppe für eineüberregionale deutsche Depressions-Leitlinieempfiehlt:▂ Anwendungsbereich;▂ Bereich Epidemiologie, Ätiopathogeneseund Risikofaktoren: Deskriptive Epidemiologie,Ätiopathogenese und Risikofaktoren, Progno-sefaktoren;▂ Bereich Diagnostik: Psychopathologie(technical terms), Syndromale Diagnostik, Dia-gnostik spezieller Symptome, Mehraxiale Dia-gnostik, Nosologische / Kategoriale Diagnosen,Differenzialdiagnostik und Komorbidität,Zusatzdiagnostik, Funktionseinschränkungen,Stufenplan der Diagnostik/Red Flags,Verlaufs-,Prognosediagnostik/Verlaufstypologien, Scree-ning-Diagnostik;▂ (Primäre) Prävention;▂ Bereich Therapie: Behandlungsziele /-pla-nung /-management, Interaktion der Behand-ler und Versorgungsebenen (Stufenpläne),

Psychoedukation/ Patientenführung, Psycho-therapieverfahren, Pharmakotherapie, Nicht-medikamentöse somatische Therapieverfah-ren,Therapie von Komorbidität, Depression inspeziellen Gruppen, Notfallmaßnahmen / Prä-vention von Notfällen, Management bei Sui-zid(-gefährdung), Compliance, Familienmedi-zin / Beratung Angehöriger, Anforderungen antherapeutische und nicht therapeutische Bera-tung durch Dritte, Rehabilitation;▂ Bereich Organisation / Methodik: Rahmen-bedingungen der Leitlinienanwendung, Kosten/ Nutzen, Maßnahmen des Qualitätsmanage-ments, Überprüfung der Leitlinien Anwendung/ Implementierung.

Künftigen deutschen Depressions-Leitlinien-programmen wird die Berücksichtigung fol-gender Kriterien empfohlen: ▂ Berücksichtigung der Vorschläge zummethodischen Vorgehen und Begründung vonAbweichungen im empfohlenen methodi-schen Vorgehen;▂ die Grundlage sämtlicher Empfehlungen(wissenschaftlich, Konsens, Erfahrung) solltestets explizit benannt werden (Evidenzbasie-rung);▂ die Formulierungen der Leitlinie sollten denHandlungskontext der angesprochenen Nutzer(z. B. Hausärzte) berücksichtigen. Für die unter-schiedliche Anwender Zielgruppen wird dieErstellung von, angepassten Versionen für ver-schiedene Gruppen von Therapeuten, Patien-ten und / oder Angehörigen empfohlen;▂ für die Interaktion der Anwenderzielgrup-pen ist es erforderlich, dass das Krankheitsbild„Depression“ und die Kriterien zur Festlegungder Diagnose einheitlich und interdisziplinärfestgelegt werden.

Der vollständige Bericht und der Maßnahmen-katalog zur Realisierung der Empfehlungendes Berichtes sind auf der Homepage des ÄZQunter der Adresse http://www.leitlinien.de/clearingverfahren/clearingberichte/depres-sion/00depression/view veröffentlicht.Der Bericht wird in Kürze in der ÄZQ-Schriften-reihe als Printversion erscheinen.

Weitere Informationen: Clearingstelle der Ärztlichen Zentralstelle Qualitätssicherung Aachener Str. 233-237 50931 Köln E-Mail: [email protected]

Fachnachricht


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