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Page 1: Politische Berichte

Politische BerichteZeitschrift für sozialistische Politik

Ausgabe Nr. 23 am 17. November 2005, Preis 1,80 €

Gegründet 1980 als Zeitschrift des Bundes Westdeutscher Kommunisten unter der Widmung „Proletarier allerLänder vereinigt Euch! Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt Euch“. Fortgeführt vom Forum Kommunistischer Arbeitsgemeinschaften.

Koalitionsvertrag: Gebremste Initiative der Union und auf-

rechte Untertänigkeit bei der SPD – Seite 4

Frankreich: Hintergründe der Ereignisse in den Trabanten-

städten – Seite 7

Europäischer Kongress: Privatisierungsgegner vernetzen

sich europaweit – Seite 12

Weiterbildung: eine dramatische Situation – Seite 15

Tarifpolitische Konferenz des EMB und Entwicklungs-

tendenzen in Europa – Seite 18

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2 AKTUELLES AUS POLITIK UND WIRTSCHAFT • PB 23/2005

Wirtschaftsblatt schäumt über Sach-verständigenrat Handelsblatt, 10.11. rül. Am 9.11. hatder „Sachverständigenrat der Bundes-regierung zur Begutachtung der ge-samtwirtschaftlichen Entwicklung“sein neues Jahresgutachten vorgelegt.Inhaltlich kam von Prof. Rürup & Co.nichts Überraschendes – weniger Staatgleich mehr Wachstum, Finanzierungder sozialen Sicherung mehr aus Steu-ern und weniger aus Sozialabgaben, dieseit 30 Jahren bekannte Litanei eben.Berichtenswert ist aber die Reaktion des„Handelsblatts“. Der Sachverständi-genrat sei ein „glatter Ausfall“,schimpfte das Blatt, das Beratergre-mium lasse die Regierung „völlig allei-ne, Probleme von heute mit den Mittelndes politisch Möglichen zu lösen“. Da-mit käme auf die neue Regierung nocheine Aufgabe zu – sie müsse den Sach-verständigenrat entweder praxisnahorganisieren „oder ihn auflösen“. Of-fenbar hat sich das völlige Scheitern derimmergleichen liberalen Rezepte desRates – runter mit der Staatsquote, run-ter mit den Steuern für Unternehmerund Besserverdiener, dann brummt dieWirtschaft und die fleißige Elite reißtdie Wirtschaft aus der Stagnation –ebenso wie die ständig falschen Steuer-schätzungen und Konjunkturprogno-sen inzwischen auch in Wirtschaftskrei-sen herumgesprochen, deren Geduldmit solchen „Sachverständigen“ ist er-schöpft. Auf die Beraterzunft kommenschwere Zeiten zu.

Zweitwohnungssteuer teilweisenichtig Handelsblatt, 11.11. rül. Das Bundes-verfassungsgericht hat die Bemühun-gen vieler Gemeinden, über eine Zweit-wohnungssteuer ihre Kassen aufgefüllt,gebremst. Am 10.11. entschied das Ge-richt, dass bei verheirateten Berufstäti-gen eine solche Steuer gegen den Schutzder Familie verstößt und deshalb nich-tig sei. Wer zusätzlich zu seinem Fami-lienwohnsitz aus beruflichen Gründeneine Zweitwohnung am Arbeitsortunterhalten müsse, dürfe deshalb nichtnoch zusätzlich besteuert werden.

Organisation von GlaubenBR5, 15.11. maf. Dienstags früh melde-te der bayerische Rundfunk,der Bischofvon Regensburg werde den von den Ge-meinden gewählten Diözesanrat auflö-sen und durch einen Pastoralrat erset-zen, dessen Mitglieder künftig durchden Bischof berufen würden. Der Bi-schof hatte bereits im Sommer die Ord-nung zur Wahl der Pfarrgemeinderätegegen lebhafte Proteste aus eigenemEntschluss neu gestaltet und sich die

Kirchenrechtmäßigkeit seines Vorge-hens vatikanisch bestätigen lassen. Derjetzt aufgelöste Diözesanrat hat dasZentralkomitee der Katholiken auf sei-ner Seite, aber das nützt nichts, dennwie es in der „dogmatischen Konstitu-tion des 2.Vatikanischen Konzils“ überdie Bischöfe heißt: „In ihnen und aus ih-nen besteht die eine und einzige katho-lische Kirche“. Sie „üben als einzelneihr Hirtenamt über den ihnen anver-trauten Anteil des Gottesvolkes …“ (Lu-men Gentium 23). – Anlässlich dieserveralteten und undemokratischenGrundsätze fragt sich: Steht der Aus-tritt aus der katholischen Kirche allenBetroffenen offen? Das ist genau ge-nommen nicht gegeben, erhält doch dieKirchenorganisation neben der Kir-chensteuer erhebliche öffentliche Zu-schüsse für Tätigkeiten im Sozialbe-reich.Dort fordert sie den Beschäftigtendie Mitgliedschaft in ihrer Organisationab.

Von China lernen?ngo-online.de, 11.11. alk. Bei seinemStaatsbesuch in der Bundesrepublikweilte der chinesische StaatspräsidentHu Jintao auch beim Asien-Pazifik-Ausschuss der deutschen Wirtschaft inBerlin. Er äußerte sich dort zur chinesi-schen Energiepolitik; zur Verbreiterungder Basis werde auch der Ausbau derKernenergie gehören. Er lade deutscheFirmen zur Zusammenarbeit ein. Sie-mens-Aufsichtsratchef Heinrich vonPierer war begeistert und meinte, esgebe „viele Gebiete, wo wir von Chinalernen können“. Der Druck auf dieCDU, den Atomausstieg in der Bundes-republik zu beenden, wird deutlich zu-nehmen. Schließlich war von Pierer als

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Politische BerichteZZEEIITTUUNNGG FFÜÜRR SSOOZZIIAALLIISSTTIISSCCHHEE PPOOLLIITTIIKK

–– EERRSSCCHHEEIINNTT VVIIEERRZZEEHHNNTTÄÄGGLLIICCHH

Herausgegeben vom: Forum KommunistischerArbeitsgemeinschaften, Zülpicher Str. 7, 50674Köln. Herausgeber: Barbara Burkhardt, Chri-stoph Cornides, Ulrike Detjen, Emil Hruška,Claus-Udo Monica, Brigitte Wolf.

Verantwortliche Redakteure und Redaktionsan-schriften:

Aktuelles aus Politik und Wirtschaft; Aus-landsberichterstattung: Christiane Schneider(verantwortlich), GNN-Verlag, Neuer Kamp 25,20359 Hamburg,Tel. 040 / 43188820, Fax : 040 /43188821. E-mail: [email protected] –Alfred Küstler, GNN-Verlag, Postfach 60 02 30,70302 Stuttgart, Tel. 07 11 / 62 47 01, Fax :0711 / 62 15 32. E-mail: [email protected] / Gewerkschaftliches: Martin Fochler,GNN Verlag, Stubaier Straße 2, 70327 Stuttgart,Tel. 07 11/624701, Fax : 0711/ 62 15 32, e-mail:[email protected] / Dokumentation : Rüdiger Lötzer(verantwortlich), Postfach 210112, 10501 Ber-lin, e-mail: [email protected] – Har-dy Vollmer; GNN-Verlag, Wilhelmstraße 15,79098 Freiburg, Fax : 0761/ 34961In und bei der PDS: Jörg Detjen, GNN Verlags-gesellschaft Politische Berichte mbH, 50674Köln, Zülpicher Str. 7, Tel. 0221/211658, Fax:0221/215373. E-mail: [email protected]: Christiane Schneider, Anschrift s. Ak-tuelles.Die Mitteilungen der „ARGE, Arbeitsgemein-schaft Konkrete Demokratie, soziale Befreiungbei der PDS“ werden in den Politischen Berich-ten veröffentlicht. Adresse GNN Hamburg

Verlag: GNN-Verlagsgesellschaft Politische Be-richte mbH, 50674 Köln, Zülpicher Str. 7 undGNN Verlag Süd GmbH, Stubaier Str. 2, 70327Stuttgart, Tel. 07 11 / 62 47 01, Fax : 0711 /62 15 32. E-mail: [email protected]

Bezugsbedingungen: Einzelpreis 1,80 €. EinHalbjahresabonnement kostet 29,90 € (Förderabo42,90 €), ein Jahresabonnement kostet 59,80 €(Förderabo 85,80 €). Ein Jahresabo für Bezieheraus den neuen Bundesländern: 54,60 €,Sozialabo:46,80 €. Ausland: + 6,50 € Porto. Buchläden undandere Weiterverkäufer erhalten 30 % Rabatt.

Druck: GNN Verlag Süd GmbH Stuttgart

Politische Berichte im Internet: www.gnn-verlage.com

Bischöfe dürfen ein selbst gewähltesWappen führen. Bischof Dr. GerhardLudwig Müller wählte den Wappen-spruch: „Dominus Jesus“. Dominus istLatein und bezeichnet das Oberhaupteiner Sklaven haltenden Sippe.

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sogenannter Wirtschaftsexperte Bera-ter der CDU im Wahlkampf.

Neben Siemens können aber auch an-dere am Energiegeschäft beteiligteKonzerne auf Chinageschäfte hoffen.Staatspräsident Hu sprach davon,Basisder Energieerzeugung in China bleibedie Kohle, da könnten deutsche Firmenmit ihrem Umwelt-Know-how einenBeitrag zur Entwicklung einer „saube-ren Technologie“ leisten.

Protest gegen EU-Chemikalien-richtlinietaz.11.11. hav. 75 Prozent aller Krebs-erkrankungen sind direkt oder indirektauf schädliche Umwelteinflüsse zu-rückzuführen.Die restlichen 25 Prozentwerden durch Tabak ausgelöst. DieseEinschätzung präsentierten letzte Wo-che Krebsspezialisten und Kinderärztein Brüssel. Sie gehören dem „PariserAppell“ an, den 70 Wissenschaftler in-itiiert haben – darunter Nobelpreisträ-ger. Gemeinsam wollen sie verhindern,dass die EU-Chemikalienrichtlinie Re-ach verwässert wird. Die Ärzte in Brüs-sel wurden auch regional unterstützt: InBerlin äußerte sich der Vorsitzende desUmweltausschusses der Bundesärzte-kammer ebenfalls alarmiert. „Im Bluteines Europäers finden sich bis zu 300Chemikalien. Selbst im Nabelschnur-blut von ungeborenen Kindern werdenChemikalien gefunden“, sagte HeyoEckel. Zudem sei nicht nur die genaueWirkung vieler Stoffe unbekannt – son-dern auch die kombinierte Wirkung die-ser Chemikalien-Cocktails. Eckel kriti-sierte, dass Reach nur chemische Stoffein Reinform betrifft, nicht aber die Pro-dukte,mit denen die Verbraucher real inBerührung kommen, wie Textilien oderSpielzeug. „Die Pflicht zur Registrie-rung ist auf solche Produkte auszuwei-ten.“ Eckel monierte auch, dass Reachjene chemischen Stoffe nicht betreffensoll, von denen im Jahr weniger als eineTonne produziert wird. „Der Entwurfenthält keinen Mechanismus, der Stof-fe mit hohen Gesundheitsrisiken er-kennt, wenn sie nur in kleinen Mengenhergestellt werden.“

298 Leopard-Panzer an Türkei taz, 9.11. rül. Der Verkauf deutscher Le-opard-Kampfpanzer an die Türkei istbesiegelt. Noch während der laufendenKoalitionsverhandlungen über die Bil-dung einer neuen Regierung unter-zeichneten Vertreter der amtierendenrot-grünen Bundesregierung und derTürkei einen Vertrag zur Lieferung von298 gebrauchten Panzern. Wegen derMenschenrechtslage in der Türkei wa-ren Panzerexporte in den letzten Jahrenheftig umstritten gewesen. 1999 hattedie Bitte der türkischen Regierung umeinen Testpanzer eine Krise in der rot-grünen Koalition ausgelöst. Im vergan-

genen Jahr befürwortete Verteidigungs-minister Peter Struck (SPD) ein solchesGeschäft, weil sich die Situation durchdie Annäherung der Türkei an die EUverändert habe. Dass die Bundesregie-rung nun am gleichen Tag, an dem dieEU in ihrem neuen „Fortschrittsbe-richt“ erhebliche Kritik an der Men-schenrechtssituation in der Türkei vor-trägt,der Lieferung von 298 Panzern zu-stimmt, macht deutlich, wie wenigRücksicht auf Menschenrechtsverlet-zungen die neue Regierung bei ihrerAußenpolitik nehmen will.

EU droht WeißrusslandDie Presse, 10.11. hav. Benita Ferrero-Waldner, EU-Kommissarin für Außen-beziehungen und Europäische Nach-barschaftspolitik, hat eine härtereGangart der EU gegen das Regime inWeißrussland angedeutet.Das „Einfrie-ren von Vermögen“ im Ausland sei alsweitere Sanktionsmaßnahme möglich,um den Druck auf Präsidenten Alexan-der Lukaschenko zu erhöhen, sagte Fer-rero-Waldner am Mittwoch vor Journa-listen in Moskau. Sie hielt sich zusam-men mit dem britischen AußenministerJack Straw und dem EU-Außenbeauf-tragten Javier Solana in Moskau auf.Ferrero-Waldner räumte Differenzenmit der russischen Führung in der Weiß-russland-Politik und der Bewertungvon Wahlen im post-sowjetischen Raumein. Russland müsste ein Interesse dar-an haben und könnte helfen, dass sichin Weißrussland eine demokratische Zi-vilgesellschaft entwickle.

Für die russische Exklave Kalinin-grad, die von EU-Gebiet umschlossenist, stellt die EU für 2006 insgesamt 25Millionen Euro an Wirtschaftshilfe zurVerfügung. Kaliningrad müsse von derEU-Erweiterung profitieren, sagte Fer-rero. Zudem vereinbarte die EU-Troikain Moskau auch die Gründung eines In-stituts für Europäische Studien, das ander Moskauer Hochschule für Interna-tionale Beziehungen (MGIMO) angesie-

delt sein soll.Die EU wird bis zu 50 Pro-zent der Kosten übernehmen und hat fürdie ersten drei Jahre drei Millionen Eurobereitgestellt.

EU fragt nach CIA-Lagerndpa/epd. 11.11. hav. Die EuropäischeUnion prüft US-amerikanische Me-dienberichte über angebliche CIA-Ge-heimgefängnisse in Europa. Kommis-sionssprecher Friso Roscam Abbingesagte am Donnerstag in Brüssel, alle 25Mitgliedsregierungen würden zu denVorwürfen befragt. Wenn alle Berichteeingegangen seien,werde sich zeigen,obes eine Bestätigung gebe. Solche Ge-fängnisse seien unvereinbar mit der eu-ropäischen Menschenrechtskonven-tion. Für deren Einhaltung sei nicht dieEU zuständig, sondern der Europaratmit dem Europäischen Menschen-rechtsgerichtshof und dem Anti-Folter-Komitee. Alle 25 EU-Staaten und dieBeitrittskandidaten seien aber Unter-zeichner der Menschenrechtskonven-tion.Geheimgefängnisse wären ein Bei-trittshindernis.

Die Washington Post hatte berichtet,der US-Geheimdienst unterhalte meh-rere geheime Gefängnisse für mutmaß-liche Terroristen in einigen osteuropäi-schen Staaten sowie in Asien.Vor allemwichtige Mitglieder der Terrororganisa-tion Al Qaida seien hier verhört worden.Die US-Behörden nahmen bislang nichtzu dem Bericht Stellung.

Die Menschenrechtsorganisation Hu-man Rights Watch nannte als möglicheLänder, in denen es solche Gefängissegebe, Polen und Rumänien. Ein Spre-cher sagte der polnischen TageszeitungGazeta Wyborcza, er habe Beweise, dassein von der CIA zum Transport vonHäftlingen gechartertes Flugzeug 2003in Polen und anderen osteuropäischenLändern landete. Er nannte laut Gaze-ta Wyborcza Masuren als möglichenStandort eines CIA-Gefängnisses.

Zusammenstellung: alk

PB 23/2005• AKTUELLES AUS POLITIK UND WIRTSCHAFT 3

Unternehmenskultur FAZ, 12.11./Süddt.Ztg., 14.11.VW hat ei-nen neuen Arbeitsdirektor. Die Wahlstand nicht auf der Tageordnung zur Sit-zung des Aufsichtsrates. Sie wurde mög-lich, weil Lord Simon von der Arbeitsge-berseite wegen Krankheit fehlte. Sokonnten die anwesenden Vertreter der An-teilseigner ihren Wunsch nach Vertagungnicht durchsetzen. Die Wahl kam auf dieTagesordnung und dann wurde NeumannArbeitsdirektor mit den Stimmen allerzehn Arbeitnehmervertreter im VW-Auf-sichtsrat sowie des Aufsichtsratschefs Ferdinand Piëch und zweier Vertreter derAnteilseignerseite. Neumann, der bisher Personalchef der VW-Tocher Audi war, er-hält einen Vertrag über fünf Jahre. Der Vorgang, den der IG-Metall-Vorsitzende Pe-ters gemanagt hat, soll nach dem Bericht der FAZ tiefe Wunden im Aufsichtsrathinterlassen haben.

Nach der Aufsichtsratssitzung: Piëch,Liesen, Peters, Pischetsrieder.

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4 AKTUELL AUS POLITIK UND WIRTSCHAFT • PB 23/2005

Die Nicht-Wahl des Vorsitzenden derLinkspartei in das Bundestagspräsi-dium hat gewiss viele Gründe, sicher istlediglich, dass eine Mehrheit der Abge-ordneten die neue Linkspartei nicht res-pektiert. Nach diesem Vorgang kannsich die Linkspartei Strategien ab-schminken, die mit dem Gedanken ei-ner Mehrheit Rot-Grün-Rot spielen.Vielleicht hätte diese Art geheimerKlarstellung durch einen anderen Per-sonalvorschlag umgangen werden kön-nen. Eine Glanzleistung der Fraktions-führung war das nicht. Wesentlich istaber, dass mit diesem Vorgang eineGrundkonstellation dieses Bundestagsklar geworden ist, und da kann manschon sagen: je eher desto besser. DieLinkspartei bleibt im Bundestag daraufverwiesen, die Anliegen und Kritikender gesellschaftlichen Bewegungen,herausgehoben der Gewerkschaftsbe-wegung, aufzugreifen, die Gesamtpar-tei hingegen muss vor allem mit Blickauf praktische Politik auf der Ebene derKommunen und der Bundesländer ausder „neuen sozialen Idee“ etwas poli-tisch Greifbares machen. Hoffentlichwird sie nicht,wie Lafontaine es vorhat,die anstehenden Wahlen ausschließlich

als Plebiszit über die Bundespolitik be-greifen.

Die Optionen der Parteien

Die Regierungsbildung steht nun un-mittelbar bevor und zur Zeit zweifeltniemand, dass Frau Merkel die Kanz-lermehrheit erreichen wird. In der neu-en Konstellation zwischen Wähler-schaft, Parteien, Parlament, Regierung,Exekutive trat in dieser ersten Phase be-sonders deutlich die Rolle der Parteienhervor, denen der von den zur Regie-rungsbildung entschlossenen Fraktio-nen erarbeitete Koalitionsvertrag zurBilligung vorgelegt wurde. Was machtdie Opposition?

Die Bündnisgrünen hatten für denFall des Ausstiegs aus dem Atomaus-stieg mit einer Mobilisierung gesell-schaftlicher Kräfte und zivilem Unge-horsam gedroht („… sehen wir uns aufdem Acker wieder“, wir berichteten).

Die FDP hat angekündigt, wegen desüberschuldeten Haushalts vor Gerichtzu ziehen.

Die Linkspartei wirbt für die Finan-zierung des Staatsdefizits durch dieReichen, durch Steuern auf Einkom-men, auf Erbschaft und Vermögen. Ope-

rativ zielt das darauf, der SPD bei kom-menden Wahlen Stimmen abzujagen,denn realistisch Rot-Grün-Rot mehr-heitsfähig ist ein solches Konzept nicht.Während die Bündnisgrünen und dieFDP aus eigenem Entschluss tun kön-nen, was sie androhen, hängen die Kri-tiken der Linkspartei in der Luft. La-fontaine kündigt an, die nächsten Wah-len zu „Vermögenssteuerwahlen“ zumachen. Unterstellt, das wäre der Weg,könnte diese Strategie Vernünftige nurmobilisieren, wenn eine Mehrheit dafürin Aussicht stünde. Die SPD wird aufein solches Angebot nicht einsteigen.

Unbeachtet fortschreitende

Militarisierung

In den Koalitionsverhandlungen hatman sich in der Außen- und Sicher-heitspolitik sehr schnell geeinigt: Dieallgemeine Wehrpflicht wird weiterbe-stehen. Das scheint denkbar unsensa-tionell, gibt es diese Einrichtung dochnunmehr 50 Jahre lang. Da sich jedochdie außenpolitischen Bedingungen än-derten,muss interpretiert werden,wozudie BRD, politisch, ökonomisch undwirtschaftlich eingebettet in die EU,eine solche Wehrmacht braucht. Die

Koalitionsvertrag auf den Parteitagen gebilligt

Gebremste Initiative der Union bei aufrechterUntertänigkeit der SPD

Die Linke.: Große KoalitionMist, immer feste druff aufdie Kleinen.

Aus der Pressekonferenz von Gregor Gysiund Oskar Lafontaine am 14. November inBerlin.

