Universiteit Gent
Faculteit Letteren en Wijsbegeerte
Masterscriptie
Promotor: Prof. Benjamin Biebuyck
Duitse letterkunde
Postdramatik in Strauß’ Schlußchor
Eine Untersuchung über den postdramatischen Kennzeichen in Botho
Strauß„ Theaterstück Schlußchor anhand einer Analyse von Zeit und Optik.
Verhandeling voorgelegd aan de
Faculteit Letteren en Wijsbegeerte
Voor het behalen van de graad van
Master in de Taal- en Letterkunde:
Duits- Zweeds
door
Jozefien Vanbecelaere
00700596
Vorwort
Diese Magisterarbeit wurde im Fachgebiet der deutschen Literaturwissenschaft
geschrieben und ist der letzte Schritt mein Magisterdiplom der Sprach - und
Literaturwissenschaft Deutsch - Schwedisch zu erwerben. Ich möchte mich gerne noch
bei einigen Leute bedanken ohne deren Hilfe und Unterstützung diese umfangreiche
Arbeit nicht möglich gewesen wäre.
Mein besonderer Dank gilt Professor Benjamin Biebuyck für die weitgehende
Betreuung der Arbeit. Professor Wolfgang Behschnitt danke ich dafür, mein Interesse
für Theater geweckt und mir mit seinem Seminar, Kenntnisse im Gebiet des
postdramatischen Theaters beigebracht zu haben.
Mein Vater und Freund bekommen meinen Dank für ihre Hilfe beim Erstellen der
Grafiken und beim Lösen der Computerprobleme.
Weiterhin möchte ich meine Familie, meinen Freund und meinen Freunden und
Kommiliton(inn)en danken die mich in den letzten Monaten mit viel Geduld begleitet
haben und mir die notwendige positive Energie gegeben haben.
Jozefien Vanbecelaere
Inhalt
0. Einleitung S. 6
1. Botho Strauß„ Schlußchor S. 7
1.1.Botho Strauß: Figur der Widersprüchlichkeit S. 7
1.2.Schlußchor S. 9
1.3.Bisherige Forschung S. 12
1.4. Hauptmotiv des Stückes: Augenblick S. 14
2. Methodologie S. 15
3. Postdramatisches Theater S. 18
3.1.Verlust der Synthesis S. 20
3.2.Präsentation im postdramatischen Theater S. 22
3.3.Botho Strauß„ Ästhetik der Präsenz S. 25
4. Zeit im Theater S. 28
4.1.Dramatische Zeitästhetik S. 29
4.2.Postdramatische Zeitästhetik S. 31
4.3.Postdramatische Zeitästhetik in Schlußchor S. 32
4.4.Analyse der Zeit in Schlußchor S. 35
4.4.1. Zeit im ersten Akt S. 36
4.4.1.1.Explizite Verweise auf Zeit S. 36
4.4.1.2.Implizite Verweise auf Zeit S. 39
4.4.1.3.Die Text-Zeit S. 41
4.4.2. Zeit im zweiten Akt S. 43
4.4.2.1.Explizite Verweise auf Zeit S. 43
4.4.2.2.Implizite Verweise auf Zeit S. 53
4.4.2.3.Mythosverarbeitung S. 55
4.4.3. Zeit im dritten Akt S. 56
4.4.3.1.Explizite Verweise auf Zeit S. 56
4.4.3.2.Persönliche Geschichten S. 60
4.4.3.3.Mythosversuch S. 63
4.4.4. Schlussfolgerungen Zeit S. 64
5. Optik im Theater S. 65
5.1.Optik im dramatischen Theater S. 66
5.2.Raum im postdramatischen Theater S. 67
5.3.Optik im postdramatischen Theater S. 69
5.4.Postdramatische Optik in Schlußchor S. 71
5.5.Analyse der Optik in Schlußchor S. 72
5.5.1. Optik im ersten Akt S. 73
5.5.1.1.Explizite Verweise auf Optik S. 73
5.5.1.2.Implizite Verweise auf Optik: Optik des Publikums S. 80
5.5.1.3.Optik und Medien S. 81
5.5.2. Optik im zweiten Akt S. 82
5.5.2.1.Explizite Verweise auf Optik S. 82
5.5.2.2.Implizite Verweise auf Optik S. 89
5.5.3. Optik im dritten Akt S. 91
5.5.3.1.Explizite Verweise auf Optik S. 91
5.5.3.2.Implizite Verweise auf Optik: Deutschlandthema S. 93
5.5.4. Schlussfolgerungen Optik S. 95
6. Schlussfolgerungen S. 96
6.1.Entwicklungen S. 96
6.2.Präsentation oder Repräsentation S. 98
6.3.Ausblick S. 99
7. Bibliografie S. 101
8. Anlage 1: Zeit und Optik S. 103
9. Anlage 2: Zeit S. 107
10. Anlage 3: Optik S. 110
11. Tabellen
6
0. Einleitung
DER VERSPROCHENE Ich wollte dir‟s nun endlich zeigen, mein Liebes. Etwas, über
das wir hin und her gesprochen haben. Etwas nicht ganz Überraschendes vielleicht,
und doch-1
Gleich wie der Versprochene in diesem Zitat, aus dem zweiten Akt des Stückes Schlußchor
von Botho Strauß, etwas zeigen will, anstatt sich nur anhand des Sprechens zu äußern, wird
im postdramatischen Theater die Sprache nicht länger als das bedeutendste
Ausdrucksmittel betrachtet. Das postdramatische Theater kennzeichnet sich durch neue
Typen des Zeichengebrauchs, die an die Stelle der Sprache, der Stimme und des Textes
treten. Der postdramatische Zeichengebrauch soll dazu führen, dass ein Stück präsentiert
statt repräsentiert wird.
In dieser Arbeit will ich untersuchen, inwieweit die postdramatischen Merkmale auch
im Theaterstück Schlußchor von Botho Strauß vorzufinden sind. Ich gehe vor allem der
Frage nach wie wichtig in diesem Schauspiel der Text im Vergleich zu den anderen
Theaterzeichen ist. Um die Wichtigkeit des Theatertextes untersuchen zu können,
analysiere ich die Darstellung des Hauptmotivs 'Augenblick'. Der Augenblick wird in
Schlußchor zeitlich, in der Bedeutung eines Moments, und visuell, in der Bedeutung eines
Blickes der Augen, aufgefasst. Im ersten Akt des Stückes ist diese zweigliedrige Bedeutung
des Augenblickes klar, aber auch in den anderen Akten kann die Doppelbedeutung
weitergeführt werden. Ich untersuche, wie wichtig der Text als Ausdrucksmittel für die
Darstellung der Zeit und der Optik im Theaterstück ist anhand einer gezielten, quantitativen
Korpusanalyse. Das Korpus enthält die expliziten Äußerungen in Bezug auf Zeit und Optik.
Aus diesem Korpus ist auch die implizite Thematisierung der Zeit und der Optik
abzuleiten. Am Ende dieser Arbeit hoffe ich folgern zu können, wie Zeit und Optik in
Schlußchor präsentiert oder repräsentiert werden. Daraus kann ich hoffentlich schließen, in
welchem Maße das Theaterstück postdramatisch zu deuten ist.
