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Page 1: Juvenile neuronale Zeroidlipofuszinose

Ophthalmologe 2010 · 107:606–611DOI 10.1007/s00347-009-2106-yOnline publiziert: 28. April 2010© Springer-Verlag 2010

T.U. Krohne1, 2 · P. Herrmann2 · J. Kopitz3 · K. Rüther4 · F.G. Holz2

1 Department of Cell Biology, The Scripps Research Institute, La Jolla, CA2 Universitäts-Augenklinik Bonn3 Pathologisches Institut, Universität Heidelberg4 Klinik für Augenheilkunde, Charité – Universitätsmedizin  Berlin, Campus Virchow-Klinikum, Berlin

Juvenile neuronale ZeroidlipofuszinoseOphthalmologische Diagnostik und Differenzialdiagnose

Leitthema

Die neuronalen Zeroidlipofuszinosen sind eine heterogene Gruppe meist autosomal-rezessiv vererbter, neu-rodegenerativer Erkrankungen. Bei der juvenilen NCL gehen die ophthal-mologischen Symptome den neuro-logischen um einige Jahre voraus, so dass dem Augenarzt die wichtige Auf-gabe der Erstdiagnose zukommt.

Neuronale Zeroidlipofuszinosen

Die neuronalen Zeroidlipofuszinosen („neuronal ceroid lipofuscinoses“, NCL) stellen die häufigste Gruppe neurodege-nerativer Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters dar. Es handelt sich um eine heterogene Krankheitsgruppe, die durch ihre namensgebende, intrazelluläre Ak-kumulation von Zeroidlipofuszin und ge-meinsame klinische Symptome charakte-risiert ist [7, 9, 10]. Die Inzidenz aller Un-terformen zusammen wird mit 1,3:100.000 [4] bis 3,3:100.000 [9] Neugeborenen an-gegeben, entsprechend 9 bis 23 Neuer-krankungen in Deutschland pro Jahr. Mit unterschiedlichem Manifestationsal-ter und Ausprägungsgrad der klinischen Zeichen kommt es bei der Erkrankung zu retinaler Degeneration, Krampfanfäl-len, kognitivem und motorischem Abbau und letztendlich zum Tod der Patienten. Obwohl die Aufklärung der genetischen Defekte und molekularen Pathogenese

in letzter Zeit große Fortschritte gemacht hat, ist die Erkrankung bisher noch keiner Therapie zugänglich.

Schon 1826 beschrieb der deutsch-norwegische Arzt Otto Christian Sten-gel die Anhäufung von charakteristischen Krankheitszeichen bei 4 norwegischen Geschwistern. Er beobachtete den kon-tinuierlichen Verlust des Sehvermögens, Epilepsie, Störungen des motorischen Systems und den fortschreitenden Ver-lust aller kognitiven Fähigkeiten und be-schrieb damit erstmals das typisch kli-nische Bild der Erkrankung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigten dann Frede-rick Batten (London, 1903), Heinrich Vogt (Göttingen, 1905) und Walther Spielmey-er (Freiburg i.Br, 1908) unabhängig von-

einander, dass diesem klinischen Erschei-nungsbild eine neuronale Speicherkrank-heit zugrunde liegt. Um die beschriebenen Krankheitsbilder von anderen Speicher-krankheiten wie den Gangliosidosen ab-zugrenzen, wurde der Begriff neuronale Zeroidlipofuszinosen von Zeman u. Dy-ken geprägt [21]. Im englischen Sprach-raum ist alternativ die Bezeichnung Bat-ten disease geläufig.

Die Klassifikation der NCL erfolgt kli-nisch anhand des Erstmanifestationsal-ters. Es werden 4 klassische Hauptformen unterschieden: die infantile, spätinfantile, juvenile und adulte Form der NCL [15]. Darüber hinaus existieren in der Litera-tur zahlreiche Eponyme zur Bezeichnung von NCL-Formen, die jedoch je nach

Abb. 1 7 Fundusbild eines Patienten mit ju-veniler NCL (CLN3). Als 

differenzialdiagnos-tisch wegweisende 

Veränderung zeigt sich eine Schießscheiben-

makulopathie. Weiter-hin fallen die vereng-

ten Gefäße auf. Das ERG war zu diesem 

Zeitpunkt bereits nicht mehr nachweisbar. 