Oskar Lafontaine: Diese große Koali-tion ist von Anfang an belastet, weil siedas Vertrauen in unsere Demokratieuntergräbt. Wenn die Wählerinnen undWähler immer wieder erfahren, dassdas,was vor den Wahlen gesagt wird,ei-gentlich für den Schornstein ist, dassman sich gewissermaßen daran gewöh-nen muss, dass alles, was vor den Wah-len gesagt wird, keine Verbindlichkeitmehr hat,dann werden die Wählerinnenund Wähler zu recht immer politikver-drossener, weil sie sagen, man kann de-nen ja überhaupt nichts mehr glauben.Das betrifft dann nicht nur die Koali-tionäre, das betrifft die gesamte politi-sche Klasse, wie wir mit Bedauern fest-stellen müssen, denn die Wählerinnenund Wähler differenzieren bei fortge-setzter Wählertäuschung irgendwannnicht mehr, sondern glauben, die lügenuns alle nur die Hucke voll und vor denWahlen ist es praktisch die Regel, dassgelogen wird.Das ist jetzt die Erfahrungder letzten beiden Jahrzehnte, dass im-

mer wieder in ganz zentralen Fragenschlicht und einfach gelogen wurde.

Heute ist es die Mehrwertsteuer. Dasagt eine Partei im Wahlkampf, wer dieMerkelsteuer verhindern will, der mussSPD wählen. Ich frage mich, was jetzteigentlich SPD-Wählerinnen und Wäh-ler sich denken. Und man muss auf deranderen Seite dann Wählerinnen undWähler in ihrer Treue bewundern, dasssie selbst bei den gravierendsten Ver-trauensbrüchen in Serie dann doch im-mer wieder bereit sind, derselben Par-tei das Vertrauen zu schenken.

Ich bin dafür, dass wir, so wie dieseWahl eine Mehrwertsteuerwahl war, dienächsten Wahlen zu Vermögensteuer-wahlen machen und der Bevölkerungsagen, wer jetzt will, dass es etwas ge-rechter zugehen kann in Deutschland,der muss die Parteien unterstützen, diefür den Ausbau der Vermögensteuer ein-treten. Also erste Feststellung,Vertrau-en in unsere Demokratie ist untergra-ben worden.

Zweite Feststellung: Diese Koalitionhat kurze Beine, denn das deutscheSprichwort „Lügen haben kurze Beine“trifft nun hier in doppelter Hinsicht zu.Denn diese kurzen Beine tragen nichtweit. Das, was ökonomisch vereinbartwurde,dient in keinem Fall dem Haupt-ziel der Koalition – dieses Bonbon ist ja

schon so abgelutscht seitens der Koali-tionsparteien, in schöner Regelmäßig-keit tragen sie immer wieder vor, ihrHauptziel sei es, die Arbeitslosigkeit zusenken, sie machen aber alles, um dieArbeitslosigkeit weiter zu steigern.Deutschland wird im Export nach wievor Erfolge haben und die Binnenwirt-schaft wird nach wie vor darben.

Wie das im nächsten Jahr ausgeht,weiß keiner, weil wir in einer Ausnah-mesituation sind, von der in den Koali-tionsverhandlungen und auch in der öf-fentlichen Debatte überhaupt nicht dieRede war: Wir haben zum ersten Mal inDeutschland nach dem Kriege fallendeBruttolöhne. Das gab es noch nie. Dasganze Geschwafel von Arbeitszeitver-längerung ohne Lohnausgleich, vonÖffnung der Tarifverträge, von betrieb-lichen Bündnissen für Arbeit,die ja gra-vierende Bündnisse gegen Arbeit dar-stellen, weil sie die Lohnsenkungsspi-rale in Gang setzen – dies ist heute dasentscheidende Problem Deutschlands.Diese fallenden Löhne gehen einher mitsteigenden Energiepreisen in einemAusmaß, wie das lange Zeit nicht derFall war, so das der Durchschnittsver-braucher, ohne dass die Politik bisheretwas getan hat, von zwei Seiten her inseiner Möglichkeit, Geld auszugeben,drastisch beschnitten wird.

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PB 23/2005• AKTUELL AUS POLITIK UND WIRTSCHAFT 5

Beibehaltung der Wehrpflicht steht imKontext der Debatten um den Einsatzder Bundeswehr im Landesinneren. Sieverrät, dass auch innerhalb der EU mi-litärische Machtkalküls nicht erledigtsind, die BRD will eine größere Armeehaben als etwa Polen und Tschechien.Schließlich sagt diese Politik auch, dasssich die Regierenden der Risiken be-wusst sind, die aus den eng lokalisier-ten Interventionskriegen entstehen.Man sieht nicht nur die Gefahr derasymmetrischen, terroristischen Ant-wort, sondern auch das Risiko zwi-schenstaatlicher Verwicklungen. Wozusonst ein Gesetz, das es ermöglich, dieganze wehrfähige Bevölkerung in Uni-form zu stecken? – Gegen diese Politikder Militarisierung bzw. der Wahrungder militärischen Option gibt es nachwie vor die Möglichkeit gesellschaft-licher Gegenwehr.Mit der Beibehaltungder Wehrpflicht durch die Regierungwird die Wehrdienstverweigerung zurpolitischen Waffe.

Verdeckte Rückkehr zur Atomtechnik

Wie eingangs bereits erwähnt, konntedie von den Bündnisgrünen repräsen-tierte, zu zivilem Ungehorsam bereitezivilgesellschaftliche Bewegung errei-chen, dass die Koalition den Ausstiegaus der Atomenergie nicht abrupt be-endet.Die Regierung wird dem Konfliktauszuweichen suchen, bzw. sie lokali-siert ihn auf das begrenzte Feld der End-lagerung und den schwer angreifbarenBereich der Erforschung neuer Techno-

logien. Wird irgendeine Art der Endla-gerung faktisch durchgesetzt, ist, sodarf man diesen Entschluss lesen, dieSache durch. Denn inzwischen werdendie einschlägigen Konzerne am Kraft-werksbau wachsen, große Aufträge ausChina stehen an, und wie wird es mög-lich sein,die moralischen Komponentender Anti-Atom-Kritik aufrechtzuerhal-

ten, während man eine entsprechendeExportindustrie duldet? Werden dieBündnisgrünen wegen der Endlagerungsich wie versprochen „auf dem Acker“versammeln? Wird es reichen?

Taktische Vorsicht kennzeichnet auch die

Sozial- und Wirtschaftspolitik

Die Belastungen der aktiven Lohnab-

In diese Ausnahmesituation hineinmacht diese Koalition, wenn auch miteinem Zeitaufschub von einem Jahr,dasVerkehrteste, was man überhaupt ma-chen kann, man erhöht drastisch dieVerbrauchssteuern. Und was die Ener-giepreise angeht, hat man dann nochden Clou, dass man die Pendlerpau-schale kürzt und damit die beweglichenArbeitnehmer weiter in ihren Möglich-keiten, einen Arbeitsplatz zu finden,einschränkt. In MünteferingschemDeutsch würde es heißen: Große Koali-tion Mist,immer feste druff auf die Klei-nen.

Dass man sich dann tatsächlich nichtschämt, eine Reichensteuer als kleineKosmetik anzubringen, die natürlich inder Summe lächerlich ist – es sind 1,2oder 1,3 Milliarden Euro für diejenigen,die 250000 bzw. bei Verheirateten500000 Euro im Jahr verdienen. DasVolk wird verarscht, ich muss das jetztwirklich einmal so sagen.

Und wenn wir jetzt Salden bilden,wiewird das Volk belastet: auf der einen Sei-te Mehrwertsteuer, Pendlerpauschale,Eigenheimzulage, Kürzungen im sozia-len Bereich, dann sind sie bei 40 Milli-arden zu Lasten das Volkes und dann da-mit das nicht ganz so schlimm klingt,1,2oder 1,3 Mrd.zu Lasten der Bezieher ho-her Einkommen.

Koalitionsvertrag aus Sichtder CSU

Auf einen Blick: Die wichtigsten Vereinba-rungen, Vorlage zum CSU-Parteitag (Auszü-ge). Mehr Wachstum: 25 Mrd. Euro Mittelwerden in den nächsten vier Jahren zurStärkung von Wachstum und Beschäf-tigung eingesetzt. Für Unternehmenwerden Investitionen attraktiver durchgünstigere Abschreibungsbedingungenund eine grundlegende Reform derUnternehmensbesteuerung.

Mehr Innovationen: Die Mittel fürForschung und Entwicklung werden bis2010 auf 3% des BiP angehoben undWagniskapital wird über weitere etwa100 Mio. Euro mobilisiert. Die Clusteraus Wirtschaft und Wissenschaft wer-den ausgebaut, Projekte wie das euro-päische SatellitennavigationssystemGalileo mit Standorten in Oberpfaffen-hofen und Ottobrunn und eine Transra-pid-Referenzstrecke werden vorange-trieben.

Mehr Arbeit: Die Lohnzusatzkostenwerden dauerhaft auf unter 40 % ge-senkt und ermöglichen neue Arbeits-plätze. Durch Einsparungen bei derBundesagentur für Arbeit und einen Teilder Mehrwertsteuererhöhung sinkt derBeitrag zur Arbeitslosenversicherungab 1.1.2007 von 6,5 % auf 4,5 %.Die Pro-bezeit wird auf 24 Monate verlängertund schafft neue Chancen auf einen Ar-beitsplatz.

Weniger Bürokratie: Statistik- undBuchführungspflichten werden verrin-gert. Schnellere Genehmigungen undweniger Bürokratie schaffen Spielraumfür Investitionen und Arbeitsplätze.

Neue Impulse: Für Klimaschutz undfür mehr Beschäftigung vor allem imHandwerk wird das CO2-Gebäudesan-ierungsprogramm auf 1 Mrd. Euro auf-gestockt. Die Städtebauförderungbleibt als gemeinsame Aufgabe vonBund, Ländern und Kommunen beste-hen. Die Planung und die Finanzierungals Public Private Partnership (PPP)werden ebenso vereinfacht wie das Ver-gaberecht unter mittelstandsfreund-licher Aufrechterhaltung der VOB. DieVerkehrsinvestitionen werden deutlicherhöht.

Mehr Generationengerechtigkeit:Deutschland darf nicht auf Kosten dernächsten Generationen leben. Wir wol-len ab 2007 die Staatsverschuldungdrastisch reduzieren.

Einfachere Besteuerung: Das Ein-kommensteuerrecht wird für alle Bür-ger vereinfacht. Eine Unternehmens-steuerreform stärkt die internationaleWettbewerbsfähigkeit der Unterneh-men. Das bayerische Modell zur Erb-schaftsteuer erleichtert die Unterneh-mensfortführung bei Familienbetrie-ben.

Gerechtere Besteuerung: Leistungs-stärkere müssen einen größeren Anteilzur Haushaltskonsolidierung beitragenals Leistungsschwächere. Die Einfüh-rung des Konsoli,eines allgemeinen Zu-schlags auf die Einkommensteuer, ha-ben wir verhindert. Als Alternative ha-ben wir uns auf einen Spitzensteuersatzvon 45 % verständigt.Gewerbliche Ein-künfte sind aber davon ausgenommen.

Sichere Renten: Die Renten werdennicht gekürzt. Um der höheren Lebens-erwartung Rechnung zu tragen und fürstabile Beiträge wird das Rentenein-trittsalter stufenweise von 2012 bis 2035auf 67 Jahre angehoben.

Ermäßigte Mehrwertsteuer: Wir wer-den den ermäßigten Mehrwertsteuer-satz, z.B. für Lebensmittel, nicht verän-dern. Mieten bleiben steuerfrei.

Klare Verantwortung: Im Rahmen ei-ner großen Föderalismusreform wirddie bundesstaatliche Ordnung grundle-gend modernisiert und die Landespar-lamente werden gestärkt. Die Ländererhalten mehr Gestaltungsspielräumevor allem im Bildungs-,Hochschul- undPersonalbereich.

Bessere Vorbeugung: Eine Visa-Warn-datei zur Bekämpfung von Visamiss-brauch und eine Anti-Terrordatei zurTerrorabwehr werden eingeführt. DasBundeskriminalamt erhält Präventi-vaufgaben zur Bekämpfung des inter-nationalen Terrorismus.

Modernes Europa: Die Ratifizierungdes Europäischen Verfassungsvertrageswird fortgesetzt.

Solidarisches Europa: Deutschlandsoll nicht mehr als 1 % seines Brutto-nationaleinkommens an die EU zahlenund übermäßige Nettobelastungen sol-len ausgeglichen werden. Der Agrarfi-nanzkompromiss bleibt bestehen.

Weltweite Partner: Die transatlanti-schen Partnerschaft mit den USA, dieNATO und die Europäische Sicher-heits- und Verteidigungspolitik sindEckpfeiler der deutschen Sicherheit.Die Bundesregierung bekennt sich zurBundeswehr und zur allgemeinen Wehr-pflicht. www.csu.de

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hängigen und die noch stärkeren derMenschen, die von Transfereinkommenabhängen, kommen nicht unmittelbar.Die Regierung hofft, dass sich nach ei-nem gelinden WirtschaftswachstumEnde 2006 die Situation auf der Ein-nahmeseite etwas besser darstellt.Gleichzeitig hat der designierte Finanz-minister eine nominale Rentenkürzungals Alternative zur Mehrwertsteuerer-höhung benannt.Da alle Welt mit einemweiteren guten Geschäftsjahr für dieExportgüterindustrie rechnet, wird dieEinnahmeentwicklung der Renten- undKrankenkassen ebenso wie das Lohn-

steueraufkommen erheblich durch denVerlauf der Lohnbewegungen, nament-lich durch die Strategie der IG Metallberührt.

Auch wenn es Verbesserungen auf derEinnahmeseite geben sollte und die Er-höhung der Mehrwertsteuer durchgeht,bahnt sich im kommenden Jahr eineDiskussion der Rentenformel an,bei deres nicht wie jetzt „nur“ um die höhereBelastung durch Steuern und Beiträgegeht, sondern um direkte Absenkung.Beunruhigend, ja verstörend ist, dasssich die europaweite Diskussion um einRecht auf Sterbehilfe in der BRD in di-rektem Bezug zur Entwicklung derPflegekosten entfaltet.

Klar ist auch,dass trotz Erhöhung desALG II im Osten um 14 Euro insgesamtder finanzielle und der moralischeDruck auf die Langzeitarbeitslosen zu-nehmen soll. Dagegen hat auch die SPDnichts einzuwenden.

Bei den regierenden Parteien

In der CDU ist das katholische Lager insHintertreffen geraten, Angela Merkelrepräsentiert eine weitgehend säkulari-sierte protestantische Tradition, Kochsoll es sogar mit dem Dalai Lama hal-ten, der nach Presseberichten im Hausedes hessischen Ministerpräsidenten ab-steigt, wenn er, wie so oft, Deutschlandbesucht. Diese Entwicklung bietet derUnion die Möglichkeit in Großstädtenzu punkten. So geschehen zum Beispielin Hamburg. Die enormen Schwierig-keiten der Partei in Berlin beweisen je-doch, dass diese neue, für modernisier-te Lebensgestaltung offene Union sichan der Parteibasis herausbilden muss,ein schwieriger Prozess, der nicht über-all glückt. Eine wichtige Entscheidungist durch das Wahlergebnis herbeige-führt worden. Die CDU hat sich von derFDP wieder etwas entfernt. Das betrifftweniger die Rolle des Staates als Unter-nehmer auf hochriskanten Feldern,denn hier war die FDP immer schon da-für.Es geht um den Staat als Garant vonTransferleistungen aller Art, eine The-ma bei dem die FDP nur den Rückbaukennt.Die nächsten Monate werden zei-gen, ob es bei der CDU hier ein echtesUmdenken gegeben hat.

In der CSU jedenfalls ist eine solcheEntwicklung unverkennbar. Sie hatdurch die Absage der Wählerinnen undWähler einen regelrechten Schock erlit-ten und ist nun die kleinste der Parteienim Bundestag.Trotzdem ist die CSU ih-ren Planziele von allen Parteien noch amehesten nahegekommen. Die Mittel ausdem Fonds für Zukunftstechnologienwerden zu einem erheblichen,jedenfallsüberproportionalen Teil in Bayern lan-den. Die neue Föderalismuskonzeptionwird es dem Freistaat erleichtern, einespezifische Verbindung von Staat undWirtschaft auszuprägen, vor allem mitBlick auf den ganzen Ausbildungssek-tor und besonders den Forschungsbe-

reich der Hochschulen.Die SPD wurde durch das Wahlergeb-

nis zur weiteren Teilnahme am Regie-rungsgeschäft genötigt. Sie ist in ihrerProgrammdiskussion jählings unter-brochen worden. Auf ihrem Parteitaghat sie gar nicht versucht, ihr Handelnzu einer politischen Konzeption zu ver-dichten. Der neue Vorsitzende hat sichaller Versprechen enthalten, aber be-tont, dass man auf der Seite der großenMehrheit der arbeitenden und gesetzes-treuen Menschen stehe, die man nichtallein lassen wolle, werde, dürfe. DieSPD stilisiert sich um. Trat Schrödernoch mit einem Konzept zur Gestaltungder ganzen Gesellschaft auf, ist nachseinem Scheitern jetzt die Wende hin zueiner Partei, die für „die Menschen, dieauf uns vertrauen“, unter von anderengesetzten Bedingungen noch das Besteherausholt.

Das ist eine Konstellation, die sichverfestigen kann.

Die erneuerte SPD und die Linkspartei

Bereits die nächsten Landtagswahlen inBaden-Württemberg und Rheinland-Pfalz werden zeigen, ob „die Menschen,die uns vertrauen“, die zum bloßen de-mütigen Fürsprecher veränderte SPD,wie es in dieser Art von Kirchendeutschheißt, „annehmen“. Das wäre dann einUmschwung, der auch etwas über dieKampfbedingungen der sozialen Bewe-gungen, die Gewerkschaften einge-schlossen,bedeuten würde. In den über-wiegend gefühlsbetonten Reden desParteitags tauchte immer wieder und inden verschiedensten Wendungen der ge-setzestreue Bürger auf, ein Gegenkon-zept zum mündigen Bürger, der beur-teilt, was vorliegt, und handelt, wenn esschief geht. Die so eingestellte SPD bie-tet ihren Wählerinnen und Wählernnicht eine andere Konzeption für dieEntwicklung der Gesellschaft bzw. derStaatsaufgaben an, sie überlässt demKonservatismus die Initiative undnimmt sich auf eine mahnend beglei-tende Rolle zurück.Sie stellt sich als Al-ternative zum Lärmen Lafontaines dar,und besteht darauf, dass bescheideneWirkung besser sei als gar keine.

Von besonderem Interesse wird des-wegen in den kommenden Monaten al-les sein, was im Diskussionszusammen-hang der Linkspartei an Reformalter-nativen auf der Ebene der Länder undvor allem der Kommunen entwickeltwird, und wie dies zu den gesellschaft-lichen Bewegungen passt, sich auf siestützt und ihnen weiterhilft. In dernächsten Ausgabe dieser Zeitschriftwollen wir uns deswegen mit den lan-despolitischen Ansätzen der Linkspar-tei und der WASG befassen,wie sie jetzt,wenige Monate vor der Landtagswahl inBaden-Württemberg, an der sich dieWASG unter diesem Namen beteiligt,vorliegen.

alk, maf

Darum müssen wirregieren!

Aus der Rede von Matthias Platzeck, SPD-Vorsitzender auf dem Parteitag

Viele Millionen Wählerinnen und Wäh-ler, Frauen und Männer in Deutschland,haben uns am 18. September ihre Stim-me gegeben.Jede und jeder Einzelne vonihnen hat diese Stimmabgabe mit einerErwartung verbunden, nämlich mit derErwartung, dass wir uns mit aller Kraftden Problemen unseres Landes widmen,um sie zu lösen,mit der Erwartung,dasswir dabei sorgfältiger, ernsthafter, ge-wissenhafter und gerechter vorgehenals andere, mit der Erwartung, dass wirehrlich sagen, was wir meinen, und be-herzt tun, was wir sagen. Liebe Genos-sinnen und Genossen, diese Erwartun-gen, die es in Deutschland an uns gibt,sind berechtigt.Wir dürfen sie nicht ent-täuschen.Wir stellen uns diesen Erwar-tungen. Tun wir das gemeinsam!

Darum darf niemals auch nur für ei-nen einzigen Augenblick der Eindruckentstehen, als würde es uns um das Re-gieren nur um des Regierens willen ge-hen. Es muss uns immer um mehr gehenals um uns selbst. Es geht um das Ge-stalten, um die große sozialdemokrati-sche Idee der gleichen Freiheit für alle.Am wichtigsten: Es geht um unser Landund um die Menschen in unserem Lan-de, die in ihrem Leben jede nur mögli-che Chance haben sollen, alle ihre Po-tenziale auszuschöpfen. Nur wenn dasgelingt, wird unsere Gesellschaft auchin Zukunft noch lebenswert sein. LiebeGenossinnen und Genossen,deshalb lagFranz so punktgenau richtig mit seinemlegendären Satz: „Opposition ist Mist!“Genau das ist es!

Nicht aus Prinzip, auch nicht deshalb,weil wir dann eine Zeitlang nicht regie-ren würden, sondern deshalb, weil wirwährend dieser Zeit genau die Dingenicht vorantreiben und durchsetzenkönnen, von denen wir wissen: Sie sindgut für das Land, sie sind gut für dieMenschen. Wenn wir uns nicht um die-se Aufgaben kümmern, kümmert sichniemand in diesem Land darum. Des-halb müssen wir regieren, liebe Genos-sinnen und Genossen.

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„Der Funke kann die Ebene in Brandstecken, wenn vorher die Trockenheitam Werk war.“ Diese beinahe poetischeFormulierung tauchte Anfang Novem-ber in einem Leitartikel der linkslibe-ralen Pariser Tageszeitung Libérationauf. Es ging natürlich um die Ursachender Unruhen in den Pariser Trabanten-städten, die am Wochenende bereits seitzehn Tagen anhielten und sich auf an-dere, „bisher als ruhig geltende“(so dieFormulierung eines öffentlichen Radio-senders) französische Städte auszudeh-nen begannen.