In den nächsten Kapiteln gebe ich mehr Erläuterung zum Autor des Stückes, Botho
Strauß, zum Theaterstück selbst, zu der Forschungsliteratur, die ich
1 Strauß, Botho: Theaterstücke II. München, Wien: Carl Hanser, 1991, S. 433.
7
in dieser Arbeit benutze und zum Hauptmotiv 'Augenblick'. Darauf beschreibe ich
gemäß welcher Methodologie ich in dieser Arbeit vorgehe.
1. Botho Strauß‘ Schlußchor
1.1. Botho Strauß: Figur der Widersprüchlichkeit
Botho Strauß, 1944 geboren, ist einer der wichtigsten Schriftsteller der deutschen
Literaturgeschichte. Das ergibt sich unter anderem aus den zahlreichen Auszeichnungen,
die er bekommen hat, unter denen der Georg-Büchner-Preis im Jahre 1989 und der
Theaterpreis Berlin im Jahre 1993. Er hat Germanistik und Theaterwissenschaften studiert,
und das spiegelt sich in seinem umfassenden Oeuvre wider, das sowohl Theaterstücke als
auch Romans und Essays enthält. Seine Stücke werden sehr viel aufgeführt, und über seine
Prosastücke wird sehr viel debattiert. Botho Strauß hat als Dramaturg bei dem
Theaterregisseur Peter Stein angefangen und hat in dieser Zeit auch Beiträge für die
Zeitschrift Theater heute geschrieben.
[Er] debütierte Anfang der 70er Jahre mit eigenen Theaterstücken (Die Hypochonder,
1972; Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle, 1974; Trilogie des Wiedersehens,
1976; Groß und klein, 1977; Der Park, 1983). Neben seinen Arbeiten für das
Theater, unter denen die Kalldewey Farce (1981) einen überaus großen Erfolg hatte,
veröffentlichte Strauß seit Mitte der 70er Jahre Erzählungen und Romane (Die
Widmung, 1978; Rumor, 1980; Paare, Passanten, 1981; Der junge Mann, 1984),
eine Elegie (Diese Erinnerung an einen, der nur eine Nacht zu Gast war, 1985) sowie
Fragmente und Reflexionen.2
In Stücke wie Kalldewey, Farce (1981); Der Park (1983); Die Fremdenführerin (1986)
und Die Zeit und das Zimmer (1989) wurde, so Christoph Parry, das Mythische direkt in die
Gegenwart hineingetragen. Seiner Meinung nach gehört die kaum noch bewusste Ahnung
des Mythischen in einer mythosfernen Zeit zu den Grundmotiven von Strauß„ Werk.3
2 Wolfgang Beutin et al: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Siebte
erweiterte Auflage mit 545 Abbildungen. Stuttgart, Weimar: Metzler 2008, S. 659f. 3 Christoph Parry: „Der Aufstand gegen die Totalherrschaft der Gegenwart. Botho Strauß„ Verhältnis zu
Mythos und Geschichte.“ In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. (Heft 81, 1998), S. 54.
8
Am 8. Februar 1993 erschien sein komplexes Essay mit dem Titel anschwellender
Bocksgesang im Spiegel, das heftige Reaktionen auslöste, weil es das Etikett
rechtskonservativ bekam. In diesem Text übte Strauß Kritik an den Medien, die seiner
Meinung nach die Trennung zwischen Masse und Elite herbeigeführt hatten und in dieser
Elite gibt es, so Strauß, eine Spaltung zwischen diejenigen die an diesen Medien glauben
und diejenigen die ihre eigene Meinung befolgen. Indem es wie eine Revolution der
Konservativen gesehen wurde, bedeutete dieses Essay eine Bruchlinie in Strauß„ Arbeit.
Von diesem Text an, ist er zu einer kontroversen Figur geworden, der nicht zögert Kritik an
der heutigen Gesellschaft zu äußern. Manche meinten sogar, dass wegen dieses Essays auch
seine frühere Arbeit neu interpretiert werden musste.
Zu dieser Zeit schrieb er noch einige Prosatexten „in denen auf eine geschlossene
Handlung verzichtet wird.“4 Beginnlosigkeit (1992), Die Fehler des Kopiisten (1997) und
Das Partikular (2000). Nach Watzlaff Capsugel sind diese Texte „Sammelsurien
kulturkritischer Erwägungen, die Strauß eindeutig im rechtsintellektuellen Raum der
Gegenwart situieren.“5 In den 90er Jahren hat er auch wieder Theaterstücke geschrieben
(Schlußchor, 1991; Das Gleichgewicht, 1993; Die Ähnlichen, 1998; Der Kuß des
Vergessens, 1998)
In den meisten Biografien oder Übersichten von Strauß„ Werken wird gesprochen
von einer frühen und einer späten Phase im Oeuvre von Strauß. Der frühe Strauß ist vor
allem bekannt wegen seiner Dramas und Erzählungen wie Die Widmung, mit denen er
hohes Ansehen bekam. Er wird in Bezug auf dieses Schaffen ein „Menschenbeobachter“6
genannt. Der späte Strauß ist der Strauß des Essays Anschwellender Bocksgesang, das
„jener medien-und zivilisationskritischen Streitschrift, die ‚1993 der am heftigsten
debattierte kulturpolitische Beitrag eines deutschen Schriftstellers ›war und ein ‚in der
Nachkriegsgeschichte deutscher Literatur beispielloses Medienecho aus(löste), das bis
heute nicht verstummen will‹.“7 Es gibt aber noch andere Meinungen, die sagen, dass man
4 Beutin et al: Deutsche Literaturgeschichte, S. 696.
5 Watzlaff Capsugel,: Der rückwärtsgewandte Prophet. Botho Strauß in Studien und Stücken.
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=1689 (abgerufen am 23. Februar 2011) 6 Thomas Roberg: „Wie im Buch, so auf der Bühne? Zur Dramenpoetik und Theaterästhetik von Botho Strauß
in den neunziger Jahren.“ In : Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. (Sonderband, 2004) S. 107. 7 Roberg: auf der Bühne, S. 107.
9
Strauß gar nicht in Phasen aufteilen kann und dass seine Arbeit schon immer kontrovers
gewesen war.
Obwohl die Nachwehen des Essays Anschwellender Bocksgesang den Anschein
hätten, nicht aufzuhören, hat Strauß„ Schaffen schon wieder eine neue Wendung
genommen. Im Jahre 2004 wird er wegen seines 60. Geburtstags geehrt. Seitdem hat er
noch einige Essays (Der Konflikt im Spiegel, Februar 2006; Der Maler löst den Bann in
Der Spiegel, 2008), Stücke (Die Schändung, 2006; Leichtes Spiel. Neun Personen einer
Frau, 2009), Geschichten (41 Kalendergeschichten 2006) und eine Novelle (Die
Unbeholfenen 2007) geschrieben.
Wichtig beizubehalten beim Lesen von Strauß ist, dass Botho Strauß ein „poetischer
Figur der Widersprüchlichkeit“8 ist. Er kann nicht einfach einer Strömung zugeordnet
werden, denn seine Werke werden manchmal konservativ, manchmal postmodern genannt.
In Herwig Gottwalds Studie der Mythos und Mythisches in der Gegenwartsliteratur wird
erwähnt dass die Frage der Zugehörigkeit zur Postmoderne im Zentrum vieler Bemühungen
der Strauß-Forschung steht. Gottwald kommt zu der Schlussfolgerung dass Strauß„
vielschichtige und komplexe Arbeit vielmehr als Prozess betrachtet werden muss, in dem
unterschiedlichste Haltungen, Themen und Wertungen ihre spezifischen Ausprägungen
erfuhren. 9
Zwar ist sein Oeuvre nicht einfach, denn es ist manchmal schwierig einen
übergreifenden Handlungsstrang zu finden, doch wird Strauß„ Werk in der
deutschsprachigen Welt sehr viel gelesen und gespielt.
1.2. Schlußchor
Das 1991 erschienene Theaterstück Schlußchor, ist einer der späteren Texte von Botho
Strauß. Es gehört zu Strauß„ zweiter Reihe von Theatertexten. Schlußchor enthält drei auf
den ersten Blick unabhängige Akten. Erst im dritten Akt des Stückes wird deutlich, dass
8 Stefan Willer: Botho Strauß zur Einführung. Hamburg: Junius, 2000, S. 141.
9 Herwig Gottwald: Mythos und Mythisches in der Gegenwartsliteratur. Studien zu Christoph Ransmayr,
Peter Handke, Botho Strauß, George Steiner, Patrick Roth und Robert Schneider. Stuttgart: Heinz, 1996, S.
97f.
10
dieses Stück auf die Geschichte Deutschlands verweist. Es ist eine Reaktion auf den Fall
der Mauer und die Folgen der Wende. Aber auch in diesem Schauspiel, das von so einem
aktuellen Thema handelt, hat Strauß (im zweiten Akt) einen Mythos eingearbeitet. Und
auch der Titel hat eine Art mythische Bedeutung.
Die Bezeichnung des Textes deutet auf den abschließenden Satz der „Neunten
Symphonie“ von Ludwig van Beethoven. Diese wird, als Zeichen der Dekomposition
und Neuordnung zugleich, 1989 zum Zeitpunkt der Demontage der Mauergrenze,
dirigiert von Leonard Bernstein, zur Aufführrung gebracht und dann noch einmal
1990 am Tag vor der Wiedervereinigung, musikalisch geleitet von Kurt Masur.10
Schlußchor wurde am 1. Februar 1991 in den Münchner Kammerspielen
uraufgeführt. Zwei Jahre nach dem Fall der Mauer gab es für dieses Schauspiel, das von
dem aktuellen Mauerfall handelt, ein großes Interesse, aber die herrschende Reaktion war
eher negativ.
Die Leute hatten ein Stück über die Freude der Menschen beim Fall der Mauer
erwartet und waren von der skeptischen Sicht des Stücks und der Regie Dieter Dorns
tief enttäuscht. Zudem: ›Botho Strauß hat die Ossis so klischeehaft gezeichnet, wie
der Durchschnitts-Wessi sich DDR-Bürger vorstellt. Und Regisseur Dieter Dorn gibt
durch Übertreibung in Kostümierung und Typisierung noch eins drauf-und kann nicht
verhindern, daß die Zuschauer die Darstellung für bare Münze nehmen.‹11
Eine vernichtende Kritik kam von Gräfin von Dönhoff, Herausgeberin der Zeit, sie schrieb:
„›Es ist nämlich kein Stück; es sind vielmehr drei Sketches, die miteinander nichts zu tun
haben […].‹ Insgesamt handele es sich um ein ›ärmliches Stück‹, eine ›Mischung aus
Mythologie, Banalität und Pseudophilosophie‹, bei dem ›einem gar nicht wohl‹ sei.“12
Auf
diese scharfe Kritik hat Strauß mit einem Brief an die Zeit reagiert, in dem er den Inhalt
seines Stückes zusammenfasst: „Es handelt in allen drei Teilen vom Auge und vom
Augenblick, den man nicht gewärtigen, nicht ‚sehen„ kann.“13
Trotz dieser Erklärung gibt
es nach Frank Thomas Grub doch in nahezu allen Besprechungen, aber auch in tiefer
gehenden Analysen, eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der Beurteilung des
10
Andreas Englhart: Im Labyrinth des unendlichen Textes: Botho Strauß‘ Theaterstücke 1972-1996.
Tübingen: Niemeyer, 2000, S. 241. 11
Gunter Schandera: „Ausstehende Begegnung. Zur Botho-Strauß-Rezeption in der DDR und den neuen
Bundesländern.“ In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. (Heft 81, 1998) S. 146. 12
Frank Thomas Grub: >Wende< und >Einheit< im Spiegel der deutschsprachigen Literatur. Berlin: Walter
de Gruyter, 2003, S. 505. 13
Herbert Grieshop: Rhetorik des Augenblicks. Studien zu Thomas Bernhard, Heiner Müller, Peter Handke
und Botho Strauß. Würzburg: Königshausen und Neumann, 1998, S. 196.
11
Straußschen Stückes spürbar.14
Spätere Aufführungen, die von anderen Regisseuren
inszeniert wurden, bekamen weniger Kritik. Ob der Grund dafür wirklich die andere
Inszenierung war oder ob das eher zu tun hatte mit dem größeren Abstand zu dem
historisch passierten, ist nicht deutlich.
Weil das Deutschlandthema erst im dritten Akt deutlich wird und dadurch die
Bedeutung der ersten zwei Akten, im Zusammenhang mit diesem Deutschlandthema nicht
so leicht erschließbar ist, war die Kritik auf die Verarbeitung des Mauerfalls weniger
scharf. „Angesichts dieser Verrätselungsstrategien blieb dem Schlußchor in der Kritik der
Vorwurf weitgehend erspart, er plädiere mit seiner Symbolik für ein bestimmtes
Nationalgefühl.“15
Die meisten Interpretationen und Kritiken des Stückes gehen von dem
Fall der Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands aus, obwohl das, so Thomas
Oberender, „nicht das eigentliche Thema des Stücks“16
ist.
Bevor ich mit meiner Suche nach einem geeigneten Thema für meine Magisterarbeit
angefangen hätte, wusste ich schon dass ich über ein postdramatisches Theaterstück
schreiben wollte. Theater und vor allem die neuen Entwicklungen die die Darstellungskunst
erlebt interessieren mich. Ich bin zu Schlußchor gekommen, nachdem ich eine ganze Reihe
von postdramatischen Stücken, von Botho Strauß und anderen Autoren wie Heiner Müller
und Elfride Jelinek, gelesen hatte. Das Rätselhafte dieses Stückes hat mich angesprochen.
Vor allem die Wahl der Akten hat mich intrigiert: Weshalb wählt Strauß gerade diese drei
Akten? Was sind die Elemente, die aus diesen drei Akten, wenn sie auch mit ganz
verschiedenen Gestalten von drei ganz unterschiedlichen Situationen ausgehen, eine
Ganzheit bilden? Und auf welche Weise steht nicht nur den dritten Akt, aber alle Akten in
Beziehung zum Fall der Mauer? Die größte Frage die ich mich stellte war auf welche Art
und Weise Schlußchor postdramatisch ist. Als ich dann angefangen hatte Sekundärliteratur
über Schlußchor zu lesen, ist mir deutlich geworden dass nicht nur das Deutschlandthema,
sondern auch das Motiv 'Augenblick' den Zusammenhang in den drei Akten bestimmt.
Über die postdramatischen Merkmale des Schauspiels war aber nicht so viel zu finden.
14
Grub: Wende und Einheit, S. 505. 15
Willer: Strauß zur Einführung, S. 127. 16
Thomas Oberender: „Die Wiederrichtung des Himmels. Die ››Wende‹‹ in den Texten von Botho Strauß.“
In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. (Heft 81,1998) S. 80.
12
1.3. Bisherige Forschung
Die Literatur zu Schlußchor ist nicht umfangreich und besteht vor allem aus kürzeren
Kapiteln oder Artikeln die ein einziges Aspekt der Text untersuchen. Der größte Teil der
Forschung zu Schlußchor beschäftigt sich mit der Frage, wie Strauß in dieses Stück die
deutsche Geschichte und den Fall der Mauer eingearbeitet hat. Thomas Oberender
beschreibt in Die Wiedererrichtung des Himmels. Die ›Wende‹ in den Texten von Botho
Strauß wie das Jahr 1989 auch für Strauß als Denker eine Wende bedeutete. In Schlußchor
wird das Unvorhersehbare der Wende anhand von Worten wie 'Versehen' wiedergegeben. 17
Die Frage nach der Verarbeitung der deutschen Geschichte ist im Gegensatz zum
Thema der meisten Artikeln, nicht der Ausgangspunkt meiner Untersuchung. Um die
postdramatischen Kennzeichen des Stückes Schlußchor zu untersuchen habe ich mich vor
allem auf die Resultaten Robergs, Grieshops und Damms Arbeiten basiert. In seinem
Artikel „Wie im Buch, so auf der Bühne. Zur Dramenpoetik und Theaterästhetik von Botho
Strauß in den neunziger Jahren“18
hat Thomas Roberg Strauß„ Programmatik, die
sogenannte 'Ästhetik der Präsenz' untersucht, und er vergleicht diese mit Hans-Thies
Lehmanns Theorie des postdramatischen Theaters. Er konkludiert Folgendes:
Mag Botho Strauß auch der Postdramatik fern stehen, so verbindet ihn doch mit ihr
das zeitgenössische Anliegen, ›eine Antwort des Theaters auf die veränderte
gesellschaftliche Kommunikation unter den Bedingungen der verallgemeinerten
Informationstechnologie zu geben‹ - wobei die Antwort seines Theaters freilich
anders ausfällt als die der postdramatischen Autoren.19
Robergs Meinung nach übt Strauß„ Theater wie die meisten postdramatischen Autoren (die
von Hans-Thies Lehmann in seiner Theorie des postdramatischen Theaters beschrieben
werden) Kritik an der Mediengesellschaft. Während andere postdramatische Autoren die
Oberflächlichkeit der Medien an sich kritisieren, stellt Strauß die Position des Dichters in
der Mediengesellschaft, also seine eigene Position, in Frage. Nach Strauß ist ein Dichter ein
17
Oberender: Wiederrichtung des Himmels, S 77. 18
Thomas Roberg: „Wie im Buch, so auf der Bühne? Zur Dramenpoetik und Theaterästhetik von Botho
Strauß in den neunziger Jahren.“ In : Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband. Hg. v. Heinz
Ludwig Arnold. München : Boorberg Verlag, 2004. 19
Roberg: auf der Bühne, S. 113.
13
Gedächtnisbildner der in Opposition zur Gegenwart steht. Ein Versuch die Vergangenheit
mit der Gegenwart zu versöhnen ist Strauß„ Konzept der Ästhetik der Präsenz, das ich im
Kapitel 3.3. Botho Strauß‘ Ästhetik der Präsenz näher erläutern werde.
Ich gehe davon aus, dass Strauß„ Ästhetik der Präsenz und Lehmanns Theorie des
postdramatischen Theaters grundsätzlich verschieden sind und untersuche inwieweit
Schlußchor an die Kriterien des von Lehmann postulierten postdramatischen Theaters
beantwortet. Ich stelle mich also die Frage wie fern Botho Strauß, was den Stück
Schlußchor anbelangt, der Postdramatik eigentlich steht und das mache ich anhand einer
Analyse des Hauptmotivs des Stückes: der Augenblick. Dieses Hauptmotiv wurde schon
von Herbert Grieshop in der Rhetorik des Augenblicks20
weitgehend untersucht. Er hat 'den
Augenblick' aber nur zeitlich aufgefasst, davon zeugt das Wortfeld, das Grieshop mit dem
Begriff 'Augenblick' verbindet: „Moment, Sekunde, plötzlich, aufeinmal, augenblicklich,
jetzt, etc.“21
Die Tatsache, dass man den Augenblick in eine zeitliche und eine optische
Komponente aufteilen kann, hat Grieshop nur ganz kurz erwähnt. Er spricht einmal von
dem Augenblick „in seiner visuell-temporalen Doppelbedeutung“.22
Es erscheint mir
nützlich diese Doppelbedeutung des Wortes 'Augenblick' weiter zu untersuchen. Im
nächsten Kapitel Hauptmotiv des Stückes: Augenblick werde ich die Gründe für diese
Aufteilung genauer erklären. Für die Analyse der Optik habe ich unter anderem Steffen
Damms Untersuchung in Anspruch genommen. Er hat detailliert die Rolle der Optik und
des Blickes in Schlußchor untersucht, allerdings ohne die Optik aus dem Hauptmotiv
'Augenblick' abzuleiten und die mit Lehmanns postdramatischen Theater zu verbinden.
Grieshop berührt im Kapitel „Jenseits von Sprache und Text“ kurz die Frage, ob das
Augenblicksmotiv in Schlußchor auch jenseits von Sprache und Text gestaltet wird. Auch
er verbindet diese Frage nicht mit der Theorie des postdramatischen Theaters. Meiner
Meinung nach können diese zwei Elemente jedoch nicht unabhängig aufgefasst werden,
denn das postdramatische Theater ist ein Theater, das jenseits des linguistischen Textes
Musik, Video, Tanz oder andere Techniken benutzt.
20
Herbert Grieshop: Rhetorik des Augenblicks. Studien zu Thomas Bernhard, Heiner Müller, Peter Handke
und Botho Strauß. Würzburg: Königshausen und Neumann, 1998. 21
Grieshop: Augenblick, S. 11. 22
Grieshop: Augenblick, S. 198.
14
Ich werde nicht nur die Aufteilung des Hauptmotives 'Augenblick' in 'Zeit' und 'Optik'
weiter ausarbeiten, sondern auch untersuchen, wie in Schlußchor jenseits von Sprache und
Text Zeit und Optik postdramatisch präsentiert werden. Wie gesagt, verwende ich Hans-
Thies Lehmanns Theorie des postdramatischen Theaters als theoretischen Rahmen für
meine Arbeit.
1.4. Hauptmotiv des Stückes: Augenblick
Das zentrale Motiv in Schlußchor ist 'der Augenblick'. Weshalb der Augenblick so wichtig
ist wurde schon in der Forschungsliteratur untersucht. Der Fall der Mauer ist, nach Thomas
Oberender, „nur eine Dimension jener weit allgemeiner aufgefaßten Plötzlichkeit, die im
Motiv und Vorgang des ›Versehens‹ das Stück bestimmt.“23
Strauß selbst beschreibt dieses
Versehen wie ein „Augenblick, den man nicht gewärtigen, nicht sehen kann.“24
Nach
Grieshop wird der Augenblick in Schlußchor in den drei Akten von einer anderen Figur auf
eine andere Weise verpasst. Grieshop nennt seiner programmatischer Vorsatz „der Auch als
das geheime Motto von Schlußchor dienen könnte, den ›genetischen Code des Augenblicks
zu entschlüsseln‹“25
Und das ist gerade was ich hier auch versuchen werde. Ich
entschlüssele den Augenblick dadurch, dass ich es in Zeit und Optik aufteile.
Ein erster Grund für diese Aufteilung ist semasiologisch.26
Im Duden wird der
Augenblick definiert als „Augenblick [auch:--‚-], der [mhd. ougenblick, eigtl.: (schneller)
Blick der Augen]: Zeitraum von sehr kurzer Dauer; Moment“ Es stellt sich heraus, dass ein
Augenblick sowohl eine zeitlich (Zeitraum von sehr kurzer Dauer) wie auch eine optisch
(Blick der Augen) bestimmte Erfahrung ist. Ein zweiter Grund für diese Aufteilung ist
onomasiologisch27
und wird daher in dem Stück selbst vorgefunden. In Schlußchor sind
23
Oberender: Wiederrichtung, S. 80. 24
Grieshop: Augenblick, S. 196. 25
Grieshop: Augenblick, S. 189. 26
„Die semasiologische Perspektive beschäftigt sich mit der Wortbedeutung. Sie nimmt das Wort als
Ausgangspunkt für die Untersuchung der mit diesem Wort in Verbindung stehenden Bedeutungen oder
Objekte.“ Agnes Tafreschi: Zur Benennung und Kategorisierung alltäglicher Gegenstände: Onomasiologie,
Semasiologie und kognitive Semantik. Kassel: university press, 2005, S. 14. 27
„Die onomasiologische Perspektive geht umgekehrt vor. Ausgangspunkt ist die Bedeutung oder das Objekt,
und untersucht werden die Worte, die für dieses Kategorienkonzept oder dieses Objekt verwendet werden
15
Optik und Zeit sehr wichtig. Das stellt sich erstens schon in den Titeln der drei Akten
heraus. Der Titel des ersten Aktes „Sehen und Gesehenwerden“28
handelt deutlich von
Optik. Der Titel des dritten Aktes „Von nun an“29
thematisiert eine zeitliche Erfahrung, und
der Titel des zweiten Aktes „Lorenz vor dem Spiegel (Aus der Welt des Versehens)“30
behandelt explizit, mit den Worten 'Spiegel' und 'Versehen', das Visuelle, und implizit, mit
dem Wort 'Versehen', auch die Zeit. Zweitens werden in den verschiedenen Akten sowohl
Zeit als auch Optik thematisiert, darauf gehe ich im Mittelteil meiner Untersuchung näher
ein.
Ich will nachgehen, ob Botho Strauß Zeit und Optik vor allem anhand des Textes
oder anhand von anderen Zeichen in den drei verschiedenen Akten thematisiert um auf
diese Weise feststellen zu können inwieweit Schlußchor postdramatisch aufzufassen ist.
2. Methodologie
Weil ich mich in meiner Arbeit auf die Analyse des Theatertextes beschränke, ist es
schwieriger, den postdramatischen Zeichengebrauch außerhalb des Textes zu untersuchen.
Ich werde mich daher fokussieren auf die Frage, inwieweit Zeit und Optik in Schlußchor
explizit und also dramatisch thematisiert werden. Daraus ist auch die implizite geprägte
Thematisierung von Zeit und Optik abzuleiten.
Die Analyse der expliziten sprachlichen Thematisierung von Zeit und Optik mache
ich anhand eines quantitativen Korpus. Um dieses Korpus zu erstellen habe ich zuerst alle
Worte aus Schlußchor aufgelistet, die zum Wortfeld 'Zeit' gehören: Ewigkeit, Sekunde,
immer, vorbei, warten, früher… (cf. Tabelle Zeit in der Anlage) Ingrid Kühn definiert ein
Wortfeld folgendermaßen:
Unter einem Wortfeld wird ein lexikalisch-semantisches Paradigma verstanden, das
durch das Auftreten eines gemeinsamen semantischen Merkmals zusammengehalten
wird, und in dem die Lexeme durch bestimmte semantische Merkmale in Opposition
können sowie deren Verbindungen miteinander.“ Agnes Tafreschi: Zur Benennung und Kategorisierung
alltäglicher Gegenstände: Onomasiologie, Semasiologie und kognitive Semantik. Kassel:university press,
2005, S. 14. 28
Strauß: Theaterstücke, S. 413. 29
Strauß: Theaterstücke, S. 426. 30
Strauß: Theaterstücke, S. 447.
16
zueinander stehen und damit ein Netz von semantischen Beziehungen konstituieren.
So gehören z.B. die Verben, die die Fortbewegung bezeichnen, zu einem Wortfeld,
weil sie das gemeinsame Sem ‚Fortbewegung„ enthalten. 31
In Analogie mit dem Wortfeld der Verben, die Fortbewegung bezeichnen, habe ich erstens
die Worte in Schlußchor untersucht, die Zeit bezeichnen. Ich habe mich nicht nur auf
Nomina oder Verben beschränkt, sondern einfach alle Worte und Wortgruppen, die das
gemeinsame Sem 'Zeit' enthalten, aufgelistet. Worte und Wortgruppen wie zum Beispiel
'Jahr', 'vorbei', 'warten', 'Geschichte', 'heute', 'Mitte Vierundvierzig' enthalten alle das Sem
'Zeit'. Wortfelder an sich sind onomasiologisch, denn man sucht Worte mit einem
gemeinsamen 'Sem', und ein Sem ist das „kleinste Bedeutungselement;
Bedeutungsmerkmal; semantisches Merkmal.“32
Ich gehe von den Bedeutungen 'Zeit' oder
'Optik' aus und ich suche onomasiologisch die Worte, die in Schlußchor verwendet werden,
um die Konzepte 'Zeit' und 'Optik' zu benennen.
Auch bei der Selektion der Worte und Wortgruppen die zum Wortfeld der Optik
gehören habe ich diese Methode benutzt. Die Worte 'sehen', 'Spiegel', 'Klarheit', 'Auge',
'undurchsichtig', 'versehen'… enthalten das gemeinsame Sem 'Optik' oder 'visuell'. Ich habe
den Text sehr eingehend untersucht und alle Worte oder Wortgruppen in Bezug auf Zeit
horizontal in einer Exceldatei aufgelistet (cf. Tabelle Zeit in der Anlage). Vertikal habe ich
die Seitennummer des Stückes aufgezählt. Auf diese Art und Weise konnte ich angeben
welche Worte in Bezug auf Zeit bzw. auf Optik vorkommen. Um die Menge an Daten zu
beschränken, bin ich wieder onomasiologisch vorgegangen. Dabei habe ich gesucht nach
einem gemeinsamen Sem, das bestimmte Worte und Wortgruppen teilen. Auf diese Art und
Weise konnte ich dreizehn Wortfelder in Bezug auf Zeit und sieben Wortfelder in Bezug
auf Optik unterscheiden. Die Wortfelder in Bezug auf Zeit sind: Aufteilungen der Zeit,
lange Zeit, Zeitpunkt (vergangen oder zukünftig), Zeitpunkt in der Vergangenheit, gerade
passiert, Zeitpunkt heute, Zeitpunkt in der Zukunft, Rekurrenz, bis/vor einem Zeitpunkt,
nach einem Zeitpunkt, negative Zeit, durative Zeit und übrige. Die Wortfelder in Bezug auf
Optik sind: optische Urteile, optische Wiedergabe, sehen/wahrnehmen, Wahrnehmer,
Hilfsmittel/ Instrumente, falsche Optik und übrige.
31
Ingrid Kühn: Lexikologie. Eine Einführung. Tübingen: Niemeyer, 1994, S. 56. 32
Kühn: Lexikologie, S. 118.
17
Der nächste Schritt, aus dieser Datenmenge nützliche Resultate ableiten zu können
war das Visualisieren der Daten. Erstens habe ich einige allgemeine grafische
Darstellungen produziert. Ich habe die Anzahl Worte in Bezug auf Zeit in jedem Akt und
im ganzen Stück verglichen mit der Anzahl Worte in Bezug auf Optik (cf. Anlage 1, Grafik
1, 2 ,3 und 4). Darauf habe ich Grafiken aufgestellt, die die Frequenz der Äußerungen über
die Wortfelder der Zeit wiedergeben, die habe ich beschränkt auf 3 Wortfelder: ferne
Vergangenheit, die nahe Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Die Wortfelder
der Optik waren zu verschieden und habe ich beim Visualisieren nicht weiter
zusammenfügen können.
Beim Vergleich der Akten ist es wichtig, aufzumerken, dass nicht jeder Akt die
gleiche Seitenanzahl zählt. Der erste Akt umfasst dreizehn Seiten, der zweite Akt
einundzwanzig und der dritte Akt achtzehn Seiten. Es ist also logisch, dass es im zweiten
Akt insgesamt mehr Worte gibt. Ich betrachte deswegen auch nicht die Anzahl Worte,
sondern die Verhältnisse zwischen den verschiedenen Akten. Dadurch, dass ich nicht nur
im ganzen Stück, sondern auch innerhalb jedes Akts die Entwicklung von Zeit und Optik
festlegen wollte, habe ich in den Tabellen und Grafiken die Worte pro Seite geordnet (cf.
Anlage). Nicht jede Seite enthält die gleiche Worteanzahl. Auf den letzten Seiten jedes
Aktes stehen höchstens elf Zeilen. Ein zweiter Aspekt, der beim Interpretieren der Grafiken
beachtet werden muss, ist also die Tatsache, dass die Tiefpunkte am Ende der Akten keinen
inhaltlichen Grund haben.
Auf der Grundlage des Theatertextes und dieser Grafiken untersuche ich inwieweit
Zeit und Optik in Schlußchor postdramatisch gestaltet werden. Für die Kennzeichen des
postdramatischen Theaters nehme ich Lehmanns Theorie des postdramatischen Theaters in
Anspruch.
18
3. Postdramatisches Theater
In dieser Arbeit benutze ich Hans-Thies Lehmanns Theorie des postdramatischen
Theaters33
als Grundlage für meine Analyse des Stückes Schlußchor, weil er der
Hauptvertreter in der Debatte über den neuen Theatertendenzen und dem postdramatischen
Theater ist. Doch werde ich noch einige Male auf Manfred Pfisters Das Drama34
, das das
klassische, dramatische Theater beschreibt, und auf Peter Szondis Theorie des modernen
Dramas35
, das den Übergang vom dramatischen zum postdramatischen Theater anhand
einer Krise ins Theater beschreibt, zurückgreifen, um die Unterschiede zwischen dem
dramatischen und dem postdramatischen Theater genau betrachten zu können.
Weil ich Hans-Thies Lehmanns Theorie des postdramatischen Theaters als
theoretischen Rahmen für meine Untersuchung verwende, übernehme ich auch seine
Terminologie. An erster Stelle steht der Begriff 'postdramatisches Theater'. Lehmann selbst
sagt in seinem Kapitel Wortwahl36
dass es eine Reihe von Gründen gibt den Begriff
'postdramatisch' statt 'postmodern' vorzuziehen. Der wichtigste Grund ist der folgende:
Wenn der Ablauf einer Geschichte mit ihrer internen Logik nicht mehr das Zentrum
bildet, wenn Komposition nicht mehr als eine organisierende Qualität, sondern als
künstlich aufgepfropfte ›Manufaktur‹ empfunden wird, als bloß scheinhafte
Handlungslogik, die, wie es Adorno an den Produkten der Kulturindustrie
verabscheute, nur Klischees bedient, so steht das Theater konkret vor der Frage nach
Möglichkeiten jenseits des Dramas, nicht unbedingt jenseits der Moderne.37
Daneben muss auch den wichtigen Unterschied zwischen Theater und Drama
beachtet werden. Thomas Mann hat in seinem 1908 erschienenen Versuch über das Theater
geschrieben, das Drama sei eine Dichtungsform, während das Theater die Literatur nicht
braucht.38
Wenn Lehmann von dem Postdramatischen Theater spricht, meint er, dass die
dramatische Dichtungsform durchbrochen wird.
33
Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1999. 34
Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. München: Wilhelm Fink Verlag, 2001. 35
Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas. Frankfurt: Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M., 1956. 36
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 29. 37
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 29. 38
Roberg: auf der Bühne, S. 110.
19
Der größte Unterschied mit dem dramatischen Theater ist, dass das postdramatische
Theater definiert wird als ein Theater, in dem nicht länger der linguistische Text und der
Inszenierungstext primär sind, sondern der Performance Text. Der linguistische Text ist nur
ein aus Worten und Sätzen zusammengesetzten Text. Der Inszenierungstext ist der Text
„mit Spielern, ihren ›paralinguistischen‹ Ergänzungen, Reduktionen oder Deformationen
des linguistischen Materials; mit Kostümen, Licht, Raum, eigener Zeitlichkeit usw.“39
Der
Performance Text setzt sich zusammen aus der „Art der Beziehung des Spiels zu den
Zuschauern, [der] zeitliche[n] und räumliche[n] Situierung, Ort und Funktion des
Theatervorgangs im sozialen Feld.“40
Die gesamte postdramatische Theatererfahrung wird
von viel mehr sinnlichen Wahrnehmungen als nur der Wiedergabe eines Textes bestimmt.
Nach Hans-Thies Lehmann sind Musik, Körper, Bild, zeitliche oder räumliche
Bedingungen im postdramatischen Theater genauso wichtig wie der Text:
Das sprachliche ‚Material„ und die Textur der Inszenierung stehen in
Wechselwirkung mit der im Konzept ‚Performance Text„ umfassend verstandenen
Theatersituation. Auch wenn dem Begriff Text dabei eine gewisse Unschärfe eignet:
er bringt zum Ausdruck, daß jeweils eine Verknüpfung und Verwebung von
(mindestens potentiell) bedeutungtragenden Elementen stattfindet. Durch die
Entwicklung der Performance Studies ist in den Vordergrund getreten, daß die
gesamte Situation der Aufführung für das Theater, für die Bedeutung und den Status
jedes einzelnen Elements darin konstitutiv ist.41
Lehmann sagt hier aber nicht, dass es im dramatischen Theater keinen Inszenierungstext
und keinen Performance Text gibt, sondern diese sind von viel weniger Bedeutung als im
postdramatischen Theater. Und im dramatischen Theater ist der linguistische Text am
wichtigsten, während der Inszenierungstext und der Performance Text nur Hilfsmittel sind,
um den linguistischen Text so gut wie möglich zu unterstützen.
Postdramatisches Theater ist nicht allein eine neue Art von Inszenierungstext (erst
recht nicht nur ein neuer Typ von Theatertext), sondern ein Typ des
Zeichengebrauchs im Theater, der diese beiden Schichten des Theaters von Grund auf
umwühlt durch die strukturell veränderte Qualität des Performance Text: er wird
mehr Präsenz als Repräsentation, mehr geteilte als mitgeteilte Erfahrung, mehr
Prozeß als Resultat, mehr Manifestation als Signifikation, mehr Energetik als
Information.
39
Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 145. 40
Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 145. 41
Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 145.
20
Ich untersuche in dieser Arbeit nur den linguistischen Text, und wenn ich vom
Inszenierungstext oder vom Performance Text rede, ist das eine Vermutung oder eine
Annahme, von wie diese aussehen, denn ich hatte bisher nicht die Möglichkeit eine
Aufführung von Schlußchor zu sehen. Im linguistischen Text mache ich jedoch einen
Unterschied zwischen demjenigen, was explizit sprachlich im Text steht und also gesagt
wird, und demjenigen was thematisiert wird, ohne dass explizit darüber gesprochen wird.
3.1.Verlust der Synthesis
In Lehmanns Theorie unterscheidet sich das postdramatische Theater auch durch das
Ausfallen der Synthesis. „Im postdramatischen Theater liegt offenkundig die Forderung
beschlossen, es müsse an die Stelle der vereinigenden und schließenden Perzeption eine
offene und zersplitterte treten.“42
Anstatt der Synthesis des dramatischen Theaters wird im
postdramatischen Theater die Freiheit betont: „Freiheit von Unterordnung unter
Hierarchien, Freiheit vom Zwang zur Vollendung, Freiheit von Kohärenzforderung."43
Schlußchor ist aus drei unabhängigen Akten aufgebaut. Der Raum des ersten Aktes
ist unbestimmt, und die Gestalten sind Mitglieder eines Chors. Im zweiten Akt sind Lorenz
und Delia die Hauptgestalten, deren Handlungen im Haus Delias stattfinden. Der dritte Akt
spielt in einem Restaurant und enthält mehr Individuen als die ersten zwei Akten: Ursula,
Solveig, Anita, Patrick und Anitas Mutter. Jeder Akt vollzieht sich also in einem anderen
Raum und mit anderen Gestalten. Neben der Zersplitterung taucht in jedem Akt den
Deutschlandruf auf.
In den drei der Handlung nach nicht zusammenhängenden Akten wird das Wort
[Deutschland] von der Figur des ‹Rufers› hervorgebracht, der zumeist unvermittelt
die Bühne betritt und sie sogleich wieder verlässt. Als Gestalt am Rande des
Geschehens verbindet er den Raum der Bühne mit seinem Außen und verkörpert
somit die für das klassisch-geschlossene Drama unerlässliche Figur des Boten.44
Der Rufer ist in der Gestalt des Boten laut Stefan Willer ein Kennzeichen des klassischen
dramatischen Dramas. Der Rufer taucht in jedem Akt wenigstens zwei Mal auf und zieht
42
Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 140. 43
Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 141. 44
Willer: Strauß zur Einführung, S. 125.
21
sich als roter Faden durch das Schauspiel. Im ersten Akt ist er noch ein anonymes
Chormitglied: „M8 brüllt Deutschland!“45
. Im zweiten Akt bekommt er die Benennung
'Rufer' und erzählt schon mehr über den Inhalt seines Ausrufes:
DER RUFER Deutschland!
LORENZ Warum tun Sie das?
DER RUFER Ich muß mir Luft machen. Drinnen heißt es an sich halten. […] Ab nun
verfällt die Republik. Es ist später denn je, sage ich Ihnen. Welch hübschen
Körperteil, was meinen Sie, wird uns die freizügige Germania als nächsten
entblößen? Ihr Knie vielleicht? Von Wegen.46
Im dritten Akt ist er wie im zweiten Akt die Gestalt, die über den Fall der Mauer und über
die Wichtigkeit dieses Geschehens in der Geschichte erzählt.
Der Rufer kommt durch die Tür gestürzt. Er zieht ein Paar aus der DDR mit sich,
bescheidene, etwas unförmig wirkende Leute in ihren graublauen Blousons.
DER RUFER Deutschland! Das ist Geschichte, sag ich, hier und heute, sage ich,
Valmy, sage ich, Goethe! Und diesmal sind wir dabei gewesen. Die Grenzen sind
geöffnet! Die Mauer bricht! Der Osten… der Osten ist frei! Er läuft wieder zurück
auf die Straße.47
Anhand des Rufers ist es möglich, das allgemeine Thema der drei Akten, den Mauerfall, zu
entdecken. Abgesehen von der Zersplitterung der Akten und dem Ausfallen der Synthesis,
ist der Rufer das Element, das doch für Einheit sorgt. Lehmann meint das „Wenn sich [im
postdramatischen Theater] aus den Teilstrukturen dennoch etwas wie eine Ganzheit
entwickelt, so ist diese nicht mehr nach vorgegebenen Ordnungsmustern dramatischer
Kohärenz oder umfassender symbolischer Verweise organisiert, realisiert keine
Synthesis.“48
In Strauß„ Theaterstück hat die Rolle des Rufers eine Symbolische
Bedeutung, denn der Rufer ist derjenige der in den drei Akten über den Mauerfall spricht.
Die übrigen Elemente: Figuren, Raum und dramatischen Handlung sind in jedem Akt so
verschieden, dass aber kaum ein Muster zu erkennen ist. Schlußchor ist also ein Beispiel
von dem postdramatischen Kennzeichen der Verlust der Synthesis.
Das Ausfallen der Synthesis hängt mit einem weiteren Merkmal des
postdramatischen Theaters zusammen. Ein dramatisches Theaterstück ist teleologisch
45
Strauß: Theaterstücke, S. 416. 46
Strauß: Theaterstücke, S. 435. 47
Strauß: Theaterstücke, S. 456. 48
Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 141.
22
aufgebaut und das ganze Stück lebt auf einen Höhepunkt hin. In einem postdramatischen
Schauspiel fehlt dadurch, dass es an Synthesis mangelt, das teleologische Prinzip. Auch in
Schlußchor wird das Ende nicht durch einen Höhepunkt, in dem das ganze Stück gipfelt,
gekennzeichnet. Jeder Akt an sich endet unabhängig von den anderen Akten. Der erste Akt
endet mit der erfolgreichen Handlung des Fotografierens nachdem in diesem Akt auf das
Fotografieren hingelebt wurde. Das Ende des zweiten Akts ist unerwartet, Lorenz erschießt
sich. Der Schlussakt geht noch erstaunlicher aus, insofern Anita eine unbestimmte
Gräueltat mit einem Steinadler ausführt. Die Schlüsse der letzten zwei Akten sind
Höhepunkte, ohne dass auf diese Handlungen hingelebt wurde. Ein teleologisches Prinzip,
das sich während des ganzen Stückes aufbaut, gibt es also nicht.
3.2. Präsentation im postdramatischen Theater
Hans-Thies Lehmann bespricht in seiner Theorie die Präsentation und Repräsentation im
postdramatischen Theater. Im dramatischen Theater wird eine Geschichte repräsentiert,
indem sie von Gestalten auf der Bühne vertreten wird. Im postdramatischen Theater kommt
dazu, dass das Theater, wie alle Künste der Postmoderne, sich selbst thematisiert. Das führt
zu einer Problematisierung der Realität auf der Bühne, diese bekommt durch die
Selbstreflexion den Status einer scheinhaften Realität. Der Augenblick, das Hauptmotiv in
Schlußchor, ist das angemessene Beispiel dieser Selbstreflexivität. Theater ist immer eine
Folge von Augenblicken. In Schlußchor werden die Augenblicke problematisiert, indem sie
verpasst oder versehen werden.
Das dramatische Theater verursacht keine Probleme auf dieser Ebene, weil es gar
nicht präsentieren will. Die Grundlage des dramatischen Theaters ist nur Text und damit
auch Repräsentation des Texts. Die ganze Geschichte des dramatischen Theaters hindurch
hatte der Text einen totalitären Charakter, der die ganze Theatererfahrung bestimmte. Das
Ziel des dramatischen Theaters ist, eine Illusion für das Publikum zu kreieren.49
Ganzheit, Illusion, Repräsentation von Welt sind dem Modell ›Drama‹ unterlegt,
umgekehrt behauptet dramatisches Theater durch seine Form Ganzheit als Modell des
49
Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 21.
23
Realen. Dramatisches Theater endet, wenn diese Elemente nicht mehr das
regulierende Prinzip, sondern nurmehr eine mögliche Variante der Theaterkunst
darstellen.50
In Hans-Thies Lehmans Theorie wird ein Kapitel dem Einbruch des Realen in das
postdramatischen Theater gewidmet. In diesem Kapitel erklärt er, wie im postdramatischen
Theater die Illusion des dramatischen Theaters dadurch, dass andere Mittel statt nur Text
benutzt werden, in Frage gestellt oder kritisiert wird. Die Repräsentation im Theater wird
also durchbrochen, indem man versucht, sie durch Präsentation, durch die Erfahrung des
Realen, zu ersetzen. Die Zuschauer können die Präsentation des Theaters erfahren wenn sie
zum Beispiel direkt adressiert werden oder wenn die Saallichte plötzlich angehen weil die
Schauspieler eine Rauchpause machen, während sie das Publikum anblicken. In diesen
Fällen wird die Illusionsbildung auf der Bühne deutlich durchbrochen. Eine Schwierigkeit
beim Unterschied zwischen der Realität und der Illusion des Theaters ist, dass alle
Theaterzeichen zugleich physisch reale Dinge sind. Für die Optik ist es wichtig zu behalten,
dass zum Beispiel der Stuhl, der auf der Bühne visuell wahrgenommen wird, nicht nur ein
reeller Stuhl, sondern auch ein Zeichen für einen Stuhl in der Illusion des Theaters ist. Da
es so eine illusionäre Welt gibt, wird es auch leichter, in die dramatische Welt der
Repräsentation die reelle Welt der Präsentation einbrechen zu lassen. Präsentation und
Repräsentation gehören immer zusammen. In Schlußchor wird an erster Stelle repräsentiert,
ich werde untersuchen, ob auch Einbrüche des Reellen festgestellt werden können.
Die Präsentation im Theater kann auch auf eine eingehendere Weise als nur visuell
passieren. Die Form des postdramatischen Theaters, wobei die Zuschauer die Realität
erfahren und nicht nur wahrnehmen, wird von Lehmann als Ereignistheater beschrieben. Im
Ereignistheater geht es um „das im Hier und Jetzt real werdende Vollziehen von Akten, die
in dem Moment, da sie geschehen, ihren Lohn dahin haben und keine bleibenden Spuren
des Sinns, des kulturellen Monuments usw. hinterlassen müssen.“51
Man geht also nicht
von der traditionellen Theatersituation mit einer Bühne und einem Publikum aus, sondern
die Partizipation und Interaktion des Publikums bestimmen die dramatische Handlung. Als
Beispiele werden Happening, Event und soziale Situation genannt. Ein Happening ist eine
50
Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 22. 51
Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 178.
24
Unterbrechung des Alltagslebens die zum Beispiel in einem Laden oder auf der Straße
aufgeführt wird. In einer sozialen Situation ist es wichtig, dass alle Personen (und nicht nur
die Akteure) bestimmen, wie die Szene abläuft. Alle beteiligten Personen erfahren die
Situation auf eine individuelle Weise, da sie alle Teil davon ausmachen. Die Happening
und die soziale Situation haben das Merkmal, dass der Prozeß wichtiger ist als das fertige
Resultat. So wird Theater nach Lehmann bestimmt „als Tätigkeit des Hervorbringens und
Handelns statt als Produkt, als wirkende Kraft (energeia), nicht als Werk (ergon).“52
Schlußchor erscheint als ein Suchprozess nach der richtigen Darstellung eines Augenblicks,
indem es drei voneinander fast unabhängige Akten gibt, die den Augenblick thematisieren.
Es ist, als ob drei fertige Resultate, denn jeder Akt auf sich bildet eine geschlossene Einheit,
zusammen einen Prozess der Suche darstellen. Wie in jedem Akt den Augenblick genau
dargestellt wird, analysiere ich im Mittelteil dieser Arbeit.
Nach der Beschreibung des Einbruchs des Realen ist es deutlich, dass dieser Einbruch
bei Strauß nicht so eingehend ist wie die Events oder Happenings, die hier beschrieben
werden. Schlußchor geht immer noch von der traditionellen Theateraufstellung mit einer
Bühne und einem Publikum aus. Der Einbruch des Realen passiert hier viel subtiler und ist
damit auch schwieriger von dem Rest des Stückes zu unterschieden. Weil das Hