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Benkenstein/Brillowski/Rauscher /Werz (Hrsg.) Politische und wirtschaftliche Transformation Osteuropas

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GABLER EDITION WISSENSCHAFT Marketing und Innovationsmanagement Herausgegeben von Professor Dr. Martin Benkenstein

Die Schriftenreihe "Marketing und Innovationsmanagement" soli drei fur die Betriebswirtschaftslehre richtungsweisende For­schungsfelder integrieren: die marktorientierte Unternehmens­fuhrung mit Fragen der Kunden- und der Wettbewerbsorientie­rung, die marktorientierte Technologiepolitik mit allen Fragen des Innovationsmanagements und schlieBlich das internationale Marketing mit einer speziellen Fokussierung auf den Ostsee­raum und Osteuropa. Die Schriftenreihe will dabei ein Forum fur wissenschaftliche Beitrcge zu diesen Themenbereichen des Mar­keting-Managements bieten, aktuelle Forschungsergebnisse prc­sentieren und zur Diskussion stellen.

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Martin Benkenstein/Karl-Heinz Brillowski/ Michael Rauscher/Nikolaus Werz (Hrsg.)

Politische und wi rtschaftl i che Tra nsformation Osteuropas Chancen und Potenziale fur die neuen Bundeslander

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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Politische unci wirtschaftliche Transformation Osteuropas: Chancen und Potenziale fur die neuen Bundeslander / Hrsg.: Martin Benkenstein .... - 1. AuR .. - Wiesbaden : 01. Univ.-Yerl. ; Wiesbaden : Gabler, 2001

(Gabler Edition Wissenschaft : Marketing und Innovationsmanagement) ISBN-13: 978-3-8244-7251-2 e-ISBN-13: 978-3-322-89643-8 DOl: 10.1007/978-3-322-89643-8

1. AuRage Januar 2001

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lektorat: Ute Wrasmann / Sabine Scholler

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H&hste inhaldiche und technische Qualitat unserer Produkte ist unser Ziel. Bei der Produktion und Yerbreitung unserer Bucher wollen wir die Umwelt schonen. Dieses Buch ist deshalb auf sau­refreiem und chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die EinschweiBfolie besteht deshalb aus Polyathylen und damit aus organischen Grunastoffen, die weder bei der Herstellung noch bei der Yeibrennung Schadstoffe freisetzen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Na­men im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzl werden durften.

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Vorwort

Am 11. November 1999 jahrte sich die Grundung der Universitat Rostock zum 580. Mal. Am 10. November 1994 fiihrte die Wirtschafts- und Sozi­alwissenschaftliche FakuWit der Universitat Rostock das 1. Symposium der Gesamtfakultat zum Thema "Osteuropa im Umbruch" durch. Und am 9. November 1989 Offneten sich die von vielen von uns fUr undurchdring­lich gehaltenen Grenzen der damaligen DDR. All dies, vor allem aber letzteres, hat die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultat der UniversiHit Rostock zum Anlass genommen, mit einer Vielzahl von Fachvortragen und Diskussionen den Blick nach Osteuropa zu wenden und zu hinterfragen, welche wirtschafts- und sozialpolitischen Verande­rung en sich in diesen Landem vollziehen und wie diese Vedinderungen auf die Bundesrepublik Deutschland zuruckwirken. Denn mit der Offnung der DDR und den Entwicklungen, die sich im Vorfeld dieses Tages und seither ergeben haben, ist es in Mittel- und Osteuropa zu politischen und wirtschaftlichen Umbruchen und Strukturveranderungen gekommen, de­ren Ende noch nicht absehbar ist.

Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultat der Universitat Rostock hat sich vor diesem Hintergrund sehr gefreut, dass es auch fUr das 2. Rostocker Symposium zum Thema "Osteuropa im Umbruch" ge­lungen ist, kompetente Referenten und Diskussionspartner zu gewinnen, die helfen kannen, das diffuse Bild der wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa aufzuhellen. Dabei soUte es nicht zuletzt die Aufgabe sein zu hinterfragen, welche Auswirkungen die Um­briiche in Osteuropa fUr die Bundesrepublik und dabei spezieU fUr die Neuen Bundeslander haben.

Urn die verschiedenen Perspektiven der politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen in Osteuropa auszuleuchten, haben Klaus von Beyme und Tyll Necker zunachst die politischen und wirtschaftlichen Transformatio­nen in den Neuen Bundeslandem und Osteuropa ausgeleuchtet. Darauf

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aufbauend haben Cornelia Zanger, Dietmar Hauler und Volkhardt KlOpp­ner die betriebswirtschaftlichen, Michael Fritsch und Helmut Seitz die volkswirtschaftlichen und schlieBlich Klaus Ziemer und Peter A. Berger die politik- und sozialwissenschaftlichen Perspektiven in den Reformstaa­ten Osteuropas, aber auch die der Neuen BundesHinder hinterfragt.

Abgeschlossen wird die Dokumentation des Symposiums durch die Er­gebnisse einer Podiumsdiskussion unter Leitung von Michael Rauscher, in deren Rahmen vor allem hinterfragt wurde, welche Chancen, aber auch welche besonderen Herausforderungen sich durch die vorgezeichneten Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa fUr die Bundesrepublik Deutsch­land und speziell fUr Mecklenburg-Vorpommern bereits ergeben haben und sich zukunftig abzeichnen.

SchlieBlich darf nicht versaumt werden, all jenen zu danken, die zum Ge­lingen des Symposiums und zur VerOffentlichung dieser Dokumentation beigetragen haben. Deshalb muss unser Dank zunachst und vor aHem den Referenten gelten. Dariiber hinaus haben alle Kollegen unserer Fakultat nachhaltig die Gestaltung des Symposiums mitgetragen. Deshalb gilt auch ihnen unser besonderer Dank.

Hervorzuheben ist dariiber hinaus, dass eine derartige Veranstaltung und die damit verbundene Publikation ohne die Unterstutzung der Mitarbeiter unseres Hauses nicht moglich ware. Wir danken deshalb - in alphabeti­scher Reihenfolge und ohne Anspruch auf Vollstandigkeit: Stefanie Bau­er, Dirk Forberger, Susann Hanns, Michael Holtz, Dorte Peters, Eva­Marie Schroder, Ulrike Schwieg, Stephanie Steiner, Katja Zielke.

SchlieBlich sind wir der Quistorp-Stiftung und dem Gabler Verlag zu Dank verpflichtet. Durch diese beiden Institutionen wurde die Herausgabe dieser Dokumentation erst ermoglicht.

Martin Benkenstein

Karl-Heinz Brillowski

Michael Rauscher

Nikolaus Werz

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort .................................................................................................... v

Erster Teil

Transformationen in den Neuen BundesHindern und Osteuropa

Die Transformation Ostdeutschlands im Vergleich der postkommunistischen Systeme ........................................................... 3 Von Klaus von Beyme

Politische und wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa 1989-1999 - Auswirkungen auf die neuen BundesHinder. ....................................... 31 Von Tyll Necker

Zweiter Teil

Betriebswirtschaftliche Perspektiven

Intemationalisierungsstrategien der deutschen Nahrungs- und Genussmittelindustrie in Osteuropa ........................................................ 49 Von Cornelia Zallger und Dietmar Hauler

Umsetzung einer Markteintrittsstrategie in Ost-Europa am Beispiel des Kauf- und Warenhausgeschafts in Ungam ................... 83 Von Volkhardt KlOppner

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Dritter Teil

Volkswirtschaftliche Perspektiven

Innovationspolitik im Transfonnationsprozess ....................................... 97 Von Michael Fritsch

Wachstum, Konjunktur und Beschaftigung in den neuen BundesHindem ....................................................................................... 119 Von Helmut Seitz

Vierter Teil

Politik- und sozialwissenschaftliche Perspektiven

Innen- und auBenpolitische Lemprozesse in Polen in den neunziger Jahren ......................................................................... 155 Von Klaus Ziemer

LebensHiufe und MobiliHit in Ostdeutschland ....................................... 171 Von Peter A. Berger

Abschlussdiskussion ............................................................................ 201

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Erster Teil

Transformationen in den N euen BundesHindem und Osteuropa

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Klaus von Beyme*

Die Transformation Ostdeutschlands im Vergleich der postkommunistischen Systeme

1. Deutschland und Ostdeutschland im transnationalen Vergleich ......................... 5

2. Der ostdeutsche Sonderweg ................................................................................ 9

* Prof. Dr. Klaus von 8eyme, Ruprecht-Karls-Universitat Heidelberg, Institut flir Politische Wissenschaft

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"Demnach ist festzuhalten, dass bei der Aneignung ei­nes Staates der Eroberer aile Gewalttaten in Betracht ziehen muss, die zu begehen nOtig ist, und dass er aile auf einen Schlag auszujUhren hat, damit er nicht jeden Tag von neuem auf sie zuruckzugreiJen braucht, ohne sie zu wiederholen, die Menschen beruhigen und durch Wohltaten fur sich gewinnen kann ".

Machiavelli: II Principe. Kap. VIII.

1. Deutschland und Ostdeutschland im transnationalen Vergleich

Die Transformation Osteuropas hatte auf die neuen BundesHinder tiberwie­gend indirekte Wirkungen, durch den Wegfall der friiheren Exportgebiete und die wachsende Migration aus Osteuropa. Doch das alles ist von zweit­rangiger Bedeutung gewesen, im Vergleich zu den Wirkungen der WestOff­nung der DDR und der kompletten Ubemahme des westdeutschen Rechts­und Politiksystems.

Ein Vergleich der Entwicklung Ostdeutschlands kann daher nur die Diffe­renz- und nur selten die Ubereinstimmungsmethode der Komparatistik tibemehmen. Es gibt keinen most similar case, so lange andere geteilte Nati­onen, wie Korea, nicht zum Vergleich herangezogen werden konnen. In Vietnam siegte der kommunistische Teil und muss sich nun miihsam der Marktwirtschaft Offnen. Dieses Beispiel hat jedoch ilir die Komparatistik keinen Bildungswert und ist ein einmaliger Fall, der allenfalls der histori­schen Forschung offen steht. Der Vergleich der Folgen der Vereinigung muss zwei Sets von Daten be­ntitzen:

(1) Vergleichende Indikatoren zur Lage der osteuropaischen Wirtschaft (vgl. Tabelle 1) (2) OEeD-Daten tiber die Entwicklung Deutschlands nach der Vereinigung im Rahmen der westeuropaischen Lander (vgl. Tabelle 2)

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1m Vergleich mit Osteuropa schneiden die neuen BundesHinder weit besser ab als die anderen post-kommunistischen Gebiete - mit Ausnahme der Indi­katoren Wachstum und Arbeitslosigkeit.

• Der Anteil des Privatsektors ist hOher als irgendwo in Osteuropa. Der Preis fUr diese Effizienz einer Treuhand, die den Teufel des Staatssozi­alismus mit dem Beelzebub einer parastaatlichen Superbfuokratie aus­trieb, war hoch. 30% Liquidationen hat es in kaum einem Transforma­tionsprozess gegeben. In anderen Systemen wurden vielfach Transformationsmixe angewandt, die Staatswirtschaft und Privatwirt­schaft unterschiedlicher Untemehmensform sozialvertraglich zu mi­schen versuchten, vor all em in Polen.

• Die Haushaltsdefizite in Osteuropa sind abenteuerlich hoch (Russland -6,0; Polen -3,0; Ungam -5,1). In Deutschland zwangen die Maastricht­Kriterien zu einer ausgeglichenen Haushaltspolitik.

• Die Auslandsschulden belasten die neuen Demokratien (in Prozent des BSP: Russland 25%, Polen 31 %, Ungam 58%). Der Anteil Ostdeutsch­lands zum Abbau der Staatsschulden ist gering. Aber der "groBe Bru­der" hat fUr den sofortigen Anschluss zur gesamten Hand gehaftet. Die Staatsschulden in Prozent des Bruttoinlandsprodukts sind in ganz Deutschland nicht so hoch, wie man 1990 befUrchtet hat. Sie liegen bei 60% des BIP. Selbst die USA hatten 199864,6% und Japan 93,4% als wichtiger Konkurrent im AuBenhandel, der Deutschland auf dem 3. Platz dicht auf den Fersen ist in seiner Eigenschaft als Vizeweltmeister im Welthandel (nach den USA). Dass Italien innerhalb der EU mit 122% an der Spitze liegt, kann kein Orientierungspunkt fUr eine deut­sche Stabilitatspolitik sein.

• Die Steuern und Abgaben in Prozent des Bruttosozialprodukts sind in Deutschland durch die Vereinigung gewachsen. Sie lagen bei 41,9% (1985) und 38,5% (1990). 1995 waren sie wieder auf 41,9% des BIP gewachsen. Belgien und die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten liegen weit hoher; Japan, die Schweiz und die USA traditionell weit tiefer. Die

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Reduzierung der Staatsquote fUr welche die Regierung Kohl angetreten war, konnte durch die Belastungen der Vereinigung nicht gehalten werden. In Osteuropa scheint die Steuerquote z.T. geringer (1994: 28%). Das drastische Sinken der Steuerquote war jedoch kein Vorteil. Vor aHem in Russland zerfiel die extraktive Kapazitat des Systems. Viele Regionalregierungen entschieden willktirlich oder nach bilatera­len Verhandlungen, welche Steuerlast sie an die Zentrale abfiihrten. Diese war daher nicht imstande die notige Sozialpolitik zu betreiben. In Russland wurde diese indirekt und dezentral geleistet: Steuemach­lass fUr Betriebe, die keine Arbeitskrafte freisetzten. Der Modernisie­rung der Volkswirtschaft wurde freilich mit solchen Stillhalte­abkommen nicht gedient.

• Das Wachstum ist tiberaH in Osteuropa in die roten Zahlen geraten. Die frohe Botschaft lautet selbst fUr Russland inzwischen "the worst is over" (Russland 2%, Polen 6%, Ungam 3,5%). Ostdeutschland harte in der take-off-Phase Wachstumsraten, die hOher lagen. Umso beangsti­gender ist der spatere Einbruch. Die Prognosen fUr einen gesamtdeut­schen Boom von 2-3% betreffen nicht die neuen Bundeslander, die weiter zurUckfallen werden.

• In der Inflationsbekiimpfung hat Ostdeutschland im Windschatten der Bundesbank die Segnungen der Maastricht-Politik voll erhalten. 1-2% Inflation erscheint spektakular angesichts der Prognosen von 1990, die zehn und mehr Prozent prognostiziert hat. In Russland betrug die Infla­tion (1998) noch 28%, in Polen noch 12%, in Ungam noch 14% und das ist immer noch gtinstiger als in den Balkanstaaten.

• Die Arbeitslosenquoten sind im Osten wenig verlasslich. Deutschland ist selbst im Westvergleich Leidtragender aufgrund seiner exakten Sta­tistik und der hohen Sozialtransfers, die es lohnend machen, sich ar­beitslos zu melden. Dies ist in Russland nicht gegeben. 11 % gemeldete Arbeitslosigkeit ist nur die Spitze des Eisberges. Geringe Arbeitslosig­keit ist im Osten vielfach auch ein Zeichen einer illiberalen Politik. Marktwirtschaften, die sich westlichen Kriterien Offueten, kommen nahe an ostdeutsches Niveau heran (1998: Polen 13%, Ungam 10,5%).

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Ein Teil der hohen ostdeutschen Arbeitslosigkeit erkHirt sich aus der raschen Ubernahme des westlichen Systems. Keine Wirtschaft der Welt hatte eine Geldaufwertung von 300% tiberstanden. Zurn Teil ist die Krise auch eine Folge der hoheren Beschliftigungsquote (vor allem unter den Frauen). Es wird jedoch nicht mehr erwartet, dass ostdeut­sche Frauen sich ans Westniveau anpassen. Der urngekehrte Anpas­sungsprozess gilt den Arbeitsmarktpolitikern als wahrscheinlicher.

• Die Exportkraft der neuen Bundeslander hat durch die Transformation stark gelitten. Von dem deutschen Volurnen 950 Milliarden DM mit einem Plus von 7,1 % haben die neuen Bundeslander geringen Anteil, am meisten Sachsen (plus 15%) und am wenigsten Mecklenburg­Vorpommern (plus 1,9%) bei einem ziemlich geringen Ausgangsni­veau. Unter der absoluten Zahl von Mecklenburg liegen nur Bremen, Saarland, Berlin und Brandenburg. Ganz Deutschland exportiert kraf­tig nach Osteuropa mit 112 Milliarden. Doch die Zahlen trtigen. Allein Frankreich hat einen Anteil von 106 Milliarden am deutschen AuBen­handel.

• Bei den Direktinvestitionen in Osteuropa von 18.7 Milliarden Dollar ist Deutschland mit 20% vor den USA mit 14% und Frankreich mit 7,7% vertreten. Aber der alte hohe Anteil des AuBenhandels der DDR - der einmal 10% des gesamten sowjetischen Imports ausmachte - hat die Vereinigung und den Ubergang zur Marktwirtschaft nicht tiberlebt.

Die Btirger der neuen Bundeslander sind keine Komparatisten. Es trostet sie nicht, dass sie im Vergleich zu Osteuropa einmalige Spitze sind. Nur bis 1990 hat der Vergleich im RGW als die Nr. 1 des Wohlstands im Ostblock erhebende Wirkungen gezeigt. Vielleicht soUte wieder einmal der Ostver­gleich den Westvergleich erganzen, urn nicht zu allzu harschen Urteilen tiber die Wirkungen der Einheit zu gelangen.

Die Schrumpfung der industriellen Basis Ostdeutschlands war betrachtlich: 1991-1992 ca. 57%, am starksten in ThUringen (-65%), am geringsten in Brandenburg (-49%). Diese war die unvermeidliche Folge des sofortigen Beitritts der DDR. Es gab jedoch keine Alternative. Eine Verschiebung hlit-

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te zu einer beispiellosen Abwanderungsquote gefiihrt und die Sanierung der DDR-Wirtschaft ware nur mit westdeutschen Transfers zu leisten gewesen, die bei staatlicher Unabhangigkeit schwerlich in der Hohe der Nachverei­nigungsziffem geflossen waren. Die Stimmung der westdeutschen Politiker war etwa, wie Lambsdorff es in Worte fasste: "Die konnen doch nicht auf unsere Kosten noch ein bisschen Sozialismus spielen". Daher entfallt auch das gemilderte Szenario, man hatte die Regierung de Maiziere bis zum Staatsbankrott weiterwursteln lassen sollen, damit die Ostdeutschen den Ernst der Lage voll erfassen. Einmal haben sie diese durchaus in ihren Be­trieben versptirt. Zum anderen ware das Szenario riskant gewesen. Schon so kam die Meinung auf: "Wir mUssen die DDR kaufen - und zwar zu U­berhohten Preisen". Trotzdem hat man sich weiter Illusionen gemacht, was die Treuhand aus dem Verkauf des DDR-Vermogens fUr Gewinne erzielen wiirde. 1m schlimmsten Fall hatte dieses Szenario dazu gefiihrt, dass der Deutsche Bundestag nach einigen Jahren nicht mehr anschlussbereit gewe­sen ware, aber auch die Praambel nicht hatte andem konnen (wofUr seit langerem viele Griine und SPD-Mitglieder gewesen sind). Die DDR hatte sich dann in Karlsruhe auf der Grundlage der Praambel in die Bundesrepu­blik hineinklagen mUssen - flirwahr ein unwiirdiges Schauspiel, das uns zum GlUck erspart worden ist.

2. Der ostdeutsche Sonderweg

Kaum hat die Sozialgeschichte begonnen, liebgewordene Stereotypen Uber den deutschen Sonderweg zu hinterfragen, kam es zu einem neuen deut­schen Sonderweg. Nur Ostdeutschland wurde durch kompletten Transfer der Institutionen, durch finanzielle Transfers, welche die Marshallplan­Gelder, die Westdeutschland einst erhielt, urn ein zehnfaches und mehr U­berstiegen, und durch umfangreichen Transfer der Eliten transformiert. 1m transnationalen Vergleich lieBen sich im Ausland die alten Stereotypen des kolonialen "Drangs nach Osten" wiederbeleben. "Enthauptungsstrategie" und "Therapie auf dem elektrischen Stuhl" (Bryson 1992:138) lauteten die Urteile. Eine "Suizidartige Angliederung" (DiimckeNilmar 1995:7) wurde bedauert. Aber selbst bei den eifrigsten Kolonialisierungstheoretikem war es

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schwer, die Mitschuld der Kolonialisten zu tibersehen: "Der ... HeiBhunger auf die stabile Mark knurrte lauter in den Magen der DDR-Btirger als der Appetit auf alternative Politikfonnen" (ebd.:73).

Der Bund - und vor allem die westdeutschen Lander - haben viele kurzsich­tige Fehler gemacht. Die Lander haben den Bund finanziell tibervorteilt und bekarnen Schritt fur Schritt die Rechnung durch Aushohlung von immer mehr Kompetenzen der Lander prasentiert. Selbst in der Kulturpolitik haben sie sich gedrtickt, in der dem Bund eigentlich die Kompetenzen fur sein En­gagement fehlten. Die Selbstgerechtigkeit Westdeutschlands, die nicht ein­mal nach dem sofortigen Beitritt einen verfassungsgebenden Prozess in Gang zu setzen wagten, der ungefahrlich und doch integrativ hatte wirken konnen, war machiavellistisch konsequent. Die Einigungsarchitekten haben klar die Parole ausgegeben: "Ich habe immer eisern auf dem Grundsatz be­harrt, es gehe jetzt urn die Einheit und nicht darum, bei dieser Gelegenheit etwas fur die Bundesrepublik zu andern. Die Wiedervereinigung ist nicht die giinstige Gelegenheit, etwas durch die Hintertiir durchzusetzen, was oh­ne diese Gelegenheit seit Jahren nicht gelungen ist" (Schauble 1991:156). Selbst die zogernden Kolonisatoren, die in der ersten Goldgraberphase bei­seite standen, wie die Gewerkschaften, haben Anteil an dieser tiberforcierten Integration, welche die Tarifvereinbarungen praktisch zu einem ,,Beschafti­gungsverbot in diesem Landesteil" werden lieBen (Sinn/Sinn 1991: 150). Der Schock ohne Therapie (WiesenthaI1995:141) hatte selbstmorderische Aspekte im Bereich der Sanierung von Industrien und Erhaltung von Ar­beitspUitzen. Aber er hielt sich an die machiavellistische Maxime, dass Staa­teneroberer unvenneidliche Grausarnkeit kurz und auf einmal begehen mtissten, urn langsarn Vertrauen durch "Wohltaten" zu erwerben. Die Transfonnationsschocks wurden zeitgleich und irreversibel angesiedelt. Wiesenthal (1995:140) sah darin nicht nur die Grausarnkeit gegentiber den Kolonisierten. Man war gleichsarn hart gegen sich selbst und brutal gegen andere. Der Akt heroischer SelbstgeiBelung galt dem demokratischen Be­trieb in Westdeutschland, der in seinem nonnalen fragmentierten, halbsou­veranen Zuschnitt eine Ftille von halbherzigen MaBnahmen vorgezogen hat­teo In der Transfonnation musste gleichsarn sicher gestellt werden, dass die MaBnahmen nicht von Anfang an abgeschwacht werden konnten. Dies ge­schah noch frtih genug, als Beschleunigungsgesetze alte Fehler korrigieren

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mussten und rigide egoistische Grundsatze, wie die liberale Maxime "Ruck­gabe vor Entschadigung" langsam verwassert werden konnten.

Die Transformationsstrategie als deutsche Besonderheit bestand in ihrem altmodemen Holismus, der von der Theorie langst als unmoglich zu den Akten gelegt worden war. Das Unwissen uber die Prozesse der Transforma­tion und die mangelnde Fahigkeit zur Prognose, in Bereichen, wo nicht einmal, wie sonst bei Innovationsentscheidung, ,,half knowledge" herrscht, entfaltete eine politische Dynamik, die bei Routinepolitik ganz undenkbar ware. Sie erwies sich als Vorteil, wo eine technokratische Politikkonzeption nur Nachteile wittem wiirde (v. Beyme 1995a). Obwohl die deutsche Trans­formation voluntarisch und auf der Basis heroischer Annahmen oder sogar Mythen ad hoc konzipiert wurde, ist ihr "Demokratievertraglichkeit" be­scheinigt worden (WiesenthaI1995b:528), weil sie sich urn Widerstande or­ganisierter Gruppen nichtkiimmem musste und irreversible Fakten schuf, die selbst der politische Demiurg, der sie schuf, nicht willkiirlich wieder an­dem konnte. Politik fiel so in die Frtihzeit des Konstitutionalismus zurUck: Ohne viel Rucksicht auf die Betroffenen wurde patemalistisch entschieden -"car tel est notre plaisir." Aber der Furst war nicht mehr Absolutist. Er hielt sich an die geschaffenen Regeln, wie ein deistisch gedachter Gott als Uhr­macher der Welt nicht mehr willkiirlich in das selbstgeschaffene Raderwerk eingriff. Da ein so umfangreiches Transformationswerk mit den normalen Prozedu­ren der Vorbereitung von Gesetzgebung nicht zu bewaltigen war, war das "Durchwursteln" mit einem Maximalziel ohne wissenschaftlich solide Vor­bereitung der einzelnen Schritte, die dort hinfiihren sollten, vermutlich die einzige Moglichkeit zu handeln. Die Bundesregierung hat sich schon langer urn die wissenschaftliche Einschatzung des Handlungsbedarfs ex ante be­moot und die Evaluation getroffener MaJ3nahmen ex post verbessert. In den Priiffragen des Innen- und Justizministeriums sind 10 Hauptfragen als Mess­latte an aufkommende Probleme gelegt worden. Die erste Frage traf die Re­gelungsfahigkeit eines Problems, die zweite fragte nach den Altemativen. Das Ganze war auf Nichtentscheidung geeicht: im Zweifel sollte der Ge­setzgeber sich zurUckhalten (Text in: GrimmIMaihofer 1988:420-423). Eine fundierte Ex-ante-Evaluation hatte vielfach schon zur Vemeinung der Re­gelbarkeit gewisser Probleme im Transformationsprozess gefiihrt. Die Prii-

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fung des Handlungsbedarfs nach den Regeln der beiden Ministerien sind fUr Innovations- oder gar Transfonnationsentscheidungen nicht anwendbar, weil sie zu stark auf die Routinegesetzgebung zugeschnitten sind.

Die soziologische Transformationsforschung geht weniger von gesetzes­technischen Kriterien aus. Vier Kriterien wurden zur Messung des sozialen Wandels vorgeschlagen: Tempo, Tiefgang, Richtung und Steuerbarkeit (Zapf 1995:69). Diese Kriterien konnten im Falle Ostdeutschlands zu allzu positiver Bewertung verleiten: das Tempo war atemberaubend, die Tiefe der Eingriffe betdichtlich. Die Richtung - Dank der Schnelle und Tiefe der Ein­griffe kam es zu keinen Richtungsanderungen, wie in fast allen osteuropai­schen Nachbarstaaten, die ein Comeback der Reformkommunisten oder we­nigstens die Ruckkehr der sozialvertraglichen Kompromissstrategien erlebten - wurde in einigen Beschleunigungsgesetzen nur unwesentlich verandert. Allenfalls bei der Steuerbarkeit tauchen Zweifel auf. ,,Bliihende Landschaften" waren versprochen worden. Aber hat jemand diese blumigen Fonnulierungen wortlich genommen? Die zentrale Steuerbarkeit der Bun­desebene war begrenzt. Die Steuerungsfunktionen wurden weit gestreut, auf staatliche Institutionen (Bund, Lander, Kommunen), aufparastaatliche Insti­tutionen. Die Treuhand hatte die undankbare Aufgabe den "Teufel der Staatswirtschaft" mit dem "parastaatlichen Beelzebub" einer Mammutbe­horde auszutreiben. Immerhin hat sie ihren Zeitplan eingehalten und sich selbst als "original sin" im Vergleich zu allen anderen angeblich einmaligen SUnden, die neue Regime in der Institutionengeschichte begingen, wirklich tenningerecht uberflussig gemacht. Die gewichtigsten Steuerungsfunktionen in wei ten Bereichen, wie der Agrarpolitik, Lohnpolitik, soziale Sicherung, Gesundheitswesen, Forschungspolitik und Hochschulpolitik wurden weit­gehend von nichtstaatlichen gesellschaftlichen Akteuren bewaltigt. Die U­bemahme westlicher Institutionen - und was einmalig war im Vergleich zu anderen Sektoren, in denen nichtstaatliche westliche Akteure mitwirkten, selbst bei den Rundfunkanstalten - die Ubemahme der groBen Mehrheit des Forschungs- und Lehrpersonals aus dem Westen, ist als unvenneidlich an­gesehen worden (Lepsius 1991: 144, Zapf 1995 :70).

Die okonomischen Evaluationskriterien waren am stlirksten von der Gleich­zeitigkeit der Transfonnation des Wirtschafts- und des politischen Systems

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gekennzeichnet. Wo die Okonometriker von politischen Bedingungen in der Entwicklung der Wirtschaftssysteme weitgehend abstrahierten, mussten die Transformationsokonomen nun empfehlen, alles aus dem Datenkranz wie­der herauszuholen, das friiher dort hinein verbannt worden war (Hedtkamp in: Gahlen 1992:88). Die Okonomen empfahlen vielfach der Schaffung des rechtlichen-institutionellen Rahmens Prioritat zu geben, und nach einer ge­samtwirtschaftlichen Stabilisierung erst in der dritten Phase die Privatisie­rung umfassend voranzutreiben (Kloten in Gahlen 1992:29). Daran hielt sich kaum ein postkommunistisches Land. In Osteuropa begann die Privati­sierung als Manager-Privatisierung notfalls anomisch. Im ostdeutschen Sonderweg war die erste Phase durch komplette Obemahme des Rechtssys­terns und der Institutionen ubersprungen worden und die Privatisierung konnte sofort mit der Losung aller anderen Probleme simultan beginnen.

FUr die Neuordnung der Eigentumsverhaltnisse gab es unterschiedliche Mo­delle: neb en der zentral gesteuerten Treuhand-Privatisierung (Ostdeutsch­land, Bulgarien), gab es Ministerien oder andere Hauptverwaltungen, die sich dieser Aufgabe stellten. Sie wurde, wie in Russland, Polen oder Tsche­chien vielfach mit der Voucher-Privatisierung kombiniert. Ein dritter Typ, wie in Ungam, der von Fall zu Fall pragmatisch entschied und vor aHem auf die Gewinnung auslandischen Kapitals gerichtet war, lieB sich unter­scheiden. Immer wieder ist auch fUr Ostdeutschland die Voucher-Privatisierung in ei­ner Variante als sozialvertraglich nahegelegt worden (Sinn/Sinn 1991:11Off). Nach den ublichen Evaluationskriterien ist der Streit schwer zu schlichten: Tempo und Vollstandigkeit garantieren das Treuhandmodell am ehesten. Die Sauberkeit des Prozesses und die Minimierung der Korruption ist theoretisch beim Vouchermodellieichter zu erreichen. Es zeigt sich frei­lich bei den Mischungsverhaltnissen, von Anteilseignem, die vor allem in Polen geschaffen wurden, dass auch die Traditionen der Rechtskultur hier nicht weniger wichtig sind als das gewahlte Privatisierungsmodell. Chan­cengleichheit der Burger beim Erwerb von Eigentum wird yom Treuhand­modell nicht ermoglicht. Nicht einmal auslandische GroBuntemehmen fiihl­ten sich gleichberechtigt in der Verteilung des aufgelOsten Staatseigentums der DDR. Kleinanbieter hatten kaum Chancen. Die EfJizienz der verblei­benden Wirtschaftseinheiten war im Treuhandmodell groBer, wamend das

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Vouchennodell zu chronischer Unterversorgung mit Kapital fiihrte. In der Fiihigkeit, ausliindisches Kapital anzuziehen, waren beide Modelle begrenzt erfolgreich und das pragmatische Modell Ungarns schien uberlegen.

Die Wahl der Wirtschaftsstrategie in den Refonnstaaten schlieBlich zeigte, dass viele Randbedingungen in die Evaluation der Erfolge von Transfonna­tionsprozessen einbezogen werden mussen. Polen und Russland versuchten es voriibergehend unter Balcerowicz und Gajdar mit einer Schocktherapie. Sie hatte gewisse Erfolge in Polen und geringe in Russland. Die Differenz ist mit mehreren Randbedingungen erkHirt worden (Ellmann 1992:51). Die Lohnkontrolle musste im Staatssektor aufrechterhalten werden. In Polen wurden Betriebe, die hohere Lohnsatze gewahrten als die staatlich vorgege­benen und damit urn mehr Staatssubventionen einkamen, mit einer Art Strafsteuer (popiwek) belegt (WiesenthaI1995:139). Die Inflationsbekamp­fung musste effektiv sein und die ausHindischen und inHindischen Stabilisie­rungshilfen mussten gegen mafioses Versickem geschutzt sein. In Russland war dies nicht der Fall. Die schiere GroBe des Landes und das Bewusstsein vieler Kader "im Felde unbesiegt" urn den realen Sozialismus geprellt wor­den zu sein, konnte keine staatliche Lenkung im Transfonnationsprozess ef­fektiv werden lassen.

Die Kriterien der soziologischen Transfonnationsforschung messen den outcome und den impact in mittelfristiger Perspektive. Politikwissenschaftli­che Evaluationskriterien sind in der Regel eklektische Biindel aus den ver­schiedenen Bereichen der Rechtswissenschaft, der Okonomie und der So­ziologie, unter Hinzufiigung eigener Kriterien. Sechs Kriterien sind in der Evaluation staatlicher MaBnahmen im Schwange:

(l) Die Regelungsfohigkeit eines Problems. Sie wurde dezisionistisch ge­setzt. Es gab kein Rezept fur den Ubergang von einer Plan- zur Marktwirt­schaft, und es konnte in einer freien Gesellschaft keines geben, wo nicht einmal der Marxismus fur Lenin ein Konzept des Ubergangs vom Kapita­lismus zum Sozialismus bereit gehabt hatte. Die Ziele wurden gesetzt. Sie waren von der heroischen und mythischen Annahme begleitet, dass Privat­eigenturn effizientere Wirtschaftsbedingungen schafft als Staatseigentum.

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Transformation Ostdeutschlands im Vergleich der postkommunistischen Systeme 15

(2) Prozedura1e Effizienz: Das Tempo der Vedinderung Ein deutscher Sonderfall der besch1eunigten Schaffung von faits accomplis lag anfangs in der intemationa1en Unsicherheit der Lage. Die Zeitsach­zwange waren zunachst auI3erer Natur. Bis zu den Zwei-p1us-Vier­Verhand1ungen musste noch befUrchtet werden, dass eine unhei1ige Allianz von Freunden in Westeuropa und Feinden in den Resten des sozialistischen Lagers sich aufnichts einigen konnten a1s auf das Veto gegen die Vereini­gung. Mitterand hat dabei zweifellos auf Gorbatschow gesetzt und seinen Widerstand erst aufgegeben a1s die sowjetische Karte nicht mehr stach. Die spateren Zeitzwange der ersten Phase waren gerade in Deutschland von ei­ner panischen Angst vor dem Denken in Termini des "Dritten Weges" ge­zeichnet. Das Lambsdorff-Diktum, dass man doch nicht "auf unsere Kos­ten" noch ein bisschen Sozia1ismus weiterspielen konne, deutete dies an. In keinem Reform1and wurde so stark auf irreversible Entscheidungen gesetzt, wei I kein Land soviel Hilfe von auI3en bekam. Ostdeutschland musste noch einma1 vollziehen, was aIle Deutschen gemeinsam 1945 hinter sich gebracht hatten: "unconditional surrender". Wie 1945 fUr Westdeutsch1and 10hnte sich diese Unterwerfimg, wei1 die Bundesrepublik zur gesamten Hand hafte­teo Die westlichen AIliierten tiberwanden ihre Bedenken gegen den verein­ten deutschen Moloch aufgrund der Mog1ichkeit, die Kosten fiir die Integra­tion der DDR in Deutschland zu intemalisieren. In einer Demokratie, in der der Osten wenigstens ein Fiinfte1 aller Wahlerstimmen steIlte, war das Wag­nis begrenzt. Westdeutsch1and konnte sich nicht 1eisten, die Erwartungen Ostdeutsch1ands vollig zu enttauschen, da ein ostdeutsches Sonderparteien­system - wenn die An1iegen nicht mehr im gesamtdeutschen Parteisystem durchsetzbar schienen - zu einer Sperrminoritat hatte fiihren mtissen, eine Sperrminoritat, welche die PDS mit ihrem Fiinfte1 innerha1b des Fiinfte1s der ostdeutschen Stimmen nicht aufbauen konnte. Auch politisch war die Integ­ration irreversibel vollzogen. Das ostdeutsche Protestpotential war auf den Weg einer Pressure group verwiesen. Aber auch dieser Weg wurde tiber ko-10nialisierende Organisationen gegangen. Die Verbande haben trotz der Ausdehnung ihrer Strukturen auf ostdeutsches Gebiet sehr flexibel auf die Bediirfnisse der ostdeutschen Bevolkerung Rticksicht genommen. Das gilt keineswegs nur flir die zogerlichen Kolonisatoren, wie die Gewerkschaften, sondem auch fUr Verbande, die im Westen nach a1terti.imlichen Idea1en des mitte1bauerlichen Fami1ienbetriebes 1ebten und doch im Osten die Trans-

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fonnation der LPGs, vielfach von alten Kadem gesteuert, in ihrer neuen Gestalt als "Agrobusiness" akzeptiert haben.

Das Tempo des Transfonnationsprozesses setzte sich nicht in entsprechende Erfolge der "bliihenden Landschaften" urn. Einerseits erwiesen sich die un­gekHirten und nicht in gleichem Tempo kHirbaren Eigentumsverhaltnisse als Hemmschuh fUr den Aufschwung. Andererseits waren Beschleunigungsge­setze nOtig, weil die TransfonnationsmaBnahmen nicht hinreichend griffen. Der Zwang, zur Aufrechterhaltung und Beschleunigung des Veranderungs­tempos immer neue MaBnahmen starten zu mussen, ist als "Verostung der bundesrepublikanischen Staatspraxis" gebrandmarkt worden, weil er an das Kampagnen-Unwesen des realen Sozialismus zu erinnem schien (Offe 1994: 267). Der Neokapitalismus teilte in der Tat mit dem alten Sozialis­mus, den er als Erbfeind ansah, die Illusion, dass MaBnahmen, die nicht griffen durch mehr MaBnahmen in die gleiche Richtung ersetzt werden mussten. Beide Paradigmen lieBen sich ungem durch Skepsis gegenuber dem Endziel beirren, obwohl die Chicago-Boys von Chile bis Israel doch vielfach hinreichend Niederlagen erlitten hatten. Die Praxis immer neuer Beschleunigungen ist aber kein Privileg unter den Transfonnationsentschei­dungen. Wo Staaten handeln, obwohl der Erfolg von MaBnahmen kaurn ra­tional kalkulierbar ist und doch von den Wahlem Handlungen verlangt wer­den, wird vielfach ganz ahnlich optiert. Man denke an den Bereich der Asylverfahrensanderungen und der Terrorismusbekampfungsgesetze.

(3) Die Einschatzung von MaBnahmen als innovativ oder bloJ3 reaktiv, die bei nonnalen Staatstatigkeiten eine Rolle in der Evaluation spielt, stellt sich in Transfonnationsprozessen so nicht. Die restaurative MaBnahme, die Wiederherstellung des Privateigenturns gilt als ipso facto innovativ. Umge­kehrt gilt den Kritikem der Kolonialisierungspolitik nur der Erhaltungsgrad der "Errungenschaften der DDR" als Kriteriurn der Innovation. In einigen Bereichen, wie dem Gesundheitswesen wurde dem DDR-System auch von offiziellen Publikationen Westdeutschlands bescheinigt, dass der outcome an Indikatoren der Gesundheit gemessen, im ganzen etwa aquivalent war (Indikatoren 1993:628). Dennoch hielt sich das Gesundheitssystem der DDR nicht, weil die Mehrheit der Arzte der DDR, nach anfanglichem Zo­gem, den Sirenenklangen des Westens und der Hoffnung auf gesteigertes

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Transformation Ostdeutschlands im Vergleich der postkommunistischen Systeme 17

Einkommen folgte. Die Patienten wurden nicht gefragt, ob sie die Errungen­schaften erhalten wollten oder das westdeutsche Praxis-System iibemehmen wo11ten. Sie konnten sich erst nach einigen Jahren in den Umfragen auBem und da waren die BUrger Ostdeutschlands in ihren Optionen durchaus ge­spalten (Kocher 1994:5).

Die Nostalgie nach den Errungenschaften iibersah vielfach die Dynamik des egalisierenden Rechtsstaats. Der liickenlose Rechtswegstaat konnte nach dem Beitritt nicht an der friiheren Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten aufgehalten werden. Die Architekten der Einheit, wie Schauble (1991:153), haben glaubhaft versichert, dass sie sich die Dbertragung des westdeutschen Rechtssystems durchaus ohne sofortige Einfiihrung des "Nachtbackverbots" vorste11en konnten, und dass manche Normen im Bau-, Sozial-, oder Umweltrecht in ihrem Perfektionismus sogar negative Folgen in Ostdeutschland entwickeln konnten. Aber die Selbstkolonialisierung hat auch in diesem Punkt an der Beschleunigung der Rechtsvereinheitlichung mitgewirkt. Die DDR-Unterhandler haben in der zweiten Runde der Ver­handlungen ihren Standpunkt der Autonomie des DDR-Rechts weitgehend aufgegeben, wei 1 der vorauseilende Gehorsam im Rechtssystem die naehei­lende soziale Integration in der Angleichung der Lebensverhaltnisse ver­sprach. Es kam auch in diesem Punkt zu einer Enttauschung. Der alte Artikel 72,3 Grundgesetz hatte noch von der "Wahrung der Einheitlichkeit der Lebens­verhiiltnisse" gesprochen. Von "Wahrung" konnte fur Ostdeutsehland nieht die Rede sein. Bei der Gelegenheit der Anderung des Grundgesetzes kam ein aktiverer Zungensehlag in den neuen Art. 72,2 GG, wei 1 nun von "Her­ste11ung" die Rede war. Aber die Einheitliehkeit der Lebensverhaltnisse war nun auf ,,gleichwertige Lebensverhiiltnisse" gesehrumpft. Damit sehien ei­nerseits ein unterprivilegierter Sonderweg Ostdeutsehlands mit dem Grund­gesetz vereinbar gemaeht. Andererseits - haben aueh nieht direkt durehsetz­bare Normen, wie der Artikel 72, we1che nur Anhaltspunkte fur die Befugnisse des Bundes bei der konkurrierenden Gesetzgebung bieten so11-ten, eine Verselbstandigung erlebt. Sie werden dureh ihren Appe11eharakter wie ein Verfassungsgebot ausgelegt. Es waren eher westliehe Akteure in Ostdeutschland, die vor diesem Appell wamten, wie Biedenkopf(1992:64). Sie mieden eine unreflektierte Aufholjagd und lieBen die alte Ulbrieht-

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Maxime unter neuem Vorzeichen wieder aufleben: "Oberholen ohne einzu­holen". Die administrativen Akteure, der "Kolonialisten" verdachtigt, ver­halten sich jedoch auch ohne Grundgesetz-Appell so, als ob die soziale In­tegration in der klirzest moglichen Zeit das Transformationszie1 sei. Auch die Soziologen, die dem Tempo aus modemisierungstheoretischer Sicht wohlwollend gegeniiber stehen, waren skeptisch, dass dies in wenigen Jah­ren erreicht werden kann (Zapf 1995:78). Bei der dennoch angesetzten Auf­holjagd wird immer wieder vergessen, dass zu den "gleichwertigen Lebens­verhaltnissen" auch solche Bereiche gehOren, in denen der Osten schon im alten Deutschen Reich einen permanenten Nachteil gegeniiber Westdeutsch­land hatte, wie im Wohnungswesen und vor allem im Wohnungseigentum (v. Beyme 1995:62). Auf diesen Gebieten gleichzuziehen wird Jahrzehnte dauem.

(4) Selbst bei hoher Zieltreue von staatlichen MaBnahmen kann das AusmaJ3 der nichtintendierten Nebenfolgen partielle Erfolge konterkarieren. Bei Transformationsentscheidungen sind die Reaktionen der Betroffenen kaum zu antizipieren. Transformatoren brauchen daher mindestens soviel soziale Kompetenz wie politisch-organisatorische Fahigkeiten. Zu den unerwiinsch­ten Nebenfolgen gehOrt die Zersplitterung und Informalisierung der Ent­scheidungsprozesse, die Entstehung immer neuer Beratungsgremien und Nebenhaushalte (Czada 1994:247). Bei der Evaluation vieler fUr erfolgreich angesehenen Gesetze spie1en Mitnahmeeffekte eine groBe Rolle, wie bei WohnungsbaufOrderungsmaBnahmen und protektiven Gesetzen im sozialen Bereich. Dass die Zahl der ungerechtfertigten Bereicherungen in einem Transformationsprozess hOher ist als bei Routineentscheidungen, ist ver­standlich. Aber diese Einsicht sollte vor iibertrieben scharf en Bewertungs­kriterien schiitzen, wo die Staaten sich doch schon iiberlegen miissen, ob sie hinreichend Kapazitat haben, Baustellen auf Schwarzarbeiter hin zu kontrol­lieren. Die taglichen Enthiillungen iiber Subventionsbetrug miissen mit ost­europaischen Transformationsprozessen verglichen werden. Das System der Transfers wird in Deutschland nicht grundsatzlich mafios gehandhabt und es kommt von dem Geld vergleichsweise mehr an den vorgesehenen Ort als in anderen ex-sozialistischen Landem. Der Bund hat sich 1990 von den Lan­dem in der Finanzierung der Einheit ausmanovrieren lassen. Er rachte sich gleichsam durch einen geringen Anteil von Finanzierung durch Steuem im

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Vergleich zur Kreditaufuahme und der Abwalzung von Einigungsfolgekos­ten auf die Beitrage zur Sozialversicherung (Mading 1995:111). Aber tiber die regionale und funktionale Verteilung der Transfers bei der Empfanger­seite wurde bisher weniger Klage gefiihrt als tiber die Benachteiligung de­rer, die zu Opfem dieser Finanzpolitik vomehmlich in Westdeutschland wurden. Nur die Unmerklichkeit der versteckten Opfer der Westdeutschen hat den Unmut in der alten Bundesrepublik in Grenzen gehalten. Auch darin kann man machiavellistischen Zynismus wittem. Schon tiber den realen So­zialismus hat man einst gespottet. Der Westen kanne von ihm lemen, wie man "Errungenschaften" durch das ungerechteste System finanzieren kanne, das es, gemessen an sozialistischen Zie1en, gabe, namlich durch indirekte Steuem, da der Sozialismus bekanntlich ein geringes Steueraufkommen aus den Wirtschaftseinheiten zog.

(5) Ein wichtiges Kriterium bei Routineentscheidungen ist die Implemen­tierbarkeit von MaJ3nahmen. Sie hat am Anfang gelitten, als Transfers gele­gentlich noch durch Einbestellung der Landrate und Btirgermeister per ScheckUberreichung abgewickelt werden mussten, weil das Bankensystem noch nicht zufriedenstellend funktionierte. Gemessen an diesen Startschwie­rigkeiten ist der komplette Verwaltungsumbau in Ostdeutschland gUnstig, oder wenigstens als "erfolgreiches Scheitem" beurteilt worden (Seibel 1994).

(6) Je machiavellistischer eine Veranderungsstrategie, umso starker spielt ein letzter Gesichtspunkt eine Rolle, die Akzeptanz, welche die MaBnahmen finden. J ede Transformation begann mit tiberhahten Erwartungen, was der Kapitalismus des "Goldenen Westens" bewirken kanne. Insofem waren Ak­zeptanzdefizite und Enttauschungen vorprogrammiert. Die "subjektive Mo­dernisierung" (Hradil 1996: 107ft), die allein die Erwartungen realistisch machen kann, weil man das eigene patemalistische Versorgungsdenken ab­baut und entgangene Transfergewinne durch den Zuwachs an Maglichkei­ten des Lebensweiseparadigmas in einer freien Gesellschaft kompensiert, halt mit der objektiven Modemisierung nicht Schritt. Sie tut dies umso we­niger, als der Realsozialismus ja nicht auf allen Bereichen einer nachholen­den Modemisierung bedurfte. In vielen Prozessen, wie Alphabetisierung, Sakularisierung, Urbanisierung, soziale Nivellierung hatte er im Vergleich

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zur marktwirtschaftlichen Konkurrenz eher ein ObermaB an Modernisierung erlangt. Die Intemalisierung altmodemer sekundarer Tugenden des Arbeits­ethos machen Arbeitslosigkeit und Statusverfall fUr Ostdeutsche schwerer ertrliglich als fUr westliche BUrger des nachmodemen Zeitalters.

FUr die Ostdeutschen ist die subjektive Verarbeitung des Umbruchs leichter und schwerer zugleich. Leichter erscheint sie, weil objektiv die Lage giinsti­ger erscheint als in den anderen Reformstaaten. Schwerer ist diese psychi­sche Verarbeitung, weil die Hilfe aus dem Westen, verbunden mit einer Hal­tung, die als patemalistische Bevormundung empfunden wird, nicht nur Dankbarkeit sondem auch Groll erzeugt. Die verbliebenen Differenzen fiih­ren zu Neidgefiihlen gegeniiber dem Westen. Der alte Stolz der DDR auf die "abgewetzten Hosen" kompensiert mit dem Bewusstsein im Ostblock die am besten versorgte Nation gewesen zu sein, ist gebrochen.

Die Umfragen kommen und gehen. Die Momentaufuahmen zeigen jedoch, dass etwa die Hlilfte der Ostdeutschen anerkennt, dass es ihnen wirtschaft­lich besser geht als vor der Wende. Ein Fiinftel hingegen fiihlt sich schlech­ter gestellt (Gensicke 1995: 128). Nach anderen Umfragen geben Zweidrittel der Ostdeutschen zu Protokoll, dass es in ihrer Umgebung aufwlirts gehe. In der Jugend waren 1994 laut Umfrage sogar 76% relativ optimistisch. Am unzufriedensten waren die mittleren Altersgruppen (35-45 Jahre) (Kurz­Scher:£IWinkler 1994:27). Ostdeutschland liegt in der Systemakzeptanz nach der Tschechischen Republik in transnationalen Umfragen an zweiter Stelle. Ost- und Westdeutschland wiesen hinsichtlich der Zufriedenheit mit den materiellen Lebensbedingungen schon erstaunlich geringe Unterschiede auf (Rose/Seifert 1995: 295f). Von einer Angleichung der Lebensverhliltnisse mogen auch die Modernisierungsoptimisten noch nicht sprechen. Aber die rasche Integration fiihrte zu einer Verlangsamung der Veranderungsge­schwindigkeiten in Ostdeutschland, wamend der Wandel in anderen Re­formstaaten erst langsam in Gang kommt (ZapfIHabich 1995:154f). Das Klagen tiber die Rolle der PDS, etwa in der Ablehnung der Fusion der Lan­der Brandenburg und Berlin, verdeckt den Umstand, dass in keinem anderen postkommunistischen Land ,mit Ausnahme Tschechiens, der Anteil der Postkommunisten so niedrig ist wie in Ostdeutschland. Von einer Mehrheit ist die PDS auch in den benachteiligsten ostlichen Bundeslandem weit ent-

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femt, wo selbst Staaten, die nicht als besonders pro-kommunistisch im An­cien-Regime galten, inzwischen die Reformkommunisten wieder an die Macht brachten (Litauen 1992, Polen 1993, Ungam 1994, Estland 1995).

Das Gefiihl der wirtschaftlichen Besserstellung war begleitet von einem vielfachen Verlust oder einer Degradierung des Arbeitsplatzes, die keine hinreichende Zufriedenheit tiber die materielle Sicherung aufkommen las­sen. Die Rentner geh6ren eindeutig zu den besser Gestellten. Aber die rUckwirkende Entwertung ihrer Lebensarbeit treibt gleichwohl viele in die Arme der PDS. Ein regionales Sonderbewusstsein ist daher auf langere Zeit vorprogrammiert. Ostdeutschland ist mit Schottland verglichen worden, das selbst 300 Jahre nach der Fusion im Vereinigten K6nigreich die verlorene Macht mit dem Kampf urn kulturelle Identitat kompensiert. Auf den Zeit­raurn ,,300 Jahre" werden sich nicht einmal die Anhanger von Kolonialisie­rungshypothesen festlegen wollen. Schottland hatte seine alte Identitat seit dem Mittelalter, als groBe Teile des heutigen Ostdeutschlands zurn ersten Mal von dem damals noch nicht bestehenden "Westdeutschland" koloniali­siert wurde.

40 Jahre Sonderentwicklung reichen verrnutlich nicht aus fiir die Herausbil­dung eines slikularen Sonderbewusstseins. Je langer die Integration dauert, urnso mehr wird die Mitgift von DDR-Hinterlassenschaften eher zur Erblast (ReiBig 1994). Die Erforschung der ostdeutschen Befindlichkeit ist langst aus dem Gefiihlsstau-Gejammer herausgetreten. Pragmatisch und ohne ex­treme Stress- und Anomie-Symptome scheint die Mehrheit der Ostdeut­schen den "Schock ohne Therapie" tiberstanden zu haben. Ais Erklarungen wurden dafiir die aktive Selbstbeteiligung am Umbruch (die Parole "wir sind ein Volk" wurde zuerst im Osten gerufen!) die Besserstellung, die kol­lektive Gemeinsamkeit des Erleidens von Veranderungen ailgeboten. Verbleibende Erkll:irungsreste werden mit einer "Durststreckenhypothese" angegangen (Becker 1992b:36). In der Tat zeigt sich, dass die Prognosen der Entwicklung fUr die Zukunft noch wesentlich gtinstiger sind. Darin al­lerdings steht Ostdeutschland nicht allein. Verschiedene Surveys haben An­fang der 90er Jahre fUr alle postkommunistischen Staaten festgestellt, dass eine Schere klaffte zwischen der Einschatzung der momentanen Lage und den Hoffuungen fUr die nahe Zukunft (v. Beyme 1994:335ff).

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Die Erforschung der Befindlichkeiten in Ostdeutschland ist Hingst von der Kritik des Konventionalismus der Ostdeutschen in das Lob ihrer Chaosfa­higkeit (Hradil 1996:74) umgeschlagen, die fUr kommende Umbruche in Gesamtdeutschland Startvorteile versprechen. Selbst die Analysen der PDS­Nahesteher differenzieren sich aus. Wahrend die einen fUr die Friktionen im feindlosen Kapitalismus, der seine Kohasion verloren hat, gleichsam drohen "ihr im Westen kommt auch noch dran!", weil die alten Krisenszenarien sich noch immer auf das "postfordistische Akkumulationsregime" anwen­den Hisst (Klein 1996:25), sehen andere eher die Chance der organisierten Minderheit, im fragmentierten und f6deralistischen System mit weiten Par­tizipationsfreiheiten ihre Bediirfnisse aktiv durchzusetzen (Brie 1994). Die Hoffuung auf krisenhafte Bruche und Wandlungen im Westen wird auch von Autoren nicht geteilt, die den Traum von der immerwahrenden Prospe­ritat seit langem entlarvt haben. Der Wandlungsdruck im Westen erh6ht sich (Zapf 1995 :78). Aber die Grlinde dafUr liegen eher in der Europaisierung der Politik und der Globalisierung der Okonomie als im Verlinderungs­druck, der aus der deutschen Einheit resultiert.

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Tabelle 1: Indikatoren der wirtschaftlichen Entwicklung in Osteuropa

Russ- Ukrai- Polen Tsch. Un- Ruma- Bulga-land ne Rep. gam nien rien

Reales BSP (% Veriinder- -7,0 -3,6 4,7 0,5 4,3 -2,0 3,7

ung) 1999 Anteil des pri-vaten Sektors 1991: 10 1991: 8 1991:42 1991: 16 1991: 30 1991: 23 1991: 17

am BSP 1996:70 1996:48 1996:60 1996:74 1996:73 1996: 50 1996:45

an der Be-schiiftigung n.d. 1991: 3 1991: 54 1991: 16 1991: 48 1991: 34 1991: 10

1994: 10 1995:63 1995:65 1995:60 1996:62 1996:41

Anteil der ein-zelnen Sekto-renin % am BSP 1995: 1994: 1994: 1995: 1995: 1994: 1994:

Landwirt- 15 14,3 6,0 5,2 7 20 14,7 schaft

Produktion 38 42,4 38,0 41,0 34 38 33,6

DienstIeis- 53 30,3 56,0 53,8 59 22 51,7 tungssektor

HaushaIts- 1996: 1997: 1997: 1997: 1997: 1996: 1996:

defizit -6,0 -6,1 -3,0 -2,0 -5,1 -2,0 -5,0

1991: 93 1991:94 1991: 76 1991:57 1991: 34 1991: 161 1991: 333 Inflation

1998:28 1998: 11 1998: 12 1998: 11 1998: 14 1998: 59 1998:22

1992: 1992: 1992: 1992: 1992: 1992: 1992:

Arbeitslosig- 4,9 0,3 13,6 2,6 13,2 8,4 15,2

keit 1998: 1998: 1998: 1998: 1998: 1998: 1998:

11,0 12,0 13,0 4,5 10,5 10,0 17,0

1991: 1991: 1991: 1991: 1991: 1991: 1991:

-12,9 11,9 -7,0 -14,2 11,9 -12,9 -11,7 Wachstum

1998: 1998: 1998: 1998: 1998: 1998: 1998:

2,0 4,0 6,0 3,0 3,5 0.0 5.0

Investitionen 1996 im Ver-

30,9 26,9 116,1 121,5 91,1 68,6 55,8 gleich zu 1989 in% BSP 1996 im Vergleich zu 56,5 40,3 104,5 88,1 86,9 88,2 68,9 1989

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Russ- Ukrai- Polen Tsch. Un- Ruma- Bulga-land ne Rep. gam nien rien

1994: 1994: 1994: 1994: 1994: 1994: 1994:

BSP per capi- 17.8 10.1 21.2 34.4 23.5 15.8 16.9 tal verglichen mit US $* 1995: 1995: 1995: 1995:

2240 n.d. 2790 3870

Aus1ands-schu1den in % 25.4 21.2 31.4 20.4 58.7 23.5 102.7 des BSP Verhliltnis zwischen Im-porten und Exporten und ausllindischen 2.5 -3.3 -9.5 -8.5 -3.0 -6.5 7.0 Transfers im Verhliltnis zum BSP% 1997

Steuern in % 1989:41 1989:26 1989:41 1989:62 1989:59 1989:51 1989:60

des BSP 1994:28 1994:42 1994:46 1994:51 1994:52 1994:33 1994:38

% der Beviil- 25 21.1 13 10.8 35 n.d. 19.5

kerung unter 35 der Armuts- (World grenze Bank)

zweite infor-melle Wirt- 1994:40 46 15 18 29 17 29 schaft in %

* Griechenland: 8210; Portugal: 9740; Spanien: 13580

Quellen: DIW u.a.: Wirtschaftslage und Reformprozesse in Mittel- und Osteuropa. Bonn, BMW 1997; OECD: the Russian Federation. Paris 1997; World Banle World Economic Outlook. Washington, Mai 1999; Salvatore Zecchini (Hrsg.): Lessons from the Economic Transition. Central and Eastern Europe in the 1990s. Paris, OECD 1997; Klaus Muller: Postsozialistische Krisen. In: ders. (Hrsg.): Postsozialistische Krisen. Opladen, Leske & Budrich 1998: 177-249; Finanzbericht 1999 und 2000. Bonn, BMF.

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Transformation Ostdeutschlands irn Vergleich der postkommunistischen Systeme 25

Tabelle 2: Gesamtwirtschaftliche Daten im OECD-Vergleich

Bruttoinlandsprodukt Land Jahr Ver- Arbeits- Leistungs Steuem Staats- durch

braucher- losen- -bilanz- und schulden in Streiks preise in quote in saldo v. Sozialab- v. H. des verlorene

nomi- real Defla- v. H. v. H. H. des gaben in BIP Arbeitstage nal gegen- tor gegenuber BIP v. H. des in 1000

inv.H. uber Vorjahr BIP Vo~ahr

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

BRD, 1985 4,1 2,0 2,1 1,5 8,2 2,7 40,3 41,5 1990:363 ab 1991

einschl. 1990 9,0 5,7 3,2 2,7 6,4 3,3 38,5 43,2 1995:247

NBL 1995 4,1 1,9 2,2 1,9 9,4 -1,0 41,9 57,1 1996: 98

1998 4,5 rd. 3,0 rd. 1,5 rd. 2,0 rd. 11,0 rd. 60,S

2000 3,5 rd. 1,5 rd. 10,5 rd. -0,2 41,0 60,0

Belgien 1985 6,5 0,9 6,0 5,7 12,4 0,9 47,7 122,1 1990:103

1990 6,6 3,7 2,9 3,3 8,8 1,9 44,9 129,7 1995:100

1995 2,4 1,9 1,9 1,6 13,1 5,7 45,9 133,5 1996:146

1998 4,5 2,6 2,6 1,8 12,3 6,3 124,5

Dane- 1985 8,8 4,3 4,3 4,3 9,0 -4,6 49,0 76,0 1990:97

mark 1990 4,1 1,4 2,7 2,7 9,6 1,0 48,7 59,9 1995:197

1995 4,5 2,7 1,9 1,9 10,3 10,3 51,7 72,1 1997: 99

1998 6,2 2,9 3,2 3,2 7,4 7,4 61,9

Frank- 1985 7,8 1,9 5,8 5,8 10,2 -0,1 44,S 38,6 1990:528

reich 1990 5,7 2,5 3,1 2,8 8,9 -0,8 43,7 35,4 1995:521

1995 3,7 2,1 1,6 1,6 11,5 1,1 44,S 53,1

1998 4,3 2,8 1,4 1,4 12,2 2,0 58,S

Gro6bri- 1985 9,4 3,5 5,7 5,3 11,0 0,6 37,9 58,9 1990:5925

tannien 1990 6,8 0,4 6,4 5,5 5,8 3,4 36,4 39,4 1995:5771

1995 4,9 2,5 2,3 2,5 2,5 0,6 35,2 54,0 1997:4497

1998 4,9 2,7 2,2 2,3 2,3 0,2 52,8

Page 32: Politische und wirtschaftliche Transformation Osteuropas: Chancen und Potenziale f¼r die neuen Bundesl¤nder

26 von Beyme

Bruttoinlandsprodukt Land Jahr Ver- Arbeits- Leistungs Steuem Staats- durch

braucher- losen- -bilanz- und schuldenin Streiks preise in quote in saldo Y. Sozialab- Y. H. des verlorene

nomi- real Defl.- Y. H. Y.H. H. des gaben in BIP Arbeitstage n.l gegen- tor gegenuber BIP Y. H. des in 1000

iny.H. uber Vorj.hr BIP Vorjahr

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Italien 1985 12,1 2,8 9,0 9,3 8,6 -0,9 34,5 82,3 1990:5181

1990 10,0 2,2 7,6 6,3 9,1 -1,6 39,1 98,0 1995:909

1995 8,1 2,9 5,0 5,6 12,0 2,6 41,8 124,4 1996:1930

1998 4,1 1,8 2,3 2,0 11,9 4,7 122,2

Japan 1985 6,6 4,4 2,1 2,3 2,6 3,6 27,6 67,0 1990:144

1990 7,5 5,1 2,3 2,6 2,1 1,2 31,3 65,1 1995:76

1995 0,8 1,4 -0,6 -0,5 3,1 2,1 27,8 80,6 1996:42

1998 3,7 2,9 0,8 1,0 3,1 2,3 93,4

Nieder- 1985 4,8 3,1 1,7 2,4 9,2 3,3 44,1 71,6 1990:206

lande 1990 6,5 4,1 5,3 2,2 6,0 3,2 45,9 78,8 1995:691

1995 3,6 2,1 1,5 0,9 7,1 5,0 44,4 79,5 1997: 14

1998 5,3 3,2 2,1 1,9 5,6 4,9 72,6

Schweiz 1985 6,9 3,7 3,1 3,7 0,8 6,0 32,0 1990:4

1990 8,1 2,3 5,7 5,3 0,5 3,8 31,5 k.A. 1995:0,3

1995 2,6 0,1 2,5 1,8 4,2 7,0 32,4 1997:0,4

1998 3,0 1,8 1,2 1,4 5,0 6,8

USA 1985 7,1 3,7 3,3 3,7 7,2 -3,0 26,0 49,5 1990:5925

1990 5,6 1,3 4,3 5,1 5,6 -1,6 26,7 55,5 1995:5002

1995 4,6 1,2 2,5 2,4 5,6 -2,0 27,6 63,4

1998 4,2 2,0 2,2 2,4 5,1 -2,4 64,6

2000 3,5 1,8 4,4 -3,5 51,7

QueUe: BMFT: Finanzbericht 2000, ILO: Yearbook of Labour Statistics, Genf 1998: 1265 ff., lahresgutachten 1998/99

Page 33: Politische und wirtschaftliche Transformation Osteuropas: Chancen und Potenziale f¼r die neuen Bundesl¤nder

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Page 36: Politische und wirtschaftliche Transformation Osteuropas: Chancen und Potenziale f¼r die neuen Bundesl¤nder

Tyll Necker-

Politische und wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa 1989-1999 - Auswirkungen auf die

neuen BundesHinder

l. Der Weg von der Planwirtschaft in die Marktwirtschaft... ................................ 33

2. GroBe Unterschiede bei der Entwicklung in Mittel- und Osteuropa ................. 34

3. Die Lohnkosten in Mittel- und Osteuropa ......................................................... 38

4. Verlust von Arbeitspliitzen in Deutschland durch niedrige Lohnkosten in Mittel- und Osteuropa? ..................................................................................... 40

5. Auf dem Weg zu einer Region des Aufschwungs ............................................ .41

6. Direktinvestitionen in Mittel- und Osteuropa .................................................. .42

7. Standortliberlegungen im einzelnen Untemehmen .......................................... .42

8. Investitionen in Ostdeutschland anstatt in Polen? ............................................ .44

9. Ostdeutschland muss die Nlihe zu Mittel-IOsteuropa nutzen ........................... .45

- Dr. h.c. Tyll Necker, Geschaftsftihrer und Gesellschafter der Hako Holding & Co, Bad Oldesloe

Page 37: Politische und wirtschaftliche Transformation Osteuropas: Chancen und Potenziale f¼r die neuen Bundesl¤nder

Politische und wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa 1989-1999 33

Ais ich vor etlichen Monaten gebeten wurde, zum Thema des Symposi­ums "Politische und wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa 1989-1999 - Auswirkungen auf die neuen BundesHinder aus untemehmerischer Per­spektive" einen Beitrag zu 1eisten, war ich zunachst entsch10ssen, abzusa­gen. Ich kann nicht behaupten, ein Spezialist fUr die Entwicklung in Ost­europa in den letzten 10 J ahren zu sein, wenn unsere Untemehmens­gruppe auch mit zwei Direktinvestitionen in Polen und VertriebsaktiviHi­ten in praktisch allen mittel/osteuropaischen Staaten aktiv ist. In den neu­en Bundeslandem haben wir, die Hako-Gruppe, schon im Jahre 1991 ein Maschinenbauuntemehmen von der Treuhandanstalt in Glindow nahe Potsdam erworben, die Havellandische Maschinenbau GmbH.

Nach dem Erwerb der Mehrheitsbeteiligung der Firma Multicar in Wa1-tershausen im Jahre 1998 haben wir von der Firma Daimler Benz den k1einsten Unimog gekauft und von der Firma Kramer zwei Kommuna1-fahrzeuge. Durch die Verlagerung der Produktion dieser Maschinen nach Waltershausen in Thiiringen ist dort ein Kompetenzzentrum fUr Spezia1-fahrzeuge mit steigenden Beschaftigtenzahlen entstanden. Wenn ich mich trotz begrenzter Fachkompetenz zu dem heutigen Vortrag bereit erklart habe, so sehen Sie darin bitte meine groBe Verbundenheit mit den neuen Bundes1andem, dem Prozess der Wiedervereinigung und der Universitat Rostock.

Der Stammsitz unserer Firma 1iegt heute in Bad 0ldes10e und damit in Schleswig-Holstein. Der Grunder unserer Firma ist mit seiner Fami1ie iib­rigens 1945 aus Neustre1itz nach Westen geflohen. Es gibt also vie1faltige natiirliche Verbindungen.

1. Der Weg von der Planwirtschaft in die Marktwirtschaft

Vor rd. 10 Jahren fand der politische Umbruch von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft in Mittel- und Osteuropa statt. 1m Dezember 1989 nahm ich als BDI-Prasident an einer Reise von Bundeskanz1er Kohl und Fi-

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34 Necker

nanzminister Waigel nach Budapest teil. Es ging vor aHem urn einen Dank an die ungarische Regierung flir ihren Mut bei der Offnung der Grenze nach Osterreich und bei der Ausreise von DDR-Fltichtlingen nach Westdeutschland.

Ungam war damals das am starksten marktwirtschaftlich orientierte Land innerhalb des Ostblock. Der ungarische Ministerpdisident erliiuterte in sehr klaren und realistischen Ausflihrungen, dass nicht nur sein Land, sondern ganz Mittel- und Osteuropa zu einer "Zone der Rezession" wer­den mtisse. Ungam hatte zum damaligen Zeitpunkt tiber 70 % seiner Ex­porte und Importe auf Lander des COMECON, also den Ostblock, kon­zentriert. Ungam rechnete mit der Notwendigkeit, so schnell wie moglich Westkontakte auf- und auszubauen, urn den Rtickgang der Ostverbindun­gen kompensieren zu konnen. Die Umstellung von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft werde, so meinte Ministerprasident Hom, auch erhebli­che Reibungsverluste und Verwerfungen bringen. Die ganze ungarische Regierung sah aber zur Marktwirtschaft keine Alternative. Das Ansehen von Ludwig Erhard als Vater des "Wirtschaftswunders" in Westdeutsch­land war in Ungarn damals ganz offensichtlich weit hOher als in den alten Bundeslandern.

2. GroBe Unterschiede bei der Entwicklung in Mittel­und Osteuropa

Schon 1989 war die Ausgangsbasis in den Landern Mittel- und Osteuro­pas sehr unterschiedlich. Tschechien z.B. hatte eine sehr geringe Aus­landsverschuldung und eine starke industrielle Tradition. In Polen hatten sich in der Landwirtschaft noch deutliche marktwirtschaftliche Strukturen bei Kleinbetrieben erhalten. Ungarn hatte schon, vor allem seit 1986, mit ersten marktwirtschaftlichen Reformen begonnen.

Die weitere Entwicklung in Mittel- und Osteuropa lasst sich am anschau­lichsten durch die Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes in den verschiedenen Landern verdeutlichen. Ein besonders positives Beispiel

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Politische und wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa 1989-1999 35

hierzu stellt Polen dar, das sofort unter dem damaligen Finanzminister Balcerowicz eine sehr energische und zielstrebige Politik der Privatisie­rung und der Marktwirtschaft einleitete. Abbildung 1) zeigt sehr deutlich die positiven Ergebnisse dieser Strategie.

7,0 6,9

n 6,1

D 5,6

D 4,8

4,0

D 0 D 1995 1996 1997 1998 1999* 2000*

*Prognose

Abb. 1: Bruttoinlandsprodukt Polen (real; Veranderung in %)

Ein krasses Gegenbeispie1 ist das Where Herzland der Sowjetunion, Russ1and. Hier blieben alle Reformen ha1bherzig, staatliche Monopole wurden nur allzu oft in private Monopole umgewandelt. Marktwirtschaft ohne Wettbewerb fiihrt aber nur allzu haufig zu privaten Monopolen und Monopo1gewinnen und zur Ausbeutung von Konsumenten.

0,4

D 0 D r==J

0 D -4,0 -6,0

-4,6 -6,0

-12,5

1994 1995 1996 1997 1998 1999*

*Prognose

Abb. 2: Bruttoinlandsprodukt Russland (real; Veranderung in %)

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36 Necker

Abbildung 2) zeigt, dass das Bruttoinlandsprodukt in Russland in den letzten Jahren Jahr fur Jahr gefallen ist. Nur 1997 keimte etwas Hoffnung auf. Wenn wir tiber Mittel- und Osteuropa sprechen, so mtissen wir uns zual­lererst immer wieder klarmachen, dass keineswegs alle Lander tiber einen "Kamm geschoren" werden dtirfen. Die Unterschiede sind gewaltig. Die Verlierer im Transformationsprozess sind so1che Lander, die halbherzig oder nur in Ansatzen politische und wirtschaftliche Reformen durchge­fuhrt haben.

Und zu einer leistungsfahigen Marktwirtschaft gehoren neben Wettbe­werb eine funktionierende Offentliche Verwaltung und Rechtssicherheit. Unterschiede in der Organisation des Bankwesens sind z.B. eine weitere Ursache fur Differenzen im Wachstum.

Bekanntlich hat die EU mit 5 Landem, die sich besonders positiv entwi­ckelt haben, Beitragsverhandlungen aufgenommen. Es sind dies: - Polen - Ungam - Tschechien - Estland - Slowenien

Wie weit aber auch diese Lander noch im Bruttoinlandsprodukt pro Kopf hinter Westeuropa hinterher hinken, zeigt die Abbildung 3).

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Po1itische und wirtschaftliche Entwick1ung in Osteuropa 1989-1999 37

EU-Durchschnitt 100 ;

! W est-Deutschland 117,4

Ost-Deutschland 87,4 ,

Portugal 73 .

Griechenland 70 ,

Slowenien 68 !

Tschechien 65

Ungam 49

Slowakei 45 ~

Polen 36

~ Estland ~6

~ Rumanien 32

~ Litauen 30

~ Lettland 27

Bulgarien 23

0 20 40 60 80 100 120 140

Abb. 3: BIP pro Kopf in Kautkraftstandards 1997 in %

Trotz giinstiger Wachstumsperspektiven in den meisten dieser Lander bleibt das Wohlstandsgefalle zu Westeuropa auch weiterhin immens. 1m Jahre 2004 wird das Pro-Kopf-Einkommen Polens bei einem moglichen Beitritt zur EU auf etwa 40% des Durchschnittes der EU geschlitzt. Grie-

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38 Necker

chenland und Portugal sind die beiden armsten Lander innerhalb der EU und tibertreffen noch deutlich alle mittel- und osteuropaischen Landem im Wohlstand pro Kopf. Lassen Sie mich an dieser Stelle schon zwei Bemerkungen zu den neuen Bundeslandem machen:

Ostdeutschland hat schon heute ein Einkommensniveau erreicht, das bei 87,4% des EU-Durchschnittes liegt. Dieser enorme Wohlstandszuwachs in den neuen Bundeslandem war allerdings mit sehr hohen Untersttit­zungsleistungen Westdeutschlands verbunden. Wtirden sich die Btirger der neuen Bundeslander mit ihren Nachbam im friiheren Ostblock ver­gleichen, so konnten sie mit dem Erreichten nur auBerordentlich zufrieden sein. Unzufriedenheit muss allerdings dann entstehen, wenn man sich nicht an den gewaltigen Fortschritten misst, die seit der Wiedervereini­gung und durch die westdeutsche Finanzhilfe entstanden sind, sondem wenn man als MaBstab die alte Bundesrepublik wahlt. Hatte sich die Bundesrepublik 1948 vorrangig am Wohlstand in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten orientiert, hatte sie sich sicherlich selbst gelahmt, an­statt in einer beispiellosen Aufholjagd Kraft aus den eigenen Fortschritten zu ziehen. 1m Januar 1990 habe ich hier in Rostock sehr darnr pladiert, dem Stolz auf die eigene Heimat und den selbst erreichten Erfolgen Vor­rang vor der schnellen Angleichung der Lebensverhaltnisse zu geben. Un­temehmen konnen nur das bezahlen, was sie im Markt im Wettbewerb erwirtschaften konnen. Produktivitat steigt aber nicht so schnell wie die Wtinsche der Menschen.

3. Die Lohnkosten in Mittel- und Osteuropa

Abbildung 4) zeigt die Arbeitskosten in Osteuropa aus der Summe der StundenlOhne und der Personalzusatzkosten. Auch diese Graphik macht deutlich, welcher gewaltige Rtickstand zu Westdeutschland bei den Ar­beitskosten gegeben ist. Die Arbeitskosten pro Stunde liegen brutto in Ostdeutschland bekanntlich noch unter denen in Westdeutschland. Bei meist gleichen Tarifeinkommen sind haufig die Arbeitszeiten in Ost­deutschland noch langer als im Westen und die tariflichen Nebenleistun-

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Politische und wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa 1989-1999 39

gen niedriger. Eine sehr wichtige Rolle spielt aber auch, dass in wei ten Bereichen Ostdeutschlands unter Tarif bezahlt wird und die Tarifbindung z.B. in der Metall- und Elektroindustrie nur noch bei ca. 30% der Unter­nehmen gegeben ist. Da andererseits die Abziige von den Bruttoeinkom­men in Ostdeutschland etwas niedriger liegen als in Westdeutschland und die Lebenshaltungskosten begrenzt giinstiger sind, ist das Verhaltnis der Realeinkommen netto giinstiger als der Bruttoeinkommen.

Bulgarien

Rumanien

Russland

Litauen

LettIand

EstIand

Tschechien

Ungam

Slowakei

Polen

Slowenien ••••

Westdeutschland ••••••••••••••••• 4?,9

o 10 20 30 40 50 60

Abb. 4: Arbeitskosten in Mittel- und Osteuropa 1997 in DM

Page 44: Politische und wirtschaftliche Transformation Osteuropas: Chancen und Potenziale f¼r die neuen Bundesl¤nder

40 Necker

4. Verlust von ArbeitspHitzen in Deutschland durch niedrige Lohnkosten in Mittel- und Osteuropa?

Ein verbreiteter Irrglaube in der Bundesrepublik geht davon aus, dass die niedrigen Arbeitskosten in Mittel- und Osteuropa ArbeitspHitze in der Bundesrepublik in groBer Zahl zerstOren wurden.

Nun gibt es ohne Zweifel Branchen, die einen sehr hohen Arbeitskosten­anteil an ihrer Produktion haben und durch NiedriglohnHinder, insbeson­dere im naheren Umfeld, akut gefahrdet sind. Teile der Textil und Mobel­industrie, aber auch der Werften, sind gute Beispiele. Korea stellt flir die Werften allerdings eine gefahrlichere Konkurrenz dar als Polen.

Insgesamt muss man jedoch sehen, dass die westlichen Lander durch die Offuung der friiheren Staatshandelslander mehr gewonnen als verloren haben. Zwischen 1992 und 1998 legten die Exporte der mittel- und osteu­ropaischen Staaten urn jiihrlich gut 8% zu - die Importe stiegen jedoch urn mehr als 14% pro Jahr! Und Deutschland hat an den Lieferungen in diese Lander den Lowenanteil. Abbildung 5) zeigt hier die Importe aus der Bundesrepublik der wichtigsten mittel- und osteuropaischen Lander. Fur die Bundesrepublik sind die Lander Mittel- und Osteuropas heute schon ein besserer Kunde als die Vereinigten Staaten.

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Politische und wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa 1989-1999 41

Moldawien

Estland

Lettland

Bulgarien

Litauen

Ukraine

Kroatien

Rumanien

Siowenien

Siowakei

Ungam ••••••••• 11665

Russland ••••••••••••••• 16434

Tschechien ••••••••••••• 16499,4

Polen •••••••••••••••• 20669

0 5000 10000 15000 20000 25000

Abb. 5: Importe aus der Bundesrepublik Deutschland 1997 in Mio. DM

5. Auf dem Weg zu einer Region des Aufschwungs

Das Wirtschaftswachstum in der EU lag zwischen 1993 und 1998 im Schnitt bei 2,6%. Polen und die Slowakei sind dagegen urn rd. 6% pro Jahr, Slowenien urn 4,3% und Ungam urn 3,1 % gewachsen. Die an die EU grenzenden Lander holen sehr deutlich auf. Aber die Angleichung der Lebensbedingungen wird noch Jahrzehnte dauem, denn die Lander der

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42 Necker

EU kommenja auch voran, und wir haben gesehen, wie gewaltig der Vor­sprung der meisten dieser Lander heute noch ist. Nach Uberwindung der groBen Schwierigkeiten bei der Umstellung auf die Marktwirtschaft kommen insbesondere die EU Beitrittskandidaten mit steigenden Wachstumsraten voran. Portugal und Irland sind gute Beispie­Ie, welche Wachstumspotentiale durch Aufuahme in die EU freigesetzt werden konnen. An eine Zone des Aufschwungs in Mittel- und Osteuropa zu grenzen, ist rur Deutschland immer erfreulich. Die Chancen liberwie­gen nach meiner Uberzeugung deutlich die Risiken.

6. Direktinvestitionen in Mittel- und Osteuropa

Die Dynamik der derzeitigen und zuklinftigen Entwicklung wird ganz be­sonders deutlich, wenn man die Direktinvestitionen in diese Lander aus dem Ausland betrachtet.

Seit 1992 haben auslandische Untemehmen mehr als 50 Milliarden Dollar in den mittel- und osteuropaischen Staaten investiert. Mit rd. 14,5 Milli­arden Dollar im Jahre 1998 stiegen die Direktinvestitionen sogar urn fast 50% in Relation zum Vorjahr! Diese Direktinvestitionen erreichten damit 1998 meist zwischen 3% und 5% des jeweiligen Bruttoinlandsproduktes. Noch wichtiger als dieser "VitaminstoB" sind aber das Know-How und die Produktivitatsbeispiele, die mit diesen Direktinvestitionen verbunden sind.

7. Standortiiberlegungen im einze1nen Untemehmen

Am Beispiel des eigenen Untemehmens mochte ich deutlich machen, welche Uberlegungen bei uns vor den Investitionen in Mittel- und Osteu­ropa angestellt wurden. Zunachst haben wir in langen Beurteilungstabel­len Kriterien fUr unsere Entscheidung ermittelt und bewertet. Flir uns war hierbei ein wichtiger Faktor die GroBe des potenziellen Absatzmarktes.

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Politische und wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa 1989-1999 43

Hier erhielt Polen mit 38,6 Mio. Einwohnem Pluspunkte vor Tschechien mit 10,3 Mio. Einwohnem und Ungam mit 10,2 Mio. Einwohnem.

Estland

Slowenien

Lettland

Litauen

Slowakei

Bulgarien

Ungam 10,20

Tschechien

Rumanien ••• 22,61

Polen •••••• 8,67

Ukraine ••••••• 50,80

Russland ••••••••••••••••••••• 146,5

o 20 40 60 80 100 120 140 160

Abb. 6: Einwohner Mittel- und Osteuropas in Mio. 1999

Zweitwichtigster Faktor waren die erwartete politische und wirt­schaftliche Kontinuitat und Rechtssicherheit im jeweiligen Land. Hier konnen Beitrittskandidaten zur EU klare Vorteile verbuchen. Hatten wir uns ausschlieBlich nach den Arbeitskosten gerichtet, so waren Lander wie Russland, Rumanien und Bulgarien Favoriten geworden (s. Abbildung 4). Flir uns erhielt aus der Summe dieser und weiterer Faktoren - wie z.B. der Entfemung und der damit verbundenen Transport- und Kommunikations­kosten - Polen die glinstigste Bewertung. Aber Polen ist groB und als Nachstes musste die Frage beantwortet werden: Wenn in Polen, dann wo

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44 Necker

in Polen investieren? Unter Marktgesichtspunkten bot sich der Sliden Polens, z.B. Lodz, an. Tatsachlich haben wir eine kleine Vertriebsfirma in Krakau gegriindet. Hier sprachen auch personelle Griinde mit. Mit einer Fertigungsstatte sind wir dagegen in das friihere Koslin, das heutige Koszalin - auf halbem Wege zwischen Stettin und Danzig - gegangen.

In Kattowitz, Krakau, Warschau und Posen ist heute der Arbeitsmarkt schon relativ ausgeschopft. In Koszalin dagegen, fanden wir qualifizierte Arbeitskrafte bei einer hohen Arbeitslosenquote von ca. 20% vor. Zu­nachst haben wir zwei Jahre in gemieteten Raumen mit der Produktion begonnen und schlieBlich in diesem Jahr den Neubau einer Fabrik von gut 3.000 qm Flache gewagt. Sie wird in diesem Monat fertiggestellt. Unser Geschaftsruhrer in Koszalin ist ein Deutscher mit langjahrigen Erfahrun­gen in Polen. Die Qualitat unserer Produkte in Polen ist voll wettbewerbs­fahig. Wir werden Ende 2000 mit rd. 45 Mitarbeitem dort produzieren. Ein hoher Anteil geht an Drittkunden in Deutschland, also nicht an Fir­men der Hako-Gruppe.

Was uns Schwierigkeiten in Polen macht? Wie schon gesagt, weder die Mitarbeiter noch die Qualitat, aber der Umgang mit Behorden beim Er­werb unseres Grundsmckes, bei der Verzollung, bei Steuerfragen etc. Und qualifizierte Wirtschaftspriifer und z.B. Controller sind schwer zu finden und teuer.

8. Investitionen in Ostdeutschland anstatt in Polen?

Unser Thema heiBt bekanntlich: Politische und wirtschaftliche Entwick­lung in Osteuropa 1989-1999 - Auswirkungen auf die neuen Bundeslan­der. Insbesondere in den neuen Bundeslandem wird mir haufig die Frage gestellt, ob wir mit der Investition in einen Fertigungsbetrieb in Polen nicht zum Verlust von Arbeitsplatzen in Ostdeutschland beitragen. Meine Antwort ist ganz klar: Nein! Bei der Hohe der Arbeitskosten in Deutsch­land - auch in Ostdeutschland - ist eine arbeitskostenintensive Blech -

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Politische und wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa 1989-1999 45

und SchweiBfertigung in der Regel nicht mehr wettbewerbsfahig. Es ging nicht urn die Entscheidung: ArbeitspHitze in Deutschland oder in Polen. Es ging urn die Frage: Arbeitsplatze in Polen oder keine Arbeitsplatze. Dariiber hinaus konnen wir schon heute sagen, dass eine Mischkalkulati­on aus giinstigen Arbeitskosten in Polen und anspruchsvollen Produkten und Entwicklungen in Deutschland zur Erhaltung und Vermehrung von Arbeitsplatzen bei uns und in Ostdeutschland beitragt. Es ist der Produk­tionsverbund, der unsere Wettbewerbsfahigkeit insgesamt verstlirkt. Die ErschlieBung neuer Markte - in denen wir mit einer eigenen Produktions­statte natiirlich auch noch emster genommen werden - kommt positiv hin­zu.

Neben Marktzugangen und giinstigen Arbeitskosten miissen wir uns noch mit einem dritten Faktor befassen. Wie konnen wir in Deutschland den Innovationsengpass Ingenieure iiberwinden? In dem Hochkostenland Bundesrepublik miissen wir versuchen, durch Innovationsvorspriinge Vorteile zu erarbeiten. Die Knappheit an guten Ingenieuren setzt hier Grenzen. In mehreren Landem in Mittel- und Osteuropa sind dagegen qualifizierte Ingenieure in betrachtlicher Zahl arbeitslos und kostengiins­tig. Durch modemste Kommunikationsmittel (Bildschirmverbindungen) konnen Grenzen immer leichter iibersprungen werden.

9. Ostdeutschland muss die Nahe zu Mittel-IOsteuropa nutzen

Ich habe vor vielen Jahren versucht, diesen Gedanken in ein Bild zu klei­den: Die neuen Bundeslander miissen eine Funktion gegeniiber Mittel­und Osteuropa iibemehmen, die mit der Arbeitsteilung zwischen Hong­kong und China verglichen werden kann. Ostdeutschland kann weit direk­ter als ihre ostlichen Nachbam Know-How und Ressourcen des Westens anzapfen und Ostdeutschland ist bekanntlich sofort Mitglied der EU ge­worden. Die USA und die EU sind bekanntlich fast gleichauf die bei wei­tern groBten und kaufkraftigsten Markte der Erde. Sachsen und Thiiringen ist es durchaus gelungen, ihre Exporte in die ostlichen Nachbarllinder

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46 Necker

wieder auszuweiten. Wie Hongkong gegenuber Rotchina, haben Sachsen und Thuringen weit hohere Arbeitskosten als ihre ostlichen Nachbarn. Und trotzdem gelingt es, yom Nachholprozess in diesen Uindem zu profi­tieren. Hierzu sind natfulich besondere Anstrengungen und uberlegene Leistungen erforderlich. Und zum Abschluss mochte ich noch einmal die Frage stellen, was erhalt und was schafft eigentlich ArbeitspHitze? Meine Antwort als Untemehmer lautet: Die Gewinnung von rentablen Auftra­gen!

Urn Auftrage zu gewinnen, muss man aber wettbewerbsfahige Produkte und Leistungen erbringen. Die Kosten der Leistungserstellung sind dabei ein sehr wichtiger Faktor. Der rasante Anstieg der Arbeitskosten in den neuen Bundeslandem in den letzten neun Jahren ist der entscheidende Grund, warum viele ArbeitspHitze ihre Wettbewerbsfahigkeit verloren ha­ben.

Ein zweiter wichtiger Faktor ist aber, wie innovativ sind die eigenen Leis­tungen? In einem Hochkostenland wie Deutschland - und dies gilt auch fur Ostdeutschland - entstehen Gewinne bei Produkten im intemationalen Wettbewerb vor all em durch Vorsprungsrenditen.

Es wurde mich sehr freuen, wenn dieses Symposium dazu beitragen konnte, daruber nachzudenken, wie viel schneller der Wohlstand in Ost­deutschland in den letzten neun Jahren gewachsen ist als in anderen ost­und mitteleuropaischen Landem. Und wenn daraus Stolz auf die eigene Leistung und nicht nur Frust uber einen noch bestehenden Ruckstand ge­genuber einigen Landem in Westeuropa entstehen wurde. Und weiter sollte in den neuen Bundeslandem der Sicherung und Schaffung von Ar­beitsplatzen Vorrang vor der Gleichheit der Lebensverhaltnisse zwischen Ost und West eingeraumt werden. Was hilft mir ein hohes Einkommen, das ich als Arbeitsloser nicht beziehen kann? Und die Wohlstandsunter­schiede verschiedener Regionen innerhalb Westdeutschlands sind durch­aus mit Unterschieden zwischen Ost und West vergleichbar. Produktivitat und Einkommen konnen eben nicht staatlich verordnet werden; man muss sie erarbeiten.

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Z we iter Teil

Betriebswirtschaftliche Perspektiven

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Cornelia Zanger/Dietmar Hauler"

Intemationalisierungsstrategien der deutschen N ahrungs- und Genussmittelindustrie in

Osteuropa

1. Prob1emstellung und Zie1setzung der Arbeit ........................................................... 51

1.1 Der Internationalisierungsprozess der deutschen N ahrungs- und Genussmitte1industrie in Osteuropa im Fokus einer wissenschaftlichen Untersuchung .......................................................................................................... 51

1.2 Zie1setzung der Untersuchung ................................................................................. 53

2. Entwick1ung des Untersuchungsdesigns .................................................................. 54

2.1 Theoretische Grund1agen ........................................................................................ 54

2.2 Bezugsrahmen der empirischen Studie ................................................................... 58

3. Ausgewahlte Ergebnisse der empirischen Untersuchung ........................................ 61

3.1 Anmerkungen ZUI Stichprobe .................................................................................. 61

3.2 UnternehmensgroBe a1s interne Determinante der Internationa1isierung ................ 64

3.3 Zur Bedeutung okonomischer und politisch-rechtlicher Faktoren im Internationalisierungsprozess der Unternehmen ...................................................... 66

4. Fazit ......................................................................................................................... 79

" Prof. Dr. Cornelia Zanger, TU Chernnitz, Lehrstuhl fOr Marketing und Handelsbetriebslehre, Dip!. Kfm. Dietmar Hauler, externer Doktorand, TU Chernnitz, Lehrstuhl ftir Marketing und Handelsbe­triebslehre

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Intemationalisierungsstrategien der deutschen Nahrungs- und Genussmittelindustrie 51

1. Problemstellung und Zielsetzung der Arbeit

1.1 Der Intemationalisierungsprozess der deutschen Nahrungs­und Genussmittelindustrie in Osteuropa im Fokus einer wissenschaftlichen Untersuchung

Politische Reformen in der ehemaligen UdSSR ermoglichten vor 10 Jah­ren die Ablosung kommunistischer Regierungen und die Einleitung von Transformations- und Liberalisierungsprozessen in den osteuropaischen Staaten I. Die Lander Osteuropas waren vor Beginn dieses Wandels durch das politische System des Kommunismus und dem damit einhergehenden Wirtschaftssystem der zentralen Planwirtschaft gekennzeichnet. Die Ver­wobenheit von Politik und Wirtschaft in Verbindung mit der Dominanz der politischen Interessen tiber die Okonomik pragten und steuerten die Ausgestaltung der Wirtschaftsorganisation und des Gesellschaftssystems. Ein hohes MaB an Homogenitat in Bezug auf die wirtschaftlichen und ge­sellschaftlichen Strukturen war somit allen Staaten gemeinsam2• Die Ab­schottung der Miirkte Osteuropas gegentiber Westeuropa war Ausdruck der Inkompatibilitat beider Wirtschaftssysteme und des "Kalten Krieges", der zwischen den politischen Raumen herrschte.

Die Einleitung der politischen und wirtschaftlichen Transformationspro­zesse flihrte zu einer schrittweisen Offnung der Markte und verfolgt die Zielsetzung, die bestehenden Strukturen an das westeuropaische, markt­wirtschaftliche Wirtschaftssystem anzupassen. Durch diesen in der Ge­schichte bislang einmaligen Prozess entstand ein neuer Wirtschaftsraum, der aus Sicht der Nahrungs- und Genussmittelindustrie ein Absatzpoten­zial von ca. 320 Mio. Menschen besitzt und damit annahemd dem West­europas entspricht3.

Mit der Offnung der Markte endet gleichzeitig die homo gene Struktur der politischen und wirtschaftlichen Systeme Osteuropas. Unterschiedliche

I vgl. Wesnitzer, M. (1993), Seite I

2 Vgl. Engelhard, J.lEckert, S. (1994), Seite 7

3 vgl. Miischen, 1. (1998), Seite 21

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52 ZangerlHauler

Transfonnationsstrategien sowie landerspezifische Eigenheiten, die sich aufgrund der Desintegration des Ostblocks verstiirkt herausbilden, beein­flussen in starkem Maile die Veranderung der Systemparameter4. Aus heutiger Sicht sind unterschiedliche Entwicklungsfortschritte festzustel­len, die sich im Rahmen dieser Untersuchung widerspiegeln.

Die deutsche Nahrungs- und Genussmittelindustrie gehort zu den vier groBten Industriezweigen in Deutschland. Der Schwerpunkt der Branche liegt im Emahrungssektor, der mit ca. 6000 Betrieben mehr als 500.000 Personen beschaftigt. Die Branchensituation lasst sich seit einigen Jahren durch eine nachhaltige Sattigung der Produktmiirkte und einen Riickgang der Inlandsnachfrage beschreiben. Die demographische Entwicklung be­legt - die Prognose fUr das Jahr 2020 geht von 79 Mio. Menschen in Deutschland aus - dass die mengenmiiBige Nachfrage nach Nahrungs­und Genussmitteln aufgrund sinkender Einwohnerzahlen weiter abneh­men wird.

Wichtigster Absatzkanal ist der Lebensmittelhandel, iiber den rund 70% der Waren zum Endverbraucher gelangen. Die Struktur des Handels er­moglicht den zehn groBten Handelsfinnen, 80% des Umsatzes auf sich zu vereinigen. Diese Marktmacht ennoglicht es dem Handel, Druck aufPrei­se und Margen der Produzenten auszuiiben und so den wirtschaftlichen Druck auf die Branche weiter zu verschiirfen5.

Vor diesem Hintergrund stellt die ErschlieBung neuer Miirkte fUr die Un­temehmen der Nahrungs- und Genussmittelindustrie eine zentrale Aufga­benstellung dar, urn die Konkurrenzfahigkeit auf langere Sicht zu erhal­ten. AuBerhalb der EU, die in den Kemmiirkten tendenziell die gleichen Rahmenbedingungen wie Deutschland aufweist, stell en die osteuropai­schen Lander deshalb attraktive Absatzmiirkte dar, deren Potenzial durch die Untemehmen der Nahrungs- und Genussmittelindustrie erschlossen werden kann6.

4 vgl. zu den Transformationsstrategien Engelhard, J.lEckert, S. (1994), Seite 8f.

5 vgl. Traumann, P. (1999), Seite 2f.

6 vgl. Traumann, P. (1999), Seite 4f.

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Intemationalisierungsstrategien der deutschen Nahrungs- und Genussmittelindustrie 53

1.2 Zielsetzung der Untersuchung

Das Ziel dieser wissenschaftlichen Arbeit ist es herauszuarbeiten, Wle Untemehmen der deutschen Nahrungs- und Genussmittelindustrie den Intemationalisierungsprozess in Osteuropa seit Offnung der Markte gestaltet haben und welche Faktoren dabei maBgeblich den Verhaltens­und Entscheidungsprozess determinierten. Aufgrund der weitreichenden Bedeutung fUr ein Untemehmen wird dabei die institutionelle Ausgestaltung der Intemationalisierung betrachteC. Zwei Schwerpunkte pragen diese Untersuchung.

Der Entscheidungsprozess der Intemationalisierung ist durch ein Informationsdefizit gekennzeichnet und erfolgt unter Unsicherheit bzw. Risiko. Die Fragestellung nach der Bedeutung von Wissen tiber die Miirkte Osteuropas im Rahmen der Strategieformulierung und somit der institutionellen Ausgestaltung der Intemationalisierung steht daher an zentraler erster Stelle der Arbeit.

Der zweite Schwerpunkt liegt in der Darstellung des Einflusses, den wirtschaftliche und politisch-rechtliche Rahmenbedingungen der Lander Osteuropas auf den Intemationalisierungsprozess austiben. Stehen doch die Untemehmen besonderen Umweltbedingungen gegentiber, die im Rahmen der Transformation zudem eine hohe Veranderungsdynamik aufweisen. Diese Risikopotenziale erhohen die Unabwagbarkeiten von Investitionen und erschweren die Prognose des Erfolges.

7 vgl. Jarillo, J.C. (1993), Seite 10

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54 ZangerlHauler

2. Entwicklung des Untersuchungsdesigns

2.1 Theoretische Grundlagen

Das Intemationale Marketing kennt eine Vielzahl theoretischer Ansatze8. In ihrer Reichhaltigkeit sorgen sie jedoch eher fur Orientierungsschwie­rigkeiten, als dass sie zur Fundierung eines axiomatischen, widerspruchs­freien Aussagensystems beitragen9. Die durchgefuhrten Integrationsver­suche bedeutender Wissenschaftler auf diesem Gebiet unterstreichen dies und dokumentieren die fehlende Geschlossenheit des TheoriengebaudeslO.

Die meisten Ansatze beschranken sich auf ein partialanalytisches Unter­suchungsdesign, welches einzelne Aspekte der Intemationalisierung von Untemehmen erklart. Einen erfolgversprechenden Ansatz stellt das Inter­nationalisierungsprozessmodell von JohansonIVahlne dar l1 . Fur die Kon­zeptualisierung der in Abschnitt 1 beschriebenen Zielsetzung wurde des­halb auf dieses Modell von JohansonIVahlne zuriickgegriffen. Dieser Ansatz versteht die Intemationalisierung als Prozess und bezieht damit die dynamische Komponente in die Analyse mit ein. Auf der Erklarungs­ebene wird die verhaltensorientierte Perspektive zugrunde gelegt, die auf den Arbeiten von Cyert/Marchl2 und Aharoni l3 basiert.

Das Modell basiert auf den empirischen Ergebnissen, die Johan­sonIV ahlnel4 bei der Analyse des Intemationalisierungsverhaltens von vier schwedischen Untemehmen feststellten. Demnach durchlaufen Un­temehmen typische Phasen. Die Intemationalisierung ist als Prozess eines graduell wachsenden Auslandsengagements zu interpretieren, mit deutlich voneinander zu unterscheidenden Stufen, die durch den Ressourcentrans-

8 vgl. Kutschker, M. (1994), Seite 223 9 vgl. Meffert, H.l8olz, J. (1994), Seite 29 10 vgl. Perlitz, M. (1995), Seite 78ff.; Macharzina, K. (1982), Seite Iliff. II vgl. Zanger, C.lSetzer, M. (1998), Seite 411 ff. 12 vgl. Cyert, R.M.lMarch, J.G. (1963) 13 vgl. Aharoni, Y. (1966) 14 vgl. Johanson, J.Nahlne, J.-E. (1977)

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Intemationalisierungsstrategien der deutschen Nahrungs- und Genussmittelindustrie 55

fer von Produktionsfaktoren beschrieben werden konnenl5 . Damit tiber­windet dieses Modell den Kritikpunkt der statischen Modellbildung, dem die meisten Intemationalisierungstheorien unterliegen.

Ressour­cen­allokation

Unregelma-8ige

Exportaktivi­taten

Phase 1

Export via Agenten

Phase 2

Vertriebsgesell­schaft

im Ausland

Phase 3

Produktionsge­sellschaft

im Ausland

Phase 4

Zeit

Abb. 1 : Das Intemationalisierungsprozessmodell von JohansonIV ah1ne

Quelle: JohansonNahlne (1977)

Nach IohansonIVahlne durchlaufen Untemehmen vier Stufen im Rahmen ihres Intemationalisierungsprozesses (vgl. Abb. 1). Sie starten mit ver­gleichsweise geringen Ressourcenallokationen, die im Laufe der Intema­tionalisierung gesteigert werden, bis eine vollstandige Integration in den auslandischen Markt erreicht wird.

15 vgl. Bamberger, I.IEvers, M. (1994), Seite 255

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56

Situationsfaktoren

Marktkenntnisse

I Ressourcenallokation I ...

ZangerlHauler

Veranderungsfaktoren

Entscheidungen tiber Ressourceneinsatz

Aktivitaten

Abb. 2: Der grundlegende Mechanismus der Intemationalisierung nach Iohan­sonIV ahlne (1977)

QueUe: IohansonIVahlne (1977)

Das Erklarungsmodell, das dieser Theorie zugrunde liegt, entstammt der verhaltensorientierten Forschung. Das Marktengagement ist in Verbin­dung mit der Bewertung des Risikos einer Ressourcenallokation zu sehen (vgl. Abb. 2). Die subjektive Risikoeinschatzung wird dabei in erster Li­nie von den Kenntnissen des Untemehmens tiber den Auslandsmarkt ge­pragt. Untemehmen, die geringe Kenntnisse tiber einen Auslandsmarkt besitzen, bewerten den Ressourceneinsatz mit einem relativ hohen Risiko. Konsequenz dieser Risikoeinschatzung ist die Intemationalisierung auf einer niedrigen Stufe. Fehlende Erfahrungen des Managements tiber die Konsequenzen von Aktivitaten in dem spezifischen Land, Informations­beschaffungskosten und Mangel an Expertenwissen innerhalb der Organi­sation sind die Hauptgrtinde fur geringe Marktkenntnisse.

Marktkenntnisse werden von JohansonlVahlne auf zwei Ebenen gesehen. Zum einen handelt es sich urn allgemeine (objective knowledge) Kennt­nisse, die mit dem Grad der Intemationalisierung des Untemehmens stei­gen und als Intemationalisierungserfahrungen bezeichnet werden kannen.

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Intemationalisierungsstrategien der deutschen Nahrungs- und Genussmittelindustrie 57

Diese Erfahrungen sind unabhangig von dem jeweiligen Auslandsmarkt und k6nnen jederzeit tibertragen werden. Zum anderen existieren spezifi­sche (experiential knowledge) Kenntnisse, die landestypisch sind und nur durch Erfahrungen im jeweiligen Land erworben werden k6nnen. Diese sind in dem Modell die kritischen und damit relevanten flir den Intemati­onalisierungsprozess.

Problematisch stellt sich innerhalb des Modells der idealtypische Ablauf der Intemationalisierung dar, der aufgrund der EindimensionaliHit des Er­klfuungsmodells keine Abweichungen von dem beschriebenen Pfad vor­siehtl6 . Urn nach Erklarungen flir m6gliche Abweichungen zu suchen, ha­ben die Autoren ihr Modell urn die Faktoren Untemehmensgr6fie, Stabilitat der Rahmenbedingungen und Wissenstransfer tiber Erfahrungen in Mlirkten mit vergleichbaren Rahmenbedingungen erweitertl7 . Ein wei­terer Kritikpunkt liegt in der Definition der Phasen begriindet. So werden institutionelle Formen des Engagements wie die Lizenzvergabe oder das Joint Venture nicht beriicksichtigt. Dariiber hinaus stell en sich die Pha­senspriinge in ihrer Ressourcenallokation nicht als homogen dar. Die Ver­anderungen zwischen den Phasen 1 bis 3 binden im Normalfall deutlich geringere Ressourcen als der Sprung von Phase 3 zu Phase 4, in der die Produktion in das Gastland verlegt wird.

Der Einfluss extemer Determinanten auf die Intemationalisierung von Untemehmen wurde in der wissenschaftlichen Literatur breit untersuchtl8.

Innerhalb der hier definierten Problemstellung findet eine Fokussierung auf die wirtschaftlichen und politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen statt, die in Osteuropa durch eine hohe Veranderungsdynamik gekenn­zeichnet sind. Die Integration dieser Variablen in das Modell zur Erkla­rung des Intemationalisierungsverhaltens erscheint daher notwendig.

16 vgl. Turnbull, P.W. (1987), Seite 37

17 vgl. Johanson, J.Nahlne, J.-E. (1990).

18 Die Untersuchung externer Rahrnenbedingungen findet sich bereits in den Theorien des internationalen Handels (z.B. Verfiigbarkeitshypothese, Nachfragestruktur Theorie) sowie der Direktinvestitionen (z.B. Wah­rungsraumhypothese, Reccourcenausstattungstheorie, Standorttheorie) wieder. Dariiber hinaus existieren eine Vielzahl an Abhandlungen und empirischen Studien, die in ihren Analysen externe Determinanten beriicksich­tigen. VgJ. hierzu Root, F.R. (1987), Miller, K. D. (1992), Seite 311-31, Quelch et al. (1991)

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58 ZangerlHauler

2.2 Bezugsrahmen der empirischen Studie

Die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit besteht - wie in Abschnitt 1 be­griindet - in der Entwicklung eines Ansatzes zur ErkHirung des Intemati­onalisierungsverhaltens deutscher Untemehmen der Nahrungs- und Ge­nussmittelindustrie in Osteuropa. In diesem Zusammenhang sollen auf der Grundlage einer empirisch gestUtzten Analyse die Faktoren herausgear­beitet werden, die die Wahl der Intemationalisierungsstrategie beeinflus­sen. Die Untersuchung fokussiert auf zwei Schwerpunkte.

Der erste Schwerpunkt liegt in der Analyse, der von JohansonIVahlne entwickelten ErkHirungsvariablen Marktkenntnisse. Die in der Literatur vorzufindenden Arbeiten beziehen sich hauptsachlich auf die aus der Lemtheorie abgeleitete Annahme tiber eine Zunahme der Marktkenntnis­se im Zeitablauf. Eine umfassende Analyse von Wissensallokation findet zumeist nicht statt. Sowohl durch qualitative wie auch quantitative Vari­ablen versuchen die Autoren neue Aspekte der Erforschung zu generie­reno In diesem Zusammenhang findet eine Vereinfachung der Intematio­nalisierungsphasen statt, die im Folgenden ausfiihrlich beschrieben wird. Mit dieser Systematisierung wird eine schfu"fere Trennung der Phasen und die Integration fehlender Stufen in das Modell von JohansonIVahlne er­reicht.

Der zweite Schwerpunkt liegt in der Herausarbeitung des Einflusses oko­nomischer und politisch-rechtlicher Variablen auf den Intemationalisie­rungsprozess der Untemehmen. Die in der Literatur vorzufindenden Er­gebnisse werden dabei flir Osteuropa uberpriift. Zu diesem Zweck werden auch Untemehmen in die Untersuchung einbezogen, die zum heutigen Zeitpunkt nicht in Osteuropa aktiv sind und diese Entscheidung bewusst getroffen haben.

Ausgehend von diesen Zielsetzungen wurde das Design flir die wissen­schaftliche Untersuchung entwickelt (vgl. Abb. 3). Die institutionelle Ausgestaltung der Intemationalisierung wird aufgrund ihrer investiven Reichweite in zwei Grundformen unterteilt. Die passive Strategie umfasst die Formen der Intemationalisierung, die Investitionen im Gastland ver-

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Internationalisierungsstrategien def deutschen Nahrungs- und Genussmittelindustrie 59

meidet. Dazu gehoren der indirekte Export, der direkte Export via Agen­ten und Distributeure sowie die Vergabe von Lizenzrechten. Die aktive Strategie umfasst die Formen, flir die Investitionen im Gastland notwen­dig sind und die ein hohes Risikopotenzial in sich bergen. Hierunter fallt der Export mit Vertriebsorganisationen im Gastland sowie Joint Ventures und Tochtergesellschaften, bei denen die Produktion in das Gastland ver­lagert wurde. Ebenfalls betrachtet werden, wie bereits angeflihrt, Unter­nehmen, die bewusst auf ein Engagement in Osteuropa verzichten.

Urn die unterschiedlichen Fortschritte in Transformationsprozessen be­rUcksichtigen und damit die Bedeutung der Rahmenbedingungen besser abbilden zu konnen, wird eine Unterteilung der Staaten Osteuropas In

zwei Uindergruppen vorgenommen 19.

Uindergruppe A umfasst die Lander, die im Transformationsprozess weit fortgeschritten sind und in absehbarer Zukunft in den europaischen Wirt­schaftsraum integriert werden. Dazu gehoren Polen, Ungam, Tschechi­sche Republik, Slowenien, Kroatien und die Staaten des Baltikums.

Die Uindergruppe B umfasst die Lander Osteuropas, die innerhalb des Transformationsprozesses nicht so weit fortgeschritten sind, wie die Lan­der der Gruppe A. Hierzu gehOren Bulgarien, Rumanien, Slowakei, Uk­raine, WeiBrussland und ahnliche Lander. Russland als Sonderfall, wird aufgrund der wirtschaftlichen und rechtlichen Problematiken der Lander­gruppe B zugeordnet.

Aus der Betrachtung werden die Lander Jugoslawien, Bosnien­Herzegowina, Albanien und Mazedonien herausgelassen. Aufgrund der diversen Kriegsauseinandersetzungen in dieser Region sowie der zu ver­mutenden geringen Bedeutung flir die Intemationalisierung der deutschen Untemehmen erscheint die Relevanz dieser Lander flir die Analyse nur von untergeordneter Bedeutung.

19 vgl. zur Systematisierung der Staaten Osteuropas im Rahmen einer empirischen Untersuchung: Engelhard, J.lEckert s. (1994), Seite 9f.; Miischen, J. (1998), Seite 54ff.

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60 ZangerlHauler

Als interne Einflussvariable auf einen Internationalisierungsprozess wer­den die Marktkenntnisse betrachtet. Politisch-rechtliche und okonomische Einfltisse werden als externe Determinanten untersucht.

interne Determinante

Markt­kenntnisse

Unternehrnens­groBe Kapital­restriktion Konzern­zugehOrigkeit

Pfade der Internationalisierung

1.Phase

Keine Aktivitaten

..

I:~~~~::~e d~ Internationalisierung

I+----I~. + ~ I:~----~~--------~ I: 3.Phase

Aktive Strategie der Internationalisi erung

Abb. 3: Bezugsrahmen der empirischen Studie

ext erne Determinante

politisch­rechtliche

Einflussfaktoren

okonomische Einflussfaktoren

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Intemationalisierungsstrategien dec deutschen Nahrungs- und Genussmittelindustrie 61

3. Ausgewahlte Ergebnisse der empirischen Untersuchung

3.1 Anmerkungen zur Stichprobe

Die Stichprobe, die den folgenden Ausfiihrungen zugrunde liegt, umfasst 34 Untemehmen der Nahrungs- und Genussmittelbranche, die zufallig ermittelt und per Fragebogen befragt wurden. 25 Untemehmen waren zum Zeitpunkt der Befragung in Osteuropa tatig20• Neun Untemehmen ta­tigten keinen Umsatz. Das Untersuchungsdesign bezieht diese Untemeh­men mit ein, urn so eine konsistente Uberprufung der Einflussfaktoren tiber alle strategischen Verhaitenstypen zu erzielen.

Aufgrund der Unterteilung der Staaten Osteuropas in zwei Landergrup­pen, die den Fortschritt im Transformationsprozess reflektieren, wurde flir jedes Untemehmen die Intemationalisierungsstrategie flir das wichtigste Land innerhalb einer Landergruppe analysiert. Dadurch ergaben sich 47 Intemationalisierungsprozesse, die ausgewertet werden konnten.

Die Bedeutung der einzelnen Lander innerhalb der Landergruppen zeigt Abb. 4. 25 Markteintritte erfolgten in die Landergruppe A. In die Lander­gruppe B wurden 23 Markteintritte getatigt. Polen und Russland sind die beiden Staaten mit der groJ3ten Bedeutung innerhalb der Intemationalisie­rungsbestrebungen der deutschen Untemehmen der Nahrungs- und Ge­nussmittelindustrie in Osteuropa. Die Wahl dieser beiden Lander durch die befragten Untemehmen ist im Hinblick auf den Branchenkontext plausibel, da sie die hochsten Einwohnerzahlen aufweisen.

20 Innerhalb des Befragungsdesigns wurden Untemehmen als "tiitig" definiert, sofem sie in Osteuropa Umsatz erzielen. Untemehmen, die sich in der Sondierungsphase befanden. fielen aus der Analyse heraus.

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62 ZangerlHauler

-70

60

50

5; 40 N

~ 30 D.

20

10

o

48 ~

Uindergruppe A

(n=25)

36 ~

I-----

I-----12

I----- In 4

n

Uindergruppe B

(n=23)

18

~:i

Abb. 4: Uinderschwerpunkte der Intemationalisierung in Osteuropa

5

Die UntemehmensgroBenverteilung gibt Abb. 5 wieder. 59% der Unter­nehmen sind Klein- und Mitteluntemehmen. 41 % entfallen auf die GroBenklasse tiber 500 Beschafiigte und sind folglich den GroBuntemehmen zuzurechnen21 .

21 vgl. Beutel, R. (1988), Seite 16f., Berger, M.lUhlmann, L. (1985), Seite 14

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Intemationalisierungsstrategien der deutschen Nahrungs- und Genussmittelindustrie 63

45

40

35

30 -c 25 Q) N 0 20 ...

Q.

15

10

5

0 0

bis 50 50 - 100 100 - 250

Beschaftigte

250 - 500

Abb. 5: UntemehmensgroBenverteilung nach Beschiiftigungsklassen

> 500

(n=34)

Die 47 untersuchten FaIle der Intemationalisierung verteilen sich anna­hemd gleich auf die heiden Strategietypen. In 23 Fallen wird aktuell die aktive Strategie eingesetzt, in 24 Fallen dagegen die passive Strategie (vgl. Ahh.6).

~ Aklive Siralegie 49%

(n=47)

Abb. 6: Verteilung der Strategietypen in Osteuropa

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64 ZangerlHauler

3.2 UnternehmensgroBe als interne Determinante der Internationalisierung

Das Internationalisierungsprozessmodell von JohansonlVahlne wurde urn die UnternehmensgroBe als strategiebeeinflussenden Faktor erweitert. Es wird vermutet, dass rur ressourcenreiche Untemehmen die Auswirkungen von groBen Veranderungen in ihren Auslandsengagements weniger gra­vierend sind. Als Konsequenz iiberspringen diese Untemehmen einzelne Stufen. Da hauptsachlich groBe Untemehmen ein hohes MaB an Ressour­cen aufweisen, ist davon auszugehen, dass sich dieses Verhalten in den Intemationalisierungsprozessen widerspiegelt22. Dariiber hinaus liegen zum Einfluss der UntemehmensgroBe auf die Ausgestaltung des Intema­tionalisierungsprozesses in der Literatur ambivalente Ergebnisse vor, die den Zusammenhang teilweise besHitigen wie auch teilweise ablehnen23 .

Der Vergleich der Untemehmen, die sich in Osteuropa nicht engagieren bzw. dort tatig sind, zeigt, dass in der ersten Gruppe deutlich mehr kleine und mittelstandische Untemehmen mit 50 bis 100 Beschaftigten und 100 bis 250 Beschaftigten zu finden sind als in der zweiten Gruppe. Dort stammt der gr6Bte Teil der Untemehmen aus den GroBenklassen 250 bis 500 Beschaftigte und mehr als 500 Beschaftigte.

Unternehmens- Unternehmen ist nicht Unternehmen ist in gr611e in Osteuropa tatig Osteuropa tatig

(Beschaftigte) (n=9) (n=25)

bis 50 0 0

50-100 1 1

100-250 3 2

250-500 2 11

mehrals 500 3 11

Abb. 7: UntemehmensgroBe und Osteuropaengagement (Anzahl der Untemehmen)

22 vgl. Johanson, l.Nahlne, J.E. (1990), Seite 84; Engelhard, J.lEckert S. (1994), Seite 6

23 vgl. Bamberger, I.IEvers, M. (1994), Seite 262; Erramilli, M.K.lRao, c.P. (1993); Turnbull, P.W. (1987), Seite 33; Engelhard, J.lEckert, S. (1994), Seite 34; Pues, C. (1994), Seite 279[f.

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Intemationalisierungsstrategien der deutschen Nahrungs- und Genussrnittelindustrie 65

Unterteilt man die in Osteuropa tiitigen Untemehmen in eine Gruppe, die in beiden Landergruppen nur mit der passiven Strategie agiert und in eine weitere, die mindestens in einer Landesgruppe mit der aktiven Strategie tiitig ist, so ist festzustellen, dass GroBuntemehmen am hiiufigsten in der aktiven Gruppe vertreten sind, wiihrend in der Gruppe mit passiver Stra­tegie mittlere Untemehmen vorherrschen (vgl. Abb. 8).

Die in Erweiterung des Modells von 10hansonIVahlne geiiuBerte Vermu­tung, dass groBere Untemehmen (Beschiiftigtenklassen von 250 Beschiif­tigten und mehr) nicht alle Intemationalisierungsstufen nacheinander durchlaufen, sondem gleich mit institutionellen Formen im Gastland aktiv einsteigen, die mit hoherem Investitionsvolumen und damit Risiko ver­bunden sind (z.B. Tochtergesellschaften oder loint Venture), liisst sich tendenziell ebenfalls bestiitigen. Acht der groBten Untemehmen mit mehr als 250 Beschaftigten wiihlen selbst diese aktive Strategie des Markteintritts in Osteuropa. Das sind 37% der insgesamt 22 in Osteuropa tiitigen groBeren Untemehmen.

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50-100 1 0 0

100-250 1 1 0

250-500 6 5 3

mehr als 1 10 5 500

Abb. 8: UntemehmensgroBe und Strategiewahl (Anzahl der Untemehmen)

Die Ergebnisse bestiitigen damit tendenziell den Zusammenhang ZWI­

schen UntemehmensgroBe und Strategiewahl.

Page 68: Politische und wirtschaftliche Transformation Osteuropas: Chancen und Potenziale f¼r die neuen Bundesl¤nder

66 ZangerlHauler

3.3 Zur Bedeutung okonomischer und politisch-rechtlicher Faktoren im Intemationalisierungsprozess der Untemehmen

Okonomische Faktoren nehmen in der theoretischen und empirischen Li­teratur einen breiten Raum ein. Beginnend mit den Theorien des Intema­tionalen Handels, die maBgeblich von Ricardo sowie Heckscher und Oh­lin24 gepragt wurden, tiber die Ansatze zu Direktinvestitionen im Ausland25 bis hin zu den diversen, empirischen Arbeiten26, die im Kon­text ihrer Untersuchungen okonomische Variablen als Determinanten in­temationaler Untemehmensaktivitaten analysieren, wird der Einfluss von Produktions- und Transportkosten, Rohstoffvorkommen sowie Marktpo­tentialen auf die Intemationalisierungsstrategie betont. 1m Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurden die Untemehmen nach der Bedeutung der Variablen fUr die Wahl ihrer Strategien befragt (vgl. Abb. 9). Die Fak­toren giinstige Rohstoffsituation, hohe Transportkosten und niedrige Pro­duktionskosten gelten im folgenden nur flir Untemehmen, die ihre Pro­duktion nach Osteuropa verlagert haben.

24 Zu den klassischen AuBenhandelstheorien vgl. Woll, A. (1984), Rose, K. (1986), Ricardo, D. (1972), bes. Kapitel 7, Heckscher, E.F. (1966), Ohlin, 8. (1952) sowie die Weiterentwicklungen der Ansatze: Die Theorie der Technologischen Liicke von Posner, die Lernkurventheorie des Internationalen Handels von Posner und Arrow, Die Theorie der komparativen Entwicklungsvorteile von Lorenz u.a.

25 Hierzu zahlen z.B. Der Ressourcenausstattungsansatz von Krainer, Der Investitionsansatz von Kojima, Die Theorie der Industrial Organization und die Standorttheorie

26 vgl. z.B. Lecraw, OJ. (1991); Agarwal, S./Ramaswami, S.N. (1992); Okoroafo, S.c. (1989); Mascarenhas, 8. (1992); Miischen, J. (1998)

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Intemationalisierungsstrategien der deutschen Nahrungs- und Genussrnittelindustrie 67

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Rohsloffsilualion Transportkosten Produktionskosten

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- -

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• Aktive Strategie mit Produktion (n=13) • Aktive Strategie gesamt (n=23)

Abb. 9: Einfluss der okonomischen Faktoren auf die Wahl der aktiven Strategie

Untemehmen, die eine passive Strategie der Intemationalisierung insbe­sondere tiber Formen des Exports verfolgen, messen den Faktoren Roh­stoffsituation, Transportkosten und Marktpotential keine hohe Bedeutung rur die Entscheidung tiber ihr Auslandsengagement bei (vgl. Abb. 10). Da eine Produktionsverlagerung nur rur die aktive Strategie typisch ist, ent­fallt rur den Fall passiven Verhaltens die Frage nach den Produktionskos­ten.

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68 ZangerlHauler

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4

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Rohstoffsituation Transportkosten Marktpotential

Abb. 10: Einfluss der okonomischen Faktoren auf die Wahl der passiven Strategie

Politische und rechtliche Faktoren beschreiben in ihren Auspragungen und Veranderungen die Landerrisiken und damit die Verlustgefahren, die den Untemehmen durch Misserfo1g ihrer Aus1andsaktivitaten entstehen konnen. Die Risiken lassen sich a1s Transfer-, Dispositions- und Enteig­nungsrisiken k1assifizieren. Mit zunehmender Investitionstatigkeit im Aus1and steigt dabei die Risikobetroffenheit der Untemehmen27. Der Ein­fluss der Landerrisiken auf die institutionelle Ausgestaltung der Intemati­onalisierung wird in der Literatur zumeist bestatigt28.

1m Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurde der Einfluss von Zol­len, Exporterstattungen, Investitionsanreizen, Wechse1kurs-, Gewinn­transfer-, Eigentumsrisiko und nichttarifare Hande1shemmnisse auf die Wahl der Intemationa1isierungsstrategie untersucht (vgl. Abb. 11). Hohe Importzolle beeinflussen ma13geblich die Entscheidung zur aktiven Stra­tegie mit Produktionsverlagerung. Niedriges Gewinntransfer- und Eigen­tumsrisiko sowie Investitionsanreize iiben einen mittleren Einfluss auf die Strategiewah1 aus. Nichttarifare Hande1shemmnisse, ein niedriges Wech-

27 vgl. Miischen, J. (1998), Seite 45-60; Root, F. (1987), Seite 128[f.; Miller, K.D. (1992), Seite 3\3[f.

28 vgl. Brouthers, K.D. (1995), Seite 24; Miischen, J. (1998), Seite 58ff.; Erramilli, M.K./Rao, c.P. (1993)

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Internationalisierungsstrategien der deutschen Nahrungs- und Genussrnittelindustrie 69

selkursrisiko und geringe Exporterstattungen spielen fur die Wahl der ak­tiven Strategie kaum eine Rolle.

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Abb. 11: Einfluss der politisch-rechtlichen Faktoren auf die Wahl der aktiven Strategie (1 = trifft nicht zu; 6 = trifft voU zu)

Der Einfluss der politisch-rechtlichen Faktoren auf die Entscheidung zu­gunsten der passiven Strategie fallt allgemein niedrig aus (vgl. Abb. 12). So erzielt kein Wert ein fur die Wahl der Strategie relevantes Niveau. Un­temehmen, die die passive Strategie wahlen, dokumentieren damit eine geringe Risikobetroffenheit durch diese Faktoren. Die passive Strategie ist somit nicht als Folge unglinstiger Auspragungen dieser Faktoren zu erklaren.

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Abb. 12: Einfluss der politisch-rechtlichen Faktoren auf die Wahl der passiven Strategie (l = trifft nicht zu; 6 = trifft voll zu; n = 24)

3.4 Marktkenntnisse als zentrale Detenninante des Intemationalisierungsprozesses

Aus der empirischen Untersuchung sind typische Intemationalisierungs­pfade der deutschen Untemehmen der Nahrungs- und Genussmittelindust­rie ableitbar. GemaB der theoretischen Basis verIauft die Intemationalisie­rung von Untemehmen in Stufen, die durch einen Anstieg der Ressourcenallokation gekennzeichnet sind. FUr die 47 Hille ergibt sich in Osteuropa das in Abb. 13 dargestellte Intemationalisierungstableau.

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Intemationalisierungsstrategien der deutschen Nahrungs- und Genussmittelindustrie 71

von Keine Aktivitaten Passive Strategie

nach

Passive Strategie

Aktive Strategie

* davon Tochtergesellschaften mit Produktionsstatten im Gastland

Abb. 13: Intemationalisierungspfade in Osteuropa

Aktive Strategie

(n=47)

In der tiberwiegenden Zahl der Hi.11e wird die passive Strategie als Markteintrittsstrategie gewahlt (35 Untemehmen), d.h. die Untemehmen wahlen eine Intemationalisierungsfonn, die durch eine geringe Ressour­cenallokation gekennzeichnet ist. Darauf aufbauend vollziehen mehr als 113 der Untemehmen die Marktanpassung tiber eine aktive Strategie (13 Untemehmen), so dass ein Intemationalisierungspfad zu erkennen ist.

25% der befragten Untemehmen wahlen die aktive Strategie auch als Markteintrittsstrategie. Eine starkere Eingrenzung dieser Falle auf die Produktionsverlagerung nach Osteuropa, die die intensivste Fonn der In­temationalisierung darstellt, zeigt ein vergleichbares Ergebnis.

JohansonIVahlne haben in ihren Erklarungsmodell der Intemationalisie­rung Marktkenntnisse in allgemeine Intemationalisierungserfahrungen und spezifische Marktkenntnisse unterteilt. Erstere zeichnen sich dadurch aus, dass sie tibertragen werden kannen. Insbesondere bei vergleichbaren Rahmenbedingungen kannen so einmal gemachte Erfahrungen genutzt werden29 . Zur Approximation des Niveaus der allgemeinen, intemationa-

29 vgl. Johanson, J.Nahlne, J.-E. (1977), Seite 27f., J.Nahlne, J.-E. (1990), Seite 84

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72 ZangerlHauler

len Erfahrungen wurde der Anteil des Auslandsurnsatzes am Gesamtum­satz herangezogen30• Der Vergleich der in Osteuropa tatigen mit den nicht tatigen Untemehmen zeigt, dass der Auslandsurnsatzanteil bei den auch in Osteuropa tatigen Untemehmen insgesamt deutlich hoher ist als bei den nicht tatigen Firmen (vgl. Abb. 14). Das bestatigt die Annahme grofierer allgemeiner Investitionserfahrungen bei in Osteuropa tatigen Untemeh­men.

30

25

20

c ~ 15 a.

10

5

o In Osleuropa tatige Unlernehmen (n=25)

10

Unlemehmen. die nichl in Osteuropa

tatig sind (n=9)

Abb. 14: Auslandsumsatzvergleich der Untemehmen, die in Osteuropa tlitig bzw. nicht tlitig sind (Urnsatzanteil im Ausland am Gesamtumsatz in Prozent)

Unterteilt man die Untemehmen, die sich in Osteuropa engagieren, in eine Gruppe, die nur die passive Strategie verfolgt und in eine weitere, die mindestens in einem Land mit der aktiven Strategie vertreten ist, so zeigt sich, dass der Grad der allgemeinen Intemationalisierungserfahrung mit der aktiven Strategie weiter zunimmt (vgl. Abb. 15).

30 vgl. zum Einfluss dieser Untemehmensstrukturvariable Engelhard, J.lEckert, S. (1994), Seite IS und 35

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Internationalisierungsstrategien der deutschen Nahrungs- und Genussmittelindustrie 73

35

30

25

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15 c..

10

5

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21

Unlemehmen, die nur die passive

Siralegie verfolgen (n=9)

31

Unternehmen, die mind. in einem Land d ie

aktive Strategie verfolgen (n=16)

Abb. 15: Auslandsumsatzvergleich der Unternehmen, die nur die passive Strategie bzw.mindestens in einem Land eine aktive Strategie verfolgen

Zur weiteren Uberprufung des Einflusses der allgemeinen Intemationali­sierungskenntnisse wurde die institutionelle Erfahrung herangezogen, die durch die Zahl der Markte, in denen ein Untemehmen die beiden Strate­gietypen einsetzt, operationalisiert wurde31 . Abb. 16 zeigt, dass ein Zu­sammenhang zwischen institutioneller Erfahrung auf Basis einer aktiven Strategie und der Wahl dieses Strategietyps in Osteuropa festzustellen ist. Untemehmen, die in Osteuropa mindestens in einem Land die aktive Stra­tegie wahlen, verwenden diesen Strategietyp haufiger, als Untemehmen, die nur mit der passiven Strategie vertreten sind. Auch die Untemehmen, die nicht in Osteuropa Hitig sind, zeichnen sich durch geringe Erfahrung mit der aktiven Strategie aus.

31 vgl. auch zur Analyse der institutionellen Erfahrung von Weiss, Ch. (1996), Seite 191

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74

100

90

80

70 .. 60 c CI

50 N 0 ... a.. 40

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kein Land 1 bis 3 U~nder mehr als 3

Lander

ZangerlHauler

• Unternehmen, die in Osteuropa nur die passive Strategie verfolgen (n=9)

• Unternehmen, die mind. in einem Land Osteuropas die aktive Strategie verfolgen (n= 16)

o Unternehmen, die nicht in Osteuropa tatig sind (n=9)

Abb. 16: Vergleich der Anzahl der Lander, in denen eine aktive Intemationalisierungs­strategie verfolgt wird

Die institutionelle Erfahrung mit der passiven Strategie differenziert die drei gebildeten Gruppen nicht. Allgemein ist ein intensives Auslandsen­gagement tiber Formen des Exports feststellbar (vgl. Abb. 17).

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Intemationalisierungsstrategien der deutschen Nahrungs- und Genussrnittelindustrie 75

100

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kein Land 1 bis 3 Lander

mehr als 3 Lander

• Unternehmen, die in Osteuropa nur die passive Strategie verfolgen (n=9)

• Unternehmen, die mind. in einem Land Osteuropas die aktive Strategie verfolgen (n=16)

o Unternehmen, die nicht in Osteuropa tatig sind (n=9)

Abb. 17: Vergleich der Anzahl der Lander, in denen eine passive Strategie der Intemati­onalisierung verfolgt wird

Spezifische Marktkenntnisse sind nach JohansonIVahlne die zentrale De­tenninante des Intemationalisierungsprozesses. Sie stellen das Wissen dar, dass nicht tibertragen werden kann und sich tiber die Integration eines Untemehmens in ein Land ergibt. In der Interpretation von Johan­sonIV ahlne erwirbt das Untemehmen dieses Wissen tiber seine Aktivita­ten im Gastland tiber einen langeren Zeitablauf. In Anlehnung an die wis­senschaftliche Literatur wurde fUr die Untersuchung die Operationalisierung tiber die Dauer des intemationalen Engagements in Jahren32 vorgenommen. Abb. 18 zeigt, dass Untemehmen mit eine akti­ven Strategie durchschnittlich ein Jahr langer im jeweiligen Gastland Er­fahrungen gesammelt haben als Untemehmen mit einer passiven Strate­gie. Untemehmen, die bereits die hochste Stufe der Intemationalisierung erreicht haben, sind durchschnittlich sogar 1,8 Jahre langer im jeweiligen Auslandsmarkt engagiert.

32 vgl. Pues, C. (1994), Seite 284[f.

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76

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ZangerlHauler

6

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Produktion (n=13)

Abb. 18: Dauer der Engagements in osteuropaischen Landern in Jahren

Neben der auf der Lemtheorie basierenden Interpretation des Erwerbs von Marktkenntnissen tiber den Aufbau von eigenem Erfahrungswissen sind Untemehmen ebenfalls in der Lage, Expertenwissen tiber die Lander Ost­europas zu intemalisieren. Die Besetzung von Stellen des Top­Managements mit "Landes" - Experten, die ausgepragte Kenntnisse tiber die Aufgabenumwelt, die Kultur und die wirtschafispolitischen Rahmen­bedingungen osteuropaischer Lander besitzen, stellt somit eine weitere Handlungsmoglichkeit von Untemehmen dar, urn das Niveau von Markt­kenntnissen zu erhohen. Vor dem Hintergrund dieser Uberlegungen wur­de die Operationalisierung von Marktkenntnissen tiber die Darstellung der Nationalitat des Top-Managements der Untemehmen vorgenommen. Abb. 19 zeigt, dass Untemehmen, die in Osteuropa die aktive Strategie verfolgen, zum tiberwiegenden Teil das Top-Management ihrer Tochter­untemehmen mit Experten des jeweiligen Landes besetzen und so Markt­kenntnisse intemalisieren. Untemehmen, die die hochste Stufe der Inter­nationalisierung in Form von Tochterfirmen in Osteuropa erreicht haben, beschafiigen fast ausnahmslos "Landes" - Experten im Top-Management ihrer Tochterfirmen. Untemehmen dagegen, die mit der passiven Strategie in Osteuropa vertreten sind und ein geringeres Engagement in den Lan-

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Internationalisierungsstrategien def deutschen Nahrungs- und Genussmittelindustrie 77

dem aufweisen, fugen ihrer Organisation (i.d.R. Exportabteilung im Hei­matland) keine Manager aus den osteuropaischen Staaten bei.

120

100 100 100 92 92 m Passive Strategie (n=24)

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Abb, 19: Expertenwissen - Nationalitlit des Top-Managements

Als weitere Moglichkeit, die Bedeutung von Kenntnissen tiber osteuropa­ische Markte im Rahmen der beiden Strategietypen zu verdeutlichen, wurde das landesbezogene Informationsmanagement gewahlt. Unter lan­desbezogenem Informationsmanagement wird in dieser Studie verstan­den, welche Instrumente die Untemehmen im Rahmen ihrer Strategie ein­setzen, urn kontinuierlich und systematisch Informationen und damit Wissen tiber den osteuropaischen Markt aufzubauen bzw. zu aktualisie­ren. Die Instrumente exteme Marktforschung, Nutzung osteuropaischer Beratungsuntemehmen sowie Einsatz von Strategie- und Vertriebsmee­tings auf der Managementebene, dienen zur Erfassung des Spektrums marktgerichteter Informationssammlung und -auswertung. Die Operatio­nalisierung erfolgte tiber die Haufigkeit der Nutzung der einzelnen In­strumente. Abb. 20 und 21 zeigen, dass in den Fallen, in denen eine aktive Strategie verfolgt wird, aIle Instrumente systematischer und intensiver eingesetzt werden, als in den Fallen, in denen das Marktengagement tiber

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78 ZangerlHauler

die passive Strategie des Exports erfo1gt. Auf der Ebene der Nutzung von extemen Wissenstoo1s zeigt sich in den Hillen der passiven Strategie eine ausgesprochen geringe Nutzungsintensitat (vgl. Abb. 20). 1m Bereich der Managementinstrumente (vgl. Abb. 21) findet die Nutzung von Strate­giemeetings innerha1b der aktiven Strategie ausnahms10s statt, wobei die regelmaBige Nutzung mit 78% einen hohen Wert erreicht. Die Bedeutung von Marktkenntnissen und deren Veranderung findet somit bei hohem Engagement eine groBere Beriicksichtigung. Die hohen Werte fUr die "re­ge1maBige" Nutzung im Rahmen der aktiven Strategie bestatigen zudem den dynamischen Aspekt der Variab1en Marktkenntnisse fUr die Ausges­ta1tung der Intemationa1isierungsstrategie.

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Abb. 20: Informationsmanagement - Nutzungsintensitat der Instrumente exteme Markt­forschung und osteuropaische Beratungsuntemehmen

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Intemationalisierungsstrategien derdeutschen Nahrungs- und Genussmittelindustrie 79

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I-Passive Stralegie (n=24) - AkUve Stralegie (n=23M

Abb. 21: Informationsmanagement - Nutzungsintensitlit der Managementinstrumente Vertriebs- und Strategiemeeting

4. Fazit

Die Untersuchung hat gezeigt, dass fUr deutsche Unternehmen der Nah­rung- und Genussmittelindustrie das Internationalisierungsprozessmodell von IohansonlVahlne gro13e ErkHirungskraft besitzt. Allgemeine Interna­tionalisierungserfahrungen und spezifische Marktkenntnisse stellen die zentralen Determinanten fUr die Wahl der Internationalisierungsstrategie dar. Die Auspdigung von Expertenwissen unter Einsatz des Informati­onsmanagements be1egen, wie mit steigendem Auslandsengagement die Kenntnisse tiber den osteuropaischen Markt zunehmen.

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80 ZangerlHauler

Dariiber hinaus stellen sich im Rahmen der Wahl der aktiven Strategie die Faktoren Marktpotential, Produktionskosten und Zolle als strategierele­vant dar. Ein enger Zusammenhang zwischen der passiven Strategie und Auspragungen okonomischer bzw. politisch-rechtlicher Faktoren konnten nicht nachgewiesen werden.

Ebenfalls von Bedeutung fUr die Strategiewahl ist die Unternehmensgro­Be. Die Haufigkeit der aktiven Strategie nimmt mit steigender Unterneh­mensgroBe zu.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass der gewahlte Bezugsrahmen ge­eignet ist, das Internationalisierungsverhalten deutschen Nahrungs- und Genussmittelindustrie abzubilden und die relevanten, strategiebeeinflus­senden Faktoren zu definieren.

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Volkhardt K16ppner*

Umsetzung einer Markteintrittsstrategie in Osteuropa am Beispiel des Kauf- und

Warenhausgeschafts in Ungaro

1. Tengelmann WHG und Ost-Europa am Ende des 20. Jahrhunderts .................... 85

2. Markteintrittsstrategie im Kauf- und Warenhausgeschlift in Ungam Mitte der 90er-Jahre ............................................................................................................ 86

3. Marktentwicklungsstrategie im Kauf- und Warenhausgeschlift in Ungam bis zum Jahr 2000 ...................................................................................................... 87

3.1 Strategien/Konzepte ........................................................................................... 87

3.2 Personal. ............................................................................................................... 91

4. Ergebniswirkungen des Markteintritts ................................................................. 92

• Dr. Volkhardt Kloppner, Mitglied des Vorstands der S&C Warenhaus AG, Budapest, Un gam

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Umsetzung einer Markteintrittsstrategie in Ost-Europa 85

1. Tengelmann WHG und Ost-Europa am Ende des 20. Jahrhunderts

Wahrend viele Gesellschaften nur sehr zogerlich den Markteintritt in Ost­Europa gewagt haben, ist die Tengelmann Warenhandelsgesellschaft mit ihren Sparten Plus, Kaiser's und Obi bereits heute in vielen wichtigen Landem Ost-Europas stark vertreten (vgl. Abbildung 1).

Filiale VKFL MA

I CR .......... Plus 54 36.438 1.400

/ OBI 8 42.000 360

CR Geoamt 62 78.438 1.760

I Polen Plus 83 44.948 1.800

/" OBI 8 56.000 350

Polen Gesamt 91 100.948 2.150

I Slowenien> OBI I 5.000 61

Interfruct II 25.647 350 Plus 96 50.964

I Ungarn Kaiser's 19 27.385 3.600

/ LEH Gesamt 126 103.996 3.950 OBI 9 30.593 414 Skaia&Centrum 24 77.370 2.500 Ungaro Gesamt 159 211.959 6.864

Osteuropa Gesamt 333 396.345 10.835 LEH Ooteuropa 263 185.382 7.150

Abb. 1: Filialzahl, Verkaufsflache und Mitarbeiterzahl von Tengelmann in Osteuropa

Das Engagement der Tengelmarm WHG erstreckt sich dabei tiber die Lander Tschechien, Polen, Slowenien und Ungaro. 1999 beschaftigt Ten­gelmann in Ost-Europa in ca. 350 Filialen auf einer Verkaufsflache von ca. 400.000 qm ca. 11.000 Mitarbeiter. In Ungaro, wo die Tengelmarm WHG tiber 50% dieser Verkaufsflache betreibt, ist die Tengelmarm WHG zweitgroBter Handler tiberhaupt.

Neben den klassischen Kemgeschaftsfeldem Plus, Kaiser's sowie Obi be­findet sich auch die ungarische Skala/Centrum Warenhaus AG im Besitz von Tengelmarm. Diese Kauf- und Warenhauskette erwirtschaftet auf ei­ner Verkaufsflache von ca. 70.000 qm einen Umsatz von ca. 300 Mio.

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86 Kloppner

DM pro Jahr. Sie ist in allen wichtigen Stadten Ungarns vertreten und be­sitzt allein in Budapest sieben Warenhauser.

Seit November 1999 ist die Skala/Centrum Warenhaus AG zusatzlich General-Franchisenehmer von Debenhams PLC, London, England.

2. Markteintrittsstrategie im Kauf- und Warenhausgeschaft in Ungam Mitte der 90er-Jahre

Trotzdem sich die Stabilisierung der ungarischen Wirtschaft zur Mitte der neunziger Jahre fortsetzt, befindet sich der Einzelhandel zu diesem Zeit­punkt in einer angespannten Wettbewerbssituation. So ist Ungam wegen eines jahrlichen Wachstums des Bruttoinlandsproduktes von ca. 3-5% sowie einer dramatischen Verlangsamung des Infiationstempos noch im­mer eines der attraktivsten osteuropaischen Lander fur westeuropaische Investoren, doch kann eine zunehmende Differenzierung der Einzelhan­delslandschaft nach best-practise Betriebstypen und Betreibungskonzepte bereits festgestellt werden.

Dies liegt zum einen an einem steigenden Interesse westeuropaischer Ein­zelhandelsketten an Ungarn, das zu ersten Anzeichen eines Dberangebots im Markt fuhrt. Zum anderen kann aber auch eine zunehmende An­spruchshaltung der Konsumenten in Bezug auf Preisqualitat und Ein­kaufserlebnis festgestellt werden.

Durch die schrittweise Ausweitung des Warenhausengagements von Ten­gelmann in Ungam konnte trotz tiberschaubarem Risiko eine starke Marktposition aufgebaut werden. Im Jahre 1989 wurde zunachst eine Minderheitsbeteiligung an Skala erworben, die sich durch die Wand1ung einer Wandelschuldverschreibung in Hohe von ca. 50 Mio. DM bis zum Jahr 1995 auf tiber 50% erhOhte. Der darauf folgende Kauf der Mehr­heitsbeteiligung von Centrum durch Skala-Coop im Jahre 1997 ist der Beginn der Zusammenfuhrung der beiden landesweiten Warenhausketten Skala und Centrum.

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Umsetzung einer Markteintrittsstrategie in Ost-Europa 87

3. Marktentwicklungsstrategie im Kauf- und Warenhausgeschaft in Ungam bis zum Jahr 2000

3.1 Strategien / Konzepte

1m Rahmen einer Marktentwicklungsstrategie muss eine strategische und operative Verbesserung des Warenhausgeschiifts vorgenommen werden. Hierzu wird im Rahmen von drei Projektmodulen gearbeitet. Diese Pro­jektmodule sind die Typologisierung der Hauser, die Dberarbeitung des Warenangebots sowie die Optimierung von Prozessen und Strukturen (vgl. Abbildung 2).

Typologisierung Hauser I 1-1 __ S_o_rt_i_m_e_n_tlP_r_e_is __ ...J1 I Prozesse/Strukturen

Bestimmung strategische Rolle Bestimmung Kundenbediirfnisse • Identifikation Kernprozesse Warenhaus • Festlegung Warengruppenstrategie' Ablaufanalyse Kernprozesse

.8' Festlegung Differenzierungs- Flachenzuweisung nach Waren- Schnittstellenmanagementi

..; kriterien gruppen Schwachstellenanalyse ~ • K1assifizierung Sk:ila-ICentrum- • Definition Bediirfuisorientierung Best-Practice-Vergleiche

Hauser in der Warenprasentation Schwachstellenanalyse Definition Anforderungen je • Abverkaufsanalyse nach Artikeln Struktur-Hausertyp an Formatstrategie je Warengruppe organisation

Rentabilitatsanalyse nach Artikeln • Zusammenarbeitsoptionen BenchmarkinglBest-Practice- Centrum nach Beispiele in Ungam und Kernprozessenl international Strukturen

• Abschatzung Verbesserungs­potential

Segmentierung Hauser ~. Differenzierung Format­;::I konzepte • Einleitung SofortmaBnahmen

• Identifikation der Verbesse­rungshebel fUr schlagkraftige Organisation

o . Differenzierung Unter­stiitzungsbedarf/Investitions­

• Abschatzung Kostenoptimie­rungspotential

~edarf ---_/ "----------.. ------_/ Y Y

eher strategisch eher operativ

Abb. 2: Projektmodule, im Rahmen der Marktentwicklungsstrategie zur Verbesserung des Warenhausgeschafts strategisch und operativ

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88 KlOppner

• Typologisierung Hauser

Ausgangspunkt der strategischen Neuausrichtung der Kette ist zunachst eine umfassende Imagestudie. Hierbei wird festgestellt, dass sich vor dem Hintergrund sich stark lihnelnder Imageprofile von Skala und Centrum ei­ne evolutorische Entwicklung einer neuen Dachmarke - der Marke S&C - anbietet. Dennoch macht die groBe Heterogenitat der Kette eine detail­lierte Ableitung hauserspezifischer Handlungsempfehlungen notwendig.

Dabei erfolgt zunachst eine Segmentierung der Hauser nach den Kriterien GroBe des Hauses und Marktattraktivitat. Auf Basis der daraus entstehen­den Hausersegmente werden zukunftsgerichtete Profilierungsentschei­dung en getroffen. Vor Umsetzung dieser Profilierungsentscheidungen ist jedoch eine Wirtschaftlichkeitspriifung vorzunehmen (vgl. Abbildung 3).

> restlegung Basis-Formatentscheidung

>~estlegung Hauserpositionierung

> ~perative Umsetzung Posi- > Wirtscbanliche tionierungsentscheidung Konsequenzen

• Feststellung Verl<aufsflach • Eruierung Hauserimage • Adiiquate F1achenzu- • AbscMtzung von Umsatz--1st - Historie weisung fiir ProfiJicrungs- und Rohertragswirkungen - Potenzial - Nachfragereinschiitzung sortimente - Bestehende F1ache - Obne Investitionen - Maximale F1achen der - Erweiterte F1ache - Mit Investitionen • Eruierung Wetthewerher- Schwerpunktsetzung

portfolio - Mindestflachen fiir • AbschiUzung der • Eruierung - Status sonstige Profilierungs- Konsequenzen hei Ver-

Marktattraktivitru: - Erwartung sortimente oder Verzicht i1uIlerung - Einwohnerzahl - Verfiigbores Einkornmen • Schwerpunktsetzung • Mindestflachen fiir - Arbeitslosigkeit im Rahmen der Basis- Standardsortimente oder (- Kautkrnftkennzitfern) Fonnatentscheidung Verzicht

• FHicheruninimierung bei standortspezifischen Erg3nzungssortimenten

Abb. 3: Vorgehen zur Ableitung hauserspezifischer Handlungsempfehlungen

~ -Weitcr­

betreibungl Investition

- Veri!u1lerung

Bei vier der vorhandenen ca. 30 Warenhauser ist sowohl der Verlustbei­trag als auch das Sanierungsrisiko hoch. Acht Hauser zeichnen sich trotz eines hohen Verlustbeitrags durch ein geringes Sanierungsrisiko aus. Auf Basis dieser Wirtschaftlichkeitsanalyse werden Prioritaten zur Sanierung und Ausrichtung der einzelnen Hauser vergeben.

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Umsetzung einer Markteintrittsstrategie in Ost-Europa 89

Innerhalb von vier Hausertypen findet eine Professionalisierung des Marktauftritts zur Realisierung von Umsatz- und Spannenzuwachsen statt. Diese vier Hausertypen sind Weltklasse Warenhaus, Standard Warenhaus, Multi-Store sowie SpezialistenIProblemfalle.

Wahrend die Weltklasse Warenhauser mit einer Verkaufsflache von tiber 6.000 qm als Warenhauser mit einem qualitativ guten Angebot in allen wichtigen Warenwelten und einem Schwerpunkt auf mittelpreisige Sorti­mente positioniert werden, stell en die Multi-Stores mit einer Verkaufsfla­che von weniger als 3.000 qm Nahversorger mit breitem Angebot an Ba­sisartikeln dar. Standard-Warenhauser mit einer Verkaufsflache von 3.000 - 6.000 qm werden zwischen diesen beiden Extremen positioniert. FUr zwei Hauser werden Sonderlosungen gefunden, vier Hauser werden ge­schlossen. Der mit der SchlieBung einhergehende Umsatzverlust betragt nicht mehr als ca. 4% vom Gesamtumsatz.

• Uberarbeitung Warenangebot

Zur Profilierung der Hauser werden entsprechend seiner Bedeutung fur das Warenhausgeschaft, seiner Wachstumsaussichten und seiner Ertrags­kraft eindeutige Sortimentsschwerpunkte im Textilbereich gesetzt (vgl. Abbildung 4).

Neben der deutlichen Optimierung von Teilsortimenten im Personality­Bereich (z.B. Parfiimerie) findet ein signifikanter Ausbau von Multimedia sowie Sport und Freizeit statt. Dies geht einher mit einer Reduktion der spannenschwachen Bereiche Do-it-yourself, Wohnung und WeiBe Ware.

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90

Marktattraktivitiit'"

groB CD/MCNideo

o o Mabel

Qmy

OComputer-Hardware

OGartenbedarf

gering 0 BUromaschinen

gering 3

OBekieidung Tee ager

Sportbekleidung

OCamping

• = 0,4 Marktvolumen + 0,3 Nachfrageentwicklung + 0,3 Ertragslcraft

.. 0,5 Marktanteil + 0,25 Wettbewerbsstarke + 0,25 City Stabililat

QueUe: Strategie-Workshop Skala/Centrum

~ 8ekleidunllDam:n

~ ekleidungHerren

OW","'IB"""'.IStrllmp['

Teppiche

Hausral

Kloppner

o = GroBe entspricht Umsatzanteil bei Skala I Centrum 1997 in%

Relative Wettbewerbs· starke Skila I Centrum"

Abb. 4: Sortimentsportfolio Skala/Centrum 1997

• Optimieruog Prozesse uod Struktureo

Nach einer ausfiihrlichen Analyse der 1st-Prozesse und einer Entwicklung von sich an westeuropaischen Standards orientierenden Soll-Prozessen wird die Strukturorganisation fUr die Gesellschaft S&C Warenhaus AG entwickelt. Oberste Priori tat hat zunachst die Zusammenlegung der Ein­kaufsfunktionen. Hierbei wird, wie bei der gesamten Gesellschaft, eine schrittweise Zusammenfiihrung der beiden Organisationen Skala und Centrum vorgenommen.

Der Einkauf wird genauso wie das Category Management sowie Marke­ting und Systembetreuung in einem ersten Schritt bis August 1998 zu­sammengefiihrt. 1m zweiten Schritt folgen die Bereiche Logistik und Controlling bis Dezember 1998. In einem dritten Schritt folgen Rech­nungswesen, Finanzen sowie Personal und Recht bis Marz 1999.

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Umsetzung einer Markteintrittsstrategie in Ost-Europa 91

Die neu entstandene Gesellschaft Skala/Centrum Warenhaus AG ist seit dem 01. Januar 1999 fur das gesamte Handelsgeschaft der ehemaligen Gesellschaften Skala und Centrum allein verantwortlich.

3.2 Personal

Eine Auffuhrung der Besonderheiten von Ost-Europa, die es bei einem moglichen Markteintritt zu berucksichtigen gilt, kann natiirlich nur ein­zelne Faktoren beleuchten. In Bezug auf politische und rechtliche Beson­derheiten ist neben der zur Verfugung stehenden Fachliteratur ohne Zwei­fel auch auf das Wissen und die Kenntnis von Fachleuten vor Ort zuruckzugreifen. All die damit verbundenen Einzelheiten hier aufzuftih­ren, wiirde den Rahmen dieses Vortrags sprengen. Aus diesem Grund wird im Folgenden in erster Linie auf die Probleme bei der Umsetzung einer Markteintritts- und Marktentwicklungsstrategie eingegangen, die sich in der taglichen Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort begrtin­den. Diese Aussagen spiegeln natiirlich nur die subjektive Wahrnehmung des Autoren wider und erheben nicht den Anspruch der allgemeinen Gultigkeit.

Dennoch ist die groBte Schwierigkeit bei der Entwicklung und der Um­setzung der hier aufgezeigten Strategien und Konzepte der Unterschied zwischen Mentalitaten, die in westeuropaischen Landem oder noch viel starker in Amerika vorzufinden sind und den Mentalitaten der Menschen in Ost-Europa. Wesentliche Unterschiede konnen dabei festgestellt wer­den in den vier Bereichen Veranderungswille, Team-Work, Fiihrungsver­halten sowie Karrierestreben.

So ist festzustellen, dass ost-europaische Mitarbeiter ein hohes Streben nach Sicherheit und traditionellen Wegen besitzen. Dies stellt immer dann ein Hindemis dar, wenn traditionelle Wege verandert werden mussen. Unsicherheit wird weniger als Herausforderung wahrgenommen sondem vielmehr als Bedrohung.

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92 Kloppner

Wiihrend west-europaische Mitarbeiter Team-Work haufig verwenden, urn ihre Individualitat auch in der Gruppe zu demonstrieren, muss in Ost­Europa festgestellt werden, dass Mitarbeiter auf Gruppenstrukturen mit einer groBen Unsicherheit und Vorsicht reagieren. Dies fiihrt zu sehr langwierigen Prozessen des Team-Buildings, urn die positiven Aspekte von Team-Work tiberhaupt nutzen zu kannen.

Auch in Bezug auf Fiihrungsverhalten und Fiihrungsakzeptanz sind groBe Unterschiede zwischen West- und Ost-Europa festzustellen. Wiihrend sich in West-Europa inzwischen haufig eine Kultur durchgesetzt hat, in der Ftihrungsverhalten abhangig von der Situation unterschiedlichen Perso­nen zugestanden wird, sind die Mitarbeiter in Ost-Europa noch viel star­ker in Hierarchien denkend. So werden Experten zwar respektiert, ihre Fahigkeiten werden aber dann erst voll umfanglich akzeptiert, wenn sie gleichzeitig als Autoritat in die Hierarchie eingebunden sind. Ost­europaische Mitarbeiter mtissen immer wissen, wer fUr eine bestimmte Entscheidung verantwortlich ist, und wer dafiir auch die Konsequenzen zu tragen hat.

Zum Schluss soll noch kurz auf die Unterschiede in Bezug auf Karriere­streb en eingegangen sein. Ost-europaische Mitarbeiter sehen genauso wie in West-Europa Erfolg als etwas Positives. Doch wiihrend in West-Europa haufig der Erfolg zur Selbstdefinition dient und tiber alles andere gestellt wird, werden in Ost-Europa andere Werte priorisiert. So findet man den Willen intensiv zu arbeiten nur, wenn dabei Freizeit und Familie nicht zu kurz kommen.

4. Ergebniswirkungen des Markteintritts

1m Rahmen von Produktivitatssteigerungen konnte zwischen Ende 1997 und Ende 1999 die Mitarbeiterzahl der Skala/Centrum Warenhaus AG von ca. 3.500 auf ca. 2.400 reduziert werden. Trotzdem konnten in den urngebauten Hausem Umsatzveranderungen von bis zu 30% zurn Vorjahr realisiert werden, obwohl im gleichen Zeitraurn der Umsatz der nicht urn-

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Umsetzung einer Markteintrittsstrategie in Ost-Europa 93

gebauten Hausem auf Vorjahresniveau stagnierte. Neben diesen erhebli­chen Umsatzzuwachsen sind die Steigerungen in der Spanne noch drama­tischer. Hier konnten Spannenzuwachse von tiber 4% vom Nettoumsatz tiber die Gesamtkette hinweg erreicht werden. All diese MaBnahmen zu­sammen fiihren zu einer Verbesserung des Geschaftsergebnisses von +35% von 1998 zu 1999 sowie zu einer geplanten Ergebnisverbesserung von +73% von 1998 zu 2000.

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Dritter Teil

Volkswirtschaftliche Perspektiven

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Michael Fritsch"

Innovationspolitik im Transformationsprozess

l. Die Bedeutung von Innovationen ftiT wirtschaftliche Entwicklung ............... 99

2. Charakteristika sozialistischer Innovationssysteme ..................................... 100

3. Aufgaben und Probleme der Transformation der Innovationssysteme in ehemals sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas .............................. 104

4. Implikationen fUr die Innovationspolitik im Transformationsprozess ......... 107

4.1 Reorganisation von Wirtschaft und Offentlichen Forschungseimichtungen.107

4.2 MaBnahmen zur Stimulierung der Leistungsfahigkeit des Innovationssystems ...................................................................................... 111

5. Schlussfolgerungen und Ausblick ................................................................ 115

" Prof. Dr. Michael Fritsch, TU 8ergakademie Freiberg, Lehrstuhl fUr Wirtschaftspolitik

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Innovationspolitik im Transformationsprozess

1. Die Bedeutung von Innovationen fUr wirtschaftliche Entwicklung*

99

Innovationen stellen nach inzwischen iibereinstimmender Ansicht den wesentlichen Motor fur wirtschaftliche Entwicklung dar. Dies ist auch der entscheidende Grund dafur, warum ihnen ein iiberaus hoher Stel­lenwert fur die Wachstumspolitik zukommt. Die Bedeutung der Innova­tionen fur die Entwicklung ist in sich transformierenden Volkswirtschaf­ten vielleicht sogar noch hoher zu veranschlagen, da es gerade im Ubergang zu einem neuen Wirtschaftssystem urn die Andersverwendung der vorhandenen Ressourcen, also urn Innovationen im weiteren Sinne, und weniger urn die Generierung von Wohlstand durch eine VergroBe­rung der Mengen eingesetzter Faktoren geht. 1m Folgenden soll den Besonderheiten der Innovationspolitik im Trans­formationsprozess der ehemals sozialistischen Lander Mittel- und Osteu­ropas nachgegangen werden. Man kann diese Lander deshalb gewisser­maBen ,in einen Topf' werfen, weil sie im Innovationsbereich durch sehr ahnliche Problemlagen gekennzeichnet sind. Diese Gemeinsamkeit beruht darauf, dass sie als Mitglieder des ehemaligen "Ostblocks" zu Beginn des Transformationsprozesses durch eine gleichartige Art und Weise der Organisation von Innovationsprozessen, namlich durch ein sozialistisches Innovationssystem gekennzeichnet waren. Die Charakte­ristika solcher sozialistischen Innovationssysteme sollen dann auch den Ausgangspunkt der hier beabsichtigten Analyse der Rolle und der Stra­tegien von Innovationspolitik im Transformationsprozess darstellen (Ab­schnitt 2). Darauf aufbauend werden die sich ergebenden Implikationen fur den Ubergang zu einem neuen Wirtschaftssystem aufgezeigt (Ab­schnitt 3) und Schlussfolgerungen fur die Innovationspolitik abgeleitet (Abschnitt 4).

*Ich danke Franz Pleschak fOr hilfreiche Hinweise zu einer frOheren Fassung.

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100 Fritsch

2. Charakteristika sozialistischer Innovationssysteme

In den ehemals sozialistischen Uindern Mittel- und Osteuropas waren Innovationsaktivitiiten - wie andere Bereiche des Wirtschaftsgeschehens auch - in starkem MaBe biirokratisiert. 1 Uber Forschungsprojekte und Innovationen entschieden keine Unternehmer, die dabei ihr eigenes Ka­pital riskierten, sondern Gremien, deren Mitglieder die Folgen ihrer Entscheidungen hliufig kaum personlich zu spiiren bekamen. Nicht sel­ten waren diese Entscheidungen flir oder gegen die Durchflihrung von bestimmten Projekten weniger durch okonomische Anreize oder Not­wendigkeiten als durch politisch-ideologische Positionen geprligt. Ein wesentliches Merkmal der Innovationssysteme in den sozialistischen Llindern Mittel- und Osteuropas bestand darin, dass sich die Organisati­on der Innovationsaktivitliten sehr eng am sogenannten ,linearen Modell' des Innovationsprozesses orientierte. 2 Dieses lineare Modell unterstellt, dass die verschiedenen Phasen des Innovationsprozesses wie Grundla­genforschung, angewandte Forschung, Entwicklung, Prototypenferti­gung und Markteinflihrung nacheinander durchlaufen werden und mit einer bestimmten Phase erst dann beg onnen wird, wenn die jeweils vor­hergehende Phase bereits abgeschlossen ist. Damit wird verkannt, dass im Rahmen von Innovationsprozessen in der Regel zahlreiche Riickkop­pelungsschleifen sinnvoll bzw. erforderlich sind. Beispielsweise gehen hliufig wesentliche Impulse flir den Innovationsprozess von den End­verbrauchern aus (hierzu insbesondere v. Hippel, 1988) und es ist flir den Markterfolg einer Innovation in der Regel von entscheidender Be­deutung, wlihrend des Innovationsprozesses den Kundennutzen im Auge zu behalten. Ein anderes Beispiel ist die Rolle der Fertigungserfahrung als Quelle flir die (Weiter-) Entwicklung von Produkten. Aufgrund des

1 Siehe hierzu etwa Hanson und Pavitt (1987), Fritsch und Werker (1999), Radosevic (I 999b) sowie speziell auf die Situation in Ostdeutschland bezogen Heyde (1999). 2 Siehe hierzu etwa den in Autorenkollektiv (1980, 516-525) widergegebenen Auszug aus der "Nomenklatur der Arbeitsstufen und Leistungen von Aufgaben des Planes Wissenschaft und Technik", der fOr verschiedene Arten von Innovationen die konkreten AbHiufe vorschrieb.

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Innovationspolitik im Transfonnationsprozess 101

hohen Stellenwertes solcher Riickkoppelungsschleifen ist das lineare Modell als Vorbild fur die Organisation von Innovationsprozessen unge­eignet; es hat allenfalls didaktischen WerP Ein weiteres Kennzeichen sozialistischer Innovationssysteme bestand darin, dass versucht wurde, die Anzahl an alternativen Losungsmoglich­keiten bzw. Produktvarianten moglichst gering zu halten. Die Verfol­gung mehrerer Losungswege galt als iiberfliissige Mehrfacharbeit und somit als Verschwendung von Ressourcen. Dieser bewussten Unterdrii­ckung von Vielfalt an Losungswegen lag die Uberzeugung zugrunde, dass man im Rahmen des Systems der staatlichen Planung dazu in der Lage sei, die ,richtige' Alternative friihzeitig zu erkennen. Da man bei Auswahl eines bestimmten, weiter zu verfolgenden technologischen Pfa­des die zukiinftige Entwicklung der verschiedenen Pfade nicht kennen kann, besteht immer auch die Gefahr, dass sich eine solche Entschei­dung letztendlich als falsch erweist (Metcalfe, 1995). Hat man nur an einer Alternative gearbeitet und erweist sich diese Alternative als ,falsch' bzw. ,unzweckmaBig', so impliziert dies erhebliche Anpas­sungskosten, insbesondere aber Zeitverzogerungen, verbunden mit der Gefahr, den Anschluss an die Entwicklung zu verlieren. Friihzeitige Be­grenzung der verfolgten Losungswege engt auch die Moglichkeiten ein, im Wettbewerb zwischen den verschiedenen Losungen die beste Alterna­tive zu entdecken. Denn wenn keine Alternativen existieren, dann kann sich auch nicht eine bestimmte Losung gegeniiber anderen Losungen als iiberlegen erweisen. Der Beschrankung auf nur eine oder eine geringe Anzahl an Losungen entsprach die Konzentration der Forschung auf einem bestimmten Gebiet auf eine oder nur sehr wenige, in der Regel sehr gro6e Einheiten, die wiederum fur eine nur sehr geringe Anzahl an Fertigungsbetrieben tatig waren. Dabei war die Grundlagenforschung zu einem wesentlichen reil auf die Institute der Akademie der Wissenschaften konzentriert, wahrend

3 Eine weitere lmplikation dieser Orientierung am linearen Modell des lnnovationsprozesses bestand darin, daB innovationsrelevante Informationen vorwiegend in vertikaler Richtung, also innerhalb einer bestimmten Branche, transferiert wurden. DemgegenOber war der horizontale Informationstransfer, also die Weitergabe von Informationen zwischen den verschiedenen Branchen eher unterentwickelt.

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102 Fritsch

die UniversWiten neben der Grundlagenforschung auch zu einem wesentlichen Tei! angewandte Forschung betrieben. Die Zusammen­arbeit zwischen Forschungsinstituten und Fertigungsbetrieben oder der Forschungsinstitute untereinander funktionierte meist schlecht und wies ein ziemlich geringes Niveau auf. Die inHindischen Markte stellten in der Regel ausgesprochene ,Verkau­fermarkte' dar, die durch Ubernachfrage nach knapp en Giitern gekenn­zeichnet waren, fur die kaum Konkurrenz bestand. Da auf solchen Markten auch relativ schlechte Qualitaten problemlos abgesetzt werden konnten, war der Anreiz zur Innovation im Vergleieh zu einer Markt­wirtschaft nur vergleichsweise gering ausgepragt.4 Wenn innoviert wur­de, dann standen haufig inkrementale Neuerungen im Vordergrund, die im Vergleich zu radikalen Innovationen dadurch gekennzeichnet sind, dass sieh das Ergebnis relativ sieher absehen lasst. Die Vernachlassi­gung radikaler Innovationen resultierte aus der relativ stark ausgepragten Unsieherheit bzw. Unberechenbarkeit der Ergebnisse der entsprechen­den FuE-Aktivitaten, die im Plansystem nur stOrte. Hinzu kamen die allgemeinen Defizite einer Planwirtschaft, wie z.B. mangelnde Eigenverantwortlichkeit und Motivation sowie Engpasse bei der Verfugbarkeit bestimmter Inputs, die durch den Boykott des Wes­tens fur bestimmte Giiter (sogenannte "COCOM-Liste") noch verstarkt wurde. Aufgrund der Abschottung yom Westen war auch die Einbin­dung in wesentliche Bereiche des internationalen Wissenstransfers nur unzulanglich. Dabei fuhrte die stark eingeschrankte Mobilitat von am Innovationsprozess beteiligten Personen insbesondere zu Beschrankun­gen bei der Ubertragung von nichtcodifizierbarem, sogenanntem "taci­dem" Wissen. Aber auch die Diffusion von Wissen zwischen den Staa­ten des Ostblocks hatte ein vergleichsweise geringes Niveau; Koope­ration im Bereich Forschung und Entwicklung (FuE) zwischen den COMECON-Staaten fand kaum statt.

4 Dies galt nicht oder nur in abgeschwachter Form fOr Exportmarkte, wo haufig durchaus ein nicht unerhebli­ches MaB ab Konkurrenz herrschte.

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Innovationspolitik im Transformationsprozess 103

1m Ergebnis waren die Innovationssysteme der sozialistischen Lander Mittel- und Osteuropas durch eine relativ geringe Leistungsfahigkeit ge­kennzeichnet: Trotz eines zum Teil ganz erheblichen Ressourcenauf­wandes fur FuE lieBen die Ergebnisse in der Regel sowohl hinsichtlich Quantitat als auch in Bezug auf ihre Qualitat sehr zu wunschen ubrig (Hanson und Pavitt, 1987, 55-86). In so gut wie samtlichen Bereichen bestand ein betrachtlicher Ruckstand des technologischen Standards von Verfahren und Produkten hinter dem westlichen Niveau. Die verfolgten technologischen Pfade unterschieden sich meist deutlich von den Lo­sungswegen, die sich im Westen unter marktwirtschaftlichen Bedingun­gen durchgesetzt hatten. Zwar waren vereinzelt auch ausgesprochene Spitzenleistungen zu verzeichnen, allerdings blieben diese fast aus­schlieBlich auf den Bereich der militarischen Forschung (einschlieBlich der Weltraumforschung) beschrankt und wurden nur unter gewaltigem Ressourceneinsatz realisiert. Ein nicht unerheblicher Teil des FuE­Aufwandes diente der Beseitigung systembedingter Mangel (etwa zur Substitution nicht verfugbarer Inputs aus dem westlichen Ausland). Die unzureichende Abstimmung der verschiedenen am Innovationsprozess beteiligten Akteure bzw. die schlechte QualWit der Auswahlentscheidun­gen uber die weiter zu verfolgenden Innovationsprojekte schlug sich et­wa darin nieder, dass viele produktionsreife Entwicklungen gar nicht oder nur in geringem Umfang implementiert wurden; einige dieser Er­findungen wurden sogar im Westen intensiver genutzt als in ihren osteu­ropaischen U rsprungslandern (Hanson und Pavitt, 1987; Maier, 1987).

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104 Fritsch

3. Aufgaben und Probleme der Transformation der Innovationssysteme in ehemals sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas

Mit der kurzen Beschreibung von Innovationssystemen sozialistischer Pragung sind bereits die wesentlichen Aufgaben angesprochen, die im Transformationsprozess bewaltigt werden miissen. Hierbei handelt es sich insbesondere urn folgende drei Prozesse, die von der Innovationspo­litik zu begleiten sind: Aujholen, umstellen, Anschluss finden als allgemeine Leitlinie fur den Umbau des Innovationssystems. Die technologische Riickstandigkeit der Wirtschaft in den ehemals sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas impliziert die Notwendigkeit, aufzuholen, urn Anschluss an die interna­tionale Entwicklung zu finden. Dies erfordert weniger die Generierung neuen Wissens, also das Betreiben von Forschung, sondern vielmehr die Aufnahme und Anwendung des in anderen Landern, insbesondere den entwickelten Industriestaaten marktwirtschaftlicher Pragung, bereits vorhandenen Wissens. Der potentielle Engpass hierbei wird in der neue­ren innovationsokonomischen Literatur mit dem Begriff der "absorpti­yen Kapazitat" umschrieben (Cohen und Levinthal, 1990). Hierunter versteht man die Fahigkeit, den Wert externer Informationen zu erken­nen, diese Informationen aufzunehmen und sie fur die eigenen Zwecke zu verwenden. Dies setzt haufig voraus, dass bereits eine gewisse Basis an Wissen vorhanden ist, wobei der Aufbau einer solchen Wissens­grundlage einen bestimmten Umfang an Forschungsaktivitaten erfordern kann. Forschungsaktivitaten, die nicht dem Aufbau bzw. der Star kung der absorptiven Kapazitat dienen, sind wahrend des Autholprozesses hingegen weitgehend uberflussig. Weiterhin wichtig fur die Aufnahme extern vorhandenen Wissens sind narurlich gute Ubertragungsmoglich­keiten fur Informationen, also die Einbindung in den internationalen In­formationstransfer, was vielfach entsprechende personliche Kontakte und langerfristige Kooperationsbeziehungen erfordert. Ein wesentliches

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Betatigungsfeld fur die Innovationspolitik konnte in diesem Zusammen­hang darin gesehen werden, den internationalen Wissenstransfer organi­satorisch oder materiell zu unterstlitzen. Der in den ehemals sozialistischen Volkswirtschaften Mittel- und Osteu­ropas erforderliche Aufholprozess macht in vielen Fallen einen Wechsel des "technologischen Pfades" bzw. des zugrunde liegenden technologi­schen Paradigmas erforderlich. Dies kann wiederum zur Folge haben, dass durch die Umstellung solches Wissen und Sachkapital entwertet wird, das sich nur fur Aktivitaten entlang des ,alten' technologischen Pfades nutzen lasst. Mit der Absorption neuen Wissens wird also hiiufig auch bereits vorhandenes Wissen und Sachkapital entwertet. Reorganisation des Bereichs der offentlichen Forschungseinrichtungen. In den meisten ehemals sozialistischen Landern Mittel- und Osteuropas wurde inzwischen zumindest damit begonnen, die Grundlagenforschung wieder in starkerem MaBe den Universitaten zuzuordnen und dabei den Stellenwert der Universitaten im Innovationssystem an westliche Vor­stellungen anzunahern (ausfuhrlich hierzu Meske, 1998). Dies impliziert zum einen wesentliche Reorganisationsprozesse im Universitatsbereich. Zum anderen stellt sich dabei auch die Frage nach der zukiinftigen Rolle der Akademie der Wissenschaften, die ja im sozialistischen Innovations­system schwerpunktmiiBig die Aufgaben der Grundlagenforschung wahrgenommen haben (hierzu etwa Balazs, 1997). Damit ist dann auch allgemein AusmaB und Stellung des Bereiches der auBeruniversitaren Forschungseinrichtungen und weiterer Institutionen des Innovations­transfers angesprochen. Die Herausbildung eines Sektors international wettbewerbsfiihiger priva­ter Unternehmen ist fur die Transformation des Innovationssystems von entscheidender Bedeutung. Denn in einem marktwirtschaftlich organi­sierten Innovationssystem ist es im wesentlichen Aufgabe der privaten Unternehmen, insbesondere der Industrieunternehmen, die generierten Innovationen am Markt in entsprechende Einkommen bzw. Gewinne urnzusetzen. Eine niedrige Leistungsfahigkeit des Industriesektors hat unter Umstanden Schwachen bei der Vermarktung der Innovationen zur

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Folge, was dann wiederum eine vergleichsweise geringe Profitabilitat der FuE-Aufwendungen impliziert. Durch Privatisierung von ehemals staatlichen Unternehmen und der Griindung zahlreicher neuer Unternehmen fand in vielen der ehemals sozialistischen Lander Mittel- und Osteuropas eine grundlegende Trans­formation des Unternehmensbestandes statt. Dabei bewirkte die Offnung der Markte vielfach eine weit verbreitete Tendenz zur Reduktion der Fertigungstiefe und damit zur Intensivierung der zwischenbetrieblichen Arbeitsteilung (ausfiihrlicher hierzu Fritsch, 1997). Viele der neu ent­standenen oder grundlegend reorganisierten Unternehmen haben grofie Probleme damit, sich gegenuber der internationalen Konkurrenz zu be­haupten. Zur Steigerung der Wettbewerbsfahigkeit dieser Unternehmen sind in der Regel grundlegende Umstellungen des Produktprogramms sowie wesentliche Steigerungen bei der Effizienz der Leistungserstellung vonnoten. Dabei umfassen die MaBnahmen zur Effizienzsteigerung nicht nur die Erneuerung des Kapitalstocks sondern insbesondere auch Veran­derungen im Bereich der Arbeitsorganisation (Hitchens u.a., 1998; Mal-10k, 1996; Mallok und Fritsch; 1997). Zusatzlich sind insbesondere Verbesserungen im kaufmannischen Bereich sowie hinsichtlich der Vermarktung der Produkte erforderlich. Die vielfaltigen Reorganisationsprozesse von Wirtschafi und offentlichen Forschungseinrichtungen in den ehemals sozialistischen Landern Mittel­und Osteuropas brachten und bringen grundsatzliche Anderungen der Beziehungen zwischen den Akteuren des Innovationssystems mit sich. Einerseits wurden viele alte Beziehungen bzw. "Netzwerke" obsolet wahrend andererseits neue Beziehungen geknupfi werden mussten (aus­fiihrlich hierzu Albach, 1993). Die Etablierung neuer Formen der Ar­beitsteilung innerhalb des Bereiches der privaten Wirtschafi, zwischen dem Sektor der privaten Unternehmen und den Offentlichen Forschungs­einrichtungen sowie auch der Offentlichen Forschungseinrichtungen un­tereinander erfordert Zeit und ist mit hohen Aufwendungen, insbesonde­re auch in Form von Transaktionskosten verbunden. Dabei muss auch

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das System der Innovationsf6rderung bzw. die Transferinfrastruktur mehr oder weniger neu aufgebaut werden.

4. Implikationen fUr die Innovationspolitik im Transformationsprozess

Die m6glichen Aufgaben der Innovationspolitik im Transformationspro­zess lassen sich in zwei Bereiche unterteilen, nfunlich: Erstens, die Reorganisation der verschiedenen Elemente bzw. Akteure des Innovationssystems, was den tiblichen VorsteHungen von "Ord­nungspolitik" entspricht. Dies umfasst insbesondere die Neuordnung des Sektors der privaten Unternehmen durch Einfiihrung marktwirtschaftli­cher Anreize sowie Vedinderungen im Bereich der Offentlichen For­schungsinfrastruktur (Forschungseinrichtungen, Institutionen der Innova­tionsf6rderung) . Zweitens, MaBnahmen zur Stimulierung der Leistungsfahigkeit des In­novations systems durch tiber eine reine Reorganisation hinausgehende UntersttitzungsmaBnahmen (sogenannte "Ablauf-" bzw. "Prozesspoli­tik") . 1m Folgenden werden diese beiden Aktionsfelder in jeweils gesonderten Abschnitten behandelt.

4.1 Reorganisation von Wirtschaft und offentlichen F orschungseinrichtungen

Die Reorganisation des Innovationssystems beinhaltet vor aHem die Schaffung zweckmaBiger Strukturen, vor aHem die Implementation ada­quater institutioneller Rahmenbedingungen. Dabei geht es einmal urn die Einfiihrung marktwirtschaftlicher Anreize durch Privatisierung der Wirt­schaft und die zunehmende Bedeutung von Wettbewerb als Koordinati­onsmechanismus. Zum anderen sind grundlegende Veranderungen des Bereiches der Offentlichen Forschungseinrichtungen, insbesondere der

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UniversiHiten und der Akademie der Wissenschaften erforderlich. Wie die Entwicklung in den ehemals sozialistischen Uindern Mittel- und Ost­europas gezeigt hat, kann diese Aufgabe auf sehr unterschiedliche Weise angegangen werden. Ffir die Bewertung der verschiedenen Strategien sind im wesentlichen drei Kriterien relevant: Erstens, stellen die neuen Strukturen zweckmaBige Losungen dar? Zweitens, wie lange dauert es, bis die neuen Strukturen entstanden und tragfahig sind? Drittens schlieBlich, in welchem AusmaB kann das im Innovationssystem bereits vorhandene Wissen im Rahmen der neuen Strukturen sinnvoll ge­nutzt werden? Die Frage nach der ZweckmaBigkeit der implementierten Losungen be­zieht sich vor all em auf den Bereich der Offentlichen Forschungseinrich­tungen, denn insbesondere dieser Sektor ist durch die staatliche Politik gestaltbar. Die Organisation des Sektors der privaten Unternehmen kann im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung hingegen in weit ge­ringerem MaBe Gegenstand staatlicher Politik sein, denn fiber die Ange­messenheit einer Losung entscheidet hier letztendlich nicht der Staat sondern der Wettbewerb. Allerdings hat der Staat auch in diesem Be­reich durch die Ausgestaltung des institutionellen Rahmens (z.B. Unter­nehmensrecht, Steuerrecht, Wettbewerbsrecht) gewisse Einflussmog­lichkeiten. Schon in starkerem MaBe von der Politik gestaltbar ist das Tempo der Reorganisation des Privatsektors etwa durch die bei der not­wendigen Privatisierung staatlicher Betriebe verfolgte Strategie. Uber die Leistungsfahigkeit verschiedener Losungen fur die Umgestal­tung des Bereiches der Offentlichen Forschungseinrichtungen in den Transformationsstaaten Mittel- und Osteuropas kann augenblicklich noch recht wenig gesagt werden. Denn entweder sind solche neuen Strukturen erst unscharf erkennbar oder die Zeitspanne, fur die Erfahrungen mit den neuen Strukturen vorliegen, ist fur eine solche Beurteilung noch recht kurz (zu einem Uberblick siehe etwa Meske, 1998). Dort, wo die neuen Strukturen bereits einigermaBen klar identifizierbar sind, orientie­ren sie sich in der Regel stark am Vorbild westlicher Industriestaaten,

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insbesondere den USA. In Ostdeutschland wurde einfach das westdeut­sche Modell (mit allenfalls marginalen Abweiehungen) ubernommen. Man mag einerseits bedauern, dass ein schlichtes Kopieren etablierter Vorbilder einen Verzicht auf die Suche nach eigenen Wegen impliziert, was eventuell zu interessanten Ergebnissen gefuhrt hatte. Andererseits ist dieses Verhalten aus der Sieht der direkt betroffenen Akteure durch­aus verstandlich. Denn wenn sich eine bestimmte Losung bereits an­derswo als funktionsfahig erwiesen hat, dann kann man einigermaBen sieher sein, dass sie sich nicht als vollig ungeeignet herausstellen wird. Daruber hinaus nimmt das Kopieren weniger Zeit und Muhe in An­spruch als die Eigenentwicklung, so dass sich der Reorganisations­prozess durch Imitation in der Regel schneller bewaltigen lasst. 5

In diesem Zusammenhang wurde insbesondere diskutiert, ob es Alterna­tiven zu einer moglichst raschen Privatisierung gibt. Ohne an dieser Stelle die diesbezuglichen Details diskutieren zu konnen, lasst sieh zu dieser Frage sagen, dass eine solche Alternative zu einer raschen Priva­tisierung nieht erkennbar ist - jedenfalls dann nieht, wenn der Binnen­markt fur ausHindische Konkurrenz geOffnet werden solI. Fur eine ra­sche Schaffung von neuen Strukturen (oder zumindest fur ihre schnelle Definition) spricht insbesondere auch, dass diese Strukturen ja wesentli­che Rahmenbedingungen fur die Entscheidungen der privaten Akteure darstellen. 1st die Einschatzung zukiinftiger Strukturen nicht oder nur schwer moglich, so fehlt es diesen Dispositionen unter Umstanden in wesentlichem AusmaB an Orientierung, was sich nur negativ auf die Entwieklung auswirken kann. Zwischen dem Wunsch nach schneller Transformation des Innovationssystems und der Nutzung vorhandenen Wissens wird nicht selten ein gewisser Gegensatz gesehen, was sieh vielleicht damit erklaren lasst, dass Schnelligkeit mit Radikalitat der An-

5 Es lieBe sich natiirlich einwenden, daB die Funktionsflihigkeit einer anderswo erfolgreichen Losung auch wesentlich davon abhiingt, ob die Rahmenbedingungen adiiquat ausgestaltet sind. So zutreffend dieser Einwand im Prinzip sein mag, er ist dann wenig hilfreich, wenn diverse Bereiche des Gesellschaftssystems mehr oder weniger simultan grundlegend zu veriindern sind und die genauere Ausgestaltung der zukunftig relevanten Rahmenbedingungen zum Zeitpunkt der Entscheidung uber die Grundzuge eines Teilbereiches (z.B. des Sek­tors der Offentlichen Forschungseinrichtungen) nicht absehbar sind.

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derungen assoziiert wird. Sofern entsprechende Ubergangsregelungen bestehen, gibt es eigentlich keinen Grund, warum ein Konflikt zwischen der Geschwindigkeit des Reorganisationsprozesses und der weiteren Verwendung vorhandenen Wissens bestehen sollte. Denn inwieweit das vorhandene Wissen noch sinnvoll genutzt werden kann, hangt ja vor al­lem von der Art der neuen Losung ab, und davon, wie der Transfer von der ,alten' zur ,neuen' Ordnung konkret ausgestaltet ist. 6 Anders ge­wendet: Eine geringe Dynamik des Reorganisationsprozesses an sich schiitzt nicht vor unnotigen Abschreibungen vorhandenen Wissens, son­dern blockiert eventuell dringend erforderliche Entwicklungen. Zweifellos erfordert die Transformation des Innovationssystems, insbe­sondere des Bereichs der Forschungseimichtungen, massive Abschrei­bungen an Know-How-Kapital. Es besteht allerdings die Gefahr, dass diese Abschreibungen unnotig hoch aus fallen , weil es nicht gelingt, die noch brauchbaren Bestandteile des Wissens-Kapitalstocks angemessen in das neue System zu integrieren und weiterhin zu nutzen. Die Verhinde­rung unnotiger Verluste an Wissenskapital, stellt eine besonders schwie­rige Aufgabe der Innovationspolitik im Transformationsprozess dar. Ei­ne solche Politik muss einerseits bemiiht sein, zu erhalten, ohne andererseits im schlechten Sinne konservierend zu wirken und notwen­dige Veranderungen zu behindern. Die in dieser Hinsicht in Ostdeutsch­land gemachten Erfahrungen zeigen, dass es okonomisch durchaus sinn­voll sein kann, durch umfassende Unterstiitzungsleistungen wertvolle Wissenspotentiale zu erhalten und neu im Innovationssystem zu veran­kern (ausfiihrlich hierzu Pleschak, Fritsch und Stummer, 2000).

6 Ein Beispiel flir eine solche Ubergangslosung stellt etwa die Unterstiitzung der sogenannten ,,Forschungs­GmbH's" in Ostdeutschland dar. Hierbei handelte es sich urn Gruppen von Wissenschaftlem aus Instituten der Akademie der Wissenschaften oder aus Kombinaten, die eine Zeit lang massiv vom Staat unterstiitzt wurden, damit sie sich - etwa als Fertigungsuntemehmen oder als Anbieter von FuE-Dienstleistungen - in das neu ent­stehende Innovationssystem einordnen und darin FuB fassen konnen. Ein anderes Beispiel in Ostdeutschland war das "Wissenschaftler-Integrations-Programm", mit dem versucht wurde, einzelne Wissenschaftler oder kleinere Forschungseinheiten durch Gewahrung einer zeitlich befristeten Ubergangsfinanzierung in die Univer­simten zu integrieren.

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Innovationspolitik im Transformationsprozess

4.2 MaBnahmen zur Stimulierung der Leistungsfahigkeit des Innovationssystems

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Wenn eine wesentliche Anforderung an die Innovationssysteme in den ehemals sozialistischen Landern darin besteht, aufzuholen und Anschluss an die internationale Entwicklung zu finden, dann folgt daraus, dass es im Rahmen der Innovationsaktivitaten zunachst primar darum gehen muss, das bereits in anderen Landern vorhandene Wissen aufzunehmen und anzuwenden. Transfer und Absorption von Wissen haben also im Mittelpunkt der Bemiihungen zu stehen, die Leistungsfahigkeit des Inno­vationssystems in den ehemals sozialistischen Landern Mittel- und Ost­europas zu steigern. So betrachtet ist es gar nicht negativ zu werten, wenn Ostdeutschland etwa bei den Patentanmeldungen Anfang der 90er Jahre im Vergleich zu Westdeutschland nur relativ schwach reprasentiert war (Greif, 1998). Patente werden schlieBlich nur fur Neuerungen im weltweiten MaBstab gewiihrt, fur Innovationen an der technologischen Grenze; wenn sich die ostdeutsche Wirtschaft in der ersten Halfte der 90er Jahre darum bemiiht hat, diese technologische Grenze erst einmal zu erreichen, so schlieBt dies die Generierung patentfahiger Innovatio­nen eigentlich aus. Mit patentfahigen Innovationen ist erst dann zu rech­nen, wenn der Anschluss an den internationalen Standard geschafft ist. Wenn man vor aHem autholen muss, dann machen FuE-Aktivitaten zur Generierung neuen Wissens wenig Sinn. Folglich k6nnen auch Inputin­dikatoren wie z.B. der Anteil der FuE-Beschaftigten oder die FuE­Aufwendungen pro Kopf als ein fragwiirdiger MaBstab zur Beurteilung der Innovationsaktivitaten in den ehemals sozialistischen Staaten Mittel­und Osteuropas angesehen werden. Es gibt allerdings Hinweise darauf, dass die Durchfuhrung von FuE-Aktivitaten eine Voraussetzung fur die Fiihigkeit zur Absorption und Implementation bereits extern vorhande­nen Wissens ("absorptive Kapazitat") darstellt (Cohen und Levinthal, 1990). Insofern kann auch wiihrend des Autholprozesses ein gewisses MaB an FuE-Aktivitaten durchaus sinnvoll sein.

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Die Qualifikation des Arbeitskraftepotentials kann in den meisten ehe­mals sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas in Relation zum all­gemeinen Entwicklungsstand als durchaus befriedigend bis gut bezeich­net werden. In der Regel verfugt die tiberwiegende Mehrzahl der Arbeitskrafte tiber eine abgeschlossene Berufsausbildung, so dass un­und angelernte Beschaftigte die Ausnahme darstellen. Allerdings liisst sich tiber die Qualitat dieser Ausbildung durchaus streiten (hierzu etwa Hitchens u.a., 1998; Mallok, 1996).7 Auf jeden Fall waren Kenntnisse im Umgang mit kaum verfugbaren Techniken (z.B. computergesrutzten Anlagen) in der Regel wenig verbreitet. Insbesondere fehlte es an Wirt­schaftlichkeitsdenken, an Erfahrungen mit der Funktionsweise einer Marktwirtschaft sowie an Kenntnissen moderner Managementmethoden. Dariiber, inwieweit das Sachkapital in den ehemals sozialistischen Staa­ten Mittel- und Osteuropas zu Beginn des Transformationsprozesses noch im Produktionsprozess brauchbar war, gibt es unterschiedliche An­sichten. So wurde etwa mit Bezug auf die Verhaltnisse in Ostdeutsch­land behauptet, dass ein Austausch des gesamten Anlagenbestandes not­wendig sei, damit die Betriebe dazu in der Lage sind, das fur die inter­nationale Wettbewerbsfahigkeit erforderliche Produktivitatsniveau zu erreichen (sogenannte "Schrott"-Hypothese). Eingehende Analysen in ostdeutschen Betrieben haben allerdings ergeben, dass ein solcher kom­pletter Austausch des physischen Kapitals nicht erforderlich ist und ein wesentlicher Teil der alten Anlagen - haufig nach gewissen Moder­nisierungen - noch eine Zeit lang sinnvoll genutzt werden kann (hierzu Mallok, 1994; Mallok und Fritsch, 1997). Dabei zeigte sich insbesonde­re auch, dass der Einsatz moderner Anlagen in den ostdeutschen Betrie­ben allein in der Regel nicht gentigt, urn das westdeutsche Produktivi­tatsniveau zu erreichen. Ais ein ganz entscheidender Engpass bei der Steigerung der Leistungsfahigkeit ergab sich die Art und Weise des Technikeinsatzes, was etwa die Auswahl der Anlagen, die Art und Wei-

7 Negativ wirkte sich auf jeden Fall aus, dass die Beschaftigten nach Abschluss der Ausbildung in der Regel auBerordentlich spezialisiert eingesetzt wurden, wobei es nur selten zu einem Wechsel der Aufgabenfelder kam. Dies hatte dann entsprechende Dequalifizierungseffekte zur Folge, die Hitchens u.a. (1998) als "unlear­ning by doing" kennzeichnet.

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se ihrer Implementation und dabei insbesondere ihre Integration in das fertigungstechnische Umfeld sowie allgemein die Arbeitsorganisation umfasst. Die entsprechenden Kenntnisse und Fahigkeiten sind in der Re­gel nur unvollstandig codifIzierbar und konnen daher auch nicht so ohne weiteres in die Betriebe transferiert werden. Vielmehr erfordert die Vermittlung solchen "taciden" Wissens in der Regel personliche "face­to-face "-Kontakte, wobei die beste Losung vielfach im (unter Umstan­den zeitlich befristeten) Transfer von Personal mit den entsprechenden Kenntnissen in die Betriebe besteht. Einen wesentlichen Weg des Transfers von innovationsrelevantem Wis­sen konnen Direktinvestitionen von Unternehmen aus entwickelten In­dustriestaaten darstellen (hierzu ausfiihrlich Radosevic, 1999a). In Bezug auf die Entwicklung in Ostdeutschland sind solche Investitionen - etwa der Erwerb ostdeutscher Unternehmen oder die Errichtung von Zweig­betrieben - teilweise sehr kritisch diskutiert worden. 1m Rahmen solcher Diskussionen wurde haufIg unterstellt, dass die betreffenden ostdeut­schen Betriebe zu sogenannten "verHingerten Werkbanken" degradiert werden, in denen vor allem standardisierte Fertigung von Produkten in den spaten Phasen des Produkt-Lebenszyklus stattfindet und von denen keine Wachstumsimpulse ausgehen. Tatsachlich lasst sich eine solche Tendenz in Ostdeutschland allerdings nicht feststellen. Zum einen fallt das Ausmafi an InnovationsaktiviHiten in den uberwiegend in "Westbe­sitz" befindlichen Betrieben nicht geringer als in den rein ostdeutschen Betrieben (Fritsch, Franke und Schwirten, 1998). Zum anderen gibt es deutliche Hinweise auf die Existenz einer Art von " Mutterschutz" , der bewirkt, dass ostdeutsche Tochterunternehmen westdeutscher Mutter er­folgreicher innovieren als rein ostdeutsche Betriebe (hierzu Felder und Spielkamp, 1998). Fur ein solches "Mutterschutz" -Phanomen konnen mehrere Faktoren ur­sachlich sein. Erstens ware es plausibel anzunehmen, dass der Transfer an schwer kommunizierbarem, innovationsrelevantem Wissen innerhalb von Unternehmen besser gelingt als zwischen Unternehmen. Zweitens weisen grofiere okonomische Einheiten in der Regel auch eine hohere

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Ressourcenstarke als kleinere Unternehmen auf und sind daher in gerin­gerem Ma13e von Engpassen (z.B. im Bereich der Liquiditat) betroffen, die sich hemmend auf Innovationsaktivitaten auswirken konnen. Drittens haben rein ostdeutsche Unternehmen haufig besondere Probleme mit dem Management ihrer Innovationsaktivitaten, insbesondere mit der Ausrichtung auf die Erfordernisse des Marktes (hierzu etwa Schmidt, 1998). Und viertens schlieBlich gelingt den ostdeutschen Unternehmen die Vermarktung ihrer Innovationen uber einen etablierten westdeut­schen Partner meist besser als wenn sie allein auf sich selbst gestellt wa­ren, da in der Regel nur relativ geringe Kenntnisse und Erfahrungen im Marketingbereich vorliegen. Auch die Zusammenarbeit mit Unterneh­men aus entwickelten Industriestaaten oder die Einbindung in die Liefe­rantennetzwerke solcher Unternehmen konnen sich als sehr fOrderlich fur den Wissenstransfer erweisen. Generell durfte eine Star kung uberre­gionaler, insbesondere internationaler Beziehungen wichtig fur den In­formations transfer bzw. die Absorption externen Wissens sein. Wenn die Hypothese zutrifft, dass vor allem das Zusammenspiel der verschiedenen Elemente eines Innovationssystems uber des sen Leis­tungsfahigkeit entscheidet (hierzu Fritsch, 1999), dann liegt hierin auch ein wesentlicher Ansatzpunkt fur die Unterstiitzung der Innovationsakti­vitaten in den ehemals sozialistischen Landern Mittel- und Osteuropas. Dieser Engpass durfte hier insbesondere auch deshalb besonders stark ausgepragt sein, weil viele alt-etablierte Kontakte im Verlauf des Trans­formationsprozesses abgerissen sind und Beziehungen in westliche In­dustriestaaten nicht oder nur sehr beschrankt existierten. Auf die Frage, wie die Politik eine fur Innovationsaktivitaten fOrderliche Vernetzung der Elemente eines Innovationssystems stimulieren konnte, gibt es bis­lang nur wenig konkrete Antworten. Sofern aus den vorhanden empiri­schen Untersuchungen Schlussfolgerungen fur Vernetzungsstrategien der Politik abgeleitet werden konnen, lautet die Empfehlung auf Stimulie­rung von Informationsaustausch und Zusammenarbeit durch die Schaf­fung von entsprechenden Kontaktmoglichkeiten sowie durch allgemeine Vermittlungsleistungen. Eine daruber hinausgehende Forderung von

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FuE-Aktivitaten der privaten Wirtschaft als allgemeine Strategie ist hin­gegen nicht zu empfehlen. Sie k6nnte sich allerdings zur Uberfuhrung wertvoller Wissensbestande in das neue System als durchaus sinnvoll erweisen.

5. Schlussfolgerungen und Ausblick

Betrachtet man die Entwicklung in den ehemals sozialistischen Landern Mittel- und Osteuropas, so drangt sich der Eindruck auf, dass der Inno­vationspolitik dort vielfach nicht der hohe Stellenwert eingeraumt wird, der ihr eigentlich gebtihrt (hierzu etwa Meske, 1998). Insbesondere die notwendige Reorganisation des Bereiches der Offentlichen Forschungs­einrichtungen kommt vielfach nur langsam voran. Dieses Versaumnis kann einmal dazu fuhren, dass sich der Neuaufbau des Innovations­systems unn6tig verz6gert. Zum anderen kann der Verzicht auf den Ver­such der bewussten politis chen Steuerung der Entwicklung mit unn6tig hohen Abschreibungen von Wissen verbunden sein, dass sich unter Um­standen noch sinnvoll nutzen lieBe. Alles in allem kann auf der Grundla­ge der hier angestellten Uberlegungen eine ztigige Reorganisation der Wirtschaft und der Offentlichen Forschungsinfrastruktur empfohlen wer­den, verbunden mit MaBnahmen, die auf eine Vernetzung der Akteure, insbesondere auf ihre Einbindung in den international en Wissenstransfer abzielen. Die Entwicklung regionaler Innovationssysteme bzw. deren Verlinde­rung erfordert Zeit, wobei sich dieser Zeitbedarf in der Regel tiber meh­rere Jahrzehnte erstreckt (hierzu etwa die Beispiele in Sternberg, 1995). Aus diesem Grunde sind schnelle Erfolge einer auf die Verbesserung der regionalen Innovationsbedingungen gerichteten Strategie realistischer Weise nicht zu erwarten. Technologiepolitik ist eben langfristig orien­tiert.

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Helmut Seitz-

Wachstum, Konjunktur und Beschaftigung in ** den neuen Bundeslandem

1. Einleitung und Oberblick ................................................................................ 121

2. Die okonomische Entwicklung und der Stand der Anpassungsprozesse in Ostdeutschland ................................................................................................ 123

3. Zum Stand des Infrastrukturaufbaus in Ostdeutschland .................................. 132

4. Steigende Disparitaten zwischen und innerhalb der neuen Lander ................. 136

5. Ein Blick nach Osteuropa ................................................................................ 142

6. Wirtschaftspolitische SchluBfolgerungen ........................................................ 146

- Prof. Dr. Helmut Seitz, Europa-Universitat VIADRINA Frankfurt (Oder), Lehrstuhl fUr Volkswirtschaftsleh­re, insbesondere Wirtschaftstheorie (Makro6konomie)

.- Die Studie wurde mit DFG-Mitteln (Projekt SE 540/1-1) gef6rdert. Fiir die Unterstiitzung bei der Daten­beschaffung bedanke ich mich insbes. bei Valeria Beiersdorf (EUV).

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Wachstum, Konjunktur und Beschliftigung in den neuen Bundesllindem 121

1. Einleitung und Uberblick

Vor nunmehr zehn Jahren ist die Mauer zwischen den beiden deutschen Staaten gefallen. GroB waren die Erwartungen - insbesondere in Ost­deutschland - an die wirtschaftliche Entwicklung der Nachwendezeit. GroB sind nun auch die EntHiuschungen, die sich angesichts der schwie­rigen wirtschaftlichen Lage in Ostdeutschland breitmachen. Dabei wird iibersehen, dass, gemessen an der okonomischen Ausgangslage der DDR im Spatjahr 1989, die bisher erzielten Anpassungsfortschritte be­achtlich sind. Die DDR stand Ende 1989 vor einem okonomischen Kol­laps, das industrielle und infrastrukturelle Anlagevermogen war iiberal­tert und der technologische Riickstand wurde immer groBer. Die Ursache fur die gegenwartig schlechte Stimmungslage in den neuen Landern liegt denn auch darin, dass die Menschen nicht das bisher Er­reichte mit den objektiven Gegebenheiten des Jahres 1989 vergleichen, sondern mit den subjektiven Erwartungen, die Ende 1989 bzw. im Jahr 1990 gehegt wurden. Diese Erwartungen waren sicherlich seitens der Politik durch Zweckoptimismus und wohl auch Verkennung der realen Gegebenheiten und Machbarkeiten zu hoch angesetzt.

Der vorliegende Beitrag ist der Versuch, in kurzer Form eine Be­standsaufnahme der okonomischen Entwicklung in den neuen Bundes­landern zehn Jahre nach dem Fall der Mauer zu prasentieren. Ferner soIl ein kurzer Einblick in den Stand der Transformationsprozesse in den osteuropaischen Staaten, insbes. den potentiellen EU-Beitrittslandern, gegeben werden. Es gibt standig neue Untersuchungen iiber die Ent­wicklung der ostdeutschen Wirtschaft, wobei insbesondere die "Anpas­sungsberichte" des IWH (Institut fur Wirtschaftsforschung) in Halle, des DIW (Deutsches Institut fur Wirtschaftsforschung) in Berlin und des IfW (Institut fur Weltwirtschaft) in Kiel zu nennen sind. Diese Institute haben erst kiirzlich den "Neunzehnten Bericht zu den gesamtwirtschaft­lichen und unternehmerischen Anpassungsfortschritten in Ostdeutsch­land", siehe DIW, IfW und IWH (1999), vorgelegt, der einen sehr de-

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122 Seitz

taillierten Uberblick zum Entwicklungsstand und zur Problemlage der ostdeutschen Wirtschaft bietet. Da wir uns hier nicht mit einer Zusam­menfassung dieser Berichte begniigen wollen, solI der vorliegende Bei­trag einige andere Akzente setzen. So solI der Versuch unternommen werden den Stand des Infrastrukturaufbaus und den weiteren Anpas­sungspfad des Infrastrukturkapitalvermogens in Ostdeutschland zu quan­tifizieren. Einen weiteren Akzent wollen wir auf die Frage lenken, ob die neuen Lander einen homogenen Block bilden oder ob es zu einem Auseinanderdriften der okonomischen Entwicklung der neuen Lander kommt. Hierbei sollen auch die regionalen DisparWiten in den Uindern aufgezeigt werden. In diesem Kontext mochten wir die Kernthese auf­stellen und belegen, daB es eine Vielzahl von Indikatoren dafur gibt, dass sich die neuen Lander okonomisch auseinander entwickeln, wobei die Lander Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern relativ gese­hen zunehmend zUrUckfallen, wahrend auf der "Positivseite" die Lander Thiiringen und Sachsen, aber auch "berlinbedingt" zunehmend das Land Brandenburg urn die Spitzenstellung im Osten Deutschlands konkurrie­reno

Unsere Darstellung ist weitgehend deskriptiver Natur. Bislang fehlen Ursachenanalysen fur den dramatischen Zusammenbruch der ostdeut­schen Wirtschaft und den nur zogerlichen Aufbau neuer Strukturen. Sol­che Untersuchungen waren dringend erforderlich, wiirden sich aber auch angesichts der Problemvielfalt als auBerst schwierig erweisen. Auch die "Anpassungsberichte" der bereits genannten drei groBen Wirt­schaftsforschungsinstitute dokumentieren mit ihrer iiberwiegend deskrip­tiven Bestandsaufnahme der ostdeutschen Wirtschaftsentwicklung die Grenzen analytischer Ursachenforschung und empirisch fundierter The­rapievorschlage. Hier spielen auch die Mangel in der Datenlage eine nicht zu unterschatzende Rolle. So ist die Arbeitsmarktstatistik, trotz der erheblichen Ressourcen der Bundesanstalt fur Arbeit in Niirnberg,

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Wachstum, Konjunktur und Beschliftigung in den neuen BundesHindern 123

hochst defizWir l . Aber auch die Informationslage tiber andere wichtige Aspekte wie z.B. die private und Offentliche InvestitionsaktivWit, eine Quantifizierung der Transferleistungen usw. ist unbefriedigend und er­schwert ein Monitoring und eine analytische Bestandsaufnahme der oko­nomischen Entwicklung in den neuen Uindern.

Zur Gliederung des Beitrages: 1m Abschnitt II solI ein Uberblick zum Stand der Anpassungsprozesse in Ostdeutschland vermittelt werden, wo­bei wir uns insbes. auf die Beschaftigung und die Wirtschaftsstruktur konzentrieren. AnschlieBend prasentieren wir den Versuch einer Be­standsaufnahme des Aufbaus der Infrastruktur in Ostdeutschland. Ab­schnitt IV behandelt die These eines Auseinanderdriftens der neuen Lander und untersucht die regionalen DisparWiten in Ostdeutschland. In Abschnitt V werfen wir einen kurzen Blick auf die Lander in Osteuropa. In einem abschlieBenden Kapitel wollen wir aufbauend auf unsere Be­standsaufnahme wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen ziehen.

2. Die okonomische Entwicklung und der Stand der Anpassungsprozesse in Ostdeutschland

Wir wollen unsere Bestandsaufnahme der Anpassungsprozesse in Ost­deutschland mit einer Analyse der BevOlkerungsentwicklung beginnen. BevOlkerungswanderungen sind gute Indikatoren fUr die Attraktivitat 0-

der den Mangel an Attraktivitat von Liindern bzw. Regionen. Die neuen Lander haben seit 1991 im Durchschnitt nahezu 5 % der BevOlkerung verloren, siehe Abbildung 1.

I Urn eine bessere Versorgung mit Arbeitsmarktdaten zu erreichen, sollte Oberlegt werden, die Arbeitsmarkt­statistik in die Hande des Statistischen Bundesamtes oder einer neu zu griindenden Datenserviceorganisation zu legen.

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124

Bran~enburg

1-4•61

-5.51 1eCklenbu~-vorp.

-5.61 saChser-Anhalt

~71 .. -6 -5 -4 -3 -2 -1 o

Abb. 1: Bevolkerungsentwicklung in den ostdeutschen Uindem 1991- 1998.

QueUe: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden.

Seitz

2

Lediglich Brandenburg hat einen Zuwachs an BevOlkerung aufzuweisen, da immer mehr Menschen aus der Hauptstadt Berlin in das Brandenbur­ger Umland ziehen. 2 Die Hauptursache fur die negative Bevolkerungs­entwicklung waren die noch bis 1993/1994 anhaltenden Migrationsbe­wegungen von Ost- nach Westdeutschland. Dariiber hinaus muBten die neuen Lander nach der Wende einen dramatischen Einbruch bei den Ge­burtenzahlen hinnehmen, der dazu fiihrte, daB die Kleinkinderquote in den neuen Landern deutlich unter die Vergleichsziffer der westdeutschen Lander gefallen ist. So liegt zwischenzeitlich der Anteil der Bevolkerung unter sechs Jahren in den neuen Landern bei lediglich ca. 3,5%, wah­rend in Westdeutschland diese Quote bei ca. 6,5 % liegt.

2 Die Bevolkerungsentwicklung in Brandenburg ist aber extrem differenziert. Wahrend die berlinnahen Regio­nen zwischen 1991 und 1998 einen Bevolkerungszuwachs von nahezu 13% hatten sind aus den berlinfemen Regionen im gleichen Zeitraum ca. 4% der Bevolkerung abgewandert, siehe Seitz (1998).

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Wachstum, Konjunktur und Beschaftigung in den neuen Bundeslandem 125

200,-------------~~::::::::::~~~~~::::::=_1

Brandenburg (gepunktet) 150M---~~~--------------------~~~--~------~

Thuringen (durchgezogen)

500+----,--~----r----,--~----r---~--~----r-~ 89 90 91 92 93 94 95

Abb. 2: Entwicklung der Erwerbstatigkeit in den neuen Landem.

QueUe: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden.

96 97 98

Abbildung 2 zeigt den dramatischen Einbruch der Beschaftigung in den neuen Uindern im Zeitraum 1989 bis 1993. In dieser Peri ode haben aIle neuen Lander mehr als 30% der Beschaftigung verloren. Zwischen 1993 und 1995 kam es wieder zu einem leichten Anstieg der Beschaftigung, der allerdings mit der einsetzenden Rezession wieder weitgehend zunich­te gemacht wurde. Begleitet wurde dieser enorme BeschaftigungsrUck­gang von einem tiefgreifenden strukturellen Anpassungsproze13. Abbil­dung 3 zeigt das Ausma13 dieses Strukturwandels, gemessen an der sektoralen Verteilung der ErwerbsHitigen im Vergleich der Jahre 1989 und 1998. Die "Verlierer" des Strukturanpassungsprozesses waren ins­bes. das Verarbeitende Gewerbe sowie die Landwirtschaft, die nahezu 20% bzw. ca. 7% ihrer Beschaftigungsanteile im Jahr 1998 gegeniiber 1989 verloren haben. Auf der anderen Seite konnten die Bereiche Bau, private Dienstleistungen und der Handel ihre Beschaftigungsanteile, und

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126 Seitz

die Bereiche Bau und Dienstleistungen sogar das absolute Beschafti­gungsvolumen kraftig ausweiten.

Landwirtschaft ... 'Ener~jieiBer~jbau' .. .. ... .. .... ..... ....... ... ..... .... ... .. . ...... .

::=::::::~ .. ~.~_~ .. ~.II!I.~ .. ~.II!I.~ .. ~.II!I.~ .. ~.II!I.~ .. ~.II!I.~ .. ~.II!I.~ .. ~ ... ~~.r~.r~: .<?~~~!?~ .......... . ..................... ......... ~~...., .............. .

• 1998

Verkehr/Nachr. 11 1989

Banken und Verso

iiliiiiiii __ iiliiiiiiiiii Dienstleistungen

Staat

o 5 10 15 20 25 30 35 40 45 "I.-Anteil

Abb. 3: Wirtschaftsstruktur in Ostdeutschland (neue Lander einschl. Berlin (Ost) auf Basis der Erwerbstatigenstatistik)

QueUe: Berechnet aus Angaben des Statistischen Bundesarntes

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Wachstum, Konjunktur und Beschaftigung in den neuen Bundeslandem

Ostdeut- Westdeut-sche Fla- sche Fla-

chenlander chenlander

Land- und Forstwirtschaft 3,57 0,85

Energie und Bergbau 1,71 1,63

Verarbeitendes Gewerbe 19,92 33,50

darunter:

Chernische Industrie

Maschinenbau 0,74 2,44

StraBenfahrzeuge 1,80 4,27

Elektrotechnik 2,25 4,19

Nahrungs-/Genussmittel 1,82 4,29

2,68 2,79

Bauwirtschaft 13,37 6,12

darunter:

Ausbau-/Bauhilfsgewerbe 4,19 3,94

Bauhauptgewerbe 9,18 2,19

Handel 11,48 14,16

Verkehr und Nachrichten 6,12 4,86

Kredit-N ersicherungsgewerbe 1,94 4,22

Dienstleistungen 27,73 25,95

darunter:

Gaststatten, Beherbergung 2,70 2,45

Reinigung 2,52 1,66 Wissenschaft und Kunst 7,30 4,61 Gesundheitswesen 6,12 7,11 Rechtsberatung 1,41 2,41 sonstige Dienstleistungen 7,68 7,70

Organisationen ohne Erwerbscharakter 3,95 2,84

Gebietskorperschaften und Sozialversicherung 10,18 5,86

Tab. 1: Wirtschaftsstrukturen in Ost- und Westdeutschland 1998.{%-Anteile der Sektoren gemessen an den sozialversicherungspflichtig Beschaf­tigten)

QueUe: Berechnet aus Datenmaterial der Bundesanstalt filr Arbeit, Niimberg

127

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128 Seitz

Tabelle 1 vergleicht die Sektorstrukturen in Ost- und Westdeutschland im Jahr 1998, basierend auf der Statistik der sozialversicherungspflichtig Beschliftigten. Eine differenzierte Betrachtung des industriellen Sektors zeigt, daB in nahezu allen Bereichen die ostdeutsche Wirtschaft ein mar­kantes Defizit an industrieller Basis hat. So hat das Verarbeitende Ge­werbe in Ostdeutschland einen Beschaftigungsanteil von lediglich ca. 20%, wahrend in Westdeutschland der Anteil bei ca. 33,5% liegt. Be­trachtet man die Struktur des Verarbeitenden Gewerbes auf der Ebene der zweistelligen Industrieklassifikationen, so zeigt sich insbes. eine "Unterausstattung" in den Bereichen der chemischen Industrie, des Fahrzeugbaus, des Maschinenbaus und der Elektrotechnik. "Westantei­Ie" erreicht die ostdeutsche Industrie lediglich in der Nahrungsmittelin­dustrie sowie in einigen baunahen Bereichen, wie z.B. im Stahl- und Leichtmetallbau oder in der Holzverarbeitung. Sehr gering ist immer noch die Exportbasis der ostdeutschen Industrie. Wahrend in West­deutschland das Verarbeitende Gewerbe ca. 35% seiner Produktion ex­portiert, betragt der Exportanteil in Ostdeutschland lediglich ca. 18 % . Auffallend ist ferner der groBe Unterschied in der GrOBe und Bedeutung der Bauwirtschaft. Differenziert man die Bauwirtschaft nach dem Bau­hauptgewerbe und dem Ausbau- bzw. Bauhilfsgewerbe zeigt sich, dass die "Uberdimensionierung" der ostdeutschen Bauwirtschaft ausschlieB­lich eine Folge der hohen Beschliftigung im Bauhauptgewerbe ist, wah­rend der Beschaftigungsanteil des Ausbau- bzw. Bauhilfsgewerbes in Ostdeutschland (1998: 4,2 %) nahezu identisch mit dem in Westdeutsch­land ist (1998: 4,0%). Auch in der Nachkriegsautbauzeit hatte die Bau­wirtschaft in Westdeutschland niemals eine vergleichbare Bedeutung -und zwar gerechnet sowohl in termini des Beschliftigungsanteils der Bauwirtschaft als auch in termini der Beschliftigten in der Bauwirtschaft je Einwohner - als dies gegenwartig in Ostdeutschland der Fall ist. So­mit ist in dieser Branche in den nachsten Jahren ein weitergehender Be­schaftigungsabbau, insbes. im Bauhauptgewerbe, wohl unvermeidbar, da das hohe Bauinvestitionsvolumen nicht zu halten ist und sich daher im Zuge einer Normalisierung der Bautatigkeit ein Kapazitats- und damit auch Jobabbau einstellen wird.

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Wachstum, Konjunktur und Beschliftigung in den neuen Bundesllindem 129

ErkHirungen fUr den gewaltigen Strukturwandel in der ostdeutschen Wirtschaft nach der Wende sind einfach und schwierig zugleich. Die DDR-Industrie war gemessen am Weltstandard mit Sicherheit technolo­gisch weit rtickstandig. Die Wirtschaftsstruktur der DDR war gepragt durch nicht marktgerechte Transaktionspreise im RGW-Raum sowie po­litische und nicht marktendogene Produktions- und Standortentscheidun­gen. Weiterhin mangelte es der DDR-Wirtschaft an Integration in den Weltmarkt, da der "Lowenanteil" der Exporte in den "sozialistischen Wirtschaftsraum" geliefert wurde und sich dort nicht dem internationa­len Wettbewerb stellen musste. Schwierig ist es jedoch, den EinfluB technologischer Defizite, falscher Preisrelationen oder fehlender Markt­integration auf den strukturellen Wandel zu quantifizieren. Ferner haben die ziigigen Lohnanpassungsprozesse in Ostdeutschland dazu beigetra­gen, dass viele Arbeitsplatze sehr schnell unrentabel wurden.

Nach diesem Blick auf die strukturellen Anpassungen wollen wir uns in einem nachsten Schritt der Wachstumsperformance der ostdeutschen Wirtschaft zuwenden. In der unmittelbaren Nachwendezeit ist das ost­deutsche Inlandsprodukt recht stark angestiegen, siehe Abbildung 4. So hat sich das reale Bruttoinlandsprodukt in den Jahren bis 1995 urn jah­resdurchschnittlich mehr als 8 % erhoht, wahrend im gleichen Zeitraum in Westdeutschland ein Anstieg von lediglich ca. 1,5% zu verzeichnen war. Auch 1995 und 1996 lag die Wachstumsrate in Ostdeutschland noch leicht iiber dem westdeutschen Durchschnitt, wahrend in den bei­den letzten Jahren, 1997 und 1998, die ostdeutsche Wirtschaft ein gerin­geres Wachstum hatte als die westdeutsche Wirtschaft.

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130 Seitz

10 %

5

0 ET (West)

-5

-10

92 93 94 95 96 97 98 Abb.4: Konjunkturelle Entwicklung in Ost- und Westdeutschland: %-Anderung des re­

alen Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu Preisen von 1991 und der Erwerbstatigkeit

Quelle: Berechnet aus Angaben des Statistischen Bundesamtes, Wiesbaden

Angesichts der Wachstumsschwache der ostdeutschen Wirtschaft in den letzten Jahren sind auch die Anpassungserfolge der ostdeutschen Wirt­schaft sehr diirftig. Wie Abbildung 5 zeigt, hat das ostdeutsche Bruttoin­landsprodukt je Einwohner erst ca. 52 % des Westniveaus erreicht (ge­rechnet je Erwerbstatigen ca. 60% des Westniveaus). Deutlich weiter vorangeschritten ist die Einkommensanpassung. So lag das Bruttoein­kommen aus unselbstandiger Arbeit 1998 bei ca. 70% des Westniveaus. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist darin zu sehen, dass die Lohn­stiickkosten in der ostdeutschen Wirtschaft noch immer ein haheres Ni­veau als in Westdeutschland haben und damit weniger Arbeitsplatze als rentabel gelten miissen als dies der Fall ware, wenn die Lohnstiickkosten auf dem niedrigeren Westniveau waren. Der Umstand, dass die Lohn­stiickkosten in den neuen Lltndern haher sind als in Westdeutschland, erscheint vielen Menschen in Ostdeutschland zweifelhaft, da die Ein­kommen im Osten noch immer deutlich unter dem Westniveau liegen. Die Ursache hierfiir ist, daB nicht das absolute Lohnniveau sondern die Arbeitskosten je Produkteinheit entscheidend sind. Da die Durch-

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Wachstum, Konjunktur und Beschiiftigung in den neuen BundesHindem 131

schnittsproduktivWit in den neuen Uindern - definiert als Bruttoinlands­produkt je Erwerbstatigen - nur bei 50% des Westniveaus liegt, die Lahne aber ca. 70% des Westniveaus erreichen, miissen in Ostdeutsch­land je Produkteinheit ca. 20% hahere Arbeitskosten bezahlt werden als in Westdeutschland. Allerdings muS angemerkt werden, dass diese Be­rechnungen auf der Annahme beruhen, dass die Produktivitat im Ost­West-Vergleich richtig "gemessen" bzw. "bewertet" wird, woran wir erhebliche Zweifel haben3.

17~----~------~~------~~------~~----~

15

12

10

·····~···············i:~h;;~tii~·kk~~;~~~·············· ..

75 ...... ~r~.t.t.<?~Jn~.<?mrn~n~ .... --------

50

25 ----":"':"':- ---------------------------------------BlP-je- Elnwohne~~ ---. ------

O+-----.-----r----.-----.-----.----,-----.---~

91 92 93 94 95 96 97 98 Abb.5: Gesamtwirtschaftliche Kennziffem im Ost-West-Verg1eich (Westdeutsches

Niveau = toO)

1) Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, 2) Bruttoeinkommen aus unselbstandiger Arbeit je Arbeitnehmer, 3) LohnstOckkosten = Bruttoeinkommen aus unselbstandiger Arbeitje Arbeitnehmer dividiert durch das Brut

toinlandsprodukt je Erwerbstatigen_

Quelle: DIW, ItW, IWH (1999), Tabelle 1.

3 So ist zu bedenken, dass es vielfach deutliche Preisunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland gibt und das Bruttoinlandsprodukt erheblich durch die Bruttolohn- und Gehaltssumme bestimmt wird. Da aber die durchschnittlichen Bruttoeinkommen in Ostdeutschland ca. 25% unter dem Westniveau liegen, durfte ein Ost­West-Vergleich von Produktivitatszahlen problematisch sein. Technologisch gibt es keine Grunde fUr ein Ost­West-Produktivitatsdifferential.

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132 Seitz

Die Lage auf den ostdeutschen Arbeitsmarkten muss man als besorgnis­erregend bezeichnen. So waren 1998 yom ostdeutschen Erwerbsperso­nenpotential in Rohe von ca. 7760 Personen ca. 6380 Personen be­schaftigt und ca. 1 380 Personen als arbeitslos gemeldet, was einer durchschnittlichen Arbeitslosenquote von ca. 17,7 % entsprach. Aller­dings waren im Jahr 1998 jahresdurchschnittlich ca. 600000 Personen durch arbeitsmarktpolitische MaBnahmen (ABM und SAM, sowie beruf­liche Weiterbildung) betroffen, so dass die Unterbeschaftigung unter Einbeziehung des zweiten Arbeitsmarktes 1998 bei ca. 25,5% lag. Zu beriicksichtigen ware ferner, dass der Offentliche Sektor (d.h. die ost­deutschen Lander und ihre Gemeinden) ca. 30 % mehr Beschaftigte je Einwohner als die westdeutschen Lander haben, siehe Seitz (1999a), und damit der Offentliche Sektor quasi in einem "dritten-Arbeitsmarkt" noch zusatzliche Beschaftigte absorbiert.

3. Zum Stand des Infrastrukturaufbaus in Ostdeutschland

Neben der technologischen Uberalterung der Industrieanlagen in der e­hemaligen DDR war auch die Infrastruktur, angefangen von den Stra­Ben- und Schienenverkehrswegen, iiber die kommunalen Ver- und Ent­sorgungseinrichtungen, bis hin zu den Telekommunikationseinrichtun­gen, weit unter dem Niveau westlicher Industrielander. Da die Infra­struktur ein zentraler Standortfaktor ist, hat auch der Aufbau der Infra­struktur eine zentrale Bedeutung fur die zukiinftige Entwicklung der ost­deutschen Wirtschaft. Daher ist es auch Besorgnis erregend, wenn zu beobachten ist, siehe Abbildung 6, dass zwischenzeitlich die Infrastruk­turinvestitionsaktivitat der neuen Lander bereits erheblich zuriick­gegangen ist. Die realen Sachinvestitionsausgaben der neuen Flachen­lander (Investitionen der Lander und ihrer Kommunen) sind zwischen­zeitlich bereits auf das Niveau der westdeutschen Lander am Anfang der 80er Jahre gefallen, einem Zeitpunkt, in dem der Infrastrukturaufbau in Westdeutschland schon weitgehend abgeschlossen war. Vom Weststan-

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Wachstum, Konjunktur und Beschliftigung in den neuen BundesHindem 133

dard sind die neuen Lander in Sachen Infrastruktur aber noch sehr weit entfernt. Die entwicklungs- und wachstumstheoretische Forschung sieht in der Infrastruktur eine "conditio sine qua non" fUr den wirtschaftli­chen take-off von Landern und Regionen. Ohne moderne Infrastruktur kann keine Region im Standortwettbewerb mithalten. Gerade hier sind die neuen Lander wohl mit der groBten Erblast behaftet, da die DDR ein marodes und antikes Infrastrukturnetz, besonders im Bereich der Ver­kehrswege, hinterlassen hat (siehe Seitz (1999b».

DMje Einwohner

(real) 1800

1600

1400

1200

1000 '- ~ -- '\.. 800

600

400

200

Flachenlander West

o

FUichenUinder Ost

r-...... I "--- ........ - ~.

7475767778798081 82 838485868788899091 92939495969798

Abb. 6: Reale Pro-Kopf-Sachinvestitionsausgaben der west- und ostdeutschen Flachen­lander (Lander und Gemeinden, ohne Zweckverbande)

Anmerkung: Deflationiert mit dem Preisindex staatlicher Investitionsausgaben mit dem Basisjahr 1991.

Quelle: Berechnet aus Datenmaterial des Statistischen Bundesamtes sowie des Bundes­ministerium der Finanzen.

Urn abzuschlitzen, wie weit die Infrastrukturliicke in Ostdeutschland be­reits geschlossen ist und hierauf autbauend den weiteren Offentlichen In­vestitionsbedarf abzuleiten, haben wir mit den realen (Preisbasis 1991 = 1) staatlichen Investitionsausgaben das reale Nettoanlagevermo-

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134 Seitz

gen des Staates (Infrastrukturkapitalbestand) in Westdeutschland fur den Zeitraum 1950 bis 1998 und in Ostdeutschland fur den Zeitraum 1990 bis 1998 ermittelt. Fur die Periode nach 1990 wurde unterstellt, dass in Berlin 50% der Investitionen in den Ostteil der Stadt und die restlichen 50% in den Westteil der Stadt geflossen sind. Bezuglich der Investitio­nen des Bundes auf westdeutschem Gebiet wurde unterstellt, dass diese mit der gleichen Wachstumsrate wie die Realinvestitionen der west­deutschen Lander und Gemeinden gewachsen sind. Die Differenz aus den realen Gesamtinvestitionen des Bundes und der in den Westteil Deutschlands geflossenen Sachinvestitionen des Bundes wurde als Sach­investitionen des Bundes in Ostdeutschland deklariert. Nach dieser Rechnung wurden im Zeitraum 1991 bis 1998 ca. 1/3 der Bundesinvesti­tionen in die neuen Lander gelenkt, wobei der "Ostanteil" im Zeitver­lauf angestiegen ist. Somit setzen sich die Infrastrukturinvestitionen fur Ostdeutschland aus den Sachinvestitionen der Gemeinden und Lander der funf neuen Flachenlander zusammen, den "Ostinvestitionen" des Bundes und den "Ostinvestitionen" im Bundesland Berlin. Ais "An­fangsinfrastrukturvermogen" in Ostdeutschland wurde in einer ersten Variante unterstellt, daB dieses im Jahr 1990 30% des westdeutschen Pro-Kopf-Bestandes betrug; in einer zweiten Variante wurde ein Pro­zentsatz von 50 % unterstellt. Die erste Variante wiirde implizieren, dass die reale Infrastrukturausstattung der DDR zur Wendezeit etwa auf dem Westniveau des Jahres 1965 gelegen Mtte, wahrend in der zweiten Vari­ante das Niveau des Jahres 1972 erreicht worden ware.4 Fur die Periode nach 1998 wurde in Westdeutschland und Ostdeutschland unterstellt, dass die reale Infrastrukturinvestitionsaktivitat auf dem Niveau des Jah­res 1998 verharrt. Diese Annahme impliziert auch, dass es weiterhin ei­ne deutlich starkere Investitionsaktivitat in Ostdeutschland als in West­deutschland gibt und ca. 29% aller deutschen staatlichen Infrastruktur­investitionen in Ostdeutschland (von den Landern, einschlieBlich Berlin

4 Beide Szenarien decken in etwa die Streuweite unterschiedlicher Schlitzungen ab, die in der Literatur kursie­reno So hat das DIW, siehe DIW (1994), das staatliche Infrastrukturverrnogen (je ErwerbsUitigen) in Ost­deutschland 1991 auf ca. 39% des Westniveaus geschiitzt. Wir halten die erste Variante fUr realitlitsnliher als die zweite Variante.

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Wachstum, Konjunktur und Beschliftigung in den neuen Bundeslandem 135

[Ost], den Gemeinden sowie dem Bund) getatigt werden. Die Annahme einer real konstanten InfrastrukturinvestitionsaktivWit in den nachsten Jahren ist sicherlich optimistisch, da - wie bereits aufgezeigt - in den letzten Jahren die realen Sachinvestitionen deutlich reduziert wurden und dieser Ruckgang mit grofier Wahrscheinlichkeit anhalten wird. So hat der Bund bereits zum jetzigen Zeitpunkt (November 1999) Einschran­kungen bei den Investitionen angekUndigt.

2011 2017 35000.---------------------------------------------------

30000T-----------------v~~------~::::::::~~==::~~~ West

25000+-----------------~~~----------~~~~+_----_r--

20000+---------~~--------------~--~--------~----~--

15000+---~~--------------~~~~------------+_----_r--

Ost (30%) 10000+---------------------~------------------+_----_r--

5000+-----------------------------------------+_----_r--

1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020

Abb. 7: Entwicklung des realen staatlichen Nettoanlagevermogens (Infrastrukturkapi­talbestand) in Westdeutschland und Ostdeutschland in DM (zu Preisen von 1991) je Einwohner

QueUe: Eigene Schatzungen (siehe Text)

In der Abbildung 7 haben wir die berechneten Pro-Kopf­Infrastrukturkapitalbestande5 abgetragen. Wie aus der Abbildung her­vorgeht, ist bei der ,,50 % "-Variante eine Angleichung der Infrastruktur­kapitalausstattung ab dem Jahr 2011 zu erwarten, wahrend unter der

5 Urn der Problematik von Bevolkerungsprognosen auszuweichen, wurden die Pro-Kopf-Berechnungen mit den Bevolkerungszahlen des Jahres 1990 (Ostdeutschland 16,73 Mill. und Westdeutschland 63,25 Mill.) durchgefiihrt.

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136 Seitz

,,30 % " -V ariante eine Angleichung erst ab dern J ahr 2017 zu erwarten ist. Dies irnpliziert - trotz der optirnistischen Annahme einer anhaltend hohen realen Infrastrukturinvestitionsaktivitat - dass eine Angleichung flachendeckender infrastruktureller Standortbedingungen erst deutlich nach dern Auslaufen des Solidarpaktes I zu erwarten ist. Dies gilt aber nur dann, wenn der Bund auch tiber das Jahr 2004 hinaus Investitions­prioritaten in Ostdeutschland setzt und die neuen Lander ihr hohes In­vestitionsniveau Aufrecht erhalten. Beide Bedingungen sind aber bereits jetzt verletzt! Zu berticksichtigen ist ferner, dass die Ost -West­Angleichung auch durch den Urnstand bedingt wird, dass in West­deutschland die Infrastrukturinvestitionen in erheblichern Urnfang seit 1990 zurtickgefahren wurden. Diese lagen real 1998 ca. 30% unter dern Niveau von 1990, so dass davon auszugehen ist, dass diese gerade noch ausreichen, urn das reale Nettoanlageverrnogen zu erhalten. 6

4. Steigende Disparitaten zwischen und innerhalb der neuen Lander

Nach der Bestandsaufnahme der okonornischen Entwicklung und der Anpassungsprozesse in Ostdeutschland in den beiden vorangegangenen Teilabschnitten wollen wir uns nunmehr einer regional disaggregierten Betrachtung der ostdeutschen Wirtschaft zuwenden. Hier glauben wir eine beunruhigende Entwicklung ausrnachen zu konnen, die darin be­steht, dass es sehr viele Indikatoren gibt, die darauf hindeuten, dass a) die regionalen Disparitaten innerhalb der einzelnen neuen Lander grOBer werden und b), sich die neuen Lander auseinander zu entwickeln dro­hen. Wenn es so ist, hatte das erhebliche Konsequenzen fUr die zukiinf­tige Ausgestaltung der Forderpolitik in Ostdeutschland.

6 In der Tat implizieren unsere Simulationsrechnungen fOr Westdeutschland nach dem Jahr 2000 einenjiihrli­chen Anstieg des realen Infrastrukturkapitalbestands von ca. 0,2% und damit de facto Stagnation.

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Wachs tum, Konjunktur und Beschiiftigung in den neuen BundesHindem 137

Betrachten wir zunachst die Entwicklungsunterschiede zwischen den neuen Landern. Eine Auswertung von Daten der neuen Lander zeigt, dass sich die Unterschiede in der

- Pro-Kopf-Verschuldung und der Haushaltsdefizite, - der Offentlichen Investitionstatigkeit, - der Personalausstattung im offentlichen Dienst, - der Arbeitslosigkeit und - des realen Bruttoinlandsprodukts

zwischen den neuen Landern vergro13ert haben. Die ersten drei Fakten haben wir an anderer Stelle bereits ausruhrlich belegt, siehe Seitz (1999a), so dass wir uns hier auf die Wirtschafts- und Arbeitsmarktent­wicklung konzentrieren konnen. Abbildung 8 zeigt rur die Periode von 1995 bis 1999 das Auseinanderdriften der Unterbeschaftigung in den neuen Landern, gemessen an drei Indikatoren: i) der Arbeitslosenquote, ii) der vom lAB berechneten Unterbeschaftigungsquote (die neben der Arbeitslosigkeit auch Personen in beruflicher Weiterbildung und die Vollzeitaquivalente der Kurzarbeit umfa13t) und iii) die noch zusatzlich urn ABM -Beschaftigte erweiterte U nterbeschaftigungsquote des IAB7. Aufgetragen sind die Differenzen zwischen der jeweils hochsten und niedrigsten Quote in den runf neuen Flachenlandern. Die Abbildung do­kumentiert, dass aIle Indikatoren im Zeitverlauf einen eindeutig nach oben gerichteten Trend haben, d.h. die Entwicklungsunterschiede der Lander am Arbeitsmarkt werden gro13er. Erganzend zeigt Abbildung 9 die Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts in den neuen FHichen­landern (normiert auf 1993 = 1). Auch hier ist eine eindeutige Entwick­lung in Richtung eines Anstiegs der Disparitaten innerhalb der Gruppe der neuen Lander auszumachen.

7 Das lAB ist ein der Bundesanstalt fOr Arbeit angegliedertes Institut.

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138

% Max. -% Min. 6 ..................... . . . ............................... .. ... . ...... . ..... .

5 ............................................................ .

4

3

2 ...................... ~.Afb.eit$lo.$enq"'9te ... ...... .. .... ....... . ~ Unterbeschaftigungsquote (lAB)

1 ................... ... -.-Unterbeschafttgung·+- ABM····· . . .... .

0+--------.---------.--------.--------.--------. 1995 1996 1997 1998 1999

Abb.8: Disparitaten in der Arbeitslosigkeit in den ostdeutschen Uindem.

Seitz

Quelle: Eigene Berechnungen aus Angaben der Bundesanstalt fur Arbeit in Niimberg, siehe Text.

Normierung: 1993 = 1

1,35 -+-BBG -MV -li- SAC

1,3

1.25

1,2

1,15

1,1

1,05

93 94 95 96 97 98

Abb.9: Entwicklung des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts in den neuen Uindem

Anmerkung: BBG = Brandenburg; MV = Mecklenburg-Vorpommem; SAC = Sachsen, SAN = Sachsen-Anhalt; TH = Thiiringen.

QueUe: Berechnet aus Angaben des Statistischen Bundesamtes, Wiesbaden.

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Wachstum, Konjunktur und Beschaftigung in den neuen Bundeslandem 139

Neben der differenzierten Entwicklung der Lander in Ostdeutschland sind auch zunehmende regionale Disparitaten innerhalb der einzelnen Lander zu beobachten, wobei insbesondere zwei Entwicklungen markant erscheinen. Erstens ist die Arbeitslosigkeit in den peripheren Regionen Ostdeutschlands tiberdurchschnittlich hoch. Dies wird in Tabelle 2 deut­lich, in der die Arbeitslosenquote in den ostdeutschen Regionen entlang der Grenze zu Polen und Tschechien ("Ostregionen") ausgewiesen wird. 8 Hier lag die Arbeitslosenquote im Juni 1999 durchschnittlich mehr als 1 % tiber dem Landesdurchschnitt. Auf der anderen Seite haben die Regionen entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze (" West­regionen") eine deutlich unterdurchschnittliche Arbeitslosenquote, wo­bei sich der Abstand zum ostdeutschen Durchschnitt im Zeitverlauf noch deutlich vergroBert hat. Die Ursache hierfur sind insbes. die starken Pendlerbewegungen von Ost nach West im ehemaligen Grenzraum. Deutliche Unterschiede sind auch beobachtbar, wenn man die 194 ost­deutschen Dienststellen der Arbeitsmarktbezirke nach dem Kriterium der Autobahnanbindung betrachtet. Wie Tabelle 2 zeigt, ist die Arbeits­losenquote in den mit Verkehrsinfrastruktur - gemessen am Zugang der Regionen zum Autobahnnetz - gut erschlossenen Regionen deutlich ge­ringer als in den peripheren Regionen, also jenen Regionen, durch deren Gebiet sich nicht unmittelbar eine Autobahntrasse zieht. Geringere Ar­beitslosenquoten sind auch in den Agglomerationsraumen zu beobach­ten, die hier definiert sind als die Arbeitsamtsdienststellen der groBen ostdeutschen Stactte (ohne Ber lin-Potsdam). 9 Hier schlagt tiberwiegend der "Landeshauptstadtcharakter" der Stadte durch.

8 Die Auswertungen in den Tabellen 2 und 3 beruhen auf den Daten der 194 ostdeutschen Dienststellen der Arbeitsamtsbezirke (ohne Berlin). Die Dienststellen korrespondieren vielfach zu den ehemaligen Kreisen der DDR und bieten somit eine feinere raumliche Disaggregation als die Kreisebene.

9 Cherrmitz, Erfurt, Schwerin, Leipzig, Halle, Dresden, Rostock, Magdeburg.

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140 Seitz

Arbeitslosenquote 1997 Arbeitslosenquote 1999

(Juni) (Juni)

Ostdeutschland insgesamt 18,5% 17,9%

- Westregionen 17,4% 15,3%

- Ostregionen 19,2% 19,0%

- Agglomerationsraume 17,1% 17,5%

- Regionen mit Autobahn- 17,8% 17,5% anbindung

- Regionen ohne Autobahn-20,1% 18,9% anbindung

Tab. 2: Arbeitslosigkeit in ostdeutschen Regionen

Que11e: Berechnet aus Daten der Bundesanstalt fur Arbeit, Niirnberg.

Stadtgebiet Umlandregionen

Rostock - 10,4% - 3,4%

Schwerin - 11,6% -4,0%

Berlin-Postdam -9,5% + 1,5%

Halle-Leipzig - 9,4% - 15,4%

Dresden -7,7% - 6,3%

Magdeburg - 10,5% - 3,6%

Chernnitz - 13,1% -4,7%

Erfurt - 8,0% - 6,4%

Tab. 3: Beschaftigungsentwicklung in den ostdeutschen Stadtregionen 1995 - 1998 in%

Que11e: Berechnet aus Angaben der Bundesanstalt fur Arbeit, Niimberg.

Eine weiterhin markante Entwicklung ist der Umstand, dass die grOBe­ren Stfidte in Ostdeutschland in der wirtschaftlichen Entwicklung mehr und mehr hinter der Entwicklung in ihren Umlandregionen zuriickblei­ben. In der Tabelle 3 wird fur acht gro6e ostdeutsche Stadtregionen die Beschaftigungsentwicklung zwischen 1995 und 1998 ausgewiesen. Hier

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Wachstum, Konjunktur und Beschaftigung in den neuen Bundeslandem 141

zeigt sich die allgemeine Entwicklung, dass in den Stadten die wirt­schaftliche Entwicklung deutlich schwacher ist als in den angrenzenden Umlandregionen. Die Umlandregionen sind hierbei definiert als die un­mittelbar an die Stadte angrenzenden Dienststellen der Arbeitsmarktbe­zirke. Lediglich die Stadtregion Halle-Leipzig bildet hier eine Ausnah­me, wobei die Ursache allein in der Region Bitterfeld liegt, in der zwischen 1995 und 1998 fast 28% der Jobs verloren gingen. Auf der anderen Seite bildet Berlin-Potsdam und sein Umland ein Extrembeispiel fur die andere Richtung. Wahrend die Stadte Potsdam und Berlin (und hier insbes. der Ostteil der Stadt) zwischen 1995 und 1998 fast 10% der Arbeitsplatze verloren haben, konnte das Umland von Berlin-Potsdam als einzige ostdeutsche Region sogar einen Beschaftigungszuwachs ver­buchen. Dass dennoch die Arbeitslosenquote in den groBeren Stadten niedriger als in den Umlandregionen und anderen ostdeutschen Regionen ist, hat seine Ursache in der GrOBe des Offentlichen Sektors in den gro­Beren Stadten - dies gilt z.B. fur aIle LandeshauptstadtelO - aber auch in dem Umstand, dass Stadtbewohner einen leichten Zugang zum Arbeits­markt in den Umlandregionen haben.11

Auch unter Verwendung eines standardisierten StreuungsmaBes lassen sich die regionalen Disparitaten in Ostdeutschland transparent machen. Hierzu haben wir den "V ariationskoeffizienten" der Arbeitslosenquoten der 194 ostdeutschen Dienststellen der Arbeitsamtsbezirke fur Juni '97, Juni '98 und Juni '99 berechnet. Der Variationskoeffizient ist definiert als die Streuung der Arbeitslosenquote (Standardabweichung) dividiert durch die durchschnittliche Arbeitslosenquote. Je grOBer der Variations­koeffizient ist, desto sHirker ist die regionale Streuung der Arbeitslosen­quote urn den Mittelwert. Durch die Normierung macht es der Variati­onskoeffizient moglich, die Starke der Streuung im Zeitverlauf zu vergleichen. Fiir 1997 ergab sich ein Wert von 0,171, fur 1998 ein Wert

10 Hier ist auch zu bedenken, dass die Statistik der sozialversicherungspflichtig Beschaftigten die Bearnten nicht erfaBt und darnit einen erheblichen Teil der Landesbediensteten. II Bei den Angaben in der Tabelle 2 und 3 handelt es sich urn vorlaufige Angaben. Wegen Gebietsanderungen hat sich die Bundesanstalt fur Arbeit bislang nicht in der Lage gesehen, konsistent abgegrenztes Datenrnaterial auf der Ebene der Dienststellen zur VerfUgung zu stellen.

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142 Seitz

von 0,181 und fur 1999 ein Wert von 0,194. Diese Zahlen implizieren, dass sich die regionalen Disparitaten in der Arbeitslosigkeit zwischen 1997 und 1999 deutlich vergroBert haben. Hierbei ware noch zu beruck­sichtigen, dass die aktive Arbeitsmarktpolitik sich insbesondere auf Problemregionen (also Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit) konzentriert und damit die offIzielle Arbeitslosenquote der Regionen mit hoher Ar­beitslosigkeit starker nach unten "korrigiert" wird als die Arbeitslosen­quote in Regionen mit unterdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit. Erforderlich ist daher ein standiges Monitoring der regionalen Entwicklung in Ostdeutschland, wobei es erforderlich ware, konsistentes und regional tief gegliedertes Datenmaterial aufzubereiten, zur Verfugung zu stellen und auszuwerten. Dies ist aber nur dann moglich, wenn die Arbeitsmarktstatistik und die Produzenten der Arbeits­marktstatistiken ihrer Aufgabe gerecht werden.

5. Ein Blick nach Osteufopa

AbschlieBend wollen wir noch einen kurzen Blick auf die okonomische Entwicklung der Transformationsliinder in 9steuropa werfen. Mit eini­gen dieser Lander, Tschechien, Ungarn, Polen, Estland und Slowenien, fiihrt die EU bereits Verhandlungen mit dem Ziel der Aufnahme in die EU. Abbildung 10 zeigt den "Lebensstandard" in den osteuropaischen Landern im Jahr 1993, umgerechnet mit Hilfe von Kaufkraftparitaten. Hier wird deutlich, dass die iiberwiegende Mehrzahl der osteuropaischen Transformationslander kaum 30% des Lebensstandards der westeuropai­schen Staaten erreicht.

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Wachstum, Konjunktur und Beschliftigung in den neuen Bundesllindem 143

Ukraine 17

Rumanien 19 Litauen ~9

Lettland 16:

Estland 20 Bulgarien 22 Russland 26: "

Slow. Republik 30

Siowenien 48 Ungarn 31

Tsche. Republik 44

Polen 24

0 10 20 30 40 50 60 Abb. 10: Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in Osteuropa 1993 (Deutschland = 100)

(gemessen in Kauikraftparitliten)

QueUe: Bundeswirtschaftsministerium (1999).

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144 Seitz

Arbeitslosenquote Wachstum

Ukrain ~ Ukraine

Rumanie ,r Rumanien p Litaue n I Litauen p

Lettian d I Lettland :=J Estlan d:J Estiand

,r Bulgarie I C Bulgarien

Russian I Russland

Slow. Rep I Sio ~. Republik I

Siowenie n I Siowenien I

Ungar n I Ungarn =:J Tsche. Re p I Tsch ~. Republik p

Pole n I Polen I

o 5 10 15 20 ·10 ·5 o 5 10

in%

Abb. 11: Arbeitslosenquoten in Osteuropa 1998 und jahresdurchschnittliche Zuwachsra­te des realen Bruttoinlandsprodukts 1994 - 1998

Que11e: Bundeswirtschaftsrninisterium (1999).

Betrachten wir die Arbeitsmarktentwicklung, siehe Abbildung 11, in die­sen Uindern, ist auffallend, dass dort die Arbeitslosenquoten durchgan­gig niedriger sind als in Ostdeutschland, so dass der Eindruck entstehen konnte, die osteuropaischen Transformationslander seien - zumindest im Hinblick auf den Arbeitsmarkt - besser gefahren als Ostdeutschland. Die Ursachen rur die im Durchschnitt geringeren Arbeitslosenquoten in Ost­deutschland sind mannigfaltiger Natur. So ist in den Transformations­landern der Anteil des Offentlichen Sektors an der Beschaftigung immer

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Wachstum, Konjunktur und Beschaftigung in den neuen Bundeslandem 145

noch recht hoch. In Polen und Ungarn sind mehr als 25% der Beschaf­tigten im Offentlichen Sektor Hitig, in Bulgarien ca. 50 % und Rumanien hat sogar einen staatlichen Beschaftigungsanteil von mehr als 60 %. Hier ist davon auszugehen, dass ein erheblicher Teil der Offentlichen Beschaf­tigung durch Subventionen direkter und indirekter Natur aus den Staats­haushalten aufrechterhalten wird. Ferner sind die Markte innerhalb der Lander - insbes. im Konsumgtiterbereich aber auch der industriellen Vorprodukte - noch in erheblichem Umfang von internationaler Kon­kurrenz abgeschottet, so dass sich ein nicht unerheblicher Teil der Be­triebe nicht der internationalen Konkurrenz stell en muss. AuBerdem fuh­ren die geringen Realeinkommen der Bevolkerung dazu, dass die Nachfrage nach den in der Regel qualitativ hochwertigeren Produkten, die auf den Weltmarkten angeboten werden, innerhalb der Lander deut­lich geringer ist und somit das Uberleben von Betrieben am unteren En­de der Preis- und Qualitatsskala moglich ist. Auf der anderen Seite ist aber auch festzuhalten, siehe Abbildung 11, dass einige der Transforma­tionslander beachtliche Wachstumserfolge zu verzeichnen haben. So konnten Polen und die Slowakische Republik zwischen 1994 und 1998 das reale Inlandsprodukt urn jahresdurchschnittlich ca. 6 % steigern, wlihrend Russland und die Ukraine deutliche Rtickschlage zu verzeich­nen hatten.

Die okonomische Lage der Transformationslander ist somit durch eine erheblich differenzierte Entwicklung der einzelnen Lander gekennzeich­net. Wlihrend Lander wie Polen, Ungarn oder Slowenien eine sehr posi­tive Entwicklung genommen haben, muss in anderen Landern, wie ins­bes. Russland oder auch der Ukraine, nahezu von einem freien Fall in die okonomische Katastrophe gesprochen werden, was auch bedenkliche politische und soziale Folgen haben wird bzw. haben kann.

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146 Seitz

6. Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

Welches Fazit Hisst sich aus unserer sicherlich unvollstandigen und se­lektiven Bestandsaufnahme der Wachstums- und Anpassungsprozesse in Ostdeutschland ziehen? Unumwunden muss festgehalten werden, daB die wirtschaftliche Lage, insbesondere die Lage auf dem Arbeitsmarkt, als kritisch einzuschatzen ist. Bedenklich sind hierbei insbesondere die sich hieraus ergebenen sozialen, politischen und gesellschaftlichen Folgen. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die urn sich greifende Perspektivlo­sigkeit vieler junger Menschen in Ostdeutschland konnte sich zu einem sozialen Sprengsatz entwickeln. Gerade junge Menschen, die den Ein­tritt in die Arbeitswelt mit Arbeitslosigkeit oder nur staatlich gestiitzten Arbeitsprogrammen erleben, werden es schwer haben sich langfristig in den Arbeitsmarkt einzugliedern und werden permanent an den Rand der Gesellschaft gedrangt werden. Die in den neuen Landern deutlich uber­durchschnittliche Kriminalitatsneigung von Jugendlichen ist sicherlich bereits ein Reflex dieser Probleme. Der Staat allein vermag dieses Prob­lem nicht zu losen. Gefragt ist hier ein koordiniertes Engagement der Unternehmerschaft, der Gewerkschaften und der anderen relevanten ge­sellschaftlichen Gruppen. Den Menschen in staatlich gefOrderten Be­schaftigungsprogrammen bzw. - bereichen ist bewusst, dass der Staat durch Beschaftigungsprogramme oder breit angelegte Fort- und Umbil­dungsmaBnahmen, die nicht selten am Markt vorbeigehen und mehr der Kosmetik der Arbeitsmarktstatistik dienen, nicht fur dauerhafte Beschaf­tigung sorgen kann. Wesentlich wichtiger ware es, daB der Staat optima­Ie Wachstumsrahmenbedingungen setzt, die dazu beitragen wieder mehr Beschaftigung rentabel zu machen. Hierzu gehoren ein anreizfreundli­ches, transparentes und einfaches Besteuerungs- und Abgabesystem, ein weiterhin hohes Tempo bei der Entwicklung der ostdeutschen Infrastruk­tur, insbes. im (StraBen-)Verkehrsbereich, sowie ein nachhaltig ref or­miertes soziales Sicherungssystem. Flankierend muS aus sozialpoliti­schen Grunden auch die Politik am zweiten Arbeitsmarkt fortgesetzt werden.

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Wachstum, Konjunktur und Beschliftigung in den neuen BundesHindem 147

Angesichts der enttauschenden okonomischen Entwicklung in Ost­deutschland muss die Politik eine fundamentale kritische Bestandsauf­nahme der bisher erfolgten Forderstrategie beim Aufbau in Ostdeutsch­land vornehmen. Gerade im Hinblick auf die aufgezeigte sich mehr und mehr differenzierende Entwicklung zwischen und innerhalb der Lander ist eine solche kritische Bestandsaufnahme unumgehbar. Die Ursachen fur die aufgezeigten Entwicklungsdifferentiale konnen mannigfaltiger Natur sein: Sie reichen von den Unterschieden in der iibernommenen DDR-Wirtschaftsstruktur, tiber Unterschiede in der Lagegunst, bis hin sicherlich auch zu Unterschieden in der wirtschafts- und finanzpoliti­schen Strategie der Lander. Wesentlich ist, dass sich diese Unterschiede nicht verfestigen und hieraus keine permanenten Entwicklungsdifferenti­ale entstehen, so dass es nicht zu einer Divergenz der soziookonomi­schen und finanzwirtschaftlichen Entwicklung zwischen den neuen Lan­dern kommt. Es ist daher erforderlich, von dem in der Politik weit verbreiteten Verteilungsmechanismus - Verteilung von Mitteln nach der Einwohnerzahl - auf einen "Problemindikatorvariablen" gelenkten Ver­teilungsmechanismus zu gehen und die Gesamtheit der FordermaBnah­men kritisch zu evaluieren. Dies gilt auch fur FordermaBnahmen inner­halb der einzelnen Bundeslander. So entwickeln sich z.B. die "berlinnahen" Regionen Brandenburgs sehr gut, wahrend die "berlin­fernen" peripheren Raume des Landes Gefahr laufen, abgekoppelt zu werden. Dies erfordert eine differenzierte Politik, die natiirlich nicht darin bestehen darf, Wachstumsregionen bzw. Wachstumspole z.B. mit einer restriktiven Flachenpolitik auszubremsen, in der Hoffnung, Unter­nehmen in periphere Raume "zu zwingen". Hier ist insbesondere die (Verkehrs-) Infrastrukturpolitik gefragt. Da die groBen Investitionspro­gramme (wie z.B. im Bundesautobahn- und BundesstraBenbereich) zu Recht zunachst auf die Hauptverkehrsachsen konzentriert wurden, haben die peripheren Regionen in Ostdeutschland noch deutliche Infrastruktur­defizite, die jetzt ziigig beseitigt werden mtissen. Erst dann, wenn die peripheren Regionen verkehrsmaBig besser erschlossen sind und einen besseren Zugang zu den Hauptverkehrsadern haben, haben diese Regio­nen iiberhaupt eine realistische Chance im Wettbewerb urn markWihige

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148 Seitz

gewerbliche Investitionen. Das haben auch die Erfahrungen in West­deutschland und in anderen Uindern gezeigt.

Es ist unseres Erachtens wichtig, in der jetzt bevorstehenden zweiten Phase der Laufzeit des Solidarpaktes I die Weichen in den neuen Uin­dern neu zu stellen und Konsequenzen aus den bisherigen Erfahrungen zu ziehen. Korrekturbedarf beim Aufbau im Osten sehen wir im Bereich der Forderpolitik gewerblicher Investitionen. Trotz der erheblichen Mit­tel, die hier bislang eingesetzt wurden, mtissen die bisher erzielten Er­gebnisse als eher bescheiden bezeichnet werden. In Westdeutschland, wo man seit 1970 ebenfalls mit dem GA-Instrument Gemeinschaftsauf­gabe "Forderung der regionalen Wirtschaftsstruktur" versucht hat, wirt­schaftlich schwache Regionen voranzutreiben, waren die Erfahrungen ebenfalls mehr als erntichternd. Das Volumen und die Vielzahl existie­render Forderprogramme sowie die Zersplitterung der Zustandigkeiten fiihren zu einem groBen Mangel an Transparenz und mindern deren Ef­fizienz erheblich. Das fiihrt auch dazu, dass es erhebliche Moglichkeiten und Anreize gibt, Fordermittel intentionswidrig auszunutzen. Die For­derpolitik muB einem strengen ex-ante und ex-post Monitoring (Evalua­tion) unterworfen werden, das nur auBerhalb der Politik und der Verwaltung durchgefiihrt werden kann und dessen Ergebnisse der Offentlichkeit zuganglich gemacht werden mtissen. Angesichts der tippig flieBenden Fordermittel ist die Gefahr einer Fehllenkung der Mittel sehr groB, sie reicht von der Durchfiihrung von Prestigeprojekten mit klar erkennbaren Defiziten an Entwicklungsimpulsen bis hin zu einem kaum noch tiberschaubaren Forderwirrwarr in den Landern, so dass sich selbst Experten noch uneinig tiber das genaue Transfervolumen in die neuen Lander sind. 12

Es ist unseres Erachtens davon auszugehen, dass die Forderung im ge­werblichen Bereich in erheblichem Umfang durch Mitnahmeeffekte in ihrer Effizienz gemindert wird und daher zusiitzliche Investitionen und

12 Eine gute Darstellung der Transfelllroblematik findet man bei Boss und Rosenschon (1996).

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Jobs durch die gewerbliche Investitionsforderung nur in quantitativ ge­ringem Umfang geschaffen werden. Ferner ist nicht auszuschlieBen, dass die Forderkonkurrenz der Lander zum Teillediglich zu einer reg i­onalen Umverteilung von Jobs und Investitionen zwischen den Uindern fuhrt. Es ist mehr als zweifelhaft, ob Investitionen, die ohne Forderung nicht getatigt werden, tiberhaupt zu nachhaltigen unternehmerischen Ta­tigkeiten fuhren. Die positiven Effekte der Forderung gewerblicher In­vestitionen im Rahmen der GA liegen wohl ausschlieBlich in den damit verbunden Liquiditatseffekten, die sich auch mit Darlehensinstrumenten im Rahmen der Regionalforderung billiger erzielen lassen, und weniger im Setzen von Anreizen fur zusiitzliche Investitionen. Die Gefahr hoher Mitnahmeeffekte ist dabei weitgehend unabhangig davon, ob es sich urn Investitionszuschtisse (hier gibt es eine Einzelentscheidung tiber die Ge­wahrung der Subvention) oder Zulagen (hier hat der Investor einen Rechtsanspruch, wenn er im relevanten Branchenfeld einer gefOrderten Region investiert) handelt, siehe Hempold (1998).

Es ware daher zu tiberlegen, die Mittel im Rahmen der Gemeinschafts­aufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" in Ost­deutschland zUrUckzufahren und die gesparten Mittel im Rahmen des Bundesverkehrswegeplans sowie der Investitionszuweisungen des Bun­des an die Lander zweckgebunden fur den schnelleren Ausbau der wirt­schaftsnahen Kerninfrastruktur (also insbesondere der Bundes-, Landes­und GemeindestraBen, aber auch Schienenwege usw., nicht aber eine flachendeckende Versorgung mit SpaBbadern und Tiergarten) zu ver­wenden. Dauerhaft gleiche Chancen im Standortwettbewerb der Regio­nen und damit die Verbesserung der Bedingung zur Schaffung gleich­wertiger Lebensverhaltnisse im Raum sind nur erreichbar, wenn die Angebotsbedingungen im Raum angeglichen werden. Eine solche Um­orientierung der Forderpolitik hatte auch eine Vielzahl von weiteren Vorteilen: Man durchbricht die Subventions- und Fordermentalitat in der privaten Wirtschaft.

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150 Seitz

Den politischen Interessenvertretern wird die Moglichkeit genommen, sich durch das Verteilen von Fordergeschenken zu Lasten der Effizienz politische Vorteile zu verschaffen (ausdiinnen der sogenannten "Minis­terriechspur").

Der Handlungsdruck auf die politisch Verantwortlichen vor Ort wird re­duziert, Fordermittel aus sozialpolitischen Grunden auch fur nicht iiber­lebensfahige Betriebe ausgeben zu miissen. Vielfach haben FordermaB­nahmen eher eine sozial- als wirtschaftspolitische Komponente.

Infrastrukturpolitik ist flachendeckende Angebotspolitik und verbessert die Standortbedingungen von Regionen nachhaltig und erhoht die Wett­bewerbsfahigkeit von bereits vorhandenen Betrieben und potentiellen Neuansiedlungen.

Die ohnehin langfristig erforderlichen Investitionen im Bereich der Ver­kehrsinfrastruktur werden zeitlich vorgezogen und damit wird auch ein Beitrag zur Stabilisierung der Beschaftigung im Baubereich erreicht.

Diese Strategie impliziert die Abwendung von der massiven direkten Forderung einzelner gewerblicher Projekte hin zu einer Strategie der Optimierung infrastruktureller Rahmenbedingungen, in die die private Aktivitat selbst hineinwachsen muss. Die auf den gewerblichen Bereich zielenden FordermaBnahmen, soweit diese aufrechterhalten werden, sollten weitgehend auf die Bereitstellung von Risikokapital und Liquidi­tatshilfen (z.B. mit Darlehen) bei Neugriindungen und damit auf Riick­zahlbarkeit umgestellt werden und sich auf die zentralen Bereiche kon­zentrieren, bei denen ostdeutsche Betriebe und Existenzgriinder Defizite haben: Der zu geringen Eigenkapital- bzw. Risikokapitalausstattung in der Griindungsphase und der Beseitigung von Standortnachteilen im Infrastrukturbereich.

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Wachstum, Konjunktur und Beschaftigung in den neuen Bundeslandem 151

Literatur:

BosslRosenschon (1996), Offentliche Transferleistungen zur Finanzierung der deutschen Einheit: Eine Bestandsaufnahrne, Kieler Diskussionspapier Nr. 269, IfW Kiel.

Bundesrninisterium rur Wirtschaft (1999), Dokumentation zur Wirtschaftslage und Reformprozesse in Mittel- und Osteuropa, Sammelband, Dokumentation Nr.459, Berlin.

DIW (1994), Wechselwirkungen zwischen Infrastrukturausstattung, strukturellem Wandel und Wirtschaftswachstum, DIW-Beitrage zur Strukturberichterstattung, Heft 151.

DIW/lfW/IWH (1999), Gesamtwirtschaftliche und untemehrnerische Anpassungs­fortschritte in Ostdeutschland: Neunzehnter Bericht, IWH, Halle.

Hempold, G. (1998), Zulagen - Zuschiisse - Darlehen? Zur Qualitat regionalpolitischer Instrumente, in: Wirtschaft im Wandel Heft 11/98, IWH, S. 4-8.

Seitz, H. (1998), "Migration, Arbeitsmarkt, Wirtschaft und Offentliche Finanzen in Brandenburg und in den anderen ostdeutschen Landem", Discussion-Paper, Europa­Universitat.

Seitz, H. (1999), Offendiche Finanzen in den neuen Llindem, in: IFO-Schnelldienst.

Seitz, H. (1999), Die Bedeutung der Infrastruktur fill den Aufbau in Ostdeutschland, Manuskript, Europa-Universitat.

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Vierter Teil

Politik- und sozialwissenschaftliche Perspektiven

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Klaus Ziemer'

Innen- und auBenpolitische Lemprozesse in Polen in den neunziger lahren

1. Die Entwicklung des politischen Institutionensystems ................................... 157

2. Wahlsystem und Parteiensystem ..................................................................... 160

3. Die positive W irtschaftsentwicklung .............................................................. 163

4. Der Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit .................................. 167

5. Die au/3enpolitischen Veranderungen ............................................................. 168

• Prof. Dr. Klaus Ziemer, Direktor des Deutschen Historischen Instituts Warschau

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Innen- und auBenpolitische Lemprozesse in Polen in den neunziger lahren 157

Das spektakulirrste Ereignis des Jahres 1989 war zweifellos der Fall der Berliner Mauer. Wenn wir uns in diesen Tagen aus An1ass des 10. Jah­restages in besonderer Weise daran erinnem, gerat 1eicht in Vergessen­heit, dass im Friihjahr 1989 in Polen ein Ereignis stattfand, das eine wich­tige Voraussetzung fUr das Offnen der Mauer bildete. Die Dynamik, die die politischen Veranderungsprozesse im Herbst 1989 in Ostmitte1europa und auch in der DDR entfalteten, ist nicht verstandlich ohne den von Feb­ruar bis April 1989 in Polen tagenden Runden Tisch, ohne die ihm fo1-genden ha1bfreien Wahlen und die Bildung der ersten nichtkommunisti­schen Regierung Mazowiecki.

lch mochte im fo1genden eine kurze Bilanz von zehn Jahren Dritter Re­pub1ik in Polen ziehen, zehn Jahre, die auch durch die Suche nach biswei­len sehr schwer zu findenden Losungen im politischen und wirtschaftli­chen Bereich, durch Erfolge, aber auch Fehler und Korrekturen gekenn­zeichnet waren. 1m Einzelnen mochte ich kurz auf Fragen des politischen Institutionen- und des Parteiensystems, auf Veranderungen po1itischer Einstellungen der po1nischen Gesellschaft und den Wandel von Optionen im Bereich der AuBenpolitik eingehen.

1. Die Entwicklung des politischen Institutionensystems

Der Runde Tisch war das Ergebnis eines langer dauemden Lemprozesses sowohl der reformorientierten Eliten innerha1b der Po1nischen Vereinig­ten Arbeiterpartei als auch des kompromissbereiten Fliigels der Oppositi­on, der die bestehende realsozialistische Ordnung als Ausgangspunkt ak­zeptierte, urn Staat und Gesellschaft in seinem Sinne zu verandem. Der Einberufung des Runden Tisches lag die nach dem F ehlschlag des Refe­rendums vom Herbst 1987 und den Streiks vom Mai und August 1988 gewonnene Erkenntnis zugrunde, dass die Legitimitatsbasis der von der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei gefUhrten Regierungen nicht aus-

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158 Ziemer

reichte, in Polen notwendige, aber mit harten Verlusten an Realein­kommen verbundene Wirtschaftsreformen durchzufuhren. 1

Auch wenn der Verlauf der Verhandlungen keineswegs immer gradlinig war, so wurde am Runden Tisch im Ergebnis doch mit kreativer Fantasie die Frage gelOst, wie einerseits als legitim anerkannte Wahlen durchge­fiihrt wiirden konnten, ohne dass andererseits die Kommunisten sofort die Macht verloren. Die Losung dieser Frage bestand in der Schaffung einer zweiten Parlamentskammer, des Senats, zu dem die Wahlen auch nach westlichen Kriterien frei waren, der aber deutlich geringere Kompetenzen erhielt als die erste Kammer, der Sejm. FUr ihn wurde von vornherein eine Mehrheit von 65% der Sitze fur die bisherige Koalition aus Vereinigter Arbeiterpartei und ihren bisherigen sog. Biindnispartnem vereinbart.

Waren diese Regelungen nur fUr die Wahlen des Jahres 1989 vorgesehen, so pragen andere am Runden Tisch und in der damaligen besonderen Konstellation getroffene Entscheidungen das politische Institutionen­system bis heute. Zu ihnen zahlt die Einfuhrung eines semiprasidentiellen Systems nach dem Muster der V. Franzosischen Republik. Ein derartiges Institutionensystem entsprach am ehesten dem damaligen Erfordemis, die Macht von Parteiinstanzen auf staatliche Institutionen zu iibertragen und damit die Rechtsstaatlichkeit zu starken. General Jaruzelski erhielt einen GroBteil der Kompetenzen, die er bisher als Parteichef innehatte, nun als Staatsprasident. Er war als personelles Bindeglied zwischen dem alten und dem neuen System unverzichtbar, da die realsozialistischen Nachbam Polens mit groBem Misstrauen auf die dortige politische Entwicklung schauten. Das neue politische Institutionensystem war ganz auf die Person General Jaruzelskis zugeschnitten, da er gegeniiber den bisherigen Biind­nispartnem zumindest die auBen- und militarpolitische Loyalitat Polens personifizierte. Sein Amt wurde daher mit entsprechenden Kompetenzen in der AuBen-, Verteidigungs- und Innenpolitik (fur Polizei und Staatssi­cherheit zustandiges Ressort) ausgestattet.

Die Pramissen, unter denen die Vereinbarungen des Runden Tisches zu­stande gekommen waren, waren bereits wenige Monate spater vollig ver-

I Zum Runden Tisch vgl. u.a. Claudia Kundigraber: Polens Weg in die Demokratie. Der Runde Tisch und der unerwartete Machtwechsel, Giittingen (Cuvillier Verlag) 1997.

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Innen- und auBenpolitische Lemprozesse in Polen in den neunziger ]ahren 159

andert. Der iiberwaltigende Wahlsieg der "Solidamosc" ebnete den Weg fUr die Bildung der ersten nichtkornrnunistischen Regierung in der Region unter Premienninister Mazowiecki, und mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Ostmitteleuropa und dann mit dem Zerfall der Sowjetunion anderten sich auch die auBenpolitischen Rahmenbedin­gungen grundlegend. Dies hatte nachhaltige Riickwirkungen auch auf die innenpolitische Entwicklung in Polen. General Jaruzelski, der in allge­meinen Wahlen keine Chance besessen hatte, Staatsprasident zu werden, wurde durch das gemeinsame Gremium von Sejm und Senat, in dem die Anhanger des bisherigen Systems eigentlich eine klare Mehrheit besaBen, nur mit hauchdiinner Mehrheit gewahlt. Er nahm daher die umfangreichen Kompetenzen des Staatsprasidenten, die von der "Solidamosc" am Run­den Tisch heftig kritisiert worden waren, nicht in extenso wahmehmen konnte. Nach der Selbstauflosung der Polnischen Vereinigten Arbeiter­partei Anfang 1990 sah er ein, dass seine Zeit als Staatsprasident abgelau­fen war und trat knapp fUnf Jahre vor Ablauf seiner Amtszeit zurUck.

Dass das nur aus der Genese am Runden Tisch heraus verstandliche neue politische Institutionensystem Schwachen hatte, war alleine am Ver­schleiB der Regierungen abzulesen, der den Vergleich mit Italien nicht zu scheuen brauchte.2 Da die ursprunglich fUr den 3. Mai 1991 - den 200. Jahrestag der ersten geschriebenen Verfassung Europas - geplante neue Verfassung in immer weitere Feme rUckte, wurde im Herbst 1992 die sog. Kleine Verfassung verabschiedet, die vor all em das Verhaltnis zwischen Prasident, Parlament und Regierung neu regelte.3 Zur Starkung der Regie­rung wurde das konstruktive Misstrauensvotum eingeftihrt, allerdings nicht als einzige Moglichkeit, eine Regierung abzulOsen. Die bisherige Regelung, eine Regierung durch "nonnales" Misstrauensvotum zu stiir­zen, wurde beibehalten, und nur wenige Monate spater wurde die Regie­rung von Hanna Suchocka mit nur einer Stirnrne Mehrheit auf eben diese

2 Von Sommer 1989 bis Herbst 1997 acht Regierungschefs, dazu zwei vom Sejm gewahlte Regierungschefs (General Kiszczak im Sommer 1989 und Waldemar Pawlak im Juni 1992), die keine Regierungsbildung zu­stande brachten.

3 Mohlek, Peter: Verfassung der Republik Polen vom 17. Oktober 1992. Einflihrung, in: Dietrich Frenzke (Hrsg.): Die Gesetzgebung der Staaten Osteuropas, Berlin (Berlin Verlag Amo Spitz), 12. Erganzungslieferung 1993.

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Weise gestiirzt. Dies bildete eine wichtige Erfahrung, die dazu fuhrte, dass in der 1997 verabschiedeten Verfassung nur noch das konstruktive Misstrauensvotum als Moglichkeit zum Sturz einer Regierung zugelassen wurde. Es bedarf wenig Vorstellungskraft, dass die gegenwiirtige Regie­rung Buzek bei den zahlreichen inneren Spannungen, denen sie ausgesetzt ist, Hingst gestiirzt worden ware, gabe es in der Verfassung von 1997 nicht die Einrichtung dieses konstruktiven Misstrauensvotums.

Auch in anderen Bereichen hat die neue Verfassung Konsequenzen aus bisher nicht immer funktionalen Kompetenzverteilungen gezogen. Die aus der Situation des Runden Tisches heraus entstandene Bestimmung, der Prasident besitze ein Recht auf Mitsprache bei der AuBen-, Innen- und der Verteidigungspolitik hatte Prasident Wales a nach dem Wahlsieg der Linken 1993 genutzt, urn in extensiver Interpretation der Verfassung kon­servativ orientierte Politiker fUr den Posten des Innen-, AuBen- und Ver­teidigungsministers in einem links orientierten Kabinett durchzusetzen. Mehrere Konfliktsituationen bei Vakanzen dieser Ressorts lOsten fast Staatskrisen aus. In der Verfassung von 1997 wurde dem Prasidenten das Recht auf Mitsprache bei der Innen- und Verteidigungspolitik entzogen. Er wirkt nach dem neuen Wortlaut zusammen mit dem Premierminister und dem zustandigen Minister nur bei der AuBenpolitik mit. Auch diese Bestimmung setzt allerdings eine Abstimmung zwischen den betroffenen drei Personen und ihren Institutionen voraus, was nicht immer einfach ist.

2. Wahl system und Parteiensystem

Lehrgeld zahlte die junge Demokratie auch bei der Gestaltung des Wahl­systems. In den ersten freien Wahlen zum Sejm 1991 wurden kleinere Parteien, insbesondere soIche mit regionalen Hochburgen, so stark be­gUnstigt, dass nicht weniger als 29 Parteien in den Sejm einzogen, etliche mit nur einem einzigen Vertreter, wahrend die starkste Partei in ganz Po­len auf gerade 12% der giiltigen Stimmen kam. Die Regierungsbildung wurde hierdurch derart erschwert, dass das Parlament sich zur EinfUhrung einer landesweiten Fiinf-Prozent- bzw. bei Wahlkoalitionen so gar Acht-

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Prozent-Klausel durchrang, von der nur Parteien nationaler Minderheiten ausgenommen sind. Der Eindruck der damaligen Zersplitterung des Par­teiensystems war so nachhaltig, dass das Wahlgesetz sogar Regelungen fur den Fall vorsieht, dass keine, nur eine oder zwei Parteien die Fiinf­Prozent -Hiirde iiberwinden.4

Das neue Wahlgesetz wirkte zwar ganz im Sinne einer Konzentration des Parteiensystems, doch hatten etliche Politiker des aus der "Solidarnosc" hervorgegangenen, in sich aber stark zerstrittenen und zersplitterten Mit­te-Rechts-Lagers nicht begriffen, dass sie selbst Opfer dieser Regelung werden konnten. Sie traten so zersplittert an, dass mehrere Parteien das erforderliche Quorum knapp verfehlten und insgesamt rund 35% der ab­gegebenen giiltigen Stimmen ohne Vertretung im Parlament blieben - und dies bei einem Proporzsystem. Eine Folge hiervon war, dass die Nachfol­gegruppierung der friiheren Kommunisten (SLD) und ihre gewendeten friiheren Biindnispartner, die Bauernpartei PSL, mit zusammen 35,8% der giiltigen Stimmen auf 66% der Mandate kamen.

Der vieIjahrige Ausschluss aus dem Sejm einerseits und andererseits die Erfahrung, dass das zum zweiten Wahlgang der Pdisidentschaftswahlen 1995 noch einmal weitgehend vereinte "Solidarnosc"-Lager beinahe er­folgreich war, veranlasste den "Solidarnosc"-Vorsitzenden Marian Krzaklewski, mit der "Wahlaktion Solidarnosc" (AWS) eine Sammlungs­bewegung zu grunden, die sich organisatorisch vor allem auf die Gewerk­schaft "Solidarnosc" stiitzt, intern aber in mehr als 20 Parteien und Grup­pierungen differenziert war und ist.5 Das Wahlergebnis von 1997, das die A WS mit 33,85% der giiltigen Stimmen gewann, wahrend die SLD auf 27,1 % kam und die Freiheitsunion von Ba1cerowicz, Mazowiecki, Gere­mek und anderen 13,4% erhielt, deutete auf die Entwicklung eines bipola­ren Parteiensystems mit einer rechten und einer linken Volkspartei sowie

4 Vgl. u.a. Klaus Ziemer: Das Parteiensystem Polens, in: Dieter Segertl Richard Stoss/ Oskar Niedermayer (Hrsg.): Parteiensysteme in postkommunistischen Gesellschaften Osteuropas, Wiesbaden/Opladen 1997, S. 39-89, hier S. 46ff.

5 Zur AWS vgl. u.a. Leszek Graniszewski: AWS - sojusz prawicy demokratycznej (Die AWS - ein Biindnis der demokratischen Rechten), in: Stanislaw Gebethner: Wybory '97. Partie i programy wyborcze (Wahlen '97. Parteien und Wahlprogramme), Warszawa 1997, S. 59-85.

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einer liberalen Mitte hin. Die drei genannten Parteien vereinigten knapp 75% der giiltigen Stimmen sowie 87,2% der Sitze auf sich. Nach zwei Jahren Erfahrung nach den Wahlen von 1997 sieht es jedoch so aus, als habe das damalige Wahlergebnis eher eine Scheinkonsolidie­rung des Parteiensystems angezeigt. A WS und Freiheitsunion bildeten zwar eine bis heute wahrende Koalitionsregierung, doch deren zahlreiche Krisen sind nicht zuletzt darauf zurUckzufUhren, dass es nicht gelungen ist, die in der A WS vertretenen teilweise sehr heterogenen Gruppierungen zu einer echten Einheit zu integrieren. rhre permanenten intemen Zwistigkeiten, aber auch sHindige Auseinandersetzungen zwischen den Koalitionspartnem haben das Ansehen der A WS stark sinken lassen. Wtirden heute Parlamentswahlen abgehalten, mtisste die A WS mit einer Halbierung ihres Stimmenteils rechnen, wahrend die SLD vielleicht so gar mit der absoluten Mehrheit der Sitze rechnen konnte.6

Gelemt haben in den neunziger Jahren zumindest die Wahler. Sie sind zwar unzufrieden mit ihren Politikem und drUcken dies nicht nur in Mei­nungsumfragen, sondem auch in niedriger Wahlbeteiligung aus, die deut­lich unter der in Deutschland, auch in den neuen Bundeslandem, liegt. Die mit Abstand hochste Wahlbeteiligung gab es bei dem polarisierenden zweiten Wahlgang der Prasidentschaftswahlen 1995 mit 68,2%, wahrend bei den Parlamentswahlen 1991 nur 43,2% erreicht wurden. Die Beteili­gung beim Referendum tiber die neue Verfassung am 25. Mai 1997 betrug gar nur 42,86%. Bei den Parlamentswahlen 1997 nahmen 47,9% der Stimmberechtigten an der Wahl teil. Bei einer eine Woche spater durch­gefUhrten Wahlnachfrage gaben aber 65% an, gewahlt zu haben.7 Beruck­sichtigt man, dass etwa ein Drittel der Polen an Politik vollig desinteres­siert ist, so zeigt sich, dass der Rest - und damit die groI3e Mehrheit -weiI3, was sich eigentlich gehort.

War es bei den Prasidentschaftswahlen im Jahre 1990 moglich, dass ein kurz zuvor vollig unbekannter politi scher Scharlatan namens Stanislaw

6 Nach einer Yom Meinungsforschungsinstitut PBS am 11. und 12. Marz 2000 durchgefiihrten reprasentativen Erhebung kame die SLD auf 46% der Stimmen, die A WS auf 18, die Freiheitsunion auf 13, die PSL auf 8 und die sich a1s eine Art Labour Party verstehende Arbeitsunion (UP) auf 6% der Stimmen; vgl. Rzeczpospolita 22.3.2000.

7 Vgl. DohlCZYC do orkiestry (Sich dem Orchster anschlieBen), in: Rzeczpospolita 4.10.1997.

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Tyminski mit utopischen und teilweise wirren Versprechungen in die Stichwahl gelangte, so scheint ein vergleichbarer Vorgang heute ausge­schlossen. Das politische Urteilsvennogen der 1990 in demokratischer Praxis vollig unerfahrenen Gesellschaft hat erblich zugenommen und wird weiter gescharft auch durch die bisweilen recht kritische Berichterstat­tung, Kommentierung und Diskussionsforen in den polnischen Massen­medien.

3. Die positive Wirtschaftsentwicklung

Einen besonders positiven Akzent in der Bilanz von zehn Jahren Trans­fonnation in Polen setzt tiberraschenderweise die Wirtschaft. Uberra­schenderweise deswegen, weil die strukturellen Schwachen der Wirt­schaft vor zehn Jahren so gravierend waren, dass sie einen wichtigen, wenn nicht gar den wichtigsten Einzelfaktor rur den Zusammenbruch des kommunistischen Systems bildeten. Die Ratio des Runden Tisches ging voll auf, eine Regierung zu bestellen, die zu Wirtschaftsrefonnen fahig ware, auch wenn diese mit schmerzhaftem Konsumverzicht verbunden waren. Die von Finanzminister Leszek Balcerowicz konzipierten und zum 1. Januar 1990 in Kraft gesetzten Refonnen, die mit einem harten Schnitt Marktwirtschaft einfiihrten, ruhrten zu einem Absinken der Realeinkom­men urn rund 25%. Eine solche Veranderung, die bei einer im Vergleich zu Deutschland unvergleichlich niedrigeren AusgangsgroBe eintrat, un­tenninierte die neue Ordnung nicht. Premienninister Mazowiecki hatte den Polen keine "bltihenden Landschaften", sondem SchweiB und An­strengungen auf lange Jahre vorhergesagt. Entsprechend sank trotz der schmerzhaften Veranderung der Realeinkommen das Ansehen der neuen Regierung keineswegs, sondem hielt sich mehrere Monate bei 80% Zu­stimmung, einem Wert, von dem Regierungen im Westen selbst bei opti­malen Voraussetzungen nur traumen konnen. Erst als die erwarteten posi­tiven Veranderungen sich nur auf der makrookonomischen Ebene, nicht aber auch im Portemonnaie des Einzelnen bemerkbar machten, sank die Zustimmung zur Regierung Mazowiecki ab Mitte 1990. Der politische Vertrauensvorschuss, mit dem die neue Regierung nach den systemspren-

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genden Wahlen von 1989 ausgestattet worden war, war nach einem guten halben Jahr aufgebraucht. Durch die systemverandemden Reformen wur­de jedoch nicht die neue Ordnung als solche diskreditiert. Vielmehr stan­den nur die Wege zur Diskussion, auf denen diese neue soziookonomi­sche Ordnung erreicht werden sollte.

Vor zehn Jahren war die Frage heftig umstritten, ob der Ubergang von ei­ner zentralistischen Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft besser mit ei­nem schmerzhaften Schnitt zu vollziehen sei, der rasch wirkende Selbst­heilungskrafte der Wirtschaft nach sich ziehe, oder besser mit einer gradualistischen Strategie, die zwar langer dauere, daflir aber die sozialen Kosten minimiere. Hierflir standen keine Erfahrungswerte zur Verfligung. Blickt man auf das vergangene Jahrzehnt zuriick, scheint unstrittig, dass flir Polen die von Leszek Balcerowicz gewahlte Variante, die der schnel­len und zunachst schmerzhaften Operation, des sog. "big bang", erfolg­reich war. Zwar waren die Kosten zunachst sehr hoch, wie schwere Ein­bruche sowohl beim Bruttosozialprodukt als auch bei den Realein­kommen zeigten. Ab 1992 begann j edoch das Bruttosozialprodukt und ab Mitte der neunziger Jahre auch die Realeinkommen wieder zu wachs en, und dies bis heute.

Der enorme Unterschied im Erfolg der soziookonomischen Reformen in Polen und in Russland zeigt sich bei Meinungsumfragen. Lautet die Ant­wort auf die Frage: "Wie geht es Ihnen heutzutage wirtschaftlich?" in beiden Fallen gleichlautend: "schlecht", so zeigt sich der Unterschied in der Antwort auf die Frage: "Und wie wird es Ihnen in flinf Jahren ge­hen?" In Russland lautet die haufigste Antwort: "Noch schlechter", was den tiefen Pessimismus der russischen Gesellschaft hinsichtlich des dorti­gen Transformationsweges uberhaupt reflektiert. In Polen dagegen heiBt die Antwort auf die Perspektiven in flinf Jahren: "Viel besser". Dies be­legt, dass die - auch durch zahlreiche auslandische Gutachten bekraftigte - Meinung vorherrscht, die Gesellschaft habe das Schlimmste hinter sich, und nun stehe ein kontinuierlicher Aufschwung bevor. Das Wirtschafts­wachstum hat sich etwas abgeschwacht und liegt bei etwa 5%. Die regio­nal allerdings sehr unterschiedliche Arbeitslosigkeit war landesweit schon auf 10% abgesunken und liegt gegenwartig bei rund 13%. Auch in Polen wird eingeraumt, dass die mit der Einflihrung der Reformen verbundenen

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hohen sozialen Kosten nur in der Euphorie von 1989/90 tragbar waren, heute aber politisch nicht mehr durchsetzbar waren. Gleichwohl haben diese harten Eingriffe die wirtschaftliche Entwicklung Polens so weit vor­an gebracht, dass das Land heute in der Einschatzung intemationaler Or­ganisationen einen, wenn nicht den Spitzenplatz unter den Transformationslandem einnimmt.

1989/90 bestand nicht nur unter westlichen Experten die Sorge, ob die Euphorie, die den politischen Systemwechsel in Polen zunachst getragen hatte, angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Lage Polens durch eine hinreichende soziookonomische Legitimierung fUr das neue System mittel- und langfristig gestiitzt wiirde. Ende der neunziger Jahre zeigte sich, was 1989 niemand vermutet hatte, dass bei der Einschatzung der positiven Veranderungen seit 1989 die Wirtschaft mit 61 % besser abschnitt als die innenpolitische Entwicklung (51 %), iibertroffen nur durch die Bewertung der Veranderung der Beziehungen zu anderen Landem (76%).8 Dennoch war der Wahlsieg der Linken 1993 zu einem groBen Teil da­durch bedingt, dass diese versprach, die Wirtschaftsreformen in einem langsameren und sozial vertraglicheren Tempo durchzufUhren. Eine Leh­re, die die Regierungen aus SLD und Bauempartei aus ihrem Wahlsieg zogen, war, dass die bisherigen Reformen zwar nicht in Frage gestellt, a­ber dringend erforderliche weitere nicht in Angriff genommen wurden, weil man negative Reaktionen bei der eigenen Wahlerschaft beflirchtete. Das Ergebnis war ein Reformstau, der so zentrale Bereiche wie das Ge­sundheitswesen, die Sozialversicherung, die Verwaltungsgliederung des Landes und nicht zuletzt die Landwirtschaft betraf. Die gegenwlirtige Re­gierung hat dieses Problem erkannt. Mit der fast gleichzeitigen EinfUh­rung von vier teilweise einschneidenden Reformen zu Jahresbeginn 1999, namlich einer Dezentralisierung in der Verwaltungsgliederung des Lan­des, einer Neuordnung der Sozialversicherung, des Gesundheits- und des Bildungswesens hat sie jedoch die Leistungsfahigkeit des Staatsapparates

8 Vgl. CBOS: Oceny transformacji od 1989 roku. Komunikat z badar'! (Einschatzungen der Transformation seit 1989. Forschungsmittei1ung), Warszawa, Ju1i 1998 (BS 92/92/98).

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offensichtlich iiberstrapaziert, so dass Mangel bei der DurchfUhrung die-ser Reformen in den Medien zum Teil heftig kritisiert wurden.9 •

Das ausHindische Kapital verhielt sich mit Investitionen in Polen zunachst auBerst zurUckhaltend. Offensichtlich schreckten die haufigen Regie­rungswechsel. Ais jedoch deutlich wurde, dass die Rahmenvorgaben fUr die Wirtschaftspolitik auch bei wechselnden Regierungen stabil blieben und eine Wirtschaft von knapp 40 Millionen Konsumenten in eine krafti­ge Wachstumsphase eintrat, avancierte Polen ab Mitte der neunziger Jahre zum beliebtesten Zielland fUr auslandisches Kapital im friiheren RGW­Bereich. Von 1989 bis 1995 flossen nur 6,8 Mrd. USD nach Polen. Bis 1999 erhohte sich dieser Betrag auf 38,9 Mrd. USD. Auch deutsche Fir­men haben sich erst relativ spat, dann allerdings in urn so groBerer Zahl und mit groBen Summen in Polen engagiert. Die deutschen Direktinvesti­tionen belief en sich Ende 1999 auf 6,1 Mrd. USD oder 17,1 % aller Aus­landsinvestitionen in Polen.1O Die Zahl der Mitglieder der deutsch­polnischen Industrie- und Handelskammer in Warschau stieg in den letz­ten Jahren aufiiber 500.

Verandert hat sich in den neunziger Jahren die Einstellung der polnischen Gesellschaft zu auslandischen Investitionen im Lande. Wurden sie an­fangs als eine Bedrohung der wirtschaftlichen Souveranitat des Staates wahrgenommen, der gerade von der Sowjetunion wirklich unabhangig geworden war, so wird heute die positive, ja fUr die wirtschaftliche Wei­terentwicklung geradezu unverzichtbare Rolle auslandischer Investitionen in Polen auch von breiteren Kreisen der Bevolkerung gesehen. Deutliche Vorbehalte gibt es nur gegeniiber dem Kauf von Grund und Boden durch Deutsche, doch betrifft dies nicht Gelande fUr Firmengebaude und Pro­duktionsstatten.

9 Dies gilt besonders flir die Reform des Gesundheitswesens.Vgl. u.a. Pawel Walweski: Przychodzi baba do lekarza (w rok po reformie) (Kommt die Frau zum Arzt - ein Jahr nach der Reform), in: Polityka 10,4.3.2000, S.3-9.

10 Andrzej Kaniewski: Zuriickhaltung und Optimismus, in: Wirtschafts-Nachrichten. Zeitschrift der deutsch­polnischen Handelskammer, April 2000, S. 14-18.

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4. Der Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit

Einen Lemprozess besonderer Art hat die polnische Gesellschaft, genau­er: die aus dem "Solidamosc"-Lager stammenden politischen Eliten, hin­sichtlich ihres Umgangs mit der kommunistischen Vergangenheit des Landes durchlaufen. Dass der Ubergang zur Demokratie mit den Eliten des alten Regimes ausgehandelt und nicht auf revolutionarem Wege wie etwa in der Tschechoslowakei erreicht wurde, fiihrte zur yom ersten nichtkommunistischen Regierungschef Tadeusz Mazowiecki so genann­ten Politik des "dicken Strichs". Niemand sollte nur wegen seiner Zuge­horigkeit zur Kommunistischen Partei bestraft werden, sondem nur, wer sich tatsachlich strafrechtlich relevante Vergehen hatte zuschulden kom­men lassen. Anders als in der Tschechoslowakei wurde somit niemand flir eine bestimmte Zeit von Offentlichen Amtem ausgeschlossen. Und es er­hielt niemand Einblick in die seine Person betreffenden Alden beim Staatssicherheitsdienst, was geradezu mit dem "Offnen einer Pandora­Btichse" verglichen wurde. 11

Nach dem Wahlsieg der Linken 1993 und der Riickkehr zahlreicher alter Kader in Fiihrungspositionen wurde der Ruf nach einer Durchleuchtung der Vergangenheit von Personen des Offentlichen Lebens immer lauter. Sie sollten auf ihre Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst in der Volksrepublik iiberpriift werden. Es dauerte bis 1996, ehe ein Gesetz verabschiedet wurde, nach dem der Staatsprasident, der Ministerprasident und die Mitglieder der Regierung sowie hohe Beamte, die Mitglieder des Parlaments und Kandidaten zu Sejm und Senat, Richter und Staatsanwal­te, Rechtsanwalte und andere verpflichtet wurden, eine Erklarung zu ihrer Zusammenarbeit mit dem friiheren Geheimdienst abzugeben. Gibt eine Person eine solche Zusammenarbeit zu, entscheidet der Vorgesetzte bzw. der Justizminister oder im Falle von Parlamentskandidaten der Wahler dariiber, ob diese Person ihr Amt we iter austiben kann oder nicht. Stellt sich heraus, dass die betreffende Person unwahre Angaben gemacht hat, verliert sie automatisch ihr Amt. Diese Regelungen haben sich in der Pra-

II So anfangs u.a. Andrzej Szczypiorski, der seine Meinung spater grundlegend revidierte.

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xis bisher als recht zweischneidig erwiesen. Immerhin haben Ende 1999/ Anfang 2000 die ersten Parlamentsabgeordneten (aus allen politischen Lagem) aufgrund unrichtiger Angaben zu ihrer Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst zu kommunistischen Zeiten ihre Amter verloren.

Bezuglich des Rechts auf Einsicht in die eigenen Alden haben sich nach heftiger Offentlicher Diskussion im Parlament die Beflirworter einer Lo­sung nach deutschem Vorbild durchgesetzt. Ein nach dem Muster der Gauck-Behorde konzipiertes Institut des Nationalen Gedenkens wird zwar gegenwmig aufgebaut, ist aber noch nicht vollstandig konstituiert und hat aufgrund heftiger parteipolitischer Kontroversen uber die Person seines Vorsitzenden seine Tatigkeit noch nicht aufgenommen.12

5. Die auBenpolitischen Veranderungen

AuBenpolitisch hatte Polen Anfang der neunziger Jahre eine sehr schwie­rige Phase zu durchstehen. Innerhalb von nur gut zwei Jahren blieb von den drei Nachbarstaaten des Landes keiner ubrig, und Polen hatte plOtz­lich sieben Nachbam. Mit diesem Prozess waren so einschneidende Ent­wicklungen verbunden wie die Vereinigung Deutschlands und der Zerfall der Sowjetunion. Gab es anfangs Stimmen, sowjetische Truppen sollten in Polen als Sicherheitsgarantie gegen Deutschland bleiben, so setzten sich sehr schnell diejenigen durch, die flir einen raschen Abzug der sowje­tischen und dann russischen Truppen pladierten. Dem Westen flihlte sich die groBe Mehrheit der Polen auch wahrend der Volksrepublik verbunden. Dem auch biindnispolitisch Ausdruck zu verleihen, war in der hochsen­siblen Zerfallsphase der Sowjetunion nicht moglich. Und als Prasident Wal~sa 1993 Boris Jelzin bei dessen Besuch in Warschau die Zustim­mung zum polnischen NATO-Beitritt abrang, reagierte der Westen hier­auf nicht. lelzin widerrief seine Zustimmung eine Woche spater, und Po-

12 Der Vorsitzende dieses Instituts muss vom Sejm mit einer Mehrheit von 60% gewahlt werden. Bis Ende Marz 2000 fand sich jedoch keine Mehrheit fiir einen Kandidaten, da die SLD ein solches Amt offenbar grund­slitzlich ablehnt und die Bauempartei gegeniiber allen bis zu diesem Zeitpunkt prasentierten Kandi-daten Vor­behalte auBerte. Kontroversen hinsichtlich einzelner Kandidaten bestanden freilich auch zwischen den Koaliti­onsparteien A WS und UW.

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len fiihlte sich wieder einmal vom Westen im Stich gelassen. Dass der NATO-Beitritt 1999 dann doch noch Wirklichkeit werden konnte, wird von vielen Polen als das wichtigste Ereignis des Jahrzehnts gewertet. Endlich sei das Land im "richtigen" Bundnis und auch vor dem unbere­chenbaren Russland sicher. Die Zustimmung zum NATO-Beitritt ist ti­berwaltigend, die Zahl der NATO-Gegner mikroskopisch klein.

Anders sieht es mit dem Beitritt zur EU aus. Hier gab es jahrelang beina­he ebenso hohe Zustimmungsraten wie zur NATO. Gegner des EU­Beitritts kamen fast nur aus dem national-klerikalen Lager. Sie fiirchteten urn Polens nationale Identitat. Die groBe Mehrheit dagegen betrachtete die Mitgliedschaft in der EU als eine Art automatische Garantie fUr ein weite­res Anwachsen des wirtschaftlichen Wohlstands. Seit dem Beginn der Beitrittsverhandlungen, seit erstmals konkrete Zahlen genannt werden und der hohe Preis sichtbar wird, der Polen bei den notwendigen Anpassungen nicht erspart bleiben wird, hat ein Lemprozess eigener Art eingesetzt. In der Gesamtgesellschaft ist die Zahl der Befurworter in den letzten beiden Jahren von 62% auf 47% gefallen, bei einzelnen Gruppen wie den Bauem liegt diese Zahl sogar nur im einstelligen Bereich. Dennoch bin ich sicher, dass sich nach einer ausftihrlicheren Diskussion die bereits jetzt erkennba­re Tendenz durchsetzen wird, dass Polen namlich zwar einen Preis flir Anpassungsprozesse an die EU wird zahlen mussen, dass sich dieser Preis aber mittel- und langfristig lohnt. Von daher glaube ich auch an einen po­sitiven Ausgang eines moglichen Referendums zum EU-Beitritt. Die Au­Ben- und Bundnispolitik wird in Umfragen regelmaBig als deIjenige Poli­tikbereich genannt, in dem es seit 1989 die positivsten Veranderungen gegeben habe.13

Einen erstaunlichen Wandel durchliefen die Einstellungen der Polen ge­genuber Deutschland. Bei der deutschen Vereinigung uberwogen Furcht und Unsicherheit. Die deutsche Einheit wurde von der Mehrheit eher als Bedrohung empfunden. Mit der endgtiltigen Anerkennung der Oder­NeiBe-Grenze und der aktiven Rolle der Bundesrepublik bei der Integrati­on Polens in die westlichen Kooperationsstrukturen anderte sich dies

13 Vgl. oben Anm. 8.

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rasch. Bereits von 1992 an zeigte sich in Meinungsurnfragen, dass der meistgewiinschte zurnindest europaische Partner fUr Zusammenarbeit im wirtschaftlichen, politischen und so gar militanschen Bereich Deutschland ist. Anders sah zunachst die Antwort auf die Frage aus, ob die Deutschen sympathisch seien. Bis Mitte der neunziger Jahre war die Antwort nega­tiv. Seit 1996 liegen die Deutschen aber auch bei den Sympathiewerten im positiven Bereich. Einen leichten Rtickschlag gab es nur 1998, vermut­lich als Reaktion auf AuBerungen der BdV -Vorsitzenden Steinbach und der an die Vertriebenen-Klientel gerichteten Resolution des Bundestages im Vorfeld der Bundestagswahlen. Bei analogen Befragungen 1999 lagen die Zahlen wieder bei den Werten von 1997, wobei die positiven Werte urn so hoher lagen, je jtinger die Respondenten waren. (Leider entspricht dem positiven Wandel des polnischen Deutschland-Bildes kein entspre­chender Wandel des deutschen Polen-Bildes).

Polen hat in den neunziger Jahren erstaunliche Wandlungsprozesse durch­laufen. Nicht nur die Wirtschaft erlebt einen Modemisierungsschub. Auch die Gesellschaft wird grundlegenden Veranderungen unterzogen, die Ka­tholische Kirche muB ihren Platz in der Gesellschaft neu formulieren, Wert- und Verhaltensmuster andem sich. Premierminister Buzek hat sei­nen Landsleuten in einem Zeitungsbeitrag zurn Nationalfeiertag 1999 in Erinnerung gerufen, dass Polen heute im Gegensatz zu vielen frtiheren Jahrzehnten seiner Geschichte in Freiheit und ungefahrdeten sicherheits­politischen Rahmenbedingungen lebt. Die Gesellschaft mtisse ihre Krafte nicht auf die Abwehr auBerer Gefahren konzentrieren, sondem konne sie auf den Autbau im Innem richten. Zu Recht verwies der Premierminister dabei auf die Moglichkeiten, die die mit der Dezentralisierung 1999 in ih­ren Kompetenzen erweiterte kommunale und regionale Selbstverwaltung bietet. 14 Ich meine, zehn Jahre nach der Bildung der ersten nichtkommu­nistischen Regierung kann Polen eine beachtliche politische und vor al­lem soziookonomische Leistungsbilanz vorlegen, die 1989 kaum jemand dem Land zugetraut hatte, wahrscheinlich nicht einmal die Polen sich selbst.

14 Jerzy Buzek: Poszerzanie wolnosci (Verbreiterung der Freiheit), in: RzeczpospoJita 10.11.1999.

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Peter A. Berger*

LebensHiufe und Mobilitat in Ostdeutschland ••

1. Die DDR als "Arbeitsgesellschaft" ................................................................. 174

2. Lebenszeitliche Standardisierung der Familiengriindung in der DDR ............ 179

3. Muster sozialer Mobilitat in der DDR ............................................................. 183

4. Die DDR als ,,Arbeitergesellschaft" ................................................................ 186

5. Erwerbs- und Berufsmobilitat in Ostdeutschland nach der Wende ................. 189

6. Sicherheitserwartungen und Umbriiche .......................................................... 196

* Prof. Dr. Peter A. Berger, Universitllt Rostock. Lehrstuhl fOr Soziologie .

.. Diesem Text liegt ein Beitrag fUr Bertram, H.lKollmorgen, R. (Hrsg.): Die Transformation Ostdeutschlands. Berichte zum sozialen und politischen Wandel in den neuen Bundesllindem. Opladen: Verlag Leske + Budrich 2000, zugrunde, der fUr diese VerMfentlichung Oberarbeitet und erglinzt wurde.

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LebensHiufe und Mobilitat in Ostdeutschland 173

Angesichts der Vielzahl und groBen Vielfalt von Untersuchungen zur wirtschaftlichen, politischen und sozialen Transfonnation in Ostdeutsch­land ist es nahezu unmoglich, auch nur einen thematisch fokussierten 0-berblick tiber die einschlagigen Forschungsergebnisse zu geben. In die­sem Beitrag kann ich daher auch nur versuchen, auf der Basis eigener und fremder Forschungsarbeiten einige wenige Grundlinien der Entwicklung von Lebenslauf und Mobilitiitsmustern in Ostdeutschland nachzu­zeichnen. Dabei werde ich allerdings nicht nur auf Turbulenzen im Trans­fonnationsprozess, sondem zugleich auf einige aus einer sozialstrukturel­len Lebenslauf- und Mobilitatsperspektive besonders wichtige Kennzeichen der DDR-Gesellschaft eingehen, die vielleicht mithelfen konnen, die gegenwartige Situation besser zu verstehen. Aus Kontrast­und Vergleichsgrtinden mtissen dazu freilich Entwicklungen in West­deutschland wenigstens ansatzweise mitbeleuchtet werden. Die im Vergleich zu Westdeutschland in vielerlei Hinsicht starker "stan­dardisierte" oder "verregelte" Struktur typischer Lebenslaufe in der DDR wird dabei zum einen auf den hohen Grad der Einbindung von Miinnern und Frauen in die Erwerbstiitigkeit und auf das in der DDR zunehmend erstarrende Mobilitiitsregime zuruckgefiihrt. Zum anderen haben jedoch die Biographien von Mannem und Frauen in der DDR auch im Hinblick auf die Familiengriindung eine hoheres MaB an "Standardisierung" und "RegelmaBigkeit" aufgewiesen als in der BRD. Beides zusammen liefert den Hintergrund fur im Osten Deutschlands besonders ausgepragte, sub­jektive Stabilitiits- und Sicherheitserwartungen, die durch den Umbruch und die davon ausgelOsten Schtibe von Berufs- und Erwerbsmobilitat in groBem Umfang enttauscht wurden.

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174 Berger

1. Die DDR als "Arbeitsgesellschaft"

Lebenslliufe sind hochkomplexe soziale Gebilde, die wegen ihrer Einbet­tung in Kohorten, wegen ihrer Abhangigkeit von variablen Erwartungs­mustem und von veranderlichen Gelegenheitsstrukturen besonders sensi­bel auf sozialen Wandel reagieren (vgl. Berger 1996, 1998a; BergerlSopp (Rg.) 1995; Buchmann 1989; Mayer (Rg.) 1990). Die Institutionalisie­rung eines industriegesellschaftlichen Lebenslaufregimes mit seiner charakteristischen Dreiteilung in eine durch Erwerbs- bzw. Familienarbeit gepragte "Aktivitatsphase", der in der Regel eine Ausbildungsphase vo­rangeht und eine durch den Eintritt in das Rentenalter markierte "Ruhe­phase" folgt (vgl. Kohli 1985), gilt dabei in modemen Gesellschaften als Rauptgarant einer auf Dauer gestellten, subjektiv gut kalkulierbaren zeit­lichen Gliederung von Lebenslaufen und eines klar definierten Musters von Ubergangen zwischen Lebensphasen. Die Einbindung in die Er­werbssphare, die in der einstigen DDR auBergewohnlich umfassend war und in ihrer "Betriebszentrierung" zudem eine spezifische Form annahm, ist daher auch fiir das Verstandnis der Lebenslaufmuster in der ehemali­gen DDR von besonderer Bedeutung. Die "betriebszentrierte Sozialpolitik", die fiir Martin Kohli (1994) das "bedeutsamste und unter Systemgesichtspunkten originellste Merkmal" der DDR als einer realsozialistischen " Arbeitsgesellschaft " darstellte, fiihrte dazu, dass dort die Arbeitsstatte im Unterschied zu Westdeutsch­land ein besonders wichtiger "sozialer Ort mit vielfaltigen sozialen Funk­tionen und Versorgungsaufgaben [war]. Den Betrieben (insbesondere den groBeren) waren zahlreiche Einrichtungen zugeordnet: Kinderkrippen und -garten, Erholungseinrichtungen, Betriebsberufsschulen, Institutionen der Erwachsenenbildung und medizinischen Betreuung; die Vergabe von Wohnungen ... , Urlaubsplatzen, Kuren, die Delegierung zum Studium er­folgten z.T. tiber den Betrieb. Kulturelle Aktivitaten, Freizeitgruppen wurden durch die Betriebe gef6rdert. Nicht selten dominierten grofiere Betriebe das kommunale Leben." (Adler 1991: 168) Zwar ist rUckblickend strittig, wie die Qualitat der daraus resultierenden, oftmals auf den Betrieb fixierten Sozialbeziehungen zu bewerten ist: Denn all em Anschein war darin die manchmal (n)ostalgisch verklarte

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LebensUiufe und Mobilitat in Ostdeutschland 175

"Logik der Zuwendung und Hilfsbereitschaft" haufig tiberlagert von einer "Logik des instrumentellen Tauschs", die den inoffiziellen, zur Korrektur planwirtschaftlicher Versorgungsmangel gleichwohl notwendigen Natu­raltauschaktiviHiten entsprang (vgl. Engler 1992). Aber auch wenn man gegentiber nachtraglichen 1dealisierungen - etwa im Sinne von besonders "solidarischen" Betriebsgemeinschaften oder Arbeitsgruppen - skeptisch bleibt, lasst die Vielzahl und Vielfalt von Aufgaben und Funktionen, die in Betrieben gebtindelt waren, diese doch als "zentrale Vergesellschaf tungskerne" des arbeitsgesellschaftlichen DDR-Sozialismus erscheinen. Verstiirkt wurden diese "objektiven" arbeitsgesellschaftlichen System­merkmale noch durch die ideologische Aufwertung von "Arbeit ", die ei­nerseits die Rekrutierung und Motivierung der Arbeitskrafte fordem so11-te, andererseits jedoch ihre Wurzeln in einem spezifisch "sozialistischen" Menschenbild hatte: Noch in der Selbstbezeichnung der DDR als "Arbei­ter- und Bauernstaat", noch in Ehrentiteln wie "Held" oder "Veteran" der Arbeit war ein Widerschein jener Verklarung von Arbeit als der "eigentli­chen" menschlichen Praxis zu sptiren, die letztlich bis auf Karl Marx zu­ruckreicht und trotz des von seinem Schwiegersohn Paul Lafargue pro­klamierten "Rechts auf Faulheit" fester Bestandteil eines sozialistischen Weltbildes blieb. Die Zentralitiit der Erwerbssphare fUr die LebensHiufe in der DDR war also sowohl durch eine auBergewohnliche Fixierung des A11tagslebens und der sozialen Beziehungen auf "den Betrieb" bzw. die ArbeitssHitte wie auch durch eine spezifische ideologische Uberhohung von Arbeit begrundet. Wie nun in Abbi/dung 1 zu sehen ist, war dementsprechend die faktische Einbindung der DDR-Bevolkerung in die Erwerbssphiire besonders um­fassend: 1m unteren wie im oberen Altersbereich kann man fUr beide Ge­schlechter eine deutlich h6here Erwerbsbeteiligung als im alten Bundes­gebiet ausmachen. Dabei waren in Ostdeutschland die Frauen zwischen 25 und 50 Jahren fast ebenso vollstandig erwerbstatig wie die Manner -wenn auch mit einem groBeren AusmaB von Teilzeitarbeit.

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176 Berger

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Altersgruppen

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Abb. 1: Erwerbstatigkeit von Mannern und Frauen nach Altersgruppen, BRDIDDR, 1989/90

QueUe: Kohli 1994: 40; Daten: SOEP-West und SOEP-Ost

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Lebenslliufe und Mobilitat in Ostdeutschland 177

Bezogen auf die Bevolkerung im Alter von 15 bis 64 Jahren fUhrte dies in der DDR zu einer Gesamterwerbsquote von rund 90 Prozent - eine nicht nur in Relation zu einer Quote von 70 Prozent in der Altbundesrepublik, sondem auch im Vergleich mit Schweden oder Danemark, wo zu Beginn der 90er Jahre "nur" eine Gesamterwerbsquote von 83-84 Prozent erreicht wurde, bemerkenswert hohe ErwerbsHi.tigkeit. We1che Bedeutung die Einbindung in die Erwerbssphare dabei nun vor allem fUr die Frauen hatte, wird nicht nur daran deutlich, dass es zwischen den Erwerbsquoten verheirateter und unverheirateter Frauen in der DDR praktisch keine Unterschiede gab (vgl. Abb. 1) und insbesondere unter den jUngeren Frauen Unterbrechungen wegen der Geburt eines Kindes meist nur von kurzer Dauer waren. Sondem auch daran, dass die Status­selbstbeschreibung von Frauen in der DDR in beinahe eineindeutiger Weise auf die ErwerbsHi.tigkeit bezogen war. Dies wird beispielhaft in Abbi/dung 2 erkennbar, die auf der Grundlage

I des sog. "Sozio-okonomischen Panels" die Haufigkeit kombinierter Sta-tusangaben (in dem entsprechenden Frageschema waren Mehrfachnen­nungen zugelassen) bei West- und bei Ostfrauen ausweist: Danach be­zeichneten sich etwa im Jahr 1988 fast 4 Prozent der befragten westdeutschen Frauen durchgangig als "Hausfrauen" und zugleich als "voll- oder teilzeiterwerbstatig"; nimmt man "Arbeitslosigkeit" als zu­mindest indirekt erwerbsbezogenen Status noch hinzu, findet man ent­sprechende Mehrfachnennungen bei mehr als 6 Prozent der westdeut­schen Frauen. Bei dieser Art der Fragestellung fanden sich jedoch bei den DDR-Frauen mit 0,1 Prozent bis 0,6 Prozent kaum Kombinationen wie "vollerwerbstatig und Hausfrau" oder "vollerwerbstatig, teilzeitbeschaf­tigt oder arbeitslos und Hausfrau".

I Das "Sozio-okonomische Panel" (SOEP) ist eine seit 1984laufende. standardisierte Wiederholungsbefragung von anHinglich mehr als 12.000 Personen in fast 6.000 westdeutschen Haushalten. die im Jahre 1990 auf die damalige "Gerade-Noch-DDR" ausgedehnt wurde. wo noch vor der Wlihrungsunion in einer ersten Befra­gungswelle fast 4.500 Personen in mehr als 2.000 Haushalten erfasst werden konnten.

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178 Berger

BRD 1988

Hausfrau + VoUzeit

Hausfrau + Teilzeit

Hausfrau + VoU-, Teilzeit oder Arbeitslos

DDR 1989/90

Hausfrau + VoUzeit 0,1

Hausfrau + Te.ilzeit 0,3 :

Hausfrau + VoU-, Teiluit oder Arbeitslos 0,4:

o 2 3 4 5 6 7

~ebrfacbnennungeninO/o

Abb.2: Erwerbsstatus von Frauen (Mehrfachnennungen) BRD: Januar 1988-Dezember 1988; DDR: Juli 1989-Juni 1990

QueUe: Eigene Berechnungen aus dem SOEP-West und SOEP-Ost

In der einstigen DDR hat also sowohl die de facto hohe Erwerbsbeteili­gung von Frauen wie auch ihre ideologische Auszeichnung als "sozialisti­sche Errungenschaft" zu einer fast eineindeutigen Statusselbstzuschrei­bung als "ErwerbsHitige" gefiihrt - in deutlichem Kontrast zu West­deutschland, wo Probleme der Vereinbarkeit von Berufs- und Hausarbeit einerseits, Offentliche Diskurse tiber Doppelbelastungen und Frauener­werbstatigkeit andererseits anscheinend zu "subjektiven" Unsicherheiten dariiber beigetragen haben, was denn nun den Status einer erwerbstatigen

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Lebensliiufe und Mobilitiit in Ostdeutschland 179

Frau "in letzter Instanz" ausmacht. Diese und ahnliche Beobachtungen lassen auch den Schluss zu, dass sich die von Erwerbsarbeit und Betrieb gepragten Lebenslaufe von Frauen in der ehemaligen DDR weitgehend jenen Vorstellungen von einer "Normalerwerbsbiographie" mit lebens­langer (Vollzeit-)Erwerbstatigkeit angenahert hatten, die im Westen lange Zeit als typisch "mannlich" galten - und z.T. immer noch gelten. Nach der Wende hat jedoch auch in Ostdeutschland der Abschied von "Normalarbeitsverhiiltnis" und "Normalerwerbsbiographie" - und damit von den zentralen "Taktgebem" des industriegesellschaftlichen Lebens­laufregimes - schnell eingesetzt: Vor all em aufgrund der anwachsenden Teilzeitbeschaftigung von Frauen ging ja in Westdeutschland zwischen 1970 und 1995 der Anteil derjenigen Erwerbstatigen, die eine kontinuier­liche Vollzeitbeschaftigung nach dem Muster des "Normalarbeitsverhalt­nisses" aufweisen konnten, von mehr als 80 Prozent auf etwa 65 Prozent zuriick. In Ostdeutschland ist, nach den Ergebnissen der "Zukunftskom­mission der Freistaaten Bayem und Sachsen", innerhalb der wenigen Jah­re von 1989 bis 1995 der Anteil der in Normalarbeitsverhaltnissen be­schaftigten Manner und Frauen von gut 82 Prozent auf etwa 70 Prozent gesunken (Kommission fUr Zukunftsfragen 1996) - womit auch hier, ahn­lich wie in Westdeutschland (vgl. BergerlSopp 1992), "jlexiblere" For­men der Einbindung in die Erwerbssphiire, d.h. aber auch: unstetigere Lebenslaufe und biographische Diskontinuitaten, haufiger geworden sind.

2. Lebenszeitliche Standardisierung der Familiengrundung inderDDR

Lebenslaufe werden aber auch in Arbeitsgesellschaften nicht allein von Art und AusmaB der Einbindung in die Erwerbssphare geformt. Dariiber hinaus spiegeln sich in ihnen gesellschaftsspezifische Erwartungen, die sich auf "regulare", "normale" oder "ordentliche" Biographien und auf "richtige" Zeitpunkte richten, ebenso wider wie sozial-, familien- und wohnungspolitische Vorgaben, die sich z.B. auf Entscheidungen zur Fa­miliengriindung auswirken.

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180 Berger

Besonders deutlich wird nun die DDR-typische "Normierung" von Le­bensHiufen und Biographien in einem Vergleich typischer Zeitpunkte fUr

.. 2 den Ubergang in die Familienphase : Wahrend namlich in der DDR der Zeitpunkt der erstmaligen Heirat bei den Mannem, besonders aber bei den Frauen bis zu den jiingsten Kohorten nur eine relativ geringe Streu­ung (gemessen am 1. und 3. Quartil) aufwies, nahm bei den westdeut­schen Mannem, vor all em aber bei den Frauen die Streuung bei den jiin­geren Kohorten rapide zu (vgl. Abb. 3) - dies ist im Westen auch eine Folge der Bildungsexpansion, die immer mehr Manner und Frauen immer Hinger in Ausbildungsgangen verbleiben Hisst und dadurch die Unter­schiedlichkeit der Heiratszeitpunkte vergroBert hat. Noch klarer wird die hohe Standardisierung des Zeitpunktes der Familiengriindung in der DDR anhand des typischen Alters, das Manner und Frauen dort bei der Geburt ihres ersten Kindes hatten (vgl. Abb. 4). Beides weist auf eine fUr die DDR charakteristische, sozial- und familienpolitisch gestiitzte und daher besonders enge Verkniipfung zwischen Ausbildungsabschluss, Eintritt in die Erwerbsphase, Heirat, Familiengriindung und Einzug in eine eigene (meist: Neubau-)Wohnung hin. Wahrend der an diesen Lebensereignissen festgemachte Ubergang in den Erwachsenenstatus also in der DDR bis in die spaten 80er Jahre hinein ei­nen auffallend hohen Grad an Standardisierung behalten hatte, hatte die­se Statuspassage in Westdeutschland - und dort ganz lihnlich wie in den USA (vgl. Buchmann 1989) - den Charakter einer lebenszeitlich eng um­grenzten Zasur schon langst verloren. Wie freilich der massive Einbruch in den EheschlieBungs- und Geburtenraten nach der Wende, der zu einem guten Teil als Effekt eines lebenszeitlichen Hinauszogems der Familien­griindungsphase gelten kann, zeigt, haben sich die Lebenslaufe der jiinge­ren Ostdeutschen in dieser Hinsicht schnell den westdeutschen Mustem angepasst.

2 Grundlage fOr die folgenden Beispiele sind Lebenslaufuntersuchungen, wie sie u.a. der mittlerweile an der Universitat Rostock tatige Soziologe Johannes Huinink vorgenommen hat (vgl. Huinink u.a. 1995; Mayer 1994).

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LebensHiufe und Mobilitat in Ostdeutschland

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1920 1930 1940 1950 1960

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Geburtsjahr

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Ersthelratsalter Minner Ostdeutschland

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Geburtsjahr

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Geburtsjahr

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Abb.3: Erstheiratsalter von Mannem und Frauen nach Geburtskohorten

QueUe: Mayer 1994

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182 Berger

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1920 1930 1940 1950 1%0 1930 1940 1952 1960

Geburtsjahr Geburtsj ahr

Erslgeburtsaller Frauen Wesldeutschland Erslgeburtsalter Frauen Osldeutschland

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1920 1930 1940 1950 1960 1930 1940 1952 1960

Geburtsjahr Geburtsjahr

Abb. 4: Erstgeburtsalter von Miinnem und Frauen nach Geburtskohorten

Quelle: Mayer 1994

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Lebenslaufe und Mobilitat in Ostdeutschland 183

3. Muster sozialer MobiliUit in der DDR

Aber nicht nur mit Blick auf die lebensphasen- und geschlechts­spezifische Einbindung in die Erwerbssphare und auf die Ubergange in die Familienphase lassen sich aus einer Lebenslaufperspektive, wie sie hier zugrunde gelegt wird, wichtige Differenzen zur BRD ausmachen. Vielmehr zeigen sich im historischen Riickblick in den beiden deutschen Staaten auch deutliche Unterschiede in der Entwicklung der Muster beruf

3 licher Mobilitiit : 1m Unterschied zur Bundesrepublik Deutschland wiesen namlich in der DDR und in langfristiger, intergenerationeller Hinsicht vor all em die sog. "Dienstklassen" aus hoheren Angestellten und Beamten (dazu kann auch das sog. "BildungsbUrgertum" gerechnet werden) und die Selbstandigen deutlich geringere Chancen der Positionsvererbung auf, was auf haufige "Abstiegskarrieren" aus diesen Positionen und damit auch auf eine "Schwachung" der entsprechenden Sozialmilieus hinweist. Haufiger waren demgegeniiber die intergenerationellen Aufstiege aus der geringer qualifizierten Arbeiterschaft. FUr die Sohne von Facharbeitern erweist sich jedoch iiberraschenderwei­se die Bundesrepublik als die "offenere" Gesellschaft: Wlihrend in der DDR fast 60 Prozent der Facharbeitersohne wiederum Facharbeiter wur­den und nur etwa 11 Prozent einen Aufstieg in eine "obere Dienstklasse" erreichten, schafften dies in Westdeutschland etwa 17 Prozent, und ledig­lich 40 Prozent wurden emeut Facharbeiter (vgl. MayerlSolga 1994). Die­se hohe Selbstrekturierung der qualifizierten Arbeiterschaft in der DDR, die ja durchaus ihrem Selbstverstandnis als sozialistischer "Arbeiter- und Bauemstaat" entsprach, kann miterklaren, warum Forschungen zur Mi­lieustruktur Deutschlands in den J ahren nach der Wende ein im Osten vergleichsweise deutlich ausgepragtes "Arbeitermilieu it vorfanden (vgl. Vester 1993; Vester u.a. (Hg.) 1995; Vester 1998) und der Ostberliner So­ziologe Wolfgang Engler (1999: 173ff.) im Riickblick von der DDR als einer "arbeiterlichen it Gesellschaft sprechen kann.

3 Hier greife ich neben Arbeiten von Johannes Huinink u.a. auf Untersuchungen von Karl-Ulrich Mayer und Heike So/ga vom Max-Planck-Institut fiir Bildungsforschung in Berlin zuriick (vgl. Berger 1998b; Huinink u.a. 1995; Solga 1995).

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184 Berger

Ahnlich wie sich in der Bundesrepublik nach 1945 die Aufstiegsmoglich­keiten verbesserten - was sich in einer hohen Identifikation mit dem Ge­sellschaftssystem, das so1che "Erfolgsgeschichten" moglich machte, aus­driickte - fand zunachst auch in der DDR die sog. "Aujbaugeneration" der urn 1930 Geborenen besonders gute Chancen des sozialen Aufstiegs vor - womit auch die nach wie vor groBe Zustimmung, die das "DDR­Modell" bei vielen aiteren Ostdeutschen findet, verstandlich wird (vgl. auch: Engler 1999: 109ff.). Die folgenden Geburtsjahrgange, insbesonde­re die urn 1960 und danach Geborenen, sahen sich dannjedoch mehrheit-1ich mit erheblich verschlechterten Aufstiegschancen konfrontiert: "Die Kinder der Intelligenz hatten e1fmal beziehungsweise fiinfzehnma1 besse­re Chancen a1s die Kinder von Facharbeitem beziehungsweise von un­und ange1emten Arbeitem und Genossenschaftsbauem. Das heiBt, dass sich diese relativen Chancen im Vergleich zur Autbaugeneration urn das Fiinffache verschlechterten." (MayerlSo1ga 1994: 203f.; vgl. Huinink u.a. 1995; Solga 1995). Auf eine "SchlieJ3ung" und eine zunehmende Se1bst­reproduktion einer nunmehr "sozialistischen Dienstklasse" deutet auch hin, dass z.B. noch urn 1970 75-82 Prozent der Angehorigen von DDR­Fiihrungsschichten (Betriebs1eiter, Staatsanwalte, Richter, Offiziere) der in der DDR ja sehr weit gefassten "Arbeiterklasse" entstammten, gegen Ende der 80er Jahre diese Quoten jedoch auf 64-76 Prozent gesunken wa­ren (vgl. GeiBler 1996: 240ff.). Verstarkt wurde diese Blockade von Auf­stiegskaniilen in der Spatphase der DDR, die vor all em die jiingeren Ge­nerationen in ihren Lebensp1anungen und biographischen Entwiirfen entmutigte und dort die Unzufriedenheit anwachsen lieB (vgl. Engler 1999), sch1ieBlich noch durch den politisch gesteuerten Aus1eseprozess, der "Unangepasstheit" oftma1s auch mit einem Ausschluss von "regu1a­ren" Bi1dungs- und Berufs1autbahnen bestrafte. Obwoh1 viele Anstrengungen zu einer zentra1en P1anung und "Regu1ie­rung" von Berufslautbahnen untemommen wurden, war jedoch auch in der DDR die intragenerationelle Berufs- bzw. Erwerbsmobi1itat, also die kurzfristigere Mobilitat im eigenen Lebenslauf, nicht unerheblich: So wiesen z.B. Frauen bis zurn Alter von 28 Jahren im Durchschnitt 2,7 "Er­werbsepisoden" (Wechse1 der beruflichen Tatigkeit und des Betriebes, incl. Erwerbsunterbrechungen) auf; bei Mannem fanden sich 3,2 (Ge­burtsjahrgange 1929-31) bis 2,3 (Geburtsjahrgange 1959-61) Episoden

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LebensHiufe und Mobilitat in Ostdeutschland 185

(vgl. Huinink u.a. 1995: 112ff.). Betrachtet man die berufliche MobiliHit i.e.S. (Wechsel des Berufsfeldes undloder der Betriebe), so sind freilich von den altesten bis zu den jtingsten Geburtsjahrgangen fUr Manner und Frauen sinkende Raten der beruflichen Mobilitiit bei gleichzeitig zUrUck­gehenden beruflichen Aufstiegsraten festzustelIen; in ahnlicher Weise wie bei der Familiengriindung waren damit anscheinend auch Berufsverlaufe einer hohen und gegen Ende der DDR noch zunehmenden "Standardisie­rung" und Verregelung ausgesetzt. Eine gegenlaufige Tendenz zeigten le­diglich die innerbetrieblichen Wechsel, wobei sich in der Abfolge der Ge­burtsjahrgange keine gravierenden Veranderungen in den Auf- und Abstiegen, jedoch eine deutliche Zunahme der "horizontalen" Mobilitat innerhalb der Betriebe nachzeichnen lassen - ein weiterer Hinweis auf die Zentralitiit von Betrieben fUr die Strukturierung von Berufs- und Lebens­verlaufen in der DDR. Zusammenfassend und zugespitzt formuliert galt also innerhalb des in der ehemaligen DDR sehr weitgehend regulierten und politisch kontrollierten Musters von Ausbildungs- und Berufskarrieren tiber weite Strecken eine soziale Logik der hinreichenden Bedingungen, nach der im Bildungs­system undloder in Fort- und Weiterbildung erworbene Qualifikationen in aller Regel auch einen entsprechenden Arbeitsplatz garantierten und so stabile biographische Planungshorizonte anboten. Mit dem zumindest im Vergleich zu Westdeutschland hoch standardisierten und normierten, in der Spatphase schlieBlich immer mehr erstarrenden Lebenslaufregime der DDR verb and sich dabei verstandlicherweise eine ausgepragte "Wert­schatzung lebengeschichtlicher Sicherheit" (Neckel1992: 675), die sich­zumindest noch kurz nach der Wende - auch in divers en Umfrageergeb­nissen ausdriickte: So erachteten beispielsweise 1991 im Westen rund die Halfte der Manner und Frauen eine "sichere Berufsstellung" fUr wichtig, wahrend dies im Osten auf drei Viertel zutraf. Und noch 1993 hatten in den "FtinfNeuen Landem" 56 Prozent (im Westen: 31 Prozent) ein Sys­tem vorgezogen, "wo kaum jemand hoch hinauskommt oder ganz unten landet, sich das Leben also in Sicherheit und geregelten Bahnen abspielt" (Emnid-Institut 1993).

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186 Berger

4. Die DDR als "Arbeitergesellschaft"

Vor dem Hintergrund dieser ausgepdigten biographischen Sicherheits­und StabiliHitserwartungen, die sich sowohl an einer dauerhaften Einbin­dung in die Erwerbssphare, aber auch an der hohen Standardisierung der Familiengriindungphase festmachen konnten, mussten die mit der Ein­gliederung der einstigen DDR in die Bundesrepublik verbundenen, viel­faltigen biographischen Briiche zweifellos fUr einen groBen Teil der Be­volkerung einem Schock gleichkommen, der allem Anschein nach bis heute nachwirkt: Schon bis zum Herbst 1992 gingen von 9,6 Mio. Ar­beitspUitzen etwa 3,9 Millionen, also rund zwei Ftinftel, verloren. Die Landwirtschaft war dabei mit einem fast 70-prozentigen Arbeitsplatzver­lust (ca. 700.000 ArbeitspHitze) am sHirksten betroffen, gefolgt von In­dustrie und Baugewerbe mit mehr als 50 Prozent (ca. 2,3 Mio.), Handel und Verkehr mit etwa 26 Prozent (ca. 423.000) und dem Bereich von Dienstleistungen und Staat, in dem gut eine halbe Million ArbeitspHitze (=knapp 20 Prozent) abgebaut wurden. Das hatte zur Folge, dass bei­spielsweise bereits im Sommer 1992 von den damals etwa 8,5 Mio. "er­werbsfahigen" und "erwerbswilligen" Mannem und Frauen in den "Ftinf Neuen Llindem" rund 35 Prozent, also beinahe 3 Mio. Menschen, keinen Arbeitsplatz hatten: Davon war etwa eine halbe Millionen vorzeitig in Rente gegangen, beinahe ebenso viele hatten, zumindest vOriibergehend, eine Arbeit in den westlichen Bundesllindem gefunden. Knapp 300.000 Menschen waren damals in Form von Kurzarbeit noch teilweise in das Er­werbsleben integriert, rund 320.000 befanden sich in Umschulungs- und FortbildungsmaBnahmen und etwa 1,5 Millionen waren als Arbeitslose registriert. Abbi/dung 5 macht in diesem Zusarnmenhang zunachst noch einmal den schon hervorgehobenen, hohen Stellenwert der Erwerbstatigkeit in der einstigen DDR deutlich: Wahrend in den alten Bundesllindem im Jahre 1989 etwa 92 Prozent der Manner im Alter von 25 bis 55 Jahren erwerbs­tatig waren, waren dies in der DDR und kurz vor der Wlihrungsunion noch rund 97 Prozent. Und gegentiber fast 94 Prozent der Ostfrauen, die angaben, voll- oder teilzeitbeschaftigt zu sein, waren dies in der Altbun­desrepublik nur rund 54 Prozent.

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LebensHiufe und Mobilitat in Ostdeutschland

Stellung Se1bst.,Freie Ber.,Landw. Leit.,hochqual. Angest. Beamte Qualifizierte Angestellte Ausflihrende Angestellte Qualifizierte Arbeiter An-, ungelemte Arbeiter Erwerbstatige Mobile, nur Erwerbst. *)

darunter: "Au/stiege"

"Abstiege"

Arbeitslose Nichterwerbstatige Mobile, Insgesamt**) Dissimilaritiitsindices

BRDIDDR

89-90 89-91

..

MANNER

BRD88/89 DDR90 FNL91 % % %

9,5 3,8 6,3 15,2 19,7 17,3 12,7 - 1,5 16,3 8,0 5,2 4,8 8,7 6,3

22,2 48,9 45,0 11,2 7,9 8,6 92,0 97,0 90,2

18,4 27,7 9,9 12,5 8,5 15,1 3,7 - 7,6 4,3 3,0 2,2

21,5 34,2

35,0 I 30,1 I

FRAUEN

BRD 88/89

%

4,5 3,5 3,5

18,8 11,3

1,3 11,5 54,3

20,2 10,6 9,6 8,2

37,4 27,6

I I

46,9 : I I I I

187

DDR90 FNL91 % %

2,1 2,6 18,9 12,2

- 0,6 31,9 23,3 14,4 18,7 17,4 13,2 9,1 10,1 93,8 80,8

40,4 12,1 28,4

0,2 13,8 5,9 5,4

49,1

47,8 I 38,1 I

Manner/Frauen

BRD89

DDR90

FNL91

--------i--------i-------· 34,0 : I

L-------t_-_-_-_-_-_-_-_-_-_-_-_-_-_-_-_____ ~{,! __ J *) MobiliUit zwischen beruflichen Stellungen unter den Erwerbstatigen

U) Mobilitat zwischen beruflichen Stellungen und Mobilitat zwischen Erwerbstatigkeit und Arbeitslosigkeit bzw. Nichterwerbstatigkeit

Abb.5: Erwerbs- und Berufsstruktur west- und ostdeutscher Manner und Frauen im Al­ter von 25 bis 55 Jahren

QueUe: Eigene Berechnungen aus dem SOEP-West und SOEP-Ost

Legt man nun eine gemeinsame Klassifikation beruflicher Stellungen zugrunde, so lassen sich in der Berufsstruktur ebenfalls deutliche Kontra­ste aufzeigen: So gab es, was kaum iiberraschen diirfte, in der einstigen DDR keine Beamten, und auch die Kategorie der Selbstandigen und Frei­en Berufe war, nicht zuletzt wegen der ruckgangigen Selbstrekrutierung

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dieser Berufsgruppen und wegen hoher Verluste durch Abwanderung und Flucht in den Westen, deutlich schwacher besetzt. Demgegeniiber lieB sich bei den Mannem, insbesondere aber bei den Frauen ein deutlich hoherer Anteil den hochqualifizierten Angestelltenpo­sitionen zurechnen. Und fast ein Drittel der Ostfrauen, jedoch nur ein knappes Fiinftel der Westfrauen ordneten sich den qualifizierten Ange­stellten zu. Besonders auffallig ist schlieBlich auf Seiten der Manner das in der DDR deutlich hOhere Gewicht der qualifizierten Arbeiter: Fast die Ralfte der Manner zahlte sich dazu, womit die Ex-DDR nicht nur als "Ar­beitsgesellschaft", sondem in gewissem Sinne zugleich als ,,(Fach-)Ar­beitergesellschaft" erscheint (Zapf 1993; vgl. auch Engler 1999). Dieser Befund einer ,,(Fach-)Arbeitergesellschaft" bestatigt sich im iibri­gen auch in Untersuchungen zur "subjektiven Schichteinstufung": Nach Allbus-Daten rechneten sich 1991 knapp 30 Prozent der Westdeutschen, aber rund 60 Prozent der Ostdeutschen einer "Unter- oder Arbeiter­schicht" zu; etwa 60 Prozent der Westbiirger, jedoch nur knapp 40 Prozent der Ostbiirger sahen sich in der "Mittelschicht"; und einer schmalen "obe­ren Mittel- und Oberschicht" von 2-3 Prozent im Osten standen gut 10 Prozent gegeniiber, die sich im Westen dazu zahlten. In Ostdeutschland hat sich diese Selbstzuschreibung zu "sozialen Schichten", die so kurz nach der Wende noch deutliche Ziige des ehemaligen "Arbeiter- und Bau­emstaates" trug, jedoch schnell gewandelt, denn schon fiinf Jahre spater sahen sich etwa 9 Prozent der Ostdeutschen in der "oberen Mittel- und Oberschicht", die "Mittelschicht" war auf 55 Prozent angewachsen und die "Unter- oder Arbeiterschicht" auf 36 Prozent geschrumpft - und die­ser Anpassungstrend setzt sich bis heute, wenn auch mit verminderter Ge­schwindigkeit, fort. Trotz aller Anpassungen wei sen freilich Untersuchungen zu sozialen Mi­lieus in West- und Ostdeutschland, nach denen zu Beginn der 90er Jahre noch bei rund zwei Fiinfteln der Ostdeutschen ein typischer "Arbeiterha­bitus" festgestellt werden kann, wahrend dies in Westdeutschland nur­mehr flir gut 20 Prozent der Bevolkerung gilt (vgl. Vester 1993; Vester u.a. (Rg.) 1995; Vester 1998), auch daraufhin, dass in der DDR entstan­dene und gepflegte Mentalitatsstrukturen in Ostdeutschland zum Teil wei­terhin tief verwurzelt sind.

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LebensHiufe und Mobilitat in Ostdeutschland

5. Erwerbs- und Berufsmobilitat in Ostdeutschland nach derWende

189

Eine Ursache fUr diese Unterschiede in der Berufsstruktur wie in den Mi­lieu- und Mentalitatsmustem liegt dabei auch in der unterschiedlichen Entwicklung der sektoralen Zusammensetzung der Erwerbstiitigen in den beiden Teilen Deutschlands: Wahrend noch 1950 die jeweiligen Wirt­schaftsbereiche in West- und Ostdeutschland in etwa die gleichen Anteile an Erwerbstatigen auf sich vereinigten - im primaren Sektor waren da­mals 25 bzw. 27 Prozent, im sekundaren 42 bzw. 43 Prozent und im tertia­ren 31 bzw. 33 Prozent berufstatig - hat sich in der Bundesrepublik in den 70er und 80er Jahren ein massiver Tertiiirisierungsschub vollzogen: 1m Ubergang zu den 90er Jahren konnten daher rund 55 Prozent der Erwerbs­tatigen dem tertiaren oder Dienstleistungsbereich, aber nurmehr 41 Pro­zent dem sekundaren oder industriellen Bereich zugerechnet werden, und der primare oder agrarische Bereich war bei knapp 4 Prozent angelangt. Demgegeniiber lieB sich zwar in der DDR ebenfalls ein allmahlicher Be­deutungsverlust des sekundaren und ein Bedeutungsgewinn des tertiaren Sektors beobachten. Mit einem Erwerbstatigenanteil von rund 40 Prozent lag aber das Gewicht des Dienstleistungsbereichs zum Zeitpunkt der Ver­einigung erheblich unter dem in der Altbundesrepublik, der primare Be­reich verharrte bei etwa 11 Prozent, und im Bereich der industriellen Pro­duktion war immer noch die Halfte der Erwerbstatigen beschaftigt (vgl. GeiBler 1996) - dies kann durchaus als ein weiterer Hinweis auf den "ar­beitsgesellschaftlichen" bzw. "arbeiterlichen" Charakter der einstigen DDR gelesen werden (vgl. Engler 1999: 173ff.). Der Anpassungsprozess zwischen den beiden Erwerbs- und Berufs­strukturen hat aber sehr schnell eingesetzt (vgl. Abb. 5): Schon innerhalb des ersten J ahres nach der Vereinigung verringerte sich die Erwerbsquote ostdeutscher Manner von 97 auf 90 Prozent. Noch drastischer fiel der Riickgang der Erwerbstatigkeit auf Seiten der Frauen aus, bei denen bin­nen eines Jahres die Erwerbsquote von knapp 94 auf 81 Prozent sank und sich vor all em bei den alteren Frauen ein dramatischer Anstieg von Ar­beitslosigkeit und Nichterwerbstatigkeit zeigte. Zwischen 1990 und 1993 ist dabei, wie die Abbildung 6 zeigt, der Anteil des verarbeitenden und des

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190 Berger

Baugewerbes von etwa 45 Prozent der Erwerbstatigen auf rund 31 Pro­zent ebenso gesunken wie das Gewicht der Land- und Forstwirtschaft, das sich von fast 12 auf etwa 4 Prozent verminderte. Gleichzeitig wuchsen die Beschaftigungsbereiche "Dienstleistungen, Handel und Verkehr" von 26 auf fast 34 Prozent, und auch die Quote der Staatsbeschaftigten stieg von etwa 17 auf 24 Prozent. Gemessen an der sektoralen Zusammensetzung hatte sich der Anteil des primliren Sektors an den Beschaftigten schon bis Mitte der 90er Jahre seinen Umfang von beinahe 9 Prozent auf knapp 4 Prozent verringert, der sekundlire Sektor schrumpfte in dieser kurzen Zeitspanne von 45 Prozent auf etwa 35 Prozent, und der terti lire Sektor wuchs von gut 46 Prozent aufbeinahe 62 Prozent (vgl. Abb. 6).

Westdeutschland

0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%

1989190 •

1994 •

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Lebenslliufe und Mobilitlit in Ostdeutschland 191

Ostdeutschland

0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%

Abb.6: Beschliftigtenstruktur in Ost- und Westdeutschland nach Wirtschaftssektoren 1989/90 und 1994

QueUe: BeitrAB 101: S. 32-35

Das AusmaB der unmittelbar nach der Wende besonders umfangreichen, erwerbs- und berufsstrukturellen Umschichtungen Hisst sich auch an den in die Abbi/dung 5 mitaufgenommenen Dissimilaritiitsindices - das sind statistische MaBzahlen fUr die (Un-)Ahnlichkeit zweier Verteilungsmuster - ablesen, die sich im vorliegenden Fall folgendermaBen interpretieren lassen: Hatten im Jahre 1990 noch rund 35 Prozent der ostdeutschen Manner ihre Stellung im und zum Erwerbssystem verandem mussen, da­mit sich die gleiche Berufs- und Erwerbsstruktur wie in Westdeutschland ergeben batte, gilt dies ein Jahr spater nur mehr fUr rund 30 Prozent. Auf der weiblichen Seite, wo sich die einstmals hohe Erwerbsbeteiligung der Ostfrauen in einer deutlich hoheren Dissimilaritat oder Unahnlichkeit zwischen BRD und DDR niederschlug, trug die hier besonders rapide steigende Arbeitslosigkeit, aber auch die deutlichen Ruckgange in den Kategorien der mittel- und hochqualifizierten Angestellten zu einer noch schnelleren Anpassung der ostdeutschen Verteilungsmuster bei. "Von Os­ten" aus gesehen, bedeutet dies freilich auch, dass die Unterschiede in Ostdeutschland - in diesem Falle vor aHem: die geschlechtsspezifische Segregation der Erwerbs- und Berufsstruktur - gewachsen sind: Noch im

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192 Berger

Jahre 1990 hatte nur rund ein Drittel der Ostfrauen bzw. der Ostmanner ihre Position verandem mussen, urn eine Gleichverteilung zwischen den Geschlechtem zu erreichen; schon ein Jahr spater trifft dies aber fill mehr als 41 Prozent zu. Die Umstrukturierungen, die sich in einer vergleichenden Perspektive als Annaherung der ostdeutschen an die westdeutsche Erwerbs- und Berufs­struktur darstellen, jedoch gleichzeitig fur den ostdeutschen Teil neue Dif­ferenzierungen mit sich bringen, haben schlieBlich zu einem ungewohn­lich massiven Mobilitiitsschub beigetragen: Etwa 28 Prozent der mannlichen Erwerbstatigen in Ostdeutschland haben im Rahmen der Klassifikation von Abbildung 5 schon zwischen 1990 und 1991 ihre be­rufliche Stellung gewechselt, wahrend die vergleichbare Mobilitatsquote fUr westdeutsche Manner bei etwa 18 Prozent lag. Bezieht man Bewe­gungen in den Bereich von Arbeitslosigkeit und Nichterwerbstatigkeit mit ein, so betrugen die entsprechenden Quoten 34 Prozent (fUr Ost­deutschland) und etwa 21 Prozent (fUr Westdeutschland); verlangert man den Beobachtungszeitraum fur Ostdeutschland bis 1993, so haben in die­sem Zeitraum mehr als die Halfte der zwischen 1935 und 1965 geborenen ostdeutschen Manner ihren Status verandert. Dabei erwiesen sich die Frauen in den neuen Bundeslandem als die Hauptbetroffenen: Denn hier hatte schon innerhalb des ersten Jahres nach der Vereinigung fast die Halfte Erwerbs- oder Berufsmobilitat erfahren; bis 1993 waren dies fast zwei Drittel. Und immerhin noch mehr als zwei Funftel wechselten schon im ersten Jahr ihre berufliche Stellung - gegenuber rund 20 Prozent der westdeutschen Frauen (vgl. Berger 1996; Sopp u.a. 1996). Geht man zusatzlich davon aus, dass sich die in der Abbildung 5 erkenn­bare Anordnung der beruflichen Stellungen als eine hierarchische Rang­folge interpretieren lasst, haben mehr als 28 Prozent der erwerbstatigen Frauen und rund 15 Prozent der Manner in Ostdeutschland und schon im ersten Jahr nach der Wende einen "Abstieg" erfahren - wobei im Unter­schied zu Westdeutschland im Osten und in dieser ersten Umbruchsphase "Abstiege" haufiger gewesen zu sein scheinen als "Aufstiege". Bis 1993 nahmen dann die so gemessenen "Abstiegs"quoten bei den Mannem auf rund 34 Prozent und bei den Frauen auf fast 50 Prozent zu (vgl. Sopp u.a. 1996).

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Lebenslaufe und Mobilitat in Ostdeutschland

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Leirungspositionen

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LeilUngspositionen

Hochqual. Angesl.elhe

Qualif2iene Angesl.elle

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Facharbeiter

Selbslllndige

Bauem

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193

Absrromprounte 1990194

~ "Aufsteiger" • "Stabile" ~ "Absteiger" 0 Arbeitslosel Nichterwerbstatige

Abb.7: Berufs- und Erwerbsmobilitat in West- und Ostdeutschland, 1990/94 (Abstrom­quoten)

QueUe: Diewald/Solga 1997: 256, Datenbasis: SOEP-West und SOEP-Ost

Legt man auf der gleichen Datengrundlage (SOEP) eine etwas andere Klassifikation der beruflichen Stellungen zugrunde, verdeutlicht Abbil­dung 7 emeut die ungewohnlich umfangreichen Mobilitiitsprozesse, die sich in Ostdeutschland in den ersten Jahren nach der Vereinigung abspiel­ten: Wahrend sich in Westdeutschland je nach Ausgangsposition Stabili-

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194 Berger

tatsraten von 48 Prozent ("Leitungspositionen") bis 85 Prozent ("Bau­em") finden, liegen die entsprechenden Raten in Ostdeutschland fast durchweg niedriger - wobei auch hier das Vorherrschen von Abstiegspro­zessen auffallt. Nach Ergebnissen aus der ostdeutschen Lebensverlaufs­studie waren im Zeitraum zwischen Januar 1990 und Marz 1996 rund zwei Ftinftel aller Ostdeutschen mindestens einmal arbeitslos, etwa 38 Prozent haben den Betrieb, gut 17 Prozent im gleichen Betrieb den Ar­beitsplatz und rund 37 Prozent den Beruf gewechselt, wobei nach Solga u.a. (1999: 48) nur 18 Prozent dieser Betriebs- und Berufswechsel als "Aufstieg", aber etwa 30 Prozent als "Abstieg" zu bewerten sind. Deutlich wird in diesen und anderen Untersuchungen aber auch, dass ei­nige Berufsgruppen, so z.B. die qualifizierten Angestellten, die Facharbei­ter und die (wenigen) Selbstandigen von den allgemeinen "Turbulenzen" zunachst eher verschont blieben: Anscheinend haben sich hier noch in der DDR erworbene Qualifikationen bzw. das dort akkumulierte "kulturelle Kapital" als "Schutz" gegentiber dem Arbeitslosigkeits- und Abstiegsrisi­ko erwiesen (vgl. DiewaldiSolga 1997; Solga u.a. 1999: 24ff., 35f.) - zu­mindest so lange, wie die Betriebe "tiberleben" konnten. Zugleich weist dies darauf hin, dass sich die Berufsverlaufe nach der Wende keineswegs einheitlich entwickelten, sondem sich auch in dieser Hinsicht Differenzie­rungen zwischen "Gewinnem" und "Verlierem" abzeichnen.

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LebensHiufe und Mobilitat in Ostdeutschland 195

% 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50

Durchgehende Erwerbsbeteiligung ~~~~~~~~~~~~~~r Diskontinuierliche Erwerbsbeteiligung

einmal arbeitslos

mebrmals arbeilslos

andere Unterbrechungen

Abgebrocbene Erwerbsbeteiligung

erstmals vor 4/91

erslmal ab 4/91

Abb. 8: Erwerbsbeteiligungsmuster ostdeutscher Manner und Frauen Dezember 1989 - April 1994

QueUe: DiewaldiSolga 199: 238f., Datenbasis: SOEP-Ost

Fragt man schlieBlich noch kurz nach der Kontinuitiit der Erwerbsbeteili­gung bei ostdeutschen Mannem und Frauen in den ersten Jahren nach der Wende, so wei sen nur knapp die Halfte der Manner und nicht einmal ein Drittel der Frauen im Zeitraum von 1989 bis 1994 eine durchgehende Er­werbsbeteiligung auf. 13 Prozent bzw. 14 Prozent waren einmal, jeweils etwa 5 Prozent mehrmals arbeitslos gemeldet, und jeweils mehr als ein Funftel weist andere Unterbrechungen der Erwerbstatigkeit auf (vgl. Ab­bi/dung 8). 1m Zeitraum von 1993 bis 1995 waren dann von den sozial­versicherungspflichtig beschaftigten ostdeutschen Mannem rund 30 Pro­zent und von den ostdeutschen Frauen 37 Prozent mindestens einmal arbeitslos - gegenuber 20 Prozent der mannlichen und 19 Prozent der weiblichen Beschaftigten in Westdeutschland. Ein knappes Drittel aller arbeitslosen ostdeutschen Manner ist dabei in diesen drei Jahren so gar mindestens zweimal arbeitslos geworden (in Westdeutschland: ein gutes Viertel); bei den Frauen lag das Verhaltnis bei 26 Prozent (Ost) zu 19 Pro-

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zent (West). Dabei waren jedoch - im Unterschied zu den Frauen in Ost­deutschland - ostdeutsche Manner trotz hliufigerer mehrfacher Arbeitslo­sigkeit im Durchschnitt nicht Hinger arbeitslos als Manner in West-deutschland (vgl. Berger u.a. 1999).

4

6. Sicherheitserwartungen und Umbriiche

Nach den skizzierten Forschungsergebnissen war es vor allem der ausge­pragt "arbeitsgesellschaftliche" Charakter der einstigen DDR-Gesell­schaft, der dort den Lebenslaufen und Biographien ihre Struktur und Richtung gab: Eine im historischen und international en Vergleich auBer­gewohnlich umfangreiche, auch die "Rlinder" der Aktivitatsphase betref­fende und vor allem die Frauen fast vollstandig umfassende Einbindung in die Erwerbssphare lieB die Betriebe und Arbeitsstiitten zum dominie­renden Zentrum des Alltagslebens werden. Nicht ein kapitalistischer Ar­beitsmarkt mit seinen Unwagbarkeiten und Flexibilitatsanforderungen, sondern Planvorgaben und groBbetriebliche Anforderungen pragten dabei die Prozesse beruflicher Mobilitat, wobei sich in der Spatphase der DDR sowohl in inter- wie auch in intragenerationeller Hinsicht eine zunehmen­de Schliej3ung und Erstarrung abzeichnete. Zusammen mit der geringeren altersmaBigen Streuung jener Lebensereignisse, die in Zusammenhang mit dem Dbergang in die Familienphase bzw. den Erwachsenenstatus ste­hen, lasst dies die Lebenslaufe und Biographien in der einstigen DDR und im Vergleich mit der alten Bundesrepublik, wo sich schon seit den 70er Jahren Tendenzen der Auflockerung und Destandardisierung finden las­sen, als in besonders hohem MaGe "standardisiert" und "normiert" er­scheinen: Manner wie Frauen konnten deshalb in ihrem Alltag auch mit groBer Wahrscheinlichkeit damit rechnen, dass sich die jeweils Gleichalt­rigen in der gleichen Phase ihrer Berufslaufbahn und ihrer Familienbio-

4 Die in diesem Absatz berichteten Zahlen beruhen auf noch nicht abgeschlossenen Untersuchungen in einem in Zusammenarbeit mit dem lnstitut for Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (lAB) durchgeftihrten und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekt, an dem neben dem Verfasser dieses Beitrages Dr. Dirk Konietzka (Universitat Rostock), Dipl.-Soz. Stefan Bender (lAB Niimberg) und Dipl.-Soz. Peter Sopp (Universitiit Rostock) beteiligt waren.

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Lebenslaufe und Mobilitat in Ostdeutschland 197

graphie befinden, womit die DDR-Gesellschaft in gewisser Hinsicht auch auf dem Weg zu einer "altersstratijizierten ", also nach strikten Alters­grenzen geschichteten Gesellschaft war. Diese mehr und mehr erstarrenden Strukturmuster, die sich in ausgepdig­ten Stabilitats- und Sicherheitserwartungen widerspiegelten, wurden je­doch durch die historisch beispiellosen Umschichtungen auf dem ostdeut­schen Arbeitsmarkt aufgebrochen: Ein groBer Teil der ostdeutschen Manner und die Mehrheit der ostdeutschen Frauen mussten in den Jahren nach der Wende kiirzere Unterbrechungen, oftmals aber auch einen lang­fristigen Einbruch in ihren Erwerbslaufbahnen hinnehmen. Arbeitslosig­keit wurde dabei ebenso zur - zumindest episodischen - Grunderfahrung beim Eintritt in ein neues Gesellschafssystem wie vielfciltige Prozesse be­ruflicher Mobilitat, die oftmals nicht nur als "erzwungen", sondem haufig auch als soziale "Abstiege" erlebt wurden. Tendenzen der "Entstandardi­sierung" von Lebenslaufmustem und der "Flexibilisierung" von Erwerbs­arbeit, die sich im Westen schon seit den 70er Jahren finden, wurden da­bei in einem kurzen Zeitraum von wenigen Jahren "nachgeholt", wobei freilich, wie die Ergebnisse von Lebensstil- und Milieuuntersuchungen nahe legen (vgl. Vester 1993; Vester u.a. (Hg.) 1995; Vester 1998), die "subjektiven" Mentalitaten und Einstellungen den "objektiven" Arbeits­marktzwangen und Entstrukturierungen manchmal noch hinterherhinken. Dies lasst auch die Vermutung zu, dass die "subjektiven" Stabilitats- und Sicherheitserwartungen, die sich ja gerade aus solchen tiefsitzenden Men­talitatsmustem speisen, und entsprechende Biographieentwiirfe, die auf "stabile" Verhaltnisse setzten, zumindest bei den Ostdeutschen mittlerer und alterer Altersgruppen noch langer fortbestehen werden. Lediglich bei den jiingeren Altersgruppen, deren Milieuverankerung nicht zuletzt durch die nun wieder weiter geOffneten tertiaren Bildungsgange allmahlich auf­gelOst wird, werden sich die "subjektiven" biographischen Entwiirfe schneller den gewandelten "objektiven" Verhaltnissen anpassen. Offen bleibt dabei freilich, ob diese Anpassung in jeder Hinsicht nach dem be­kannten westlichen Muster verlaufen wird: Denn zumindest die ostdeut­schen Frauen - und darunter auch und gerade die jiingeren - sind nicht bereit, sich (wieder) von biographischen Entwiirfen, in denen die Er­werbsarbeit einen zentralen Stellenwert einnimmt, zu verabschieden.

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Abschlussdiskussion

Podiumsteilnehmer: Frau Sigrid Keler (Finanzministerin Mecklenburg-Vorpommem) Herr Dr. Thomas A. Lange (Direktor, Deutsche Bank Rostock) Herr Rainer Prachtl (Mitglied des Landtags Mecklenburg-Vorpommem und ehemaliger Landtagsprasident) Herr Prof. Dr. Peter Voigt (Institut fUr Soziologie, Universitat Rostock)

Diskussionsleitung: Prof. Dr. Michael Rauscher (Institut fUr Volkswirtschaftslehre, Universi­tat Rostock)

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Abschlussdiskussion 203

Zu Beginn der Veranstaltung hatten die Teilnehmer des Podiums Gele­genheit, sich in kurzen Einleitungsstatements zur wirtschaftlichen Situati­on Mecklenburg-Vorpommems zu auBem.

Frau Keler wies in ihrer Einleitung auf das Wirtschaftsgefalle in Deutsch­land hin: zum einen existiere ein Sud-Nord-, zum anderen auch ein West­Ost-Gefalle. Mecklenburg-Vorpommem sei das nordostlichste Bundes­land, was nicht nur die geographische sondem auch die wirtschaftliche Position des Landes charakterisiere. Ais dunnbesiedeltes Bundesland mit einer geringen industriellen Dichte erwirtschafte Mecklenburg­Vorpommem ein Bruttoinlandsprodukt, das gerade 54% des westdeut­schen Durchschnitts betrage. Der Unterschied zu den anderen ostdeut­schen Landem sei allerdings gering. Das Niveau der Arbeitslosigkeit liege unter dem von Sachsen-Anhalt und sei etwa so hoch wie in Sachsen. Nach der Wende sei Mecklenburg-Vorpommem ebenso wie alle anderen Bundeslander einem starken strukturellen Wandel ausgesetzt gewesen. Dies unterstrich Frau Keler mit Zahlen aus der Landwirtschaft: Vor der Wende gab es in diesem Bereich 200 000 Beschaftigte, heute hingegen nur noch 25 000.

Die Starken des nordostlichen Bundeslandes sieht Frau Keler vor all em in den Hochschulen und Universitaten einerseits und in den Technologie­parks andererseits. Fur diese Einrichtungen habe sich die Landesregierung auch sehr engagiert. Allerdings musse man den daraus resultierenden Entwicklungen Zeit geben. Die Zukunft des Landes liegt ihrer Meinung nach sowohl in der Landwirtschaft, die wieder zu Wettbewerbsfahigkeit gefunden habe, als auch in der Nahrungsguterwirtschaft und dem Touris­mus. Aufgrund der Starken in diesen Bereichen bOten sich Chancen fUr das Land, die man herausstellen sollte. Insgesamt sei die gegenwartige Si­tuation und auch die Perspektive flir die Zukunft besser, als man es auf­grund des weit verbreiteten Lamentierens erwarten sollte.

Frau Keler erkannte Chancen flir Mecklenburg-Vorpommem aus der Ver­lagerung des Regierungssitzes von Bonn nach Berlin. Es stimme sie op­timistisch, dass die Ostseeregion, zu der Mecklenburg-Vorpommem ge­hart, eine boomende Region ist. Auch erwarte sie von der Osterweiterung

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204 Abschlussdiskussion

der Europaischen Union positive Impulse ror das Bundesland. Allerdings hob sie hervor, dass trotz dieser Chancen ror die Zukunft die ostdeutschen Bundeslander finanzielle Unterstiitzung aus dem Landerfinanzausgleich fUr die kommenden zehn bis fiinfzehn Jahre benotigen wiirden.

Herr Dr. Lange wies noch einmal auf die komparativen Standortvorteile Mecklenburg-Vorpommems hin und fiihrte als Beispiele mit langfristigen Wachstumsperspektiven den Tourismus, die Telekommunikationsbranche sowie das Wamemiinder Technologiezentrum zur Forderung innovativer Untemehmen als ein wichtiges Instrument erfolgreicher WirtschaftsfOrde­rungspolitik auf.

Des weiteren betonte Dr. Lange den Deregulierungsdruck osteuropaischer Lander im Transformationsprozess und warb in diesem Zusammenhang urn Verstandnis fUr Anpassungsprobleme. Er gab im Hinblick auf die Dimensionen des Anpassungsdrucks zu bedenken, dass der Deregulierungsdruck flir eine einzelne Branche allein schon erhebliche AusmaBe annehme und fiihrte hier als Beispiel den Bankensektor vor dem Hintergrund der Deregulierung des deutschen Finanzmarktes an.

Bezugnehmend auf die Rede von Herm Dr. Rexrodt betonte Herr Pracht!, dass es bei der Umstrukturierung der Volkswirtschaften nicht nur auf die fachliche Kompetenz der Berater ankomme (Herr Dr. Rexrodt hatte in diesem Zusammenhang von Okonomen der Harvardschule gesprochen, die in der ersten Phase des Transformationsprozesses in Osteuropa die "reine Lehre" der Marktwirtschaft gepredigt hatten). Vielmehr miisse bei der Umgestaltung der friiheren sozialistischen Lander das Zusammenspiel verschiedener Bereiche berucksichtigt werden: Auch Okologie, soziale Fragen und der geistig-kulturelle Bereich sollten starker Eingang in die Betrachtung und Steuerung des Transformationsprozesses finden. Dazu ist seiner Meinung nach eine intensive Kommunikation aller Beteiligten unabdingbar. Er sprach in diesem Zusammenhang davon, dass 50% der osteuropaischen Wirtschaft von der Psychologie bestimmt wiirden.

Die Berucksichtigung der Nachbarlander, insbesondere der Pomerania­Raum, sei von besonderer Bedeutung ror Mecklenburg-Vorpommem.

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Diese intemationalen Verflechtungen miissten in Hinblick auf die Zukunft in weiteren Diskussionsrunden beachtet werden. SolidariUit, das Bewusst­sein fiir das Vorhandensein gemeinsamer Probleme und eine einheitliche wirtschaftliche Entwicklung in den beteiligten Landem, sei wichtig. In diesem Zusammenhang betonte er, dass in der Landesverfassung von Mecklenburg-Vorpommem die grenzuberschreitende Zusammenarbeit im Ostseeraum niedergeschrieben ist.

Prof Dr. Voigt wies in seinem Eingangsstatement daraufhin, dass Meck­lenburg Vorpommem ein Land mit sehr hoher Arbeitslosenqoute bleiben werde. Hierfiir gebe es folgende Ursachen:

• Es bestehe ein strukturbedingter und sich verstetigender Arbeitslosen­sockel.

• Die Entwicklungen des Technologiebereiches wiirden keine neuen Arbeitsplatze schaffen.

• Die Migrationsstrukturen Ost-West und West-Ost gleichen sich im Aggregat zwar an, aber es gebe deutliche Unterschiede in der Struktur der Migranten. Die Jugend wandert westwarts, altere Arbeitnehmer mit relativ hohen Durchschnittseinkommen migrieren in den Osten, was dort die soziale Ungleichheit verscharfe.

• Die weitere Entwicklung der Sektoren Tourismus und Dienstleistun­gen in Mecklenburg-Vorpommem sei kein "Allheilmittel". Das ergebe sich einerseits aus den quantitativ nur begrenzt moglichen Erweite­rungen der Angebote sowie andererseits aus der mangelnden Kauf­kraft der einheimischen Bevolkerung.

Zur Losung der mit der hohen Arbeitslosigkeit verbundenen sozialen Probleme empfahl Herr Voigt eine Verkurzung der Lebensarbeitszeit und eine Ausweitung der Beschaftigung im Offentlichen Sektor.

An Herrn Prachtl richtete sich die erste Frage aus den Publikum: Diese wurde von einem schwedischen Untemehmer gestellt, der ein Untemeh-

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men im Raum Rostock fiihrt. Er interessierte sich vor allem fUr die kon­krete Hilfestellung fUr Untemehmen, die in der Pomerania-Region grenz­ubergreifend Hitig sind. Auch erkundigte er sich nach der Bedeutung Schwedens in diesem Uindergrenzen uberschreitenden Projekt.

Herr Prachtl besUitigte in seiner Antwort, dass diese Konzepte einer prak­tischen, sich direkt auf die Untemehmenspolitik auswirkenden Umset­zung bedfuften. Auch Schweden musse in das Konzept der Pomerania­Region einbezogen werden. Frau Keler auBerte dazu, dass sie sich ver­starkt urn die Einbeziehung der Untemehmen bei der Vorbereitung der Osterweiterung ktimmem mochte.

Bei dieser Gelegenheit verwies Herr Prachtl noch darauf, dass Mecklen­burg-Vorpommem das Potenzial im Tourismus noch nicht voll ausge­schopft habe. So konne gerade der Trend zum Zweit- und Dritt-Urlaub und die Gewinnung einer hoheren Zahl auslandischer Touristen die Be­schaftigtenzahlen in Mecklenburg-Vorpommem noch erhohen.

AnschlieJ3end wurde die Gefahr einer zu intensiven Bewirtschaftung im Tourismusbereich angesprochen. Eine Intensivierung des Tourismus, et­wa durch Errichtung von "Bettenburgen" konnte letztendlich die Grund­lagen der Tourismuswirtschaft zerstoren. Gefragt wurde nach Moglich­keiten zur Steuerung dieser Entwicklung.

Frau Keler antwortete darauf, dass es eine Raumplanung flir drei Regio­nen gebe und eine daflir zustandige Abteilung beim Bauministerium an­gesiedelt sei. Man versuche Fehler, die in den westlichen Bundeslandem gemacht wurden, zu vermeiden.

Herr Dr. Lange wies auf die Problematik der Finanzierung von Erlebnis­badem hin und fligte bedauemd an, dass die Ergebnisse aus dem soge­nannten Badergutachten bei der Planung der Bader in Mecklenburg­Vorpommem nicht berucksichtigt wurden. Bezogen auf den komparativen Standortvorteil der Tourismusbranche betonte Herr Dr. Lange noch ein­mal die langfristigen Wachstumsperspektiven. Ais wichtigen Faktor flihr­te er hier insbesondere die steigende Inlandsnachfrage aufgrund eines sich

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andemden Reiseverhaltens der Deutschen an. Gleichzeitig wies er jedoch auf die Problematik von Engpassen seitens des Angebots hin, da baupla­nungsrechtlich keine groBen Hotels zugelassen willden und sich fur kleine Hotels die Problematik der Rentabilitat stelle.

Herr Dr. Lange wurde gefragt, inwieweit sich sein Institut bei der Finan­zierung des Mittelstandes engagiert.

Herr Dr. Lange raumte in diesem Zusammenhang ein, dass GroBbanken sich in Deutschland, zumindest im Durchschnitt, tendenziell aus dem Mit­telstandsgeschaft zurUckziehen, wies aber darauf hin, dass eine der Hauptaktivitaten der Deutschen Bank in den neuen Bundeslandem gerade in der Finanzierung des Mittelstandes bestehe. AUein die Deutsche Bank betreue in Rostock und Umgebung etwa 1 000 mittelstandische Unter­nehmen bei einer Gesamtzahl von insgesamt 1 280 mittelstandischen Un­temehmen, die in diesem Einzugsbereich insgesamt tatig sind. Der Schwerpunkt der FinanzierungsaktiviHiten richte sich hier im Besonderen auf die Landwirtschaft, den Tourismus und den Bereich der Dienstleis­tungen und Innovationen.

Frau Keler erganzte hierzu aus ihrer Erfahrung in der Funktion der obers­ten Sparkassenaufsicht, dass den Sparkassen in den neuen Bundeslandem eine herausragende Stellung zukomme. Dies gelte sowohl im Privatkun­dengeschaft als auch hinsichtlich der Finanzierung von Projekten inner­halb des Mittelstandes. Die Bedeutung der Sparkassen lasse sich an ihrem sehr hohen Marktanteil ablesen. Auch miisse in den neuen Landem be­riicksichtigt werden, dass es im Vergleich zu den alten Landem wenig In­dustrie gebe und damit die Struktur der Finanzierung eine andere sei.

Frau Keler wurde anschlieBend zu den Ansatzen zur Verminderung der Arbeitslosenzahlen befragt, die von Herrn Voigt vorgeschlagen wurde.

Eine Ausweitung der Beschaftigung im Offentlichen Sektor und eine Re­duktion der Lebensarbeitszeit erachtete die Ministerin als wenig sinnvoll, da so1che MaBnahmen sehr teuer und kaum zu finanzieren seien. Dagegen schlug sie eine Reduktion der wochentlichen Arbeitszeit ohne voUen

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Lohnausgleich vor, wie dies zum Teil im Offentlichen Dienst des Landes bereits praktiziert werde. Gemessen an der Bevolkerungszahl habe Meck­lenburg-Vorpommem schon zu viele Landesbeschaftigte. Dies sei zu an­demo Dann mache es allerdings keinen Sinn, dass auf der einen Seite aus Kostengriinden Stellen abgebaut wiirden und auf der anderen Seite Be­schaftigung auBerhalb des Offentlichen Dienstes, etwa in Form von Ar­beitsbeschaffungsmaBnahmen (ABM), offentlich finanziert wtirde. Damit habe man ohnehin keinen groBen Einfluss auf die Arbeitslosenquote, denn die Ausweitung des ABM-Bereichs fiihre haufig zur Vemichtung von Ar­beitsplatzen auf dem ersten Arbeitsmarkt.

Ftir die Zukunft erwartete die Ministerin eine Abnahme der Arbeitslosen­quote und der absoluten Zahl an Arbeitslosen. So verwies sie darauf, dass jetzt bereits in einigen Branchen Auszubildende fehlten und sich ein Facharbeitermangel abzeichne.

Bei dem nachsten Publikumsbeitrag wurde die Frage aufgeworfen, warum die Lage der Bauwirtschaft in Mecklenburg-Vorpommem immer als stag­nierend dargestellt werde, obwohl tiberall starke Bauaktivitaten zu beo­bachten seien.

Herr Dr. Lange gab angesichts des scheinbaren Booms der Baubranche zu bedenken, dass die Probleme vomehmlich nachfrageinduziert seien, da bei den meisten Projekten weder eine zukiinftige Vermietung noch ein etwaiger Verkauf gesichert seien. Er wies in diesem Zusammenhang auf den aufgrund des steigenden Angebots fallenden Mietspiegel fUr Gewer­beraume in Rostock hin.

Frau Keler fUhrte hierzu an, dass die Baubranche in den neuen Bundes­landem im Vergleich zu den alten Bundeslandem ein weit sHirkeres Ge­wicht am Bruttoinlandsprodukt einnehme. Der Grund dafUr sei der riesige Nachholbedarf, der sich nach der Wende im Baugewerbe gezeigt habe. Dies werde sich nun jedoch andem. So sei zwar noch die Nachfrage nach Wohnungsbauten gut, jedoch herrsche kaum noch Nachfrage fUr gewerb­liche Bauten. In den nachsten Jahren werde der Anteil des Baugewerbes

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am Bruttoinlandsprodukt in Mecklenburg-Vorpommem (zur Zeit noch ca. 14%) folglich deutlich zurUckgehen.

Ein junger Zuhorer fragte, welche Perspektiven fur seine Generation in Mecklenburg-Vorpommem bestiinden. Er sah die Bereiche Tourismus, Landwirtschaft und Nahrungsgiiterindustrie als wenig zukunftstrachtig an. Herr Prachtl entgegnete, dass im Tourismus sehr wohl noch Arbeitsplatze entstehen wiirden. Allerdings wiirden auch andere Industrie- und Dienst­leistungsbereiche Zukunftschancen erOffnen. Er baute dabei vor all em auf Innovationen z.B. in der Umwelttechnik, auf Hightech und auch auf die Raumfahrtindustrie, die in Mecklenburg-Vorpommem vertreten sei. Des­wegen mUssten den Untemehmen Freiheiten zugestanden werden, urn In­novationen zu ermoglichen.

Die letzte Frage bezog sich auf die Bedeutung der maritimen Wirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern.

Frau Keler ergriff die Gelegenheit darauf hinzuweisen, dass es sich bei diesem Sektor urn einen Kembereich der Industrie des Landes handele. Daher unterstiitze die Regierung von Mecklenburg-Vorpommem die drei Werften ebenso wie die Hafen des Landes.

Die Erhaltung industrieller Keme sei wichtig, da sich urn diese Keme herum andere Untemehmen entwickeln konnten. Frau Keler bemerkte ab­schlieI3end, dass die Produktionsbeschrankungen, die die Europaische U­nion den hiesigen Werften auferlegt hat, sich als groI3es Problem 1m Wettbewerb mit der koreanischen Konkurrenz erwiesen.

Herr Dr. Lange berichtete in diesem Zusammenhang, dass innerhalb sei­nes Instituts ein Zentrum eingerichtet worden sei, das sich unter seiner Leitung mit Fragen und Problemstellungen der maritimen Wirtschaft be­schaftige.

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AUS DER REIHE Gabler Edition Wissenschaft

"Marketing und Innovationsmanagement" Herausgeber: Prof. Dr. Martin Benkenstein

zuletzt erschienen:

Antje Bastian Erfolgsfaktoren von Elnkaufszentren Ansatze zur kundengerichteten Profilierung 1999. XVIII, 204 S., 31 Abb., 17 Tab., Br. DM 89,00 ISBN 3-8244-6972-3

Martin Benkenstein/Karl-Heinz Brillowski/Michael Rauscher/Nikolaus Werz (Hrsg.) Polltlsche und wlrtschaftllche Transformation Osteuropas Chancen und Potenziale fOr die neuen Bundeslander 2001. VIII, 209 S., 50 Abb., 5 Tab., Br. DM 89,00 ISBN 3-8244-7251-1

Dirk Forberger Emotlonale Determlnanten der Dlenstlelstungsqualitiit Entwicklung und OberprGfung eines Messkonzeptes 2000. XVIII, 240 S., 40 Abb., 11 Tab., Br. DM 98,00 ISBN 3-8244-7232-5

Nils Hafner Servlcequalltiit des Telefonmarketlng Operationalisierung und Messung der Dienstleistungsqualitat im Call Center 2001. XVIII, 144 S., 19 Abb., 6 Tab., Br. DM 89,00 ISBN 3-8244-7327-5

KaiKunze Kundenblndungsmanagement In verschiedenen Marktphasen 2000. XV, 149 S., 26 Abb., 14 Tab., Br. DM 89,00 ISBN 3-8244-7216-3

www.duv.de

Anderung vorbehalten. Stand: Januar 2001.

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