Es stellt sich die Fragen nach denGründen für die jüngste Eskalation.Wieso häufig, gibt es einen unmittelbarenAnlass und weitaus tiefer sitzende Ur-sachen dafür. Den Anlass – im Sinne desTropfens, der das Fass zum Überlaufenbringt – lieferte das tragische Ende ei-ner Flucht vor der Polizei, die sich am27. Oktober an der Stadtgrenze zwi-schen Clichy-sous-Bois und Livry-Gar-gan abspielte. Bouna, 15 Jahre alt, Zyed(17) und der 21jährige Metin – drei jun-ge Franzosen, deren Familien aus Mali,aus dem Maghreb und aus der Türkeikamen – hatten sich dabei in einemTransformatorenhäuschen vor der Bri-gade anti-criminalité (BAC), einer mili-tarisierten Sondereinheit der Polizei,versteckt. Dabei hatten sie sich abernichts zuschulden kommen lassen, son-dern sie befanden sich auf dem Nach-hauseweg von einem Fußballspiel mitanderen Jugendlichen. „Polizeilich un-bescholten“, wollten sie sich einer derunzähligen schikanösen Personalien-kontrollen entziehen. Zwei von ihnenstarben durch einen Starkstromschlag,während Metin mit schweren Verbren-nungen davon kam.

Die Ursachen dafür, dass die Empö-rung über den tödlichen Unfall der Ju-gendlichen auf derart breiter Front in„Randale“ überschwappte,liegen tiefer.Die französischen Trabantenstädte bil-deten in den letzten zwei bis drei Jahr-zehnten eine Art „Treibhaus für gesell-schaftliche Krisenprozesse“, das nursehr schwer mit oberflächlich ähnlichenWohngegenden in Deutschland ver-glichen werden kann.Deshalb sind auchdie Prognosen mancher Kreise, „dem-nächst“ werde es „auch bei uns inDeutschland zu solchen Ereignissen“kommen, von vornherein Makulatur.Denn die in den letzten Jahrzehnten inFrankreich praktizierte Art und Weiseder Territorialisierung der „sozialenFrage“ ist in dieser Form nicht auf an-dere Länder übertragbar. Im Gegensatz

zu den „Ghettos“ nordamerikanischerMetropolen gibt es in den französischenTrabantenstädten keine „ethnischen“Quartiere, in denen vorwiegend Men-schen derselben Herkunft oder dersel-ben Hautfarbe zusammen wohnen. Diefranzösischen Banlieues sind vielmehrdavon geprägt,dass ein Großteil der mit„sozialen Problemen“ behafteten Be-völkerungsgruppen aus den Kernstäd-ten in die Vorstadtzonen abgedrängtwird.Das Kriterium ist dabei kein „eth-nisches“ oder religiöses, sondern finan-zieller Natur, und unterschiedlicheGruppen mischen sich in ausnahmslo-sen allen Wohnquartieren der Banlie-ues. Aufgrund der Tatsache, dass zu derTerritorialisierung der „sozialen Frage“auch noch eine Ethnisierung in der ge-sellschaftlichen Vorstellung – jedenfallsbreiter Kreise, die außerhalb der Tra-bantenstädte wohnen – hinzu kommt,werden jedoch vor allem Schwarze undarabischstämmige Immigranten als„typische“ Vertreter der Banlieueswahrgenommen. Dies ist aber insofernunrichtig, als auch die Angehörigen derweißen Unterklasse in den Trabanten-städten leben und an den alltäglichenGewaltphänomen teilhaben.

Vorstädte als „Bann-Meilen“

Die Banlieue im modernen Sinne ent-stand zunächst rund um Paris, am Aus-gang des 19. Jahrhunderts. Der Begriffselbst ist aber bereits älter und be-zeichnete im 17. Jahrhundert die„Bannmeile“ – so lautet die wörtlicheBedeutung von ban-lieue –, also jeneZone rund um die größeren Städte, dieein mit Verbannung belegter Bürgeroder Untertan nicht betreten durfte.Später jedoch änderte sich die Funktiondieses Gebiets. Da die französischeGroßbourgeoisie und Regierungskreisein besonderem Maße von Revolutions-

angst geplagt wurden, beschlossen sie,es sei vorzuziehen, die „gefährlichenKlassen“ – das war damals neben demSubproletariat auch die Industriearbei-terschaft – in wenigen Verdichtungsräu-men zu konzentrieren. Auf diese Weisehätte man sie besser unter Kontrolle,während man sich auf das übrige Frank-reich als „sicheres Hinterland“ stützenkönne. Auf diese Weise entstanden dieBallungsräume rund um Lille, Parisoder Lyon, die administrativ von denKernstädten unterschieden wurden. InParis etwa ließ man die Stadt, die sichbis in die Mitte des 19. Jahrhundertshinein geographisch ausdehnte, am1860 gezogenen Stadtring enden; dieArbeitervorstädte, die rund um die mi-litärischen Festungsanlagen vor den To-ren der Hauptstadt entstanden, wurdennicht eingegliedert. Die Pariser Ban-lieue ist heute fast so groß wie das Saar-land, mit fast acht Millionen Einwoh-nern, wobei sich historische Stadtkerneund Reihenhaussiedlungen mit Hoch-haus- und Plattenbaughettos abwech-seln.

Rund um Paris bildeten die Vorstädteseit etwa 1930 Jahrzehnte hindurch den„roten Gürtel“, der – auf kommunalerEbene – größtenteils durch die KP re-giert wurde. Darum war es auch der KPlange Zeit gar nicht so unrecht, dass dieärmeren und sozial ausgegrenzten Teileder Bevölkerung in diese Zonen abge-schoben wurden: Dadurch glaubte sie,Arbeiter und „einfache“ Angestellteunter ihrer politischen Kontrolle behal-ten zu können.

Von diesem Einfluss sind heute nurnoch Restbestände übrig. Die jüngerenGenerationen werden seit 30 Jahrennicht mehr durch Erwerbsarbeit undFabrikdisziplin sozialisiert, und damitauch nicht mehr durch die vormals prä-gende Bindungswirkung der Klassenso-lidarität, sondern ihr Heranwachsen istdurch die Aussicht auf Arbeitslosigkeitgeprägt. Damit einher geht ein erhöhtesMaß an „Schulversagen“ – die Jugend-lichen bleiben viel länger in der Schuleals früher, aber sind gleichzeitig oft de-motiviert und angeödet –, Langeweileund die Auflösung kollektiver Bindun-gen sowie eine Verrohung im Alltag. Die

Gesellschaft in vielen Traban-tenstädten ist extrem atomisiertund geprägt durch die Faszina-tion für Markenartikel und zumstolzen Auftreten geeignetenSportklamotten, durch die Jagdnach dem „schnellen Geld“, daseinigen jungen Leuten durch dieParallelökonomie (vor allemDrogengeschäfte) ermöglichtwird, und ein immer höheresMaß von Gewalt gegen Frauen.

Den Ersatz für das frühere Be-wusstsein oder Gefühl der Klas-senzugehörigkeit bieten der An-schluss an Jugendbanden, die

ihr jeweiliges Mikroterritorium –

Frankreich

Hintergründe der Ereignisse inden Trabantenstädten

Die „Bannmeile“ – banlieue – von 1717

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Spiegelbild der Abgeschnittenheit derTrabantenstädte von der Mehrheitsge-sellschaft – verteidigen, und zum Teilauch „Identitätsangebote“ wie jene derIslamisten. Deren Echo in manchenBanlieues stellt freilich nicht die Ursa-che der sozialen Krise dar. Sondern nureine von mehreren Folgeerscheinungenoder Facetten der sozialen Zerrüttungs-prozesse: Sie schwimmen lediglichsichtbar obenauf wie die Fettaugen aufder Suppe.

Krisenbewältigung als Polizeiproblem

Wie gehen nun die etablierten politi-schen Kräfte und die Staatsorgane mitder Banlieuekrise um? In den letzten 15Jahren bildete sich ein Konsens zwi-schen den staatstragenden Kräften her-aus, wonach die Problematik der Tra-bantenstädte vorwiegend als ein Pro-blem polizeilicher Krisenverwaltungund Sicherheitspolitik wahrzunehmenist. In den frühen 90er Jahren machtendie Vorstädte, unter dem damaligenInnenminister Charles Pasqua eine ex-trem repressive Phase durch. Innerhalbvon zweieinhalb Jahren kam es damalszu fast 200 Todesfällen bei polizeilichenKontrollen, bei Zusammenstößen zwi-schen Jugendlichen und Ordnungskräf-ten und, innerhalb der Kommissariate,in „polizeilichem Gewahrsam“.

Als die Sozialdemokraten und die mitihnen verbündeten etablierten Links-parteien 1997 wieder das Regierungs-geschäft übernahmen, vollzogen sie zuallererst einen symbolischen Paradig-menwechsel: Anlässlich der berühmten„Regierungskonferenz von Villepinte“konstatierten sie im Sommer 1997, siehätten sich geirrt,als sie bisher die Ban-lieue-Problematik vorwiegend als Aus-druck sozialer Probleme gewertet hät-ten.Vielmehr hätten die Polizei und dieRepression eine zentrale Rolle bei derLösung des Problemes der „violencesurbaines“ – diesen spezifischen Begriffhaben französische Politiker und Sozi-alwissenschaftlicher mittlerweile fürdie Gewalt in den Vorstädten geschaffen– zu spielen. Dennoch setzten die Sozi-aldemokraten auch eine wichtige Form-änderung durch, mit dem Projekt derpolice de proximité (ungefähr: einwoh-nernahe Polizei). Dabei privilegiertensie den Aufbau von kleinen, dezentrali-sierten Polizeieinheiten innerhalb derTrabantenstädte, die tagsüber in ihrenBüros ansprechbar sein sollten undetwa bei kleineren Alltagsproblemenund Nachbarschaftsstreitigkeiten ein-geschaltet werden könnten. Dadurchsollte ein Minimum an Vertrauensver-hältnissen zwischen Polizisten und Ein-wohnern neu geschaffen werden.

Mit dem Regierungswechsel im Mai2002 und dem Amtsantritt des neuenInnenministers Sarkozy erfolgte jedochder fristlose Abbruch des Experiments.Die „einwohnernahe Polizei“ wurdestark reduziert, und Nicolas Sarkozy

verbreitete sich spöttisch darüber, seinePolizisten hätten nicht „Sozialarbeiterund Stadtteilanimateure zu spielen“.Die repressiven Einheiten übernahmenwieder das Terrain. Damit einher gehtetwa eine von rassistischen Diskrimi-nierungen geprägte Kontrollpraxis, beider sich vor allem Jugendliche aus Mi-grantenfamilien zum Teil mehrfach täg-lich schikanösen Personalienfeststel-lungen unterziehen müssen.

Religiöse Gruppen als „Ordnungsstifter“

Sarkozy ergänzte seine Strategie aberauch um ein zweites Standbein,das dar-in bestand, religiöse und kommunita-ristische Gruppen als „Ordnungsstif-ter“ zu mobilisieren, namentlich auchmoslemische Verbände. Den letzteren,auch den reaktionär-kommunitaristi-schen und teilweise Islamisten nahe ste-henden Vereinigungen, kam dies entge-gen. Besteht ihr zentrales ideologischesAnliegen doch in einer – nötigenfallsautoritären – „Moralisierung“ der Ge-sellschaft, welche erneut die Vorausset-zungen für ein geordnetes Zusammen-leben schaffe. Im Übrigen hatten dieseVerbände gegenüber Bürgerinitiativen,Frauengruppen oder Stadtteilgruppenden Vorzug, dass sie von der Regierungnicht unmittelbar Geld – etwa für dieBefriedigung sozialer Bedürfnisse – ver-langten, sondern lediglich Spielraumfür ihr eigenes Agieren. InnenministerSarkozy konnte sich so als Vertreter po-litischer „Ausgewogenheit“ präsentie-ren. „Hart, aber gerecht“ lautet seinehäufig wiederholte Devise.

Auch in der jüngsten Krise nach denEreignissen von Clichy-sous-Bois mo-bilsierte Sarkozy wieder einige mosle-mische Gruppierungen, die zur „Rück-kehr der Ruhe“ aufriefen.

Um auf die zunehmende Kritik ausdem eigenen Lager an seiner Amtsfüh-rung, die in den ersten Tagen dem Aus-maß der Krise nicht gewachsen schien,zu antworten, hat der Innenministeraber in den letzten Tagen einen Teil derWarnungen vor dem Islamismus – alsangeblich hinter den Ereignissen ste-ckendem Unruhestifter – in seine Rhe-torik übernommen. In einem Interviewin der Sonntagsausgabe von Le Monde(6. November), in dem Sarkozy starknach dem Strickmuster „Ich oder dasChaos“ argumentiert, warnt der Innen-minister davor, im Falle eines Scheiternseiner Strategie drohe „die Ordnung derMafia oder jene der Fundamentalisten“.Tatsache ist jedoch, dass besonders diereaktionären Kreise innerhalb des Is-lam im aktuellen Kontext eher auf dieStrategie setzen,durch die Behörden alspotenzielle „Ordnungsstifter“ akzep-tiert zu werden.

Und die Linke?

Seitens der politischen Linken hat mankurzfristig eher Schwierigkeiten damit,eine adäquate Antwort auf die Ereig-

nisse zu finden. Dies ist darauf zurück-zuführen, dass man zwar die „sozialeFrage“ und ihre besondere Form in denBanlieues als Ursache der Krise begreift– aber zugleich nur schwer die konkre-ten Aktionsformen de Jugendlichen alsAnsatz zu einer Lösung dieser Proble-matik verstehen kann.

Die staatstragende Linke tut sich inder derzeitigen Lage besonders schwer.Die Sozialdemokraten, mit Kongress-vorbereitung und innerparteilichenKonflikten beschäftigt, konnten sicherst nach mehreren Tagen zu klaren öf-fentlichen Stellungnahmen durchrin-gen. Seitdem klagen sie vor allem die„Abkehr vom Prinzip der einwohnerna-hen Polizei“ an.Direkt und indirekt kri-tisieren sie die Politik von Innenminis-ter Nicolas Sarkozy, die wegen seinesruppigen Umgangstons („Gesocks“ und„Abschaum“) – als „provozierend“ undzudem als übertrieben repressiv gilt.Dennoch konnten sich die führenden so-zialistischen Politiker bisher nicht dazudurchringen, auch den Rücktritt desInnenministers zu fordern. „Jetzt denRücktritt Sarkozys zu fordern, hieße,den jugendlichen KrawallmachernRecht zu geben“ verlautbarte etwa derSprecher des Mitte-Rechts-Flügels derPartei, der Abgeordnete Julien Dray.

Dagegen fordern die KP und die Grü-nen mittlerweile lautstark den Rück-tritt des amtierenden Innenministers.Die französische KP fordert, statt aufden repressiven müsse der Akzent weit-aus stärker auf den sozialen Staats-funktionen liegen. Ein paar hundertMitglieder, darunter viele ihrer Bürger-meister aus den Trabantenstädten, de-monstrierten am Freitagabend vor demPariser Amtssitz des Premierministers.Es müsse mehr Geld für die dringend-sten sozialen Aufgaben und Bedürfnissein den Banlieues zur Verfügung gestelltwerden, gleichzeitig wurde auch „dieGewalt“ verurteilt.

Alain Krivine, bis vor kurzem Wort-führer der trotzkistisch-undogmati-schen LCR, sprach in einer Stellung-nahme differenzierend sowohl von „ei-ner Revolte“ als auch „von Gewaltta-ten“, die „in der Gesellschaft Besorg-nis“ hervorriefen. An alle anderenLinkskräfte richtete die LCR den Vor-schlag, eine gemeinsame Großdemon-stration in Form eines „friedlichenMarschs aus den Trabantenstädten“ indas Pariser Machtzentrum durchzufüh-ren, um den Rücktritt von Innenminis-ter Sarkozy zu fordern.Am Mittwoch (9.November) fanden auch bereits vor denRathäusern mehrerer Trabantenstädtegemeinsame Demonstrationen der KP,der LCR und mancher Gewerkschaften(CGT, SUD) gegen den Ausnahmezu-stand statt. In Bobigny nahmen daranrund 500 Menschen teil.Bernhard Schmid, Paris (von der Redaktion gekürzt und bear-beitet)

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Griechenland: Streik im öffentlichenDienst gegen SozialabbauDie Beteiligung an dem vom Gewerk-schaftsdachverband der Arbeiter undAngestellten im öffentlichen Dienst,Adedy, ausgerufenen landesweitenStreikes lag nach Aussagen von Ge-werkschaftssprechern mit mehr als 50Prozent der Beschäftigten über der Teil-nahme an vergangenen Aktionen.Mit 80Prozent Streikenden nahm das Gesund-heitswesen den Spitzenplatz ein. In derLandeshauptstadt Athen versammeltensich in der letzten Woche TausendeStreikende, um ihren ForderungenNachdruck zu verleihen. In Sprechchö-ren forderten sie dazu auf, den von Fi-nanzminister Georgios Alogoskoufis er-arbeiteten Haushaltsentwurf in dieMülltonne zu werfen. Der Etat siehtLohnerhöhungen unterhalb der Infla-tionsgrenze und weitere Einschnitte beider staatlichen Finanzierung sozialerBereiche vor. Spiros Papaspiros,Vorsit-zender des Gewerkschaftsdachverban-des, betonte in seiner Ansprache an dieStreikenden, Bildung, Gesundheitsfür-sorge und eine menschenwürdige Renteseien Rechte und kein Almosen.Als Ver-antwortliche für die Misere der Werktä-tigen bezeichnete er nicht nur die grie-chische Regierung, sondern auch dieEU-weit geförderte Politik zugunstender Unternehmer. „Die Herrschendenhaben den Blick für die Realität verlo-ren“,so Papaspiros,„Sie reden vom Auf-stand der Ausgegrenzten in Paris undsehen nicht, dass aufgrund ihrer Politikbald die Mehrheit zu den Ausgegrenz-ten gehören wird.“

Quelle: Junge Welt 11.11.2005

Arbeitsrechtsverletzungen in derMaquila-Industrie

Nach Berichten des Koordinierungs-büros der Maquila-Industrie (InstanciaCoordinadora de la Maquila) erhöhtesich im Laufe des Jahres 2005 die Zahlder Arbeitsrechtsverletzungen in denguatemaltekischen Weltmarktfabriken.Firmen seien widerrechtlich geschlos-sen worden. Die für die Überwachungder Arbeitsrechte zuständige Behördeder Regierung habe nicht dafür gesorgt,dass die Inhaber dieser Unternehmenbestraft werden.Rosa Escobar,eine Mit-arbeiterin der Instancia, berichtete aufeiner Pressekonferenz über die arbeits-rechtliche Praxis in der Maquila-Indus-trie, insbesondere über die Bedingun-gen in der Textil- und Bekleidungs-branche. Demnach sprechen die Fir-meninhaber regelmäßig rechtswidrigeKündigungen aus oder zwingen die Mit-arbeiter dazu, selbst zu kündigen. Fer-ner würden unberechtigte Arbeits-unterbrechungen verordnet oder dieBezahlung von geleisteten Überstundenverweigert. Nach den Erhebungen desKoordinierungsbüros haben allein indiesem Jahr circa 30 Fabriken geschlos-sen. Davon seien 5.000 Arbeitnehmerbetroffen. Ferner hätten sechs Unter-nehmen ihre Betriebe „umfirmiert“ unddie Betroffenen unter Androhung vonZahlungsverweigerung oder Kündi-gung zur Übernahme der Arbeitsver-träge gezwungen. Nach den Schilde-rungen von Rosa Escobar wird den Fa-briken zehn Jahre Steuerfreiheit ge-währt. Wenn diese Frist ausläuft, wür-den die Firmen häufig geschlossen unddie Arbeiter oftmals ohne Bezahlung

zurückgelassen. Danach wer-de die Firma unter neuen Na-men in das Handelsregister ein-getragen. Dadurch beginne dieFrist der Steuerbefreiung von neuem.Auch sei es üblich,so Rosa Escobar,dassdie Firmen zehn Jahre Steuerfreiheit ge-nössen und nach diesem Zeitpunkt ihreTore schlössen, das Land verließen undoftmals die Arbeiter ohne Bezahlungzurücklassen würden. Quelle Poonal

Kasachstan: EU-Einflussnahme vorden WahlenZur Vermeidung von Umsturzversuchenbietet das rohstoffreiche KasachstanBerlin und der EU engere Wirtschafts-beziehungen an. Das Land steht vorPräsidentschaftswahlen, die prowestli-che Kreise zu Drohungen gegen die Re-gierung nutzen. Wie der Ministerpräsi-dent Kasachstans, Danial Achmetow,mitteilte,bietet seine Regierung der Eu-ropäischen Union eine Intensivierungder Zusammenarbeit in der Industrie-produktion und auf dem Gebiet derHochtechnologie an.Die Offerte steht inunmittelbarem Zusammenhang mit denbevorstehenden Wahlen. Ursächlich fürdas geopolitische Einflussstreben sinddie immensen Energieressourcen Ka-sachstans, von deren Nutzung sich Ber-lin und Brüssel eine Diversifizierung ih-rer Rohstoff-Abhängigkeit erhoffen.„Unsere Politik ist (…) um eine unge-hinderte Lieferung von Öl und Gas be-müht“, erklärt der EU-Vertreter in demzentralasiatischen Staat, Adrian vander Meer. Bei seiner Einflussarbeit inKasachstan stützt sich die Bundesre-gierung auch auf Wirtschaftsverbändeder rund 230.000 Personen umfassen-den deutschsprachigen Minderheit. ImMärz 2004 ist im Anschluss an einen Be-such des deutschen Kanzlers die„Deutsch-Kasachstanische Assoziationder Unternehmer“ (DKAU) gegründetworden. Die Gruppierung will die Wirt-schaftsbeziehungen zwischen den bei-den Staaten fördern und zählt auf ka-sachischer Seite insbesondere Angehö-rige der deutschsprachigen Kasachenzu ihren Mitgliedern. Präsident der Or-ganisation ist Alexander Dederer, derVorsitzende des Rates der Deutschen inKasachstan, einer Mitgliedsorganisa-tion der in der Bundesrepublik ansässi-gen Föderalistischen Union Europäi-scher Volksgruppen (FUEV). Geschäfts-führer ist ein deutscher Bundesbürger,der vom Frankfurter Centrum für inter-nationale Migration und Entwicklung(CIM) entsandt worden ist; seine Arbeitwird vom CIM gemeinsam mit der Ge-sellschaft für Technische Zusammenar-beit (GTZ) bezahlt. Die DKAU gibt an,von weiteren deutschen Stellen (Aus-wärtiges Amt, Innenministerium, Deut-sche Botschaft) unterstützt zu werden.www.german-foreign-policy.com

Zusammenstellung: hav

Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) konnte sich auf ihrem Gipfel imargentinischen Mar del Plata am vergangenen Wochenende nicht auf ein weiteresgemeinsames Vorgehen über die geplante Gesamtamerikanische FreihandelszoneALCA einigen. Die Mercosur-Staaten (Argentinien, Brasilien, Uruguay und Para-guay) sowie Venezuela machten eindeutig Front gegen die ALCA-Pläne, vor allemda die US-Regierung nicht für den Abbau ihrer Agrarsubventionen zu haben war.Im Anschluss an einen viertägigen „Gipfel der Völker“ demonstrierten parallel zumOAS-Treffen in Mar del Plata mehrere Zehntausend gegen Freihandel und Bush.

Quelle: Indymedia

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10 REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES • PB 23/200510 REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES • PB 23/2005

Bürgerbegehren in Pforzheim„Busse weiter in Bürgerhand“PFORZHEIM. Seit 7. November 2005 sam-melt das Pforzheimer Bündnis Unter-schriften gegen die Privatisierung desöffentlichen Busverkehrs: Mit diesemBürgerbegehren beantragen die Unter-zeichnerInnen einen Bürgerentscheidüber folgende Frage: „Sind Sie dafür,dass die Städtischen VerkehrsbetriebePforzheim (SVP) auch künftig als kom-munaler Eigenbetrieb geführt und nichtprivatisiert werden? Begründung: 1.Eu-ropäische Studien belegen, dass keinePrivatisierung von Verkehrsbetriebenzu wesentlichen und vor allem dauer-haften Kostensenkungen führte. Euro-paweit liegt der Zuschussbedarf sowohlkommunaler als auch privatisierter Ver-kehrsbetriebe bei ca. 30% der Gesamt-betriebskosten. 2. In vielen Gemeindenwird nach der Privatisierung der Verlustdemokratischer Kontrolle und Ein-flussnahme durch den Gemeinderat be-klagt. 3. Erfahrungsgemäß wirken sichPrivatisierungen durch langfristig stei-gende Preise zu Lasten einkommens-schwacher Bevölkerungsteile aus. Des-halb gab es schon über zwei Dutzend er-folgreiche Bürgerentscheide gegen Pri-vatisierungen in Deutschland.4.Die be-reits in den letzten Jahren erzielten Ein-sparungen von nahezu 2 Mio. Euro be-legen, dass ein kommunaler Eigenbe-trieb SVP kostengünstig und effizientsein kann.“

Unterschreiben mehr als 8.400 Bürgerin den nächsten Wochen das Bürgerbe-gehren für „Busse weiter in Bürger-hand“(BIB), so wird nach den Plänendes Aktionsbündnisses zwingend mitder Landtagswahl 2006 zum ersten Mal

ein Bürgerentscheid in Pforzheim statt-finden. http://bib.weisenbacher.de/

html/index.php

„Mehrwertsteuer? Finger weg!Es gibt Alternativen!“ BERLIN. Attac, Campact, IG Metall unddas Tax Justice Network haben am10.11.2005 eine Kampagne unter demMotto „Mehrwertsteuer? Finger weg! Esgibt Alternativen!“ gestartet. Sie for-dern von SPD und Union, auf eine Er-höhung der Mehrwertsteuer zu verzich-ten.Stattdessen sollen Steuerschlupflö-cher geschlossen sowie große Vermögenund Unternehmensgewinne angemes-sen besteuert werden. Zudem forderndie Organisationen,dass die Steuerprü-fung von einer Länder- zur Bundesauf-gabe wird. Damit könnte Steuerbetrugeffektiver bekämpft werden. Um diesenForderungen Nachdruck zu verleihen,werden die Bürgerinnen und Bürgernun dazu aufgerufen, der SPD die eige-nen Argumente gegen die „Merkelsteu-er“ aus dem Wahlkampf zurück zu schi-cken. Über die Internet-Seite könntenz.B. automatisch E-Mails versandt wer-den. www.campact.de

„Marsch aus den Institutionen –Reißt die Mauern nieder“COBURG. Die Kampagne „Marsch ausden Institutionen – Reißt die Mauernnieder“ hat in Coburg Station gemacht.Behinderte wollen mehr als nur eine„Satt und Sauber-Versorgung“. Rund40 Interessierte fanden den Weg ins Co-burger Kongresszentrum Rosengarten,um sich über die praktischen und recht-lichen Möglichkeiten eines selbstbe-stimmten Lebens mit Behinderung zuinformieren. Der Einladung der Behin-dertenselbsthilfe Coburg gefolgt warenElke Bartz und Ottmar Miles-Paul vomForum selbstbestimmter Assistenz be-hinderter Menschen (ForseA e.V.), diedie Kampagne initiiert und koordinierthatten. www.kobinet-nachrichten.org

Erwerbslose leiden unter Ausschlussvom gesellschaftlichen LebenFREIBURG. Der ver.di Erwerbslosenaus-schuss Südbaden hat sich in seiner Sit-zung am 4.11.05 in Freiburg mit denjüngsten Äußerungen des Bundesar-beitsministers Clement zu angeblichenMissbrauchsfällen beim ALG II befasstund stellt dazu fest: Erwerbslose wollensich nicht länger als Sozialschmarotzerverunglimpfen lassen. Clement ver-sucht mit seinen Beschimpfungen da-von abzulenken, dass Zweifel an derVerfassungsmäßigkeit des Hartz IV Ge-setzes nicht nur von Betroffenen, son-dern auch von Experten erhoben wer-den. So hält Dr. Uwe Berlit, Richter amBVerwGe, diese für berechtigt, weil dasSozialstaatsgebot des Grundgesetzesdurch die Abschaffung des Bedarfsde-ckungsprinzips nicht verwirklicht wur-

GIEßEN.„Kinderherzzentrum Ja – Privatisierung Nein danke“,unter diesem Mot-to fand am 31.10. in Gießen anlässlich des Besuchs von Roland Koch (zum Richt-fest des Kinderherzzentrums) ein Aktionstag mit Fackelzug statt (Bilder).An die-sem Tag startete auch offiziell die Unterschriftenaktion für ein Volksbegehren.Zuvor war am 25.Oktober in Marburg die „Initiative Volksbegehren – Gegen Uni-klinik-Privatisierung“ gegründet worden. Ziel der basisdemokratischen Initia-tive ist die Verhinderung der Privatisierung des Uniklinikums Gießen und Mar-burg durch ein Volksbegehren. Gründungsmitglieder der überparteilichen Initi-ative sind AktivistInnen von attac,der Humanistischen Union in Hessen,des All-gemeinen Patientenverbandes, von Mehr Demokratie e.V., von ver.di, des Perso-nalrates des Uniklinikums, von Die Linke., der WASG und unabhängige, nichtin Vereinen oder Verbänden organisierte Personen. Michael Weber, einer der Ini-tiatoren sagt: „Für mich war die Tatsache, dass Roland Koch die über 30.000Unterschriften,die die Bürgerinitiative „Rettet-die-Klinika“ in wenigen Wochengesammelt hatte, im Endeffekt einfach schulterzuckend in die Tonne hat klop-fen lassen, ausschlaggebend dafür, mich an diesem Vorhaben zu beteiligen. Ichhoffe darauf, dass wir viele Menschen in ganz Hessen dafür gewinnen können,sich aktiv an der Sammlung der Unterschriften für die Zulassung des Volksbe-gehrens zu beteiligen. Auch möchten wir angesichts der inakzeptablen Hürdeneiner völlig veralteten Volksbegehrenprozedur das Bewusstsein der Bevölkerungfür demokratische Missstände in Hessen schärfen. Sollte uns dieses Vorhabennicht gelingen, mache ich mir nicht nur ernsthafte Sorgen um die Arbeitsplätzevon bis zu 30% der Klinikbeschäftigten, sondern auch um die Zukunft von For-schung und Lehre in Gießen, Marburg und in Kürze natürlich auch Frankfurt.Ich betrachte die Privatisierungsbestrebungen als einen gezielten Anschlag aufzentrale Wissenschaftsstandorte in Hessen.“ www.klinika-volksbegehren.de

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PB 23/2005• REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES 11

de. Der Regelsatz des ALG II ist nichtarmutsfest, weil eine Vielzahl einmali-ger Leistungen pauschal hineingerech-net wurden. Mit Leistungen, die nichtdas Existenzminimum abdecken, lässtsich schlecht schmarotzen … Deshalbhält der Erwerbslosenausschuss die Er-höhung des Regelsatzes ist für ein men-schenwürdiges Leben aller Erwerbslo-ser für unverzichtbar! Unabhängig vondieser Forderung unterstützt der ver.diErwerbslosenausschuss Südbaden aus-drücklich die Forderungen des RundenTisches Freiburg, einen Freiburg Passund ein Sozialticket für alle BürgerIn-nen mit geringem Einkommen einzu-führen. Der Runde Tisch führt hierzu inFreiburg eine Unterschriftensammlungsowie eine Aktionswoche vom 21. bis25.11.05 durch. http://stattweb.de

Sternmarsch am 5.11. „Gegen diegroße Koalition der Sozialräuber“BERLIN. Nach Schätzungen der Polizeikamen rund 4.000, nach denen derMLPD waren 25.000 in Berlin.„Wer die-sen Wahnsinn unterstützt,dass 35 Milli-arden Euro eingespart werden sollen,kann ja nur noch Sozialabbau, die He-raufbeschwörung von Minuswachstumund drastische Konsumzurückhaltungwollen“, erklärte Martin Behrsing vomErwerbslosen Forum Deutschland.„Wirwissen nicht, ob eine zukünftige Regie-rung sich bewusst ist, welchen sozialenSprengstoff sie hier erzeugt!“ Auf Pla-katen standen Parolen wie „Weg mitHartz IV, das Volk sind wir“ oder „Fin-ger weg von Löhnen und Renten“.www.bundesweite-montagsdemo.com

Fußball WM 2006: Rote Karte fürZwangsprostitutionBERLIN. Auf seiner Mitgliederversamm-lung hat der Deutsche Frauenrat am6.11.2005 beschlossen, seine bisherigenAktivitäten gegen Menschenhandel undZwangsprostitution im Rahmen derFußball-WM 2006 mit einer Kampagnefortzusetzen. Hintergrund ist die zu er-wartende Zunahme von Prostitution anden Austragungsorten der Spiele. NachAngaben der Evangelischen Kirchewerden 40.000 Zwangsprostituierteextra zur Fußballweltmeisterschaft2006 nach Deutschland gebracht. Fürdie Kampagne soll ein breites Bündnisaus Frauen- und Menschenrechtsorga-nisationen, Kirchen, Gewerkschaftenund Einzelpersonen geschlossen wer-den.Als Unterstützer angefragt werdenauch noch einmal die nationalen undinternationalen Organisatoren der Fuß-ball-Weltmeisterschaft, der DeutscheFußballbund, die Nationalspieler unddie OberbürgermeisterInnen der zwölfSpielstätten. Die Kampagne verfolgtdrei Ziele: • Sensibilisierung der Öf-fentlichkeit • Sensibilisierung poten-zieller Freier • Forderungen an die po-

litisch Verantwortlichen. Eine generelleBestrafung von Freiern lehnt der Deut-schen Frauenrat ab. Denn er sieht dar-in „die Gefahr einer Kriminalisierungvon Prostitution und von Prostituierten.Dies würde den Errungenschaften desProstitutionsgesetzes, das die Rechtevon Prostituierten gestärkt hat,zuwiderlaufen“, heißt es in der Resolution.Gleichzeitig fordert der DeutschenFrauenrat deutlich verbesserte Maß-nahmen zum Schutz der Opfer von Men-schenhandel sowie weitergehende Prä-ventionsmaßnahmen in den Herkunfts-ländern und deren Unterstützung durchdie Zielländer. www.frauenrat.de

Neonazis konnten in Potsdam undHalbe gestoppt werdenPOTSDAM/HALBE. Gleich zwei Mal ge-lang in den letzten Tagen antifaschisti-schen Bündnissen, Aufmärsche vonNeonazis in Berlin und Brandenburg zustoppen.5.000 Demonstranten stopptenam Samstag, dem 5.11., einen Auf-marsch von etwa 250 Neonazis unterFührung des Hamburgers ChristianWorch. Mehr als 2.000 Polizeibeamteaus fünf Bundesländern waren nachPotsdam beordert worden, nachdemVersuche, den Nazi-Aufmarsch auf ge-richtlichem Weg zu untersagen,geschei-tert waren. Die Taktik der antifaschis-tischen Gegendemonstranten orientier-te sich am erfolgreichen Vorgehen am 8.Mai 2005 in Berlin. Damals hatten sichTausende Gegendemonstranten demNazi-Aufmarsch in den Weg gestellt undjede Räumung der Straße verweigert.Die Polizei war gegen die Blockadenicht eingeschritten, die Nazis konntenihren Versammlungsort nicht verlassenund mussten schließlich wieder abzie-hen. So auch dieses Mal in Potsdam.Mehr als 2.000 Demonstranten, unterihnen auch Potsdams Oberbürgermeis-ter Jacobs (SPD), blockierten alle Stra-ßen vom Versammlungsort der Nazi-Demo in Richtung Innenstadt. Auffor-derungen der Polizei, die Straße zu räu-men, wurden ignoriert, die Polizei hieltihre Wasserwerfer und Räumungspan-zer im Hintergrund und schritt gegendie Blockade nicht ein, mit der Folge,dass die Nazis ihren Marsch abbrechenund wieder in die Züge steigen mussten.Kurz nach 15 Uhr meldete dann ein Ber-

liner Neonazis überraschend eine zwei-te Demonstration in Berlin an.Um 17.40Uhr begann der kurze Aufzug mit noch200 Nazis, die eine halbe Stunde späterwieder abbrachen, bevor sich mehrGegendemonstranten versammelten.

Ähnlich am 12.11. in Halbe. Nachdemdas Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg am Freitag einen Nazi-Aufmarsch zur Glorifizierung von Waf-fen-SS und Wehrmacht bis zum Fried-hofsvorplatz unverständlicherweise ge-nehmigt hatte, versammelten sich 2.200Menschen, darunter auch Politiker vonSPD, CDU und Linkspartei.PDS, imOrtszentrum von Halbe,um den von denNazis geplanten Schweigemarsch zumWaldfriedhof zu stoppen. Die Polizeiverzichtete darauf, die Blockade zu be-enden, die etwa 1.700 Neonazis kamennicht durch und zogen am Abend ohneErfolg wieder ab. rülBerliner Zeitung, 7.11., Tagesspiegel, 13.11.

7.000 Menschen demonstrierten am5.11. in Lüneburg gegen AtomkraftLÜNEBURG.Gegen den Weiterbetrieb derAtomkraftwerke und für den forciertenAusbau der Erneuerbaren Energien de-monstrierten am 5.11. in Lüneburg7.000 Mensche. Zu den Protesten hatten40 Organisationen aufgerufen,darunterAnti-Atom-Initiativen, Umweltver-bände, Förderer Erneuerbarer Ener-gien, Friedensgruppen und Globalisie-rungskritikerInnen. Sie verstehen dieDemonstration auch als Auftakt einerneuen Protestbewegung gegen die Ener-giepolitik der großen Koalition. Fortge-setzt werden sollen die Aktionen beimnächsten Castor-Transport in die ober-irdische Atommüll-Lagerhalle nachGorleben vom 19. bis 22. November.www.x1000malquer.de

DFG-KV fordert von DaimlerChryslerAusstieg aus RüstungsproduktionVELBERT. Der größte Anteilseigner ameuropäischen Rüstungsriesen EADSwar und ist DaimlerChrysler AG mit ei-nem Aktienpaket von rund 30%.Wie derDFG-VK Bundessprecher und Buchau-tor Jürgen Grässlin in seinem neuenBuch „Das Daimler-Desaster – vom Vor-zeigekonzern zum Sanierungsfall?“ ein-drucksvoll darstellt, entkleidet sich derKonzern jeglicher ethischer Verantwor-tung und rüstet insbesondere über dieeuropäische Rüstungsschmiede EADSweltweit kräftig mit.EADS rechne 2005mit weiterem Wachstum im so genann-ten „Verteidigungsgeschäft“ und peiltezu Beginn dieses Jahres ein Umsatzzielvon 10 Milliarden Euro an.Die DFG-VKfordert DaimlerChrysler zum Ausstiegaus der Rüstungsproduktion auf undkündigt für das Jahr 2006 eine Postkar-tenaktion an.www.deutsche-friedensgesellschaft.de

Zusammenstellung: baf

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12 REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES • PB 23/2005

Knapp 400 Kommunalpolitiker,Verwal-tungsvertreter, Gewerkschafter undMitglieder von Organisationen wie at-tac beteiligten sich vom 22.-23.10.2005am „Ersten Europäischen Kongress lo-kaler Verwaltungen zur Förderung öf-fentlicher Dienstleistungen“. Eingela-den hatte der Bürgermeister der StadtLiège in Belgien, Willy Demeyer (PartiSocialiste). Aktuelle Bedeutung hattedie Konferenz, um kurz vor dem Hong-kong-Gipfel der Welthandelsorganisa-tion (WTO) im Dezember länderüber-greifend Position gegen den Privatisie-rungsdruck der Verhandlungen über einneues Welthandelsabkommen (GATS)zu beziehen.

Einhellig forderte die Konferenz in ei-ner Resolution das Ende der GATS-Ver-handlungen und die Rücknahme der„Bolkestein-Richtlinie“ zur Vergabevon Dienstleistungen in der EU nachdem Herkunftsprinzip.

Zuvor hatten die überwiegend ausBelgien und Frankreich angereistenTeilnehmer zwei Tage lang über die Fol-

gen der Privatisierung öffentlicherDienstleistungen in Europa und dieMöglichkeiten der Gegenwehr disku-tiert.

„Der Einfluss des GATS und der EU-Direktiven auf die lokalen Verwaltun-gen und Dienste“, „Welche öffentlichenDienste für welches Europa?“ und „Fi-nanzierung der öffentlichen Diensteund Steuerwesen“ lauteten die drei Fo-ren am Samstag Nachmittag. Eine ita-lienische Stadtverordnete aus Turin be-richtete z.B. vom erfolgreichen Kampfgegen die Privatisierung der Wasserver-sorgung und Alternativmodelle, mit de-nen nachgewiesen werden konnte, dasseine Wasserversorgung in öffentlicherHand qualitativ besser und trotzdembilliger betrieben werden kann, als vonPrivaten, die Profit machen wollen.

Im Plenum kamen Gewerkschafterwie Mike Waghorne (Sekretär der Inter-nationale des Services Publics) zu Wort,ein Vertreter des Bürgermeisters derStadt Genf – eine der europäischenGroßstädte, die sich zur „GATS-freien

Zone“ erklärt haben – und der Philo-soph Henri Pena-Ruiz, Autor des Bu-ches „Lektionen über das Glück – Eslebe der öffentliche Dienst!“

Am Samstagnachmittag wurde dieDiskussion von der Bezirksbürgermeis-tern von Berlin-Lichtenberg, ChristinaEmmerich geleitet, die als Teil der De-legation der Linkspartei.PDS an derKonferenz teilnahm.

Professor R. Petrella (UniversitätLouvain-La-Neuve) rief dazu auf,„hart“ zu sein gegenüber den radikalenPrivatisierern und erörterte die Frage,inwieweit die Verteidigung öffentlicherDienstleistungen ein Gegensatz gegeneine „neoliberale Politik des Marktes“ist. Etwas religiös wurde es, als er dafüreintrat, wie in früheren Kulturen dasWasser wieder „heilig“ zu sprechen.Man könnte die Frage, was zu einer öf-fentlich zu garantierenden Grundver-sorgung gehört, auch nüchterner disku-tieren. Angesprochen wurde in diesemZusammenhang z.B. die Alterung derGesellschaften, aus der sich neue Auf-gaben für öffentliche Dienstleistungenergeben.

J.Nikonof,Präsident von attac Frank-reich erläuterte, dass die niedrigen Ein-kommensschichten auf öffentlicheLeistungen der Daseinsvorsorge ange-wiesen sind. Mehrere Diskussionsteil-nehmer hoben darauf ab, dass es nichtum die Verteidigung des „Status quo“gehen kann, einschließlich verkrusteterbürokratischer Strukturen, sondernPrivatisierungen nur verhindert werdenkönnen,wenn der direkte Einflusses derEinwohner auf die Gestaltung undDurchführung Öffentlicher Dienstleis-tungen ausgeweitet wird.

Andere machten deutlich, dass GATSund auch die Bolkestein-Richtlinie denkommunalen Handlungsspielraumuntergraben: „Uns muss es um den Zu-sammenhalt der Menschen vor Ort ge-hen, kommunal. Und der wird nichtdurch den Wechselkurs bestimmt.“

Interessant war, dass sich offensicht-lich insbesondere im französischenSprachraum und in Italien breite Fron-ten gegen eine Privatisierungspolitikbilden, die mehr oder weniger deutlichdie Stärkung kommunaler Strukturenwollen.Die Konferenz wurde von vielenals ein erster Schritt zur Vernetzung ver-standen, nicht nur der Kommunenuntereinander, sondern auch mit Ge-werkschaften, Initiativen usw. Gegendie Bolkestein-Richtlinie demonstrier-ten am 15.10.2005 in Rom 50.000 Men-schen. Weitere, europaweite Aktionensind geplant. Geplant ist u.a. ein Ak-tionstag Mitte Januar mit einer Demon-stration in Strasburg. Die Stadt Genfhat sich bereit erklärt, zusammen mitder Vereinigung L’Accord général sur lecommerce des services (AGCS) einenächste Konferenz auszurichten.

Wolfgang Freye

Europäischer Kongress der lokalen Verwaltungen zur Förderung der öffentlichen Dienstleistungen

Beschluss des Kongresses

Wir widersetzen uns• der Liberalisierung durch die Welt-handelsorganisation (WTO), durch diesämtliche Dienste über das Notwendi-ge hinaus ausschließlich dem Wettbe-werb unterworfen werden sollen …• den europäischen Direktiven,die diePrivatisierung der öffentlichen Handund insbesondere der lokalen öffent-lichen Dienste beabsichtigen.• die Zerschlagung der kommunalenöffentlichen Dienste durch unsere ei-genen Regierungen.

Wir bekämpfen• die Perspektive, dass der Zugang zusubstanziellen Gütern ohne Rücksichtauf ihre soziale Nützlichkeit der spe-kulativen Gier der Märkte unterwor-fen wird.• eine liberale Normierung,der die po-litischen Entscheidungen unterworfensind und die die sozialen Ungleichhei-ten, die Konkurrenz unter den Arbei-tenden, die territorialen Unterschiedeund die weltweiten Unausgewogen-heiten verschlimmert.• die Bevormundung der lokalen Ver-waltungen durch die WTO, die in ih-rem freien Handlungsspielraum ein-geschränkt werden.

Wir unterstreichen, dass• zur Wahrung der Menschenrechte öf-fentliche Schutzeinrichtungen nötig

sind,die nach solidarischen Prinzipienorganisiert sind – hinsichtlich der Ver-waltung ebenso wie bei der Finanzie-rung durch einer gerechtere Steuerpo-litik …• ohne öffentliche Dienste keine aus-gewogene menschliche Entwicklungunter Beachtung sozialer und demo-kratischer Rechte möglich ist, weil siefür die Bürger unabdingbar sind …

Wir … fordern• das Ende der GATS-Verhandlungenin der WTO.• die Herausnahme der Sektoren, dieder Daseinsfürsorge dienen (Wasser,Gesundheit, Bildung, Energie, Trans-port, sozialer Schutz, Kultur, Lebens-mittel) und das Verbot der Kommerzi-alisierung menschlicher Verhältnisse…• die faktische Rücknahme der so ge-nannten „Bolkestein-Direktive“ undaller Direktiven, die die öffentlichenDienste betreffen (Transport u.a.) …

Daher• werden wir jede Gelegenheit ergrei-fen, um diese Forderungen hervorzu-heben …• schlagen wir allen Netzwerken(Bürgern, Gewerkschaften, Volksver-tretern) vor, eine Vernetzung aufzu-bauen … um die öffentlichen Aufga-ben als angemessene Antwort auf diesozialen, wirtschaftlichen und ökolo-gischen Herausforderungen auf allenEbenen … nicht nur aufrechtzuerhal-ten sondern auch zu fördern.

Lüttich, 23. Oktober 2005

Europäischer Kongress lokaler Verwaltungen zur Förderung öffentlicher Dienstleistungen

Privatisierungsgegner vernetzen sich europaweit

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PB 23/2005• REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES 13

Nach der Zusammenlegung von Arbeitslo-sen- und Sozialhilfe leben 2005 etwa 6,8Millionen Menschen in Deutschland auf demEinkommensniveau der Sozialhilfe. Davonsind etwa 1,8 Millionen Kinder unter 16 Jah-ren. Das Problem von Armut und Ausgren-zung hat eine neue Dimension gewonnenund muss auch von den Parteien, die an-streben die neue Bundesregierung zu bilden,besondere Beachtung erfahren.

Vor diesem Hintergrund fordern wir vorran-gig:

Armuts- und Reichtumsberichterstattung

fortführen

Zweifelsfrei geht die Einkommenssche-re in der Bundesrepublik Deutschlandauseinander.Reiche werden reicher undimmer mehr Menschen stehen außer-halb der Wohlstandsgrenzen.Diese Ent-wicklung ist nicht gewollt.

Deshalb darf man vor ihr nicht die Au-gen verschließen und muss sich intensivmit ihr auseinander setzen.Die Armuts-und Reichtumsberichterstattung mussweiterhin eine feste Aufgabe derBundesregierung bleiben, auch wenndie gewonnenen Daten – insbesonderenach der Zusammenführung von Ar-

beitslosen- und Sozialhilfe – unbequemsind. Länder und Kommunen müssenmit ihren eigenen Berichten in den Pro-zess stärker als bisher integriert wer-den.

Jeden arbeitslosen Menschen angemes-

sen fördern

Auch für Menschen in besonderen Pro-blemsituationen darunter vor allem dieLangzeitarbeitslosen müssen genau wiefür alle anderen Menschen ohne Ar-beitsplatz angemessene Integrations-wege bereit gestellt werden.

Die bisherige Praxis nach Inkrafttre-ten der Arbeitmarktreformen zeigt,dassdie Konzentration der JobCenter auf die„Ein-Euro-Jobs“ unter den Maßnah-men kaum sinnvoll ist,da sich nach demAuslaufen dieser kurzfristigen Maß-nahmen die Situation für die Betroffe-nen nicht ändert. Deshalb sind wiedermehr Maßnahmen zur (Berufs-)Ausbil-dung und zur Schaffung von sozialver-sicherungspflichtiger Beschäftigunganzustreben und vor allem die dafür zurVerfügung stehenden Etats zu nutzen.

Regelsätze erhöhen und sachgerecht

fortschreiben

Das monatliche Einkommen für sieben

Millionen Menschen in Deutschlandrichtet sich zu einem großen Teil nachden Regelsätzen der Sozialhilfe bzw.desArbeitslosengelds II. Diese Regelsätzeunterliegen seit Jahren aus fiskalischenGründen einer Deckelung.De facto sinddie zur Verfügung stehenden Einkom-men mit der Ausweitung der Zuzah-lungspflicht in der Gesetzlichen Kran-kenversicherung sogar gesenkt worden.Auch anlässlich der Auswertung derneuen Einkommens- und Verbrauchs-stichprobe müssen die Regelsätze end-lich wieder auf ein angemessenes Ni-veau gebracht werden. Bei der Fort-schreibung sind besondere Umstände(z.B. eine Mehrwertsteuererhöhungoder die weitere Kürzungen der Lern-mittelfreiheit) zeitnah zu berücksichti-gen.

Wohnung für Arbeitslosengeld-II- und

Sozialhilfeberechtigte sichern

Da im Jahr 2005 für die Wohnkostenzu-schüsse der etwa vier Millionen Perso-nen, die zuvor nicht auf dem Sozialhil-feniveau lebten, nun auch die Angemes-senheitsgrenzen der Sozialhilfe geltenund diese Werte vielerorts nicht aktuellsind, bangen viele Menschen mit gerin-gem Einkommen um ihre Wohnung.Das

FREIBURG/BERLIN. Die Nationale Ar-mutskonferenz (nak) fordert die künfti-ge Große Koalition zu deutlichen Maß-nahmen zur Bekämpfung von Armutund Benachteiligung auf.Anlässlich derMitgliederversammlung der NationalenArmutskonferenz in Frankfurt appel-lierte nak-Sprecher Hans-Jürgen Mar-cus an die Politik, über von Armut be-drohte Menschen mit Respekt zu be-richten.

„Dass es Missbrauch gibt, kann nichtabgestritten werden. Aber er darf nichtverallgemeinert werden“,sagte Marcus.Zugleich forderte der nak-Sprechermehr Chancengleichheit bei Bildungs- und Jugendhilfeleistungen. Vor demHintergrund auseinanderklaffenderLeistungsniveaus von Schülern aus rei-chen und armen Elternhäusern trotzgleicher Intelligenz und gleichem Wis-sensstand sei unübersehbar, dass dieWeichen für mehr Chancengleichheitbereits im Kleinkindalter gestellt wer-den müssten.Wesentliche Voraussetzun-gen dafür seien „Lernmittelfreiheit,Senkung bzw. Abschaffung von Eltern-beiträgen und besondere Förderung bei

festgestellten Defiziten“. Angesichtsvon 1,8 Millionen von Armut betroffe-nen Kindern unter 16 Jahren inDeutschland sei die Fortführung der Ar-muts- und Reichtumsberichterstattungunverzichtbar.Marcus: „Armutsberich-te müssen feste Aufgabe der Bundesre-gierung bleiben, auch wenn die gewon-nenen Daten infolge der Zusammen-führung von Arbeitslosen- und Sozial-hilfe unbequem sind.“

Generell seien die Regelsätze „endlichwieder auf ein angemessenes Niveau zubringen“.

Zusätzlich muss die Leistung um ei-nen Betrag erhöht werden, der es armenMenschen ermöglicht, sich die nötigenzuzahlungspflichtigen Gesundheits-leistungen auch tatsächlich beschaffenzu können. Bei dieser Fortschreibungseien besondere Umstände, etwa eineMehrwertsteuererhöhung oder weitereKürzungen der Lernmittelfreiheit,„zeitnah zu berücksichtigen“.

Um arbeitslose Menschen angemes-sen zu fördern, plädiert die NationaleArmutskonferenz ferner für eine Rück-kehr zu „mehr Maßnahmen zur Berufs-

Dokumentiert: Resolution der nak (Nationale Armutskonferenz) anlässlich ihrer Mitglie-derversammlung und der Neubildung der Bundesregierung

Resolution an zukünftige Bundesregierung / Regelsätze müssen wieder

auf angemessenes Niveau

Nationale Armutskonferenz fordert Maßnahmen gegen Armut und Benachteiligung

ausbildung und zur Schaffung sozial-versicherungspflichtiger Beschäftigun-gen“. Hierfür seien alle zur Verfügungstehenden Etats zu nutzen.

Die Resolution geht heute allen an derRegierungsbildung beteiligten führen-den Politikerinnen und Politikern zu.

Kontakt: Dr. Hans-Jürgen Marcus,Sprecher Nationale Armutskonferenz,Direktor des Diözesancaritasverbandesfür die Diözese Hildesheim, Moritzber-ger Weg 1, 31139 Hildesheim, Tel.: 0 5121/938-101, Mobil 0171/26 00 785

Die Nationale Armutskonferenz (nak)ist ein Zusammenschluss der Spitzen-verbände der Freien Wohlfahrtspflege,bundesweit tätiger Fachverbände undSelbsthilfeorganisationen und desDeutschen Gewerkschaftsbundes. DieKonferenz gründete sich im Herbst 1991als deutsche Sektion des EuropäischenArmutsnetzwerkes.

Arbeiterwohlfahrt Bundesverband – Armut undGesundheit in Deutschland e.V. – BAG der Er-werbslosen- und Sozialhilfeinitiativen – Bundes-verband – Deutsche Tafel – BAG Schuldnerbera-tung – BAG Soziale Stadtentwicklung und Ge-meinwesenarbeit – BAG Wohnungslosenhilfe –Deutscher Bundesjugendring – – Deutscher Cari-tasverband – Deutscher Gewerkschafts bund –Deutsches Rotes Kreuz – Diakonisches Werk derEKD – Paritätischer Wohlfahrtsverband – Zen-tralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland

www.nationale-armutskonferenz.de/publications/NAK_40.pdf

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14 REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES • PB 23/2005

Bundesbeteiligung anWohnkosten muss stei-

gen! BERLIN. Am10.11.2005 sind die Ergeb-

nisse der sog. „Kommunaldatenerhe-bung“ veröffentlicht worden. Die Be-rechnungen weisen signifikante Mehr-kosten bei den Kommunen auf. Insge-samt besteht für die kommunale Ebe-ne im Vergleich zu den Schätzungen desBundeswirtschaftsministers ein um4,07 Mrd. Euro höherer Finanzbedarf.Der Bund muss demzufolge seine Be-teiligung an den kommunal aufzubrin-genden Wohnkosten in Höhe von der-zeit 29,1% auf 34,4% anpassen, um imErgebnis die versprochene Entlastungfür die Kommunen in Höhe von 2,5Mrd.Euro sicherzustellen. Im Vergleichzu den Schätzungen der Bundesregie-rung, die ihren Zuschuss komplettstreichen will,ergibt sich damit eine er-hebliche Finanzierungslücke. Eine ge-meinsame Arbeitsgruppe aus Vertre-tern der kommunalen Spitzenverbän-de, der Bundesländer und des Statisti-schen Bundesamtes hat für die ersteJahreshälfte 2005 die Be- und Entlas-tungswirkungen der Hartz IV-Reformbei ausgewählten Kommunen undLandkreisen erhoben. Die Daten wur-den in einem aufwändigen Verfahrenaus dem laufenden Verwaltungsbetrieberfasst. Damit liegt nun erstmals eineverlässliche statistische Grundlage derfinanziellen Auswirkungen der HartzIV-Gesetzgebung auf die Kommunale-bene für die Revisionsverhandlungenvor, die die Kostenwirkungen realis-tisch abbildet. www.dstgb.de

VKU sieht erfreuliche Perspektivenin der Energie- und Wasserpolitik.KÖLN. Der Verband kommunalerUnternehmen e.V. (VKU), der 1.400kommunale Versorgungs- und Entsor-gungsunternehmen vertritt, sieht inden energie-, wasser- und abfallpoliti-schen Passagen des Koalitionsvertra-ges von SPD und CDU/CSU erfreuli-che Perspektiven. Insbesondere be-grüßt der VKU die Absicht der neuenBundesregierung,den „Ausbau von de-zentralen Kraftwerken und hocheffi-zienten KWK-Anlagen zu fördern“.Auch die Aussagen im Koalitionsver-trag zum Erneuerbaren Energien Ge-setz, wonach die wirtschaftliche Effi-zienz und die Vergütungssätze für dieeinzelnen Erzeugungstechnologienüberprüft werden sollen, werden vomVKU geteilt. Hierbei sollten jedoch dieInteressen der Anlagen- und Netzbe-treiber gleichermaßen berücksichtigtwerden,sagte Schöneich.Besonders er-freut zeigt sich der VKU über das kla-re Bekenntnis der zukünftigenBundesregierung,die Kommunen auchin Zukunft eigenständig über die Or-ganisation der Wasserversorgung wie

Kommunale

Politik

Wort „Zwangsumzug“ empfinden vieleals schwere Bedrohung. Hier ist zu-nächst einmal das Gesetz auszufüllenund nicht überzuinterpretieren.

Die früheren Entscheidungen der Ver-waltungsgerichte, auf denen die heuti-gen der Sozialgerichte aufbauen, gebendafür einen Orientierungsrahmen. Inallen Kommunen sind die Angemessen-heitsgrenzen unter vergleichbarenMaßstäben und unter Beachtung des aufdem Wohnungsmarkt Realisierbarenaktuell zu definieren. Wenn die Woh-nung tatsächlich erheblich oberhalb derGrenze liegt, hat der zuständige Leis-tungsträger auch Hilfe bei der Woh-nungssuche und beim Umzug anzubie-ten. Schließlich müssen auch höhereUnterkunftskosten über den sechs-Mo-nats-Zeitraum hinaus übernommenwerden, wenn auf dem Wohnungsmarkttatsächlich keine angemessene Woh-nung zur Verfügung steht oder ein Um-zug im Einzelfall unzumutbar ist.

Bildungs- und Jugendhilfeleistungen auf

Chancengleichheit hin ausgestalten

Der zweite Pisa-Bundesländer-Ver-gleich beweist aufs Neue,dass der Man-gel an Chancengleichheit in den deut-schen Schulen weiter zunimmt. Selbstbei gleicher Intelligenz und gleichemWissensstand haben Schüler aus rei-chem Elternhaus eine deutlich größereChance, das Gymnasium zu besuchenund das Abitur zu erlangen, als die auseiner ärmeren Familie. Die Weichen da-für werden oftmals bereits im Kinder-gartenalter gestellt.

Diese Entwicklung muss gestopptund umgekehrt werden. WesentlicheVoraussetzungen dafür sind Lernmit-telfreiheit, Senkung bzw. Abschaffungvon Elternbeiträgen und besondereFörderung bei festgestellten Defiziten.

Gesundheit für alle Menschen sicher

stellen

Die Reform der Gesetzlichen Kranken-versicherung setzt bei der Erhöhungvon Zuzahlungen und der Ausgrenzungvon Leistungen aus dem Leistungska-talog ein genügend hohes Einkommenvoraus – was arme Menschen jedochnicht haben. Mit der Übernahme dieserGesundheitskosten sollte die Eigenver-antwortung gestärkt werden.

Viele Familien, arbeitslose und insbe-sondere chronisch kranke und behin-derte Menschen ebenso wie Wohnungs-lose oder Grundsicherungsbezieher/in-nen sind damit von einem Mindestnive-au der gesundheitlichen Versorgungausgeschlossen oder müssen, um sichdies leisten zu können, auf andereGrundbedürfnisse verzichten.

Die Überprüfung der Reform muss ei-nen Schwerpunkt bei diesem Problemsetzen. Ziel muss es sein, eine angemes-sene Versorgung für alle Menschen undnicht nur für die mit ausreichendemEinkommen sicher zu stellen.Zudem ist

der Präventionsansatz gerade bei sozi-al benachteiligten Menschen deutlichzu stärken.

Entschuldungsmöglichkeiten weiterhin

vorsehen

Seit 1999 können überschuldete Ver-braucher nach Durchlaufen des verein-fachten Insolvenzverfahrens mit Rest-schuldbefreiung wieder schuldenfreiam normalen Wirtschaftsleben teilha-ben. Seit Einführung der Stundung derVerfahrenskosten ist dies auch für sog.„masselose Verfahren“ also für armeHaushalte möglich. Damit gibt es eineinheitliches Verfahren für alle Über-schuldeten unabhängig von Einkom-men und Vermögen.

Eine Bund-Länder Arbeitsgruppe derJustizminister arbeitet derzeit an einemEntwurf zur Veränderung des bestehen-den Insolvenzrechtes, das für die mas-selosen Verfahren der Verbraucherinsol-venz (das ist die Mehrzahl) ein treuhän-derloses Entschuldungsverfahren vor-sieht. Dieses führt weder zu einer Rest-schuldbefreiung noch gewährt es Voll-streckungsschutz. Außerdem soll dasVerfahren um zwei Jahre verlängertwerden.

Eine solche Verschlechterung ist fürüberschuldete Menschen nicht zumut-bar. Die Beratungen dürfen nicht alleinvon den Justiz-, sondern müssen auchvon den Sozialressorts geführt werden.Ziel muss es sein, die Menschen, die derRestschuldbefreiung am nötigsten be-dürfen, nicht weiter zu benachteiligen.

Und schließlich:

Über von Armut bedrohte Menschen mit

Respekt berichten!

Viele Medien berichten in diesem Jahrvon den Umstellungen durch die Zu-sammenführung von Arbeitslosen- undSozialhilfe und stellen die Probleme derLangzeitarbeitslosen mit den Leis-tungsträgern und umgekehrt dar.

Dass zum Teil große Umsetzungspro-bleme auftreten, war vorauszusehen.Ebenso, dass für die neuen Anträge inaller Regel richtige, aber auch – wis-sentlich oder unwissentlich – falscheAngaben gemacht werden. Die Leis-tungsträger sind verpflichtet, die Anga-ben zu überprüfen und die Leistungennur auf der Grundlage der Gesetze zugewähren. Hierbei helfen – ähnlich wiebei der Einkommenssteuererklärung –Mitwirkungs- und Beweispflichten so-wie Datenabgleiche. Bei den Berichtenwird die Grenze des Zulässigen dannüberschritten, wenn unbestritten vor-kommender Missbrauch verallgemein-ert wird und die Sprachwahl vor Voka-beln wie „Parasiten“ nicht halt macht.Erst recht dürfen nicht staatliche Stel-len wie das Bundesministerium fürWirtschaft und Arbeit sich einer solchenBerichterstattung bedienen.

Frankfurt/Freiburg, 8.11.2005

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D ie Beschäftigten im Bereich der öf-fentlich geförderten Bildung und

Weiterbildung haben in den letzten Jah-ren im Kontext der Agenda 2010 und derArbeitsmarktreformen der rot-grünenBundesregierung enorme Umwälzun-gen erlebt und erlitten. Als der 2002 insAmt gekommene Chef der Bundesan-stalt für Arbeit, Florian Gerster, rigorosgegen alle von seiner Behörde bis dahingeförderten Weiterbildungsmaßnah-men einschritt, folgte ein nie erlebterEinbruch des Marktes und der Beschäf-tigung in diesem Bereich. Die meistenWeiterbildungsmaßnahmen seienschlicht rausgeworfenes Geld, so Ger-sters Verdikt, es helfe nichts, Langzeit-arbeitslose fünfmal hintereinander inimmergleiche Computerkurse, Bewer-bungstraining oder „Coaching-Semi-nare“ zu schicken. Statt auf mehr Pass-genauigkeit und mehr Qualität bei derWeiterbildung zu drängen, wurdeschlicht gekürzt. In der Folge brach derMarkt für Weiterbildung fast vollstän-dig zusammen, Zehntausende Beschäf-tigte verloren ihren Job.

Zwar verlor auch der Chef derBundesanstalt Anfang 2004 seinen Job,weil er allzu luxuriöse Büros und Fahr-zeuge für sich und seinen Vorstand be-ansprucht hatte – der Kahlschlag beiden Weiterbildungsmaßnahmen aberging weiter.Neue „Bildungsgutscheine“sollten angeblich für neue Regeln sor-gen, mehr Flexibilität und auf den ein-zelnen Arbeitslosen individuell zuge-schnittene Weiterbildungsmaßnahmen

ermöglichen. In der Wirklichkeit aberwurden die Gutscheine von den ört-lichen Ämtern – inzwischen umbenanntin „Agentur für Arbeit“ – aus rein bud-getären Gründen kaum ausgegeben,wenn doch, wurden sie von Arbeitslo-sen, die den Markt der Weiterbildungs-träger nicht überblickten,nur selten ge-nutzt. Die Folge waren weitere Einbrü-che, noch mehr Arbeitslosigkeit bei denBeschäftigten im Weiterbildungsbe-reich und ein weiteres Anschwellen derZahl der gar nicht oder mangelhaft qua-lifizierten Arbeitslosen, insbesondereder Langzeitarbeitslosen.

Inzwischen scheint ein Umdenken beider Agentur für Arbeit und den Job-Centern einzusetzen. Dass fehlendeoder geringe Qualifikationen Folgen ha-ben für die Aussichten auf dem Ar-beitsmarkt,diese lange von den rot-grü-nen Arbeitsmarktreformern in denHintergrund gedrängte Wahrheitspricht sich wieder herum. Die Kon-junktur der medialen Begeisterung fürIch-AGs, subventionierte Leiharbeit(PSAs) und Ein-Euro-Jobs nimmt ab.

Die Probleme aber für die verbliebe-nen Beschäftigten im Bereich derWeiterbildung bleiben. Sie sind inzwi-schen auf einen Lohnstandard ge-drückt, der inakzeptabel ist. Das fol-gende Dokument der ver.di-Beschäftig-ten im Weiterbildungsbereich zeigt, wiedas geschah und wie sich die betroffe-nen Beschäftigten dagegen wehren wol-len.

rül, har

Dokumentiert:

Weiterbildung: eine dramatischeSituationZusammenbruch der Branche oderfreier Fall – müßig zu überlegen, wie diedramatische Situation in der SGB-ge-förderten Weiterbildung beschriebenwerden kann. Allein die Zahlen spre-chen für sich: während noch in denneunziger Jahren im Durchschnitt über400.000 Teilnehmer pro Jahr gefördertwurden, ist diese Zahl im 2. Quartal2005 unter 100.000 gefallen. Nicht al-lein der Einbruch der Teilnehmerzahlentreibt die Branche in den Zusammen-bruch: sinkende Kostensätze und einezunehmende, brachiale Konkurrenzzwischen den Trägern verschärfen dieSituation zusätzlich. (…)

Die Zahl der TeilnehmerInnen im Be-stand ist von ca. 330.000 im Jahr 2002auf unter 100.000 Ende Mai 2005 ge-sunken. Auch ein Hinweis auf die ge-stiegenen Teilnehmerzahlen bei den sog.Trainingsmaßnahmen (z.Zt. über100.000 TeilnehmerInnen) ist kein ent-lastendes Argument: diese Trainings-maßnahmen (TM) haben einen völlig

anderen Charakter. Die meisten TMsdauern nicht mal einen Monat, Qualifi-zierung spielt dort praktisch keine Rol-le mehr …

Die Vergabepraxis und neues

Einkaufsinstrument

Mit den ersten beiden Hartz-Gesetzenwurden für den Bereich der Weiterbil-dung die Bildungsgutscheine einge-führt. Alle damit verbundenen offiziel-len Erwartungen und Hoffnungen sindnicht eingetreten, weder ist der Markttransparenter geworden noch gelang esoffensichtlich, den Gutscheininhaberneine kompetente Auswahl im Markt zuermöglichen. Zwei gegenteilige Ent-wicklungen sind feststellbar: einerseitshat sich die Quote der nicht eingelöstenBildungsgutscheine bei ca. 80 % einge-pendelt, wobei die Zahl der nicht zu-stande gekommenen Kurse auf Grundeiner zu geringen Teilnehmerzahl nichtzu ermitteln ist, aber beträchtlich seindürfte; andererseits werden ganz offen-

auch der Abfall- und Abwasserentsor-gung entscheiden zu lassen. Der VKUhoffe, dass die Koalition diese Politikzukünftig auch gegenüber der Europä-ischen Kommission offensiv vertretenwerde. www.vku.de

Kommunen in NRW kaufen „sau-bere“ Arbeitskleidung. DÜSSELDORF.Unter diesem Titel fand im Rahmen derMesse A+A (Arbeitsschutz und Ar-beitssicherheit) am 25.Oktober 2005 inder Messehalle Düsseldorf ein Presse-gespräch statt. Eingeladen hatte dieKampagne für „saubere“ Kleidung.Seit einiger Zeit beschäftigen sich dieLandesregierung NRW, BeschafferIn-nen aus den Kommunen, Nichtregie-rungsorganisationen wie Agenda-Transfer und die Kampagne für „Sau-bere“Kleidung mit der Frage, wie beimkommunalen Einkauf von Arbeitsbe-kleidung Sozialstandards berücksich-tigt werden können. Hierzu haben sichverschiedene Akteure in NRW zusam-men gefunden, um zukünftig verstärktauf öffentliche Entscheidungsträge-rInnen und GesetzgeberInnen zuzuge-hen, um dem Ziel einer Verbesserungder sozialen Situation von NäherInnenin der weltweiten Arbeitsbekleidungs-industrie näher zu kommen. – In einemEingangsstatement schilderten die Po-diumsteilnehmerInnen kurz ihre Moti-vation, sich mit diesem Thema zu be-schäftigen.So erklärte der Vertreter derDüsseldorfer Feuerwehr, er wolle mitHilfe seiner Schutzkleidung Men-schenleben retten und da kann es nichtsein, dass diese Kleidung unter Bedin-gungen hergestellt wird, die den Men-schen (hier den Näherinnen) schadet.Die Vertreterinnen der Gewerkschaf-ten machten deutlich, dass die interna-tionale Solidarität mit den Beschäftig-ten der weltweiten Bekleidungsindus-trie dringend notwendig ist. Die ehe-malige Betriebsrätin eines großen Be-kleidungsunternehmen aus Bielefeld,Edith Echterdieck, berichtete über ih-ren Kampf in den 70er Jahren, um denErhalt ihrer Arbeitsplätze und derWahrung ihrer Arbeitsrechte. Der Ver-treter der Stadt Bonn machte nach-drücklich auf das Problem der Verga-berichtlinien aufmerksam. Die Kom-munen brauchen Rechtssicherheitwenn es darum geht, dass sie bei derVergabe von Aufträgen auch Sozial-standards in ihren Vergabekriterien be-rücksichtigen wollen.Alle Akteure wa-ren sich zum Schluss der Veranstaltungeinig,dass sie das Thema noch lange be-schäftigen wird. Als nächster Schrittwird ein Forum zum Thema „Berück-sichtigung von Sozialstandards beimkommunalen Einkauf von Arbeitsklei-dung in NRW“ gegründet.

www.saubere-kleidung.deZusammenstellung: baf

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16 REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES • PB 23/2005

sichtlich die Bildungsgutscheine zur –vorsichtig formuliert – restriktivenHaushaltsführung genutzt. Zum Teilgab es in einzelnen Arbeitsagenturen bisMitte des Jahres 2005 keine Bildungs-zielplanung oder es wird einfach be-hauptet, es gäbe nicht genügend geeig-nete Bewerber. Was aus den Agenturenfür Arbeit zu hören ist,nämlich eine Be-ratung zu Qualifizierungsmaßnahmenauf der Grundlage von zugeteilten Mo-natsvolumina pro Vermittler, belegt die-se Einschätzung.

Als neues Instrument des Einkaufsder übrigen Arbeitsmarktdienstleistun-gen wurde 2003 die zentrale Ausschrei-bung über die „Regionalen Einkaufs-zentren“ (REZ) eingeführt. Nicht mehrdas örtliche Arbeitsamt, sondern eineneue Behörde, die z.T. mehrere Bundes-länder umfasst (z.B. Berlin, Branden-burg,Mecklenburg-Vorpommern,Ham-burg und Schleswig-Holstein sind in ei-nem REZ zusammengefasst), organi-siert den Einkauf der Arbeitsmarkt-dienstleistungen „von der Stange“ miteiner bundeseinheitlichen Leistungsbe-schreibung. Ende 2003 wurden zum er-sten Mal Trainingsmaßnahmen (§ 48SGB III) und Maßnahmen der Arbeits-vermittlung (§ 37 SGB III) nach diesem

Verfahren zentral ausgeschrieben. Mas-sive Kritik ernteten die REZ für den Zu-schnitt der Lose (zu groß, Arbeitsamts-übergreifend), den sie nach Interventio-nen aus der Politik für die nächsten Aus-schreibungen veränderten. Aber trotzdieses kleinen Erfolgs war diese Aus-schreibung der Beginn des ungeheurenPreisdrucks,der sich bis heute fortsetzt.Preise bei Trainingsmaßnahmen unter 1Euro pro Teilnehmerstunde sind seit-dem an der Tagesordnung.

Jugendbildung: 30 % niedrigere Preise

Mitte 2004 begann die erste Ausschrei-bung aus dem Jugendbereich mit denMaßnahmen zur Berufsvorbereitung(BVB). Mit einem neuen Fachkonzeptwurde der bisherige Stellenschlüsselz.T. deutlich verschlechtert. Dies führtschon zu Einsparungen,da weniger Per-sonal für die gleiche Teilnehmerzahl be-nötigt wurde. Einige REZ setzten Preis-senkungen in Höhe von 30 % im Ver-gleich zum Vorjahr durch. Die BA selberbeziffert die Einsparungen im BVB-Be-reich für 2004 auf 94 Mio. Euro, wasetwa einer Einsparung von 20 % ent-spricht.

Aus der Tabelle wird ersichtlich, wiedie Verteilung der knapp 72.000 Teil-

nehmerplätze, was etwa 8.400 Stellenentspricht, auf die einzelnen Preiska-tegorien war. Der bundesweite Durch-schnittspreis wurde von der BA mit 425Euro angegeben, einzelne REZ hattennur 380 Euro Durchschnittspreis. ImExtremfällen sind Maßnahmen für 200Euro in den REZ Bayern und Sachsen-Anhalt/Thüringen/Sachsen vergebenworden. (…)

Durch die Krise der Weiterbildung(Rückgang der Teilnehmerzahlen imFbW-Bereich von über 300.000 auf rund100.000) ist der so genannte Jugendbe-reich mit seinen ca. 24.000 Stellen undmit seinen Maßnahmetypen Berufsaus-bildung in außerbetrieblichen Einrich-tungen (BaE), ausbildungsbegleitendeHilfen (abH) und Berufsvorbereitung(BVB) für alle Bildungsträger interes-sant geworden.Denn hier halten sich dieTeilnehmerzahlen stabil, allerdings fal-len die Preise in den Keller. Nach denVorgaben des BA-Vorstandsbriefs vom19.07.2004 „sollte für 2005 die gleicheAnzahl an Förderfällen aus 2003 mit ge-ringeren Kosten erreicht werden“.

Pädagogen verdienen weniger

als am Bau

Schaut man sich die diesjährigen Zu-schlagsergebnisse in der BaE beispiels-weise in Sachsen-Anhalt an,so fällt auf,dass nur noch zwei bis drei Träger ta-rifgebunden sind. 2003 wurden dieMaßnahmen in Sachsen-Anhalt noch zuPreisen um die 600 Euro vergeben, die-ses Jahr lagen die Preise eher um die 400Euro.

In der BaE kommen auf 12 Teilnehmer1 Ausbilder-Stelle (i. d. Regel mit Meis-terqualifikation),0,5 Stellen Lehrer und0,6 Stellen Sozialpädagoge); Rechnetman 70% der Maßnahmeerträge fürPersonal und teilt dies durch die Stel-lenanteile und rechnet den Arbeitge-beranteil an der Sozialversicherung ab,so ergibt sich folgendes Bild:

So ergeben sich vielerorts Gehälterfür das pädagogische Personal, dieunterhalb des Mindestlohns in der Bau-branche liegen. Dieser beträgt bei einer38,5-Std.-Woche im Westen 1.660 Euro,im Osten 1.433 Euro jeweils für dieunterste Lohngruppe.Von manchen Trä-gern wissen wir, dass sie pädagogischesPersonal für 1.200 bis 1.500 Euro/Mo-nat beschäftigen.

Unter 300 Euro

301 – 350 Euro

351 – 400 Euro

401 – 450 Euro

451 – 500 Euro

501 – 550 Euro

551 – 600 Euro

über 600 Euro

Teilnehmerplätze 3.941 8.370 16.484 15.894 11.647 5.551 4.384 5.510 In Prozent 5 % 11 % 23 % 22 % 16 % 8 % 6 % 8 %

Monatskosten- satz pro Teiln.

Durchschnitt AN-Brutto

400 Euro 1.311 Euro 450 Euro 1.475 Euro 500 Euro 1.639 Euro 550 Euro 1.803 Euro 600 Euro 1.967 Euro

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PB 23/2005• REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES 17

Klinikbetreiber drohen mitSchließung von Krankenhäusern.FAZ, Do., 3.11. – Lt.Arbeitszeitgesetzgelten die bisher vielfach üblichen ärzt-lichen Bereitschaftsdienste vom Januar2006 an als Arbeitszeit und müssen ent-sprechend besser vergütet werden. DieDeutsche Krankenhausgesellschaft(DLG) argumentiert, in den Kranken-häusern fehle das Personal, um die sichöffnenden Lücken zu schließen, und dasGeld, um die zusätzlich einzustellendenÄrzte zu bezahlen. „Eine genaue Um-setzung des Arbeitszeitgesetzes führtdazu, dass einzelne Abteilungen undBereiche,schlimmstenfalls ganze Kran-kenhäuser ihren Betrieb einstellen müs-sen“, warnte DGK-Chef W. Pföhler.Wenn es bei den Regelungen bleibe, be-nötigen die Krankenhäuser vom kom-menden Jahr an jährlich eine MilliardeEuro mehr für Personalkosten, sagteDKG-Hauptgeschäftsführer J.Robbers.

Einzelhandels-Verband (HDE) zeigtsich unnachgiebig im angedrohten Ta-rifkampf. SZ, Do. 10.11. – „Wir werdenuns von Streikdrohungen für dasWeihnachtsgeschäft nicht beeindru-cken lassen – und unsere Kunden er-fahrungsgemäß auch nicht“, sagte derPräsident des HDE, H. Franzen. Erwarnt,bei einem Arbeitskampf im größ-ten Einkaufstrubel könne sich ver.di„keine Sympathien erhoffen.“ Nicht beiden Arbeitgebern und nicht bei denKunden. Und er betont, „wie wichtigdiese Zeit für den Erfolg von Unterneh-men und damit auch für die Sicherheitder Arbeitsplätze ist.“

Arbeitgeberverbände aus unterschied-lichen Gründen gegen MWSt-Erhö-hung. HB, Fr./Sa., 11./12.11. Die Mehr-wertsteuer-Erhöhung vernichte Ar-beitsplätze,warnt HandwerkspräsidentO. Kentzler. Sie träfe vor allem dasHandwerk, das seine Dienste im Inlandanbietet. „Es war noch bei jeder Ver-brauchssteuererhöhung so, dass dieKonsumenten mit Kaufzurückhaltungreagiert haben, zuletzt wurden die Er-wartungen … enttäuscht, dass die Ta-baksteuererhöhung zu Mehreinnahmenführen würde – das Gegenteil war derFall.“ (M. Lefarth, Steuerabteilungslei-ter beim Handwerksverband). BDI-Präsident J. Thumann hält die Erhö-hung nur für akzeptabel, wenn die Ein-nahmen komplett in die Senkung vonLohnnebenkosten fließen würden. DerHDE (Einzelhandel) weist auf den er-warteten Rückgang des Konsums hin.„Die Verbraucher werden aus Angst da-vor, was denn noch alles an Verschlech-terungen von der Regierung beschlossenwird, erst recht sparen,“ sagt auch A.Kühn, Steuerexperte beim DIHK. Meh-rere Verbände zweifeln an, dass die Re-gierung „nach diesem Fehlstart nochKraft findet für eine Unternehmens-steuerreform“. Presseauswertung: rst.

Wirtschafts-

presseDumping darf nicht zum Durchschnitt

werden

Nun ist der Jugendbereich aufgrund derrelativen Teilnehmer-Stabilität einwichtiger Maßnahmenbereich für vieleTräger geworden, das Geld wird aber inanderen Bereichen (Bildungsgutschein,Bundeswehr, Justiz-Vollzugs-Anstal-ten,Firmenschulungen etc.) verdient, sodass viele Träger mit einer Mischkalku-lation für ihr pädagogisches Personalrechnen können. Insofern ist das Ansin-nen des BBB (Bundesverband der Trä-ger beruflicher Bildung), die Entgelteim Branchentarif an den erzielbarenPreisen im Jugendbereich auszurichten,unserer Meinung nach falsch.

Was tun?

Tarifverhandlungen in der Weiterbil-dungsbranche folgen seit den Hartz-Gesetzen einem einheitlichen Muster.Die Arbeitgeber fordern von den Be-schäftigten massive Gehaltseinbußen,anderenfalls drohe die Insolvenz. DieSchuldige für diese Misere wird gleichmitgeliefert: die Bundesagentur für Ar-beit. Kein Wort über eigene Manage-mentfehler; kein Wort über eigene Dum-pingangebote, die kräftig an der Spira-le nach unten mitdrehen.

Der Fingerzeig auf die BA ist trotz-dem richtig. Die BA pfeift auf Qualität.Die BA vergibt Maßnahmen zu Dum-pingpreisen. Die Gefahr von Dumping-gehältern ist die logische Folge.Vor die-sem Hintergrund reduziert sich Tarif-politik darauf, zumal auf der Ebene vonFirmentarifverträgen, das Schlimmstezu verhindern. Abhilfe zu schaffen istsowohl aus Sicht der Lehrenden alsauch der Lernenden dringend geboten.Aber wie ist der BA beizukommen, die-ser unsichtbaren Dritten am Verhand-lungstisch?

Es bieten sich zwei Lösungswege an.Voraussetzung ist in beiden Fällen dieExistenz eines Flächentarifvertragesfür die Weiterbildung. Der muss aufbreiter Linie gelten, im besten Fall so-

gar für alle Unternehmen und Beschäf-tigten in der Branche. Und er muss ver-bindliches Vergabekriterium der BAwerden.

Geschehen kann dies durch ein Tarif-treuegesetz* oder durch eine Allge-meinverbindlichkeitserklärung** desTarifvertrages.Beide Hürden sind hoch.Ersteres wollen CDU und FDP nicht,Letztere lehnen die Spitzenverbändeder Wirtschaft ab.

Bisher haben wir aber zum Sprungüber die Hürden noch gar nicht ange-setzt.Wir verharren in den Startlöchern,weil der Arbeitgeberverband (BBB) ei-nen Tarifvertrag auf dem Niveau vonDumpinggehältern anstrebt.1.690 Eurobrutto Monatsgehalt für eine/n pädago-gische/n MitarbeiterIn stellen sich dieArbeitgeber vor. Bei einer 40-Stunden-Woche entspricht dies einer Stunden-vergütung von 9,75 Euro brutto.Völliginakzeptabel für ver.di und zudem dasvöllig falsche Signal an die BA.Weiter-bildung ist nicht irgendeine Ware. Undqualifiziertes pädagogisches Personalist nicht zum Nulltarif zu haben.* Tariftreue – Einhalten der Tarifbestimmungen.Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge sehen ein-zelne Ländergesetze eine Tariftreueklausel vor:Nur Betriebe, die sich an die Tarifverträge halten,können Aufträge bekommen. Der Entwurf einesTariftreuegesetzes der Bundesregierung ist imJuli 2002 im Bundesrat gescheitert.

**Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) –Tarifverträge können vom Bundesarbeitsminis-ter für allgemeinverbindlich erklärt werden.Vor-aussetzung ist die Zustimmung des Tarifaus-schusses, der von Arbeitnehmern und Arbeitge-bern paritätisch besetzt ist. Den Antrag für eineAVE muss eine der Tarifparteien stellen.Eine AVEist für alle Arbeitgeber und Beschäftigten im ta-riflichen Geltungsbereich bindend – gilt also auchfür Betriebe, die nicht im Arbeitgeberverband or-ganisiert sind.Voraussetzung ist, dass die tarifge-bundenen Arbeitgeber mindestens 50% der Ar-beitnehmerInnen im Geltungsbereich beschäfti-gen und ein öffentliches Interesse an der AVE be-steht.

Quelle: „Weiterbildung – aktuell 01/2005“, Hrsg.:Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di),Fachbereich Bildung, Wissenschaft und For-schung, Sept. 2005

Infineon München – Seit Montag, 31.10.05, um 22 Uhr läuft die Produktion wieder

Bei der Urabstimmung zum Ende des Streiks sprachen sich 70 Prozent der Stimmberech-tigten für die Annahme des Verhandlungsergebnisses aus.

Page 18: Politische Berichte

18 DISKUSSION UND DOKUMENTATION • PB 23/2005

Am 11. und 12. Oktober führte der Eu-ropäische Metallarbeiterbund (EMB) inRom erneut eine tarifpolitische Konfe-renz durch.Bisherige Versuche einer Ko-ordinierung der Tarifpolitik der euro-päischen Metallgewerkschaften wareneher von Versuchen geprägt, allgemeineVorgaben für die Lohnpolitik zu verein-baren oder generelle Ansprüche wieetwa ein Lohnniveau,das die Teilnahmeam kulturellen Leben ermöglicht, zuproklamieren. Beide Momente entfalte-ten in der Vergangenheit kaum Wirkung.Zum einen fehlte und fehlt es in den eu-ropäischen Gewerkschaftsgliederun-gen an Initiative und Ressourcen aufEU-Ebene Wirkung zu entfalten. Zumandren ist gerade die Lohnpolitik einKern der Existenzberechtigung natio-naler Gewerkschaftsbünde und wirdsomit nicht gern aus der Hand gegeben.

Mit den in Rom verabschiedeten Be-schlüssen wird jetzt stärker versuchtmit einer konkreten Tarifforderung(Qualifizierung) und entsprechendenAktionsplänen tat-sächliche tariflicheMindeststandards zuerkämpfen. Gleich-wohl bleibt eine wich-tige Flanke europäi-scher Tarifpolitik of-fen; die Verbindungmit europäischenRechtsetzungsvorha-ben und eine offensivePolitik für die Veran-kerung von Mindest-standards in europäi-sche Richtlinien.

Ein wesentlicherMangel bei der Posi-tionsbestimmungdürfte sein,dass die ta-rifpolitischen Initiati-ven kaum mit einer Er-örterung der wirt-schaftlichen Entwick-lungstendenzen undden durch die Erweite-rung beschleunigtenVerwerfungen in vie-len Branchen, den tra-dierten regionalen In-dustriestrukturen inEuropa und den Ar-beitsmärkten kombi-niert werden.

Der folgende Beitragund die EMB-Doku-mente sollen Aspektefür die Diskussion derMöglichkeiten und

Schwierigkeiten einer europäischen Ta-rifpolitik liefern.

Die Kämpfe der Lohnabhängigen in derEuropäischen Union um Löhne, Ar-beitszeit, Versicherungs- und Kündi-gungsschutz, Lohnfortzahlung usw.,kurz um den Lohn- und Lebensstan-dard folgten in der Vergangenheit überlange Zeit einem eingespielten Muster:die Trends und Standards, die gemein-sam angestrebten Ziele wurden von denIndustriegewerkschaften in den indus-triellen Zentren der EuropäischenUnion gesetzt und entschieden. DieseZentren zogen sich halbkreisförmig vonSüdengland über die Benelux-Staaten,das Ruhrgebiet, Hessen, Baden-Würt-temberg, Bayern sowie Nordfrankreichbis nach Norditalien. Was in dieser so-genannten „Banane“ von den europäi-schen Gewerkschaften gefordert unddurchgesetzt wurde, strahlte in die ge-samte übrige EU aus, war Bezugspunktund Ziel aller anderen.

Praktisch sah das im Bereich der In-dustrie lange Zeit so aus: Was die IGMetall in Deutschland, der mit Abstandgrößten Industriemacht der EU, als ta-rifpolitische Marken aufstellte und inder Folge dann durchsetzte, war baldauch das Ziel aller anderen Industrie-gewerkschaften, der französischen, ita-lienischen, britischen und der Benelux-Gewerkschaften. Was diese Koalitionder großen Industriegewerkschaften inWesteuropa durchsetzte, war Norm,Standard,erstrebenswertes Ziel für alleanderen. Eine erste Welle der Erosionsetzte hier mit der Einrichtung von Pro-duktionsstandorten großer Konzerne inLändern wie Spanien, Portugal oder Ir-land ein, wo ein niedrigerer Lohnstan-dard die Konkurrenzbedingungen inden entsprechenden Branchen erhöhte.

Auch die Gegenseite, die Unterneh-merverbände und die großen Konzerne,richteten sich auf die oben beschriebe-ne Situation ein. Bis hin zu den Investi-tionsentscheidungen und mittelfristi-

gen Planungen gingensie davon aus, dass das,was in der „Banane“gilt, zumindest mittel-fristig auch in den an-deren Regionen der EUStandard und Normwerden würde. Lohn-kostenunterschiede,unterschiedliche Ar-beitszeiten blieben ge-nug übrig.

Hinzu kam aber im-mer und kommt auchheute eine unter-schiedliche Ausstat-tung der Regionen mitöffentlichen Gütern,sprich: mit Transport-und Verkehrseinrich-tungen, Bildungsstät-ten, Forschungs- undWissenschaftseinrich-tungen, öffentlichenVerwaltungen usw. so-wie damit verbundeneunterschiedliche Qua-lifikationsniveaus derArbeitskräfte. HöhereLohnkosten im Zen-trum der „Banane“wurden so zumindestpartiell ausgeglichendurch höhere Qualifi-kationsniveaus undeine bessere Ausstat-tung dieser Regionenmit öffentlichen Gü-

Wachsendes Bemühen um europäische Standards:

Tarifpolitische Konferenz des EMB und wirt-schaftliche Entwicklungstendenzen in Europa

Quelle: Eurostat Strukturindikatoren, Datenbank New Cronos

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PB 23/2005• DISKUSSION UND DOKUMENTATION 19

tern, so dass andere Regionen zwar in-dustriell aufholten, aber die dominanteRolle der „Banane“ bei der Setzung vonLohn- und Lebensstandards nie wirk-lich gefährdeten.

Spätestens seit dem Ende der Ost-West-Konfrontation, dem Zerbrechendes RGW und dem Eintritt Chinas inden Weltarbeitsmarkt haben sich dieseKoordinaten auch in der EuropäischenUnion erheblich verschoben. Die altenRegeln gelten nicht mehr. Die Konzernefinden einen völlig veränderten inter-nationalen Arbeitsmarkt für ihre Dis-positionen vor. Sie können auf ein er-heblich größeres Reservoir von gut aus-gebildeten Arbeitskräften zugreifen – inOsteuropa, in China, aber auch in Staa-ten wie Indien, in denen durch erhebli-che Anstrengungen im Bildungsweseneine Jahr für Jahr wachsende Zahl jun-ger und gut ausgebildeter Arbeitskräf-te auf den Markt drängt und damit fürInvestitionsentscheidungen globalagierender Konzerne interessant wer-den. Technologische Umwälzungen imTransportsektor – sowohl beim Trans-port von Daten und Informationen wievon Gütern – und erhebliche Umwäl-zungen in der Produktion industriellerGüter selbst kommen hinzu. In mehrund mehr Branchen tritt heute die Si-tuation ein, in der neue Standorte auchim letzten Winkel der Erde auf demhöchsten technologischen Stand einge-richtet werden. Die Technologieführer-schaft der Zentren ist vielfach dahin.

„Alte“ Industrien wie Kohle undStahl starben oder wurden in denHintergrund gedrängt, neue Bereichewie IT, Computer, Handys usw. dräng-ten nach vorn. Inzwischen sind auchdiese „neuen“ Industrien mehr als 30Jahre auf dem Markt und gelten damitnach den Regel der Innovationszyklus-Theorien schon als „reif“,als nicht mehrganz so junge Industriesektoren.

All das, die Umwälzungen in derinternationalen politischen Ordnungund damit verbunden auf den Welt-Ar-beitsmärkten wie auch die technologi-schen Umwälzungen in der Industrieselbst wie in anderen Wirtschaftsberei-chen haben auch die EU und ihre „tra-ditionellen“ Regeln nicht unbeschädigtgelassen.

Die gesamte EU gilt heute im inter-nationalen Vergleich als ein zwar star-ker, aber wirtschaftlich eher stagnie-render Wirtschaftsblock – ein Wirt-schaftsblock zudem, der gerade in sei-nen alten industriellen Zentren stag-niert, mit einer hohen, tendenziell sogareher steigenden Arbeitslosigkeit kon-frontiert ist, während die früheren„Ränder“, Länder wie Spanien, Portu-gal, Irland, aber auch die neuen Mit-glieder in Osteuropa eher aufholen, je-denfalls schneller wachsen als das Zen-trum. Unter Gesichtspunkten des inter-nationalen sozialen Ausgleichs, der An-gleichung der Lohn- und Lebensstan-

dards sind solche Aufholprozesse sichererfreulich. Da sie aber verbunden sindmit Stagnationserscheinungen im Zen-trum, in der alten „Banane“ und hierinsbesondere in Deutschland, entstehtjede Menge Diskussion und Konflikt-stoff.

So ziemlich die blödeste und struk-turkonservativste, aktuell aber prak-tisch wirksamste Antwort auf diesekomplexe Situation kommt dabei seitJahren aus dem Unternehmerlager, von

Leuten wie BDA-Chef Hundt, FDP-Chef Westerwelle und deren angeb-lichen „Experten“ wie dem Chef des Ifo-Instituts, Sinn. Sie wiederholen pene-trant die Forderung, die Arbeitskostenzu senken. Löhne runter, Unterneh-menssteuern runter, Arbeitszeiten rauf– mehr fällt diesen Leuten nicht ein.Hätten sie vor 30 Jahren schon agiert,als in der alten Bundesrepublik über dieMontankrise, die kritische Lage derWerften und der Textilindustrie ange-

Dokumentiert: Erste gemeinsame EMB-Forderung (Auszüge)

Das persönliche, tarifvertraglich garantierte Recht aufQualifizierung und Weiterbildung

Qualifizierung und Weiterbildung sind wichtige Themen für den EMB und sei-ne Mitglieder. Für die Gewerkschaften sind dies seit langem wichtige Ziele, beideren Umsetzung wir bereits wichtige Erfolge verzeichnen konnten.Im Mittelpunkt der neuen Kampagne stehen alle Qualifizierungs- und Weiter-bildungselemente. Beispielhaft seien hier genannt:• Persönliches Recht auf Qualifizierung, Weiterbildung und lebenslanges

Lernen• Fünf Weiterbildungstage für alle Arbeitnehmer• Jährliche Qualifizierungspläne• Für den Arbeitnehmer kostenlose berufliche Aus- und Weiterbildung• Nachweise der Qualifizierungsmaßnahmen• Aus- und Weiterbildung als Recht bei Umstrukturierungen und

Entlassungen• Aus- und Weiterbildung als Recht für Arbeitslose• Gewerkschaftsbeteiligung auf allen Ebenen der QualifizierungDie gemeinsame Forderung beinhaltet die Absprache der allgemeinen politi-schen Zielsetzung auf europäischer Ebene, die Umsetzung der Forderung durchdie Methode der offenem Koordinierung (MOK), den geplanten Zeitrahmen undeine politische Kampagne.

Erster Schritt: Absprache der allgemeinen politischen Zielsetzung auf europäi-scher Ebene auf der „Konferenz von Rom“ des EMB im Oktober 2005Die Konferenz beschließt die allgemeine politische Zielsetzung,quantitative undqualitative Indikatoren und Benchmarks, ein Evaluierungsverfahren sowie denvorgesehenen Zeitrahmen.

Zweiter Schritt: Übertragung der EMB-Zielsetzungen in die nationalen Um-setzungsverfahren durch die EMB-MitgliederDie Mitgliedsgewerkschaften definieren die am besten geeigneten Umsetzungs-maßnahmen in einer „Roadmap“:• Was? (Auswahlliste)• Wie? (tarifpolitische Verhandlungen usw.)• Wann? (Zeitrahmen)Diese Roadmaps müssen bis Ende Januar 2006 an das EMB-Sekretariat gesen-det werden. Auf der Grundlage dieser Roadmaps wird das EMB-Sekretariat ei-nen Kalender für die gemeinsame Forderung erstellen,aus dem hervorgeht,wann,wo und auf welche Weise die Gewerkschaften planen, die gemeinsame Forde-rung in ihrem jeweiligen Land zu verhandeln und für deren Umsetzung werbenzu wollen.

Dritter Schritt: Evaluierung und BenchmarkingDer Tarifpolitische Ausschuss des EMB wird auf Grundlage der in den Road-maps beschriebenen Zeitrahmen die Umsetzung der gemeinsamen Forderungevaluieren. Damit sollen Beispiele guter Umsetzung identifiziert, evaluiert undderen Verbreitung geprüft werden, sowie die Frage beantwortet werden, inwie-fern gute Praktiken auch auf andere Länder übertragbar sind. Ein Abschluss-bericht über die Umsetzung wird zur Entwicklung und Präsentation einer Lis-te mit Kriterien zur Auswahl guter Praktiken (Inhalt und Verfahren) führen undals Basis zu deren Weiterentwicklung dienen, sowie ein Follow-up und weitereEMB-Initiativen ermöglichen.

5. Tarifpolitische Konferenz des EMBRom, 11. / 12. Oktober 2005

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20 DISKUSSION UND DOKUMENTATION • PB 23/2005

(…)

3. Koordinierungsregel für Tarifab-

schlüsse – mittelfristige Entwicklung

Der EMB hat verschiedentlich daraufhingewiesen,wie wichtig es ist,den Ko-ordinierungsansatz nicht auf „Regeln“und „Formeln“ zu beschränken, son-dern auf einem politischen Ansatz zubestehen. Dieser kann so beschriebenwerden: Allen Mitgliedsgewerkschaf-ten ist bewusst, dass von ihrer nationa-len Tarifpolitik stets Wirkungen auf deneinheitlichen und gemeinsamen Wirt-schaftsraum der EU ausgehen.Deshalbist die Einbeziehung dieser Rückwir-kungen in die jeweilige nationale Tarif-politik mittlerweile zu einem elemen-taren Bestandteil des praktischen ta-rifpolitischen Handelns geworden. Ins-besondere liegt es im Eigeninteresse je-der Mitgliedsgewerkschaft, Maßnah-men zu unterlassen, die zur willent-lichen Unterbietung von Arbeitsstan-dards führen.Der EMB ist gerade in denökonomisch und politisch schwierigenZeiten gefordert, in Zweifelsfällen sei-ne Rolle als Koordinator und Informa-tionsdrehscheibe zu stärken (siehe dazuunten). Dies hat sich gerade im Zu-sammenhang mit den Entwicklungenin Deutschland (Arbeitszeitverlänge-rung, Produktionskostensenkung in ei-nigen Unternehmen) als besondersdringlich erwiesen.

(…)

Die Forderungen nach Erhöhung derLöhne und Gehälter standen eindeutigim Vordergrund der Tarifpolitik derEMB-Gewerkschaften. Die sonstigenForderungen – Arbeitszeit, Arbeitsbe-dingungen, Pension etc. – waren quan-titativ weniger bedeutend.

Aus den Auswertungen des EMB lässtsich ersehen, dass es den meisten Län-dern immer wieder gelingt, die Kauf-kraft ihrer Mitglieder zu wahren (Ös-terreich, Belgien, Tschechische Repu-blik, Dänemark, Finnland, Deutsch-land, Irland, Norwegen und dieSchweiz). Einige Länder haben jedochSchwierigkeiten, dieses Ziel ständig zuerreichen (Griechenland, Italien,Niederlande, Polen, Schweden).

Beim Ziel, eine ausgewogene Beteili-gung des Produktivitätswachstums zuerreichen, ist das Bild weniger eindeu-tig. Im Zeitraum von 2000 bis 2004 lagDeutschland regelmäßig über derGrenze „Inflation plus Produktivität“.Andererseits gibt ist nur ein Land (Po-

len), in dem die Grenze innerhalb die-ses Zeitrahmens gar nicht erreicht wur-de.Bei den anderen Ländern gibt es vonJahr zu Jahr wechselnde Entwicklun-gen.

Die EUCOB@ Informationen zeigenauch, dass in jenen Fällen, in denen dieAbschlüsse unterhalb der Koordinie-rungsformel liegen, es keinen Hinweisfür bewusstes Sozialdumping gibt. …

4. Neue Mitgliedstaaten: Höhere

Abschlüsse bei höherem Wachstum –

Koordinierungsformel zentral für

langfristige Angleichung

In den neuen EU-Mitgliedstaaten wa-ren Wirtschaftswachstum, Produktivi-tätsanstieg und auch Inflationszu-wachs durchschnittlich höher als in denalten EU-Mitgliedsländern. Dement-sprechend kam es zu höheren Zuwäch-sen bei den Arbeitsentgelten.

(…)

5. Arbeitszeit – wachsende Flexibili-

sierung, Druck auf Arbeitszeitverlän-

gerung, kaum Arbeitszeitverkürzung

In jüngster Zeit ist der von den Unter-nehmen ausgehende ökonomische,aberauch der politische Druck (z.B. Frank-reich, aber auch Arbeitszeitrichtlinieder EU-Kommission) auf die Regulie-rung der Arbeitszeit gewachsen. InDeutschland, Frankreich, Belgien undanderen Ländern kam es verschiedent-lich zu verlängerten Arbeitszeiten. DieArbeitszeitanalyse des EMB zeigt, dassdie Phase der tariflichen Arbeitszeit-verkürzung nahezu zum Stillstand ge-kommen ist – mit Ausnahme der neuenMitgliedsländer. Dort ist die Forderungnach Arbeitszeitverkürzung aktuell.Insgesamt hat sich die Arbeitszeit inden EMB-Mitgliedsländern in der Pe-riode 1997 bis 2003 gleichgerichtet ent-wickelt. Die durchschnittliche tarifli-che Arbeitszeit ist mittlerweile leichtunterhalb des von der Arbeitszeitchar-ta des EMB definierten Niveaus (maxi-mal 1750 Stunden jährlich) – doch dietatsächliche Arbeitszeit liegt deutlichüber diesem Limit.Viele Mitgliedslän-der sind noch weit von der angestreb-ten 35-Stunden-Woche entfernt.

Im Mittelpunkt der Arbeitszeitent-wicklung steht mittlerweile die ver-stärkte Flexibilisierung. Flexible For-men der Arbeitszeitgestaltung weitensich aus. Die individuelle Arbeitszeitwird zunehmend von der Betriebszeitbzw. der Öffnungszeit der Fabriken,

Unternehmen und Dienstleistungsan-bietern entkoppelt. …

Arbeitszeitkonten – Arbeitszeitkon-ten als ein Instrument zur Flexibilisie-rung der individuellen Arbeitszeit ge-winnen laufend an Bedeutung. In denEU-Mitgliedsländern gibt es für durch-schnittlich 20 Prozent der Arbeitneh-mer Arbeitszeitkonten (eurostat, Ar-beitszeiten, Thema 3-7/2004, Beschäfti-gung und soziale Bedingungen, Brüssel21. 4. 2004).

In Deutschland haben 41 % aller Be-schäftigten ein Arbeitszeitkonto – Ten-denz steigend. Seit 1999 stieg die An-wendung von Arbeitszeitkonten inWestdeutschland um vier Prozent-punkte auf 42 % und in Ostdeutschlandum sechs Prozentpunkte auf 38 %. (Er-gebnis der Untersuchung des Institutszur Erforschung sozialer Chancen (iso),Köln 2004, S. 117 ff.)

6. Flexibilisierung der Arbeitsverträge

führt zu weiterer Ausdifferenzierung

der materiellen Lage der Beschäftig-

ten – Unterschiede wachsen

Die weitere Ausdifferenzierung der Ar-beitseinkommen ist nicht vorrangig dasErgebnis der Tarifabschlüsse der abge-laufenen Periode. Denn diese haben imgroßen und ganzen zu keinen zusätz-lichen Einkommensunterschieden zwi-schen den einzelnen Tarifgruppen bei-getragen – im Gegenteil, in manchenLändern wurde z.B. die tarifliche An-gleichung der Entgelte von Arbeiternund Angestellten vorangebracht.Aller-dings haben sich doch die effektiven Ar-beitseinkommen in zahlreichen Län-dern der EU weiter ausdifferenziert.

Der Anteil der Niedriglohnbezieher,d.h. der Arbeitnehmer mit einem Brut-tostundenverdienst, der mehr als 25 %unter dem länderspezifischen Durch-schnitt liegt, beträgt EU-weit 24 %, ge-nauer gesagt 18 % bei den Männern und32 % bei den Frauen. Am höchsten istder Anteil der Niedriglohnbezieher inIrland, dem Vereinigten Königreich,Deutschland und den Niederlanden,und besonders stark betroffen sind ge-ring qualifizierte Arbeitnehmer inDeutschland, Österreich, Dänemark,Irland und dem Vereinigten Königreich.(Quelle: EU-Kommission GD Beschäf-tigung und Soziales, Beschäftigung inEuropa 2003, Brüssel, Juli 2003)

Die voranschreitende Ausdifferen-zierung der materiellen Lage der Be-legschaften liegt zum einen an der sehrunterschiedlichen Entwicklung vonübertariflichen Zahlungen: Aufgrund

Dokumentiert: EMB – Tarifpolitische Konferenz 11./12. Oktober 2005

Charakteristische Entwicklungstendenzen – Aktuelle Trends

Page 21: Politische Berichte

PB 23/2005• DISKUSSION UND DOKUMENTATION 21

der ab 2001 einsetzenden ökonomi-schen Krise wurde der Spielraum fürübertarifliche Zulagen geringer, inmanchen Ländern, so auch in Deutsch-land, kam es zu einem erheblichen Ab-bau dieser Lohnbestandteile.

Zum anderen entsteht die weitereAusdifferenzierung vor allem durch dievoranschreitende Flexibilisierung vonArbeitsverträgen: Zeitarbeit (Leihar-beit), unfreiwillige Teilzeitarbeit, gene-rell: durch ungesicherte Arbeitsver-hältnisse. (Tabellen: Zeitliche befriste-te Arbeitsverträge in der EU, Unfrei-willige Kurzarbeit etc.)

Teilzeitarbeit hat stark zugenommen– Der Anteil der Teilzeitbeschäftigtenan allen abhängig Beschäftigten stiegin der EU von 14,2 % (1992) auf 18,2 %(2002).Viele Teilzeitbeschäftigte wolleneigentlich Vollzeit arbeiten. In der Sta-tistik wird von „unfreiwilliger Teilzeit-beschäftigung“ gesprochen, wenn dieBefragten als Grund für ihre Teilzeittä-tigkeit angeben, keine Vollzeitbeschäf-tigung gefunden zu haben. In der EUsagt jeder sechste Teilzeitarbeitende(15,9 %), dass er unfreiwillig in Teilzeittätig ist.

Befristete Arbeitsverhältnisse: beijüngeren Arbeitnehmern deutlicherZuwachs – Innerhalb der letzten fünfJahre hat der Anteil der befristet Be-schäftigten in der EU leicht zugenom-men. In der EU hatten 12,8 % aller ab-hängig Beschäftigten einen befristetenArbeitsvertrag.

Dieser nur leichte Zuwachs über-deckt, dass die entsprechende Befris-tungsquote der jüngeren Beschäftigtendeutlich zugenommen hat: In der EUhatten 2003 37 % der 15- bis 24-jähri-gen Arbeitnehmer und 10,5 % der 25 bis49-jährigen einen befristeten Vertrag.

Leiharbeitsverhältnisse – Die Leih-arbeit (vermittelt von Leiharbeits-Unternehmen – temporary work agen-cies) hat ihre Funktion im Rahmen derunternehmerischen Personalpolitikwesentlich verändert. Leiharbeiterwerden nicht mehr nur in Fällen einesvorübergehend erhöhten Personalbe-darfs beschäftigt, sondern auf Arbeits-plätze eingesetzt, deren dauerhafte Be-setzung betriebsnotwendig ist. Eskommt also partiell zum Austausch vonunbefristet Beschäftigten durch Leih-arbeiter. In der Automobilindustriesind heute schon bis zu 15 % der Be-legschaft Leiharbeiter – in der Elektro-industrie und Maschinenbau ist dieTendenz ähnlich.

Illegale Arbeit – In zahlreichen Mit-gliedsländern der EU wächst auch dieZahl der illegal beschäftigten Arbeit-nehmer. Die Unternehmer nutzen dieausweglose Situation von Arbeitslosenund die – teils illegale – Zuwanderungbrutal in Form von extrem geringer Be-

zahlung und miesen Arbeitsbedingun-gen aus.

7. Sozialpolitische Themen werden

wichtiger – Tarifpolitik als Lückenbü-

ßer … ?

In vielen europäischen Ländern küm-mert sich die Tarifpolitik stärker umoriginär sozialpolitische Fragen, wievorzeitige Altersrente, Krankengeld/Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle,(betriebliche) Rentenversorgung, Mut-terschafts-/Vaterschaftsurlaub etc.Dashat verschiedene Gründe.

Zum einen werden durch den soge-nannten „Rückbau“ des Sozialstaats invielen europäischen Ländern Lückengerissen,die per Tarifvertrag wieder ge-schlossen werden sollen …

Zum anderen kam es aber auch zu ta-rifvertraglichen Regelungen, die vor-handene sozialpolitische Gesetze undRechte verbesserten. So wurden in Dä-nemark die bestehenden staatlichenRegelungen zum Krankengeld durchTarifvertrag verbessert. Auch die Zah-lungen bei Mutterschaft-/Vaterschaftwurden tarifvertraglich aufgebessert.

Es ist nicht zu übersehen, dass tarif-politische Regelungen zu sozialpoliti-schen Themen in vielen Fällen nur die„zweitbeste Lösung“ sind. Denn dievom Tarifvertrag abzudeckenden sozi-alen Risiken – wie eben Alterssiche-rung, Krankengeld, Arbeitsmarktent-lastung – sind im Kern gesellschaftlicheund damit allgemeine Risiken. Der Ta-rifvertrag für eine Branche kann per de-finitionem immer nur für einen be-stimmten Teil von Beschäftigten einenErsatz bieten. „Branchensozialpolitik“ist eben segmentiert und differenziert.Natürlich ist diese Art von solidarischerLösung durch Tarifvertrag immer bes-ser als das, was individuell auf demMarkt geleistet werden könnte.Doch esist weniger als eine allgemeine sozial-staatliche Sicherung.

8. Verhandlungsebene: Unternehmens-

ebene gewinnt an Bedeutung – „kon-

trollierte Dezentralisierung“ („organi-

zed decentralisation“)

Obgleich sich die Struktur der Tarif-verhandlungsebenen in den Mitglied-staaten in jüngster Zeit nicht grund-sätzlich geändert haben,so ist doch ins-gesamt die Bedeutung der regionalenund der Unternehmensebene gewach-sen.

(…)Viele Tarifvereinbarungen sind auf

nationaler Ebene geschlossene sektora-le Jahres- oder Mehrjahresverträge (Ös-terreich, Belgien, Niederlande, Polen,Slowakische Republik, Slowenien), diegrößtenteils einen breiten Bereich um-fassen (Lohn, Arbeitszeit und andere

Angelegenheiten).In den meisten Län-dern ist die sektorale Verhandlungsebe-ne Teil eines ausdifferenzierten Ver-handlungssystems, das sowohl eine hö-here intersektorale Ebene als auch eineniedrigere lokale oder Betriebsebenevorsieht.

Auf nationaler Ebene wurden in Län-dern wie Belgien, Dänemark, Finnland,Italien, Norwegen, Polen, der Slowaki-schen Republik, Slowenien, Schweizund nach jüngsten Entwicklungen auchin Schweden Grundsatz- oder Rah-menverträge geschlossen, die die Basisfür die sektoralen Tarifvereinbarungenbilden.

Gleichzeitig scheint die Betriebsebe-ne immer wichtiger zu werden. Es gibtLänder, in denen Verhandlungen aufdieser Ebene schon seit längerem fest-er Bestandteil der Arbeitgeber-Arbeit-nehmer-Beziehungen sind: Kroatien,Dänemark, Frankreich,Vereinigtes Kö-nigreich, Italien, Norwegen, Polen, Slo-wenien und Schweiz. In Belgien undauch in Schweden kann die betriebli-che Ebene über die Art der Verwendungder auf sektoraler Ebene ausgehandel-ten Tariferhöhung entscheiden.

(…)

9. Einheitlicher Wirtschaftsraum EU –

doch national fragmentierte Tarif-

politik: Anforderungen an Koordina-

tion und Information ist gewachsen

(…)

Der EMB sieht sich deshalb veranlasst,seine Strategie weiter auszubauen. DerEMB wird• die Lohnkoordinierungsregel vertei-digen und stärken, um Lohndumpingund Sozialabbau zu verhindern,• die Arbeitszeit-Charta weiterentwi-ckeln und stärken und sich gegen eineallgemeine Verlängerung der Arbeits-zeit aussprechen,• seine im Arbeitsprogramm 2004–2007 festgelegten Strukturen stärkenund seine Präsenz in den nationalen Ta-rifverhandlungsgremien erhöhen,• die Möglichkeiten des Eucob@-Net-zes voll ausschöpfen, um die Tarifver-handlungen proaktiv zu unterstützen,• seine Koordinierungsstrategie mitdem Vorschlag umsetzen, dass eine ge-meinsame Forderung,die in allen Tarif-verhandlungsrunden in Europa Auf-nahme finden soll, aufgestellt werde,• den Vorschlag der EU-Kommissionüber „die Bereitstellung eines optiona-len Rahmens für transnationale Kol-lektivverhandlungen auf Unterneh-mens- oder auf Branchenebene“ aktivaufgreifen und seine Position in das an-stehende Anhörungsverfahren einbrin-gen.

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22 DISKUSSION UND DOKUMENTATION • PB 23/2005

sichts wachsender Konkurrenz aus Fer-nost – damals aus Südkorea, Hongkongund Japan – diskutiert wurde,hätten sievermutlich auch damals vorgeschlagen,die Löhne der Kohlebergleute, derWerftbeschäftigten und der Textilarbei-terinnen herunter und ihre Arbeitszei-ten herauf zu fahren.Ergebnis einer sol-chen Defensivstrategie wäre nicht nurdie Konservierung einer alten, überhol-ten internationalen Arbeitsteilung,son-dern auch einer falschen, arbeitsinten-siven Technologie gewesen – und damiteine, wie die Nationalökonomie zu sa-gen pflegt, „Fehlallokation vonRessourcen“ gewesen.Sinkende Wachs-tumsraten und im Ergebnis genau das,was man angeblich verhindern will,nämlich steigende Arbeitslosigkeit,sinddie Folge, wenn Kapital in alte, durchtechnologischen Wandel überholteBranchen fließt statt in neue, schnellwachsende Industrien. Um ein anderesBeispiel zu nehmen: Der finnische No-kia-Konzern war vor 15 Jahren noch einweltweit unbekanntes Unternehmen,das vornehmlich Gummistiefel produ-zierte.Wäre dieser Konzern auf die Ideegekommen, eine Strategie à la Hundt,Westerwelle und Sinn zu fahren, so wä-ren seine Beschäftigten und auch Eig-ner vermutlich heute allesamt „armdran“, Nokia würde immer noch Gum-mistiefel herstellen und niemand außer-halb von Helsinki hätte je von dieserFirma gehört.

Milderung der Kostenkonkurrenzdurch eine Innovations- und Moderni-sierungsstrategie, mehr Wachstumdurch mehr Bildung und Qualifizie-rung, durch Entwicklung neuer Pro-dukte und Produktionsprozesse – umdiese „Offensivstrategie“ als Antwortauf die europäische Wachstumskrise,die auch in Kreisen der Unternehmenund der Politik durchaus ihre Anhängerhat, bemühen sich jetzt auch, das zeigendie hier wiedergegebenen Dokumentedes EMB-Kongresses (Beispielsweisedie Forderung zu Qualifizierungsrech-ten), auch die europäischen Industrie-gewerkschaften. Wobei, das soll nichtbestritten werden, diese Bemühungennoch ziemlich rudimentär sind.

Die Bedeutung europäischer Prozes-se, europäischer Entscheidungen undInstanzen ist auch von den Gewerk-schaften – ebenso wie in vielen politi-schen Lagern, auf der Rechten wie aufder Linken – lange Zeit unterschätztworden. Die EU-Kommission hat eineRegel nach der anderen für die indus-trielle Produktion, für den Austauschvon Gütern, Diensten und Arbeitskräf-ten in der EU und mit umliegendenStaaten aufgestellt, Abkommen be-schlossen, Vorschriften verhängt, undalle Welt beratschlagt heute über dieFolgen und die Umsetzung und Einhal-tung europäischer Normen. Gleichzei-tig sind die europäischen Institutionender Gewerkschaften noch immer lach-

haft schwach – kaum Leute, kaumRessourcen, kaum Kommunikation undgegenseitige Hilfe auf europäischem Ni-veau. Insofern stehen auch die Bemü-hungen des EMB noch ziemlich am An-fang. Viele, zu viele Fragen sind offen,sind bis heute nicht gelöst,weil man sichviel zu lange darauf verließ, dass die al-ten, eingespielten Mechanismen der aufWesteuropa begrenzten EU, in und umdie „Industriebanane“ herum, schonreichen, alles irgendwie regeln würden.Probleme, die blieben, würde man aufnationalstaatlicher Ebene lösen – so un-gefähr war die Position.

Dieser Irrtum rächt sich jetzt. Die EUist längst ein viel gewichtigerer,viel ent-scheidenderer Akteur geworden. IhreRichtlinien und Normen, ihre Program-me regeln inzwischen fast alle Lebens-bereiche – vom freien Warenaustauschund Außenhandel mit anderen Regio-nen über die Ausschreibungsregeln füröffentliche Leistungen und Dienste bishin zu technischen Normen für indus-trielle Produkte, Regeln für Bank-dienstleistungen, Datenaustausch undDatenverkehr.Und an die Stelle der ein-fachen, Trends und Normen setzenden„Banane“ und ihrer Industriegewerk-schaften ist eine komplexe Situation ge-treten,mit Aufholprozessen an den Rän-dern und einer gleichzeitigen – vor al-lem durch die Osterweiterung sichtbargewordenen – enormen Polarisierungder Löhne, Lebens- und Arbeitsbedin-gungen.

Wenn VW seine Autos in der Slowakeifertigen kann und dort 5 Euro pro Stun-de zahlt, dann sind das für die Slowakeivor dem Hintergrund der dortigen Mie-ten, Lebensmittelpreise und Preise füröffentliche Güter Spitzenlöhne. Für dieBeschäftigten in Wolfsburg entsteht da-mit aber eine bisher nicht gekannteKonkurrenzsituation. Auch wenn dieExport-PKWs in die USA sicher nochlange nicht aus der Slowakei kommenwerden, weil allein die Transportkostenund -zeiten von Bratislava an die Nord-see dafür zu hoch sind – die Erweiterungder EU und der damit einhergehenderasche Ausbau der Verkehrswege unddie damit verbundene Intensivierungdes Binnenmarktes und der innereuro-päischen Arbeitsteilung schafft eineneue Situation. Ähnliches gilt für Audi-Motoren aus Ungarn, für Kühlschrän-ke, Busse und Fernseher aus der Türkei,für IT-Produkte aus Rumänien, für Mo-toren und Kraftwerksanlagen aus derTschechischen Republik usw. usf.Welche Regeln sollen in dieser, er-weiterten EU in Zukunft gelten? Jetzträcht sich, dass so einfache Normen wieder 8-Stunden-Tag,Kündigungsschutz,Lohnfortzahlung im Krankheitsfall,Mitbestimmungsrechte des Betriebs-rats usw., (arbeitsfreie Zeiten am Sonn-tag und in der Nacht?) bis heute keineeuropäischen Standards sind, in denRichtlinien, im Regelwerk der EU weit-

gehend nicht verankert sind. Noch im-mer ist die EU vor allem eine Freihan-delszone – eine Freihandelszone für Wa-ren, Menschen und Dienstleistungen,die für die menschliche Arbeitskraftkaum feste, alle bindende Regeln kennt.

Auf die Verwerfungen am Arbeits-markt hat die EMB-Konferenz mit ei-ner Entschließung zu prekären Arbeits-verhältnissen reagiert. Das Problem istin dem hier dokumentierten Papier zu„Aktuellen Trends“ beschrieben und inder Entschließung wird auch der Bezugzu relevanten und aktuellen europäi-schen Rechtsetzungsverfahren (Ar-beitszeitrichtlinie, Dienstleistungs-richtlinie und der Richtlinie zu Leihar-beit) gezogen. Allerdings fehlen kon-krete Anforderungen an die Richtlinienund es gibt keine Aktionspläne. DerEMB kopiert teils die offiziellen EU-Po-litik, etwa durch eine positive Bezug-nahme auf die Lissabon-Strategie oderdie Nachahmung der „Methode der of-fenen Koordination“ in seiner Kampag-ne zur tariflichen Durchsetzung vonQualifikationsansprüchen.Die Etablie-rung angemessener gewerkschaftlicherStrukturen für die europäische Arbeithinkt dem weit hinterher. Vor allem inBezug auf die Debatte zur Novellierungder europäischen Arbeitszeitrichtliniewird die eklatante Schwäche der Ge-werkschaften deutlich, Aktionsfähig-keit in europäischen Rechtsetzungsver-fahren zu entfalten. Der EMB konsta-tiert, dass „der Druck auf die Regulie-rung der Arbeitszeit gewachsen“ sei,eine spürbare Kampagne des EGB oderdes EMB zur aktuellen Revision der Ar-beitszeitrichtlinie ist jedoch nichtwahrnehmbar. Die Diskussion im ver-antwortlichen Ausschuss des EU-Parla-ments waren weitgehender als die For-derungen des EGB und bis heute hatniemand die Forderung nach einer Be-grenzung der täglichen Höchstarbeit-zeit erhoben.

Dennoch sind die Beschlüsse der Kon-ferenz des EMB zu Fragen der Qualifi-zierung und zu einer Kampagne gegendie um sich greifende Prekarisierungder Arbeitsverhältnisse geeignet, eineintensivere Diskussion um europäischeMindeststandards einzuleiten und ei-nen Bezug zu einer Reihe von relevan-ten Richtlinien herzustellen und siedürften erheblich kampagnenfähigersein als allgemeine Anforderungen andie nationale Lohnpolitik, die letztlichin einem Gewirr von Interessen undkonkreten ökonomischen Entwicklun-gen Konstellationen versickert. Das Be-mühen der Gewerkschaften um europä-ische soziale Standards steht erst amAnfang und wird ohne ein Verständnisder wirtschaftlichen Entwicklungsten-denzen wohl auch kaum vorankommen.Es wäre zu wünschen,dass sich auch dieparteipolitische Linke dieser Aufgabeernsthafter annimmt als bisher.

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Page 23: Politische Berichte

PB 23/2005• DISKUSSION UND DOKUMENTATION 23

Eine umfassendere Darstellung derStreuung der Bruttostundenverdienstevermittelt obige Abbildung, die mitBoxplots operiert und einer Publika-tion von Eurostat entnommen ist. EinBoxplot aggregiert die in einem Da-tensatz enthaltene Information zu fünfKenngrößen. Er wird definiert durcheine rechtwinklige Box der Längex0,75–x0,25 (Differenz zwischen demoberen und dem unteren Quartil – derso genannte Quartilsabstand, der dieinneren 50% der nach zunehmenderGröße geordneten Daten definiert),denMittelwert/Median x0,5 (innerhalb derBox markiert) und die Extremwertexmin und xmax. Letztere sind mit derBox über Linien verbunden. Die Ge-samtlänge eines Boxplots entsprichtder Spannweite des Datensatzes. Ein

kleiner Abstand vom Minimallohn(xmin.) bis zum Beginn der Box zeigtbeispielsweise,dass wenig Differenzie-rung bei den Niedriglöhnern besteht.

In der Abbildung wird für alle Län-der die Streuung der Bruttostunden-verdienste zwischen den Wirtschafts-zweigen visualisiert. Einerseits zeigtdie Abbildung, dass das mittlere Ni-veau der Bruttostundenverdienste vonLand zu Land beträchtlich differiert.Bei den neuen Mitgliedsstaaten ohneZypern hat Slowenien das höchste Ver-dienstniveau. Der Median für Slowe-nien liegt sehr nahe an dem für Portu-gal. Der Median für Zypern liegt leichtüber dem von Spanien und leicht unterdem von Italien. Andererseits zeigt dieGrafik,dass die Verteilung der Verdien-ste innerhalb der Länder ebenfalls sehr

unterschiedlich ist. Die Mediane fürBelgien (13,80 Euro) und für Finnland(13,41 Euro) liegen beispielsweise sehrnahe beieinander, doch die Spannwei-te der Verdienste zwischen verschiede-nen Wirtschaftszweigen, durch die Ge-samtlänge des Boxplots repräsentiert,ist in Belgien höher. Länder mit einemvergleichbaren durchschnittlichenLohniveau, das auch auf eine ver-gleichbare Wirtschaftskraft schließenlässt, bringen dennoch eine sehr ver-schiedene Lohndifferenzierung hervor.Dies ist mindestens ein Hinweis aufweitere (traditionelle, kulturelle, poli-tische) Faktoren, die bezüglich derLohndifferenzierung wirksam sind.

(Quelle: Eurostat: Statistik kurz gefasst, Bevöl-kerung und soziale Bedingungen; 12/2005. Brut-toverdienste in Europa)

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MINE19./20. November. Frankfurt/Main. Jenseits der Wahl – Dienächsten Schritte sozialer Bewegung. Strategie- und Ak-tionskonferenz des Sozialforum in Deutschland.Einlader ausattac, ver.di- und IG Metall-Linke usw. Ort: UniversitätFrankfurt, Campus Bockenheim. Näheres unter: www.ver-sammlung-sozialer-bewegungen.de

19./20. November. Nürnberg. 60 Jahre Nürnberger Haupt-kriegsverbrecherprozess, Gerichtssaal 600, Bärenschanzstr.72, Veranstalter: Menschenrechtsbüro der Stadt Nürnberg.www.menschenrechte. nuernberg.de

25.–27. November, Nürnberg. GewerkschaftspolitischerWorkshop: Gewerkschaften in der „globalisierungsfalle“ –Widerstandszentrum oder Auslaufmodell? mit Fr. 19 UhrHorst Schmitthenner: „Strategien gewerkschaftlichen Han-delns - Wege aus der Defensive“. Sa. 9:30 Uhr Conrad Schuh-ler (ISW): „Globalisierung bedeutet vor allem,dass die Unter-nehmen sich von den Interessen der Belegschaften abkop-peln“. Sa. 14 Uhr: Diskussion mit Wolfgang Ziller und JohannRösch „Globalisierung und Arbeitsplatzvernichtung vor Ort.(z.B. Karstadt/Quelle, FAG Kugel-fischer Schweinfurt, AEG,Siemens). Was kann Widerstand vor Ort erreichen?“. So. 10Uhr Wird ein „linker Brei“ gerührt – oder wächst jetzt zu-sammen,was zusammen gehört ? Diskussion mit Thomas Hän-del (Mitgründer der WASG) und Harald Werner (bis dato ge-werkschaftspolitischer Sprecher der PDS).

10./11. Dezember. Dresden. 3. Tagung des 9. Parteitags derLinkspartei.PDS. „Die Bundesrepublik nach der Wahl unddie Herausforderungen für die politische Linke“, Statutän-derung Doppelmitgliedschaft, Kommunalpolitische Leitli-nien.

24. bis 29. Januar. Sechstes Weltsozialforum. Zum ersten Malwird es allerdings nicht ein zentrales Forum geben, sonderndrei Teilforen in verschiedenen Kontinenten.Ein Treffen fin-det in Bamako (Mali/Afrika) statt, eines in Karachi (Paki-stan/Asien) und das dritte in Caracas (Venezuela/Amerika).Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren, werden doch inden Städten jeweils zehntausende Aktivistinnen und Akti-visten aus den verschiedensten Teilen der sozialen Bewegun-gen erwartet. TeilnehmerInnen, Organisationen, HelferInnenund JournalistInnen werden aufgefordert, sich für Aktivitä-ten zu registrieren (www.wsf2006.org). Aus verschiedenenKritiken heraus finden außerdem zwei Alternativforen in Ve-nezuela statt.

TER

Jahr Monat LandTer-min

Wahl-periode

2006 März Hessen Kommunal 26.3. 5 Jahre

März Baden-Württemb. Landtag 26.3. 5 Jahre

März Rheinland-Pfalz Landtag 26.3. 5 Jahre

März Sachsen-Anhalt Landtag 26.3. 4 Jahre

Sept. Niedersachsen Kommunal 10.9. 5 Jahre

Herbst Meck.-Pomm. Landtag 4 Jahre

Herbst Berlin Landtag 5 Jahre

Quelle: www.bundeswahlleiter.de

Vorschau auf Wahlen

Zum Vormerken:

1. Linke Winterschule vom 5. bis 8. Januar inSondershausen / ThüringenBisher steht fest das Thema im Kurs Philosophie: „Wohl-fahrtsstaat“: Subsidiarität oder Alimentieren.Für die Kur-se Wirtschaft und Geschichte werden wir die Themen dem-nächst veröffentlichen.

Jahreskonferenz Forum Kommunistischer Arbeitsgemeinschaften

am 8./9. April („Palmsonntag“) 2006 inFrankfurt/MainThema: Soziale Bewegungen (Mindestlohn, Arbeitszeit) inEuropa und ihre Ergebnisse

Neue Kriege in Sicht?

12. bundesweiter und internationaler

Friedensratschlag 2005 in Kassel

Einladung und Programm zum 12. Friedenspolitischen Ratschlag

Freitag-Sonntag, 2./3./4. Dez. 2005 Tagungsorte: Universität Kassel,

Standort Holländischer Platz

(Konzert am 2. Dez.:

Wilhelmshöher Allee 73)

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Ein oder mehrere Imperien? USA, EU und die neuen Mächte

Naher, Mittlerer und Ferner Osten: Euroasiatischer Spannungsbogen

Deutsche Soldaten in aller Welt:Kosten, Gefahren, Widerstände

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