(Mit freundl. Geneh-migung von Prof. Dr. K. 

Rüther, Berlin)

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Sprachraum und Autor uneinheitlich ge-braucht werden (so finden sich beispiels-weise für die juvenile NCL Benennungen nach Batten, Spielmeyer, Vogt, Mayou, Sjögren, Stock und Stengel). Mit dem Fortschritt der Genanalyse und der Iden-tifikation der verantwortlichen Gene wur-de die Einteilung erweitert (. Tab. 1). Es sind mittlerweile 10 genetisch eigenstän-dige Formen (CLN1 bis CLN9 und CTSD/CLN10) bekannt, innerhalb derer wieder-um mehr als 160 bekannte Mutationen zum klassischen Phänotyp führen, was die Heterogenität des Krankheitsbilds verdeutlicht [12]. Bis auf wenige Ausnah-men bei der adulten Form der NCL-Er-krankung (CLN4) handelt es sich um eine ausschließlich autosomal-rezessiv vererb-te Erkrankung. Das Risiko für betroffene Familien, ein weiteres erkranktes Kind zu bekommen, beträgt somit 25%.

Juvenile NCL

Die häufigste Form der NCL ist die ju-venile neuronale Zeroidlipofuszino-se (JNCL, auch CLN3-, Batten- oder Spielmeyer-Vogt-Erkrankung). Die Inzi-denz der JNCL variiert weltweit mit einem deutlich gehäuften Auftreten in Nordeu-ropa. In Deutschland wird eine Inzidenz von 0,7:100.000 Lebendgeborenen (ent-sprechend 5 Neuerkrankungen pro Jahr) angenommen [4], während in Island bis zu 7,0:100.000 Lebendgeborene erkrankt sind [19].

Das klinische Erscheinungsbild der JNCL ist äußerst variabel [20]. Zwar weisen mehr als 90% der Patienten eine 1,02- kb-Deletion des CLN3-Gens auf dem kleinen Arm des Chromosoms 16 auf, die zum typisch klinischen Phänotyp führt [1, 13], jedoch existieren auch andere Mu-tationen des CLN3-Gens, welche teilwei-se zu atypischen, verlängerten Verläu-fen der Erkrankung führen können. Die in Skandinavien existierende NCL-Form CLN8, die auch als nordische Epilepsie be-zeichnet wird, ähnelt in Klinik und Mani-festationsalter sehr der JNCL. Im Gegen-satz zur JNCL kommt es jedoch bei der CLN8 zu einem geringer ausgeprägten Vi-susverlust.

Die von JNCL betroffenen Kinder fal-len nach einer normalen frühkindlichen Entwicklung meist im Alter von 6 bis

Zusammenfassung · Abstract

Ophthalmologe 2010 · 107:606–611   DOI 10.1007/s00347-009-2106-y© Springer-Verlag 2010

T.U. Krohne · P. Herrmann · J. Kopitz · K. Rüther · F.G. HolzJuvenile neuronale Zeroidlipofuszinose. Ophthalmologische Diagnostik und Differenzialdiagnose

ZusammenfassungDie neuronalen Zeroidlipofuszinosen („neu-ronal ceroid lipofuscinoses“, NCL) sind eine heterogene Gruppe meist autosomal-rezessiv vererbter, neurodegenerativer Erkrankungen, deren gemeinsames Merkmal die intralysoso-male Akkumulation von Zeroidlipofuszin ist. Mit unterschiedlichem Manifestationsalter kommt es zu kognitivem und motorischem Abbau, Epilepsie, diffuser Netzhautdegene-ration und schließlich zum Tod. Die juveni-le NCL (JNCL, CLN3, Spielmeyer-Vogt-Krank-heit), die in der Regel im frühen Schulalter manifest wird, hat die Besonderheit, dass die ophthalmologischen Symptome den neu-rologischen um einige Jahre vorausgehen, so dass hier dem Augenarzt die Aufgabe der Erstdiagnose zukommt. Wichtige klinische Zeichen für eine JNCL sind die Schießschei-benmakulopathie, das bereits bei Erstvorstel-

lung stark reduzierte Ganzfeld-ERG und die ungewöhnlich rasche Progredienz der Seh-verschlechterung. Bei entsprechendem Ver-dacht kann die Diagnose anhand eines Blut-ausstrichs gestellt und mittels molekular-genetischem Nachweis der Mutation gesi-chert werden. Auch wenn sich kausale The-rapiemöglichkeiten momentan erst im Ent-wicklungsstadium befinden, ist eine frühzei-tige Diagnosestellung durch den Augenarzt für die medizinische und pädagogische Be-treuung des betroffenen Kindes und die an-gemessene Beratung der Eltern von größter Bedeutung.

SchlüsselwörterNeuronale Zeroidlipofuszinose · JNCL · CLN3 · Spielmeyer-Vogt-Krankheit · Schießscheiben-makulopathie

Juvenile neuronal ceroid lipofuscinosis. Ophthalmologic findings and differential diagnosis

AbstractNeuronal ceroid lipofuscinoses (NCL) are a heterogeneous group of neurodegenerative diseases with mostly autosomal recessive in-heritance whose common feature is the in-tralysosomal accumulation of ceroid lipofus-cin. With varying manifestation ages the dis-eases result in cognitive and motor deterio-ration, epilepsy, diffuse retinal degeneration, and eventually death. Juvenile ceroid lipofus-cinosis (JNCL, CLN3, Batten disease) has the distinctive feature that the ophthalmologic symptoms precede the neurologic symptoms by several years, and thus the ophthalmolo-gist plays a central role in early diagnosis. Im-portant clinical signs of JNCL include bull’s eye maculopathy, severely reduced Ganzfeld 

ERG already at initial presentation, and un-usually rapid progression of the function-al decline. If JNCL is clinically suspected the diagnosis can be made by means of a stan-dard blood smear and confirmed by genet-ic detection of the mutation. Although causal therapeutic options are currently only in the developmental stage, early diagnosis by the ophthalmologist is of utmost importance to allow for medical and educational support of the affected child and for adequate counsel-ing of the parents.

KeywordsNeuronal ceroid lipofuscinosis · JNCL · CLN3 · Batten disease · Bull’s eye maculopathy

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7 Jahren durch eine fortschreitende Visus-minderung und das Absinken der schu-lischen Leistungen auf. Zu diesem Zeit-punkt ist der Augenarzt meist primärer Anlaufpunkt der betroffenen Familien. Ihm obliegt es, die Anzeichen der Krank-heit zu erkennen und die richtigen Schritte einzuleiten, um eine schnelle und frühzei-tige Diagnosestellung zu ermöglichen.

Neben zentralen Funktionsausfällen führt die fortschreitende Retinopathie zu einer konzentrischen Gesichtsfeldeinen-gung beider Augen mit Erblindung der Kinder im Alter von etwa 9 Jahren [9]. Im weiteren Verlauf treten bei den JNCL-Pa-tienten demenzielle Veränderungen, epi-leptische Anfälle und parkinsonoide Be-wegungsstörungen auf [5]. Erschwerend kommen häufig psychotische Phäno-

mene mit Halluzinationen hinzu, die sich nur schwer medikamentös kontrollieren lassen [2].

Trotz dieser gravierenden Symptome reicht die Lebenserwartung der Patienten häufig bis in die 3. oder 4. Lebensdekade [9]. Wie bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen schwächt die Immobilisa-tion und lange Pflegebedürftigkeit die Pa-tienten. Schluckstörungen, die nicht sel-ten Aspirationspneumonien nach sich zie-hen, führen dann oft im letzten Stadium der Erkrankung zum Tod der Patienten.

Ophthalmologische Befunde

Die juvenile NCL weist gegenüber den anderen NCL-Formen die Besonderheit auf, dass hier in der Regel die visuellen Beschwerden den neurologischen Ver-änderungen um 2 bis 4 Jahre vorange-hen. Die Beschwerden und ophthalmolo-gischen Befunde entsprechen denen einer Zapfen-Stäbchen-Dystrophie. Die betrof-fenen Kinder werden typischerweise im frühen Schulalter (6 bis 7 Jahre) wegen zu-nehmenden Sehstörungen erstmals dem Augenarzt vorgestellt [18]. Weitere mög-liche Beschwerden umfassen Photophobie und Farbsinnstörungen.

Funduskopisch zeigt sich zunächst das Bild einer Schießscheibenmakulopathie („bull’s eye maculopathy“, . Abb. 1), die jedoch unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann [14, 16, 17, 18]. Die Makulaver-änderungen lassen sich besonders leicht mittels Fundusautofluoreszenz detektie-ren [8, 11]. Im Verlauf kommen diffuse degenerative Veränderungen der gesam-ten Netzhaut hinzu. Die Netzhautdege-neration geht im fortgeschrittenen Sta-dium mit einer Optikusatrophie (wachs-gelbe Papille), rarifizierten und verengten (fadendünnen) Gefäßen (. Abb. 1) und peripheren irregulären Pigmentierungen einher, während Knochenkörperchen feh-len oder nur gering ausgeprägt sind [16, 17, 18]. Im Gesichtsfeld zeigt sich eine zu-nehmende konzentrische Einengung [16]. Im Ganzfeldelektroretinogramm (ERG) sind oft bereits zum Zeitpunkt der Erst-vorstellung die photopischen und skoto-pischen Potenziale deutlich reduziert und später nicht mehr nachweisbar [6, 11, 14, 17]. Im Anfangsstadium der NCL wird auch ein elektronegatives ERG (Amplitu-

99.1 µV/Div

99.1 µV/Div

25 ms/Div

1

2

1: Dunkeladaptiertes 2.5 cdsm–2 ERG

2: Helladaptiertes 2.5 cdsm–2 ERG

Abb. 2 8 ERG einer Patientin mit spätinfantiler NCL (CLN2). Im skototo-pischen ERG ist eine Restantwort mit elektronegativem Charakter (Ampli-tude der b-Welle kleiner als die der a-Welle oder wie hier nicht mehr nach-weisbar) erkennbar. Bei altersbedingt herabgesetzter Kooperation erfolgte die Ableitung nur am rechten Auge. (Mit freundl. Genehmigung von Prof. Dr. K. Rüther, Berlin)

Abb. 3 8 Multifokales ERG einer Patientin mit juveniler NCL (CLN3) im Frühstadium. Die Ableitung am rechten Auge zeigt disseminierte Amplitudenminderungen am gesamten hinteren Pol (Radius etwa 25 °; mit freundl. Genehmigung von Prof. Dr. K. Rüther, Berlin)

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Leitthema

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Infobox 1 Weitere Informationsquellen

F  Umfassende Information für Patienten und Ärzte finden sich im Internet auf den Seiten der NCL-Stiftung (http://www.ncl-stiftung.de), der NCL-Gruppe Deutschland (http://www.ncl-deutschland.de), des NCL-Netzes (http://www.ncl-netz.de) und des University College London (http://www.ucl.ac.uk/ncl).

F  Biochemische und molekulargenetische Spezialdiagnostik zum Nachweis einer NCL bieten z. B. das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (http://www.ncl-netz.de/diagnostik.htm) und das Univer-sitätsklinikum Göttingen (http://www.paediatrie2.med.uni-goettingen.de/38.htm) an.

F  Als weiterführende Literatur besonders empfehlenswert sind der deutschspra-chige Übersichtsartikel von Kohlschütter et al. [9] und die aktuelle englischspra-chige Übersichtsarbeit von Bozorg et al. [3].

de der a-Welle größer als die der b-Wel-le) beobachtet (. Abb. 2). Im multifoka-len ERG zeigen sich bereits früh dissemi-nierte Amplitudenminderungen am ge-samten hinteren Pol (. Abb. 3).

Differenzialdiagnose

Ein wichtiges Abgrenzungsmerkmal der JNCL gegenüber anderen in dieser Al-tersgruppe auftretenden Netzhautdystro-phien (. Tab. 2) ist der ungewöhnlich rasch progrediente Verlauf der Erkran-kung. Nach dem Auftreten der ersten Vi-susbeschwerden fällt die Sehkraft inner-halb von Monaten rapide ab, so dass die betroffenen Kinder oft bereits innerhalb von 1 bis 3 Jahren komplett erblinden [16]. Parallel dazu verlaufen das Erlöschen des Ganzfeld-ERGs und die zunehmende Ge-sichtsfeldeinschränkung auffällig schnell.

Bei Kindern im JNCL-typischen Alter mit beidseitiger, progredienter Visusmin-derung ist differenzialdiagnostisch vor allem an die häufigste juvenile Makuladys-trophie, den Morbus Stargardt (Fundus

flavimaculatus) zu denken. Der fundus-kopische Befund im Frühstadium ähnelt dem der JNCL mit einem Spektrum von fehlenden Veränderungen über zentra-le irreguläre Pigmentierungen bis hin zur Schießscheibenmakulopathie. Die Star-gardt-spezifischen gelblichen Flecken sind in Frühstadien mitunter noch nicht vor-handen und können somit nicht bei der Differenzierung helfen. Den wichtigsten differenzialdiagnostischen Hinweis liefert das Ganzfeld-ERG, das im Frühstadium des Morbus Stargardt keine oder nur ver-gleichsweise geringe Veränderungen auf-weist, während es bei der JNCL bei Erst-manifestation der Visusbeschwerden oft bereits deutlich reduziert oder vollstän-dig erloschen ist. Darüber hinaus zeigt die JNCL in der kinetischen Perimetrie ei-ne zunehmende konzentrische Gesichts-feldeinengung, während der Morbus Star-gardt in früheren Stadien in der Regel kei-ne peripheren Ausfälle aufweist.

Weiterhin können auch Zapfen- und Zapfen-Stäbchen-Dystrophien zu einer Visusminderung im Kindesalter mit dem

funduskopischen Erscheinungsbild ei-ner Schießscheibenmakulopathie füh-ren. Hier ist wiederum die Elektrophysio-logie differenzialdiagnostisch richtungs-

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weisend, da im Unterschied zur JNCL die skotopischen ERG-Antworten teilwei-se nicht oder nur gering reduziert sind. Bei stark verminderten oder nicht mehr nachweisbaren ERG-Antworten ist dage-gen der Verlauf das entscheidende Diffe-renzierungsmerkmal.

Die fortschreitende Gesichtsfeldein-engung bei JNCL in Kombination mit der peripheren Pigmentdegeneration, teilwei-se vorhandenen Knochenkörperchen und dem stark pathologischem ERG-Befund lässt differenzialdiagnostisch auch an ei-ne Retinitis pigmentosa denken. Die di-agnostische Abgrenzung der JNCL von diesem Krankheitsbild gelingt in der Re-gel aufgrund der frühen makulären Betei-ligung mit Schießscheibenmakulopathie und ausgeprägter Visusminderung sowie der ungewöhnlich raschen Progredienz der Erkrankung.

Weiterführende Diagnostik

Eine einfache und schnelle Methode zur Diagnose der JNCL stellt der normale Blutausstrich dar. Darin zu erkennende Vakuolen im Zytoplasma der Lympho-

zyten sind ein spezifisches Zeichen der CLN3-Mutation, das oft schon vor dem Auftreten der ersten Symptome nach-weisbar ist. Die definitive Diagnose er-folgt durch Nachweis der CLN3-Muta-tion mittels molekulargenetischer Ana-lyse einer peripheren Blutprobe. Die ge-netische Analyse wird durch die Tatsa-che erleichtert, dass bei über 90% der Be-troffenen dieselbe Mutation des CLN3-Gens (1,02-kb-Deletion) vorliegt. Unter-suchungen von Chorionzottenbiopsien zur pränatalen Diagnose der Erkrankung sind ebenfalls möglich.

Wie schon erwähnt können neben CLN3-Mutationen in seltenen Ausnah-mefällen auch Mutationen anderer CLN-Gene ein der JNCL ähnliches Krank-heitsbild hervorrufen, bei dem dann je-doch keine vakuolisierten Lymphozyten im Blut nachweisbar sind. Bei negativem Blutausstrich kann deshalb zusätzlich eine elektronenmikroskopische Untersuchung von Haut- oder Bindehautbiopsien zum Nachweis von NCL-typischen Einschlüs-sen in Fibroblasten und glatten Muskel-zellen erfolgen. Weiterhin stehen Enzym-tests zum Nachweis einer fehlenden Akti-

vität der Genprodukte von CLN1, CLN2 und CTSD (CLN10) in Blutzellen zur Ver-fügung.

Fazit für die Praxis

Die juvenile NCL ist für den Augenarzt von besonderer Bedeutung, da bei die-ser NCL-Form die ophthalmologischen Symptome den neurologischen Be-schwerden um einige Jahre vorausge-hen. Typischerweise werden die betrof-fenen Kinder im frühen Schulalter we-gen beidseitiger Sehminderung erstmals dem Augenarzt vorgestellt. Wenn auf-grund des klinischen Bilds und der ra-schen Progredienz der Verdacht auf ei-ne JNCL besteht, ist meist schon mit ein-fachsten Mitteln wie einem normalen Blutausstrich die Stellung der Diagnose möglich, die anschließend molekularge-netisch zu sichern ist. Auch wenn kausale Therapieansätze bisher erst im Stadium der vorklinischen und klinischen Erpro-bung sind, ermöglicht eine frühzeitige Diagnose jedochF  eine angemessene pädagogische, 

psychologische und medizinische Be-treuung des erkrankten Kindes,

F  eine entsprechende Lebensplanung für die betroffene Familie und

F  eine humangenetische Beratung der Eltern mit dem Angebot pränataler Diagnostik.

Angesichts der Schwere der Erkrankung hat der Augenarzt hier die große Chance sowie die besondere Verantwortung, den betroffenen Kindern und ihren Familien zusätzliches Leid aufgrund einer verspä-teten Diagnosestellung zu ersparen.

KorrespondenzadresseDr. T.U. KrohneDepartment of Cell Biology, The Scripps Research Institute10550 North Torrey Pines RoadLa Jolla, CA 92037, [email protected]

Interessenkonflikt.  Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Tab. 2  Differenzialdiagnose der JNCL: Gegenüberstellung typisch klinischer Befunde im Frühstadium der Erkrankungen

Klinischer Befund Juvenile NCL

Morbus Stargardt

Zapfen-Stäbchen-Dystrophie

Retinitis pig-mentosa

Deutliche Visusminderung + +/− + −

Farbsehstörung + + + −

Schießscheibenmakulopathie + + +/− −

Gesichtsfeldeinengung + − − +

Knochenkörperchen +/− − +/− +/−

Skotopisches ERG reduziert + − +/− +

Photopisches ERG reduziert + − + +

Schnelle Progredienz + + − −

Tab. 1  Gegenüberstellung von Klassifikation, Manifestationsalter und Genloci der NCL-Erkrankungen [7, 9, 10]

Gendefekt Klinischer Typ Manifestationsalter Genlocus

CLN1 Infantile NCL (INCL) 0–2 (bis 38) Jahre 1p32

CLN2 Spätinfantile NCL (LINCL) 2–8 Jahre 11p15

CLN3 Juvenile NCL (JNCL) 4–10 Jahre 16p12

CLN4 Adulte NCL (ANCL) Um 30 (11–55) Jahre Unbekannt

CLN5 Finnische spätinfantile NCL 4–7 Jahre 13q21.1–32

CLN6 Indisch-iberische NCL 1–8 Jahre 15q21–23

CLN7 Türkische NCL 1–6 Jahre 4q28.1–28.2

CLN8 Nordische Epilepsie 5–10 Jahre 8p23

CLN9 CLN9-defiziente NCL Um 4 Jahre Unbekannt

CTSD (CLN10) Kongenitale NCL (CNCL) 0–6 Jahre 11p15.5

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Leitthema

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19.  Uvebrant P, Hagberg B (1997) Neuronal ceroid li-pofuscinoses in Scandinavia. Epidemiology and clinical pictures. Neuropediatrics 28:6–8

20.  Wisniewski KE, Kida E, Golabek AA et al (2001) Neuronal ceroid lipofuscinoses: classification and diagnosis. Adv Genet 45:1–34

21.  Zeman W, Dyken P (1969) Neuronal ceroid-lipofus-cinosis (Batten’s disease): relationship to amaurotic family idiocy? Pediatrics 44:570–583

Studie zur Behandlung des Morbus Menière: Teilnehmer gesucht

Ausschlusskriterien:

F  andere Erkrankungen des vestibulären 

Systems (z. B. vestibuläre Migräne oder 

phobischer Schwankschwindel)

F  Kontraindikationen für die Behandlung 

mit Betahistin (z. B. Asthma, Phäochromo-

zytom)

F  Schwangerschaft oder Stillzeit

F  Schwere Nieren- oder Leberinsuffizienz, 

Magen- oder Dünndarmulzera, Tumoren, 

schwere koronare Herzerkrankung

F  Behandlung mit anderen Antihistaminika

Behandlungsdauer: 

9 Monate, weitere 3 Monate follow-up

Klinische Ziele: Reduktion von Schwindelattacken und Tin-

nitus, Verbesserung der Hör- und Gleichge-

wichtsfunktion

Zehn Zentren in den 

folgenden Städten 

beteiligen sich an 

der Studie:  

Aachen, Berlin, 

Erlangen-Nürnberg, 

Essen, München, 

Regensburg,  

Tübingen. 

Für diese klinisch wichtige Behandlungsstu-

die werden dringend  geeignete Patienten/ 

-innen gesucht. Kollegen/-innen, die in Frage

kommende Patienten behandeln, können 

sich direkt bei Herrn Prof. Michael Strupp 

über die Studie und das für Sie nächstgele-

gene Studienzentrum informieren. Dies gilt 

auch für interessierte Patienten.

Ansprechpartner:Prof. Dr. Michael StruppKlinikum der Universität München,  Campus Großhadern  Neurologische Klinik und IFB Schwindeltel: 089 / 7095 – 6678 oder 6680fax: 089 / 7095 – 6673E-Mail: [email protected]

Quelle: Ludwig-Maximilians-

Universität München,

www.schwindelambulanz-muenchen.de

Fachnachrichten

Für eine multizentrische Studie der Uni-versitätsklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München werden Patienten mit Morbus Menière gesucht.

Die Therapie des Morbus Menière stellt noch 

immer ein großes Problem dar. Zwar existiert 

eine Fülle von Behandlungsstrategien, jedoch 

gibt es bisher keine nach „state-of-the-art“-

Prinzipien durchgeführten Studien. Frühere 

Untersuchungen konnten zeigen, dass eine 

höhere Dosierung von Betahistin therapeu-

tisch wirksamer ist als eine niedrigere.

Ausgehend von diesen Befunden wird nun 

eine multizentrische, Placebo-kontrollierte, 

doppelblinde Dosisfindungsstudie durchge-

führt. Ziel dieser Studie ist es, den Effekt von 

unterschiedlich hoch dosiertem Betahistin 

auf die Anzahl der Schwindelattacken zu 

prüfen. Untersucht 

werden soll dabei 

insbesondere eine 

höhere Dosierung 

von Betahistin (3x48 

mg pro Tag), die 

bisher noch nicht 

zur Behandlung des 

Morbus Menière 

zugelassen ist. Die 

Studie (EudraCT-Nr. 

2005-000752-32) 

wird vom Bundesministerium für Bildung 

und Forschung finanziert (BMBF177zfyGT).

Rahmendaten der Studie:

Einschlusskriterien:

Definitiver M. Menière gemäß den Kriterien 

der American Academy of Otolaryngology 

Head and Neck Surgery:

F  zwei oder mehr Drehschwindelattacken 

von mindestens 20 Minuten Dauer

F  Tinnitus oder Völlegefühl im betroffenen 

Ohr

F  Ausschluss anderer Ursachen

F  audiometrisch dokumentierter Hörverlust 

F  mindestens zwei Menière-Attacken pro 

Monat für mindestens 3 aufeinander fol-

gende Monate

F  Alter: 18–80 Jahre

© S

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611Der Ophthalmologe 7 · 2010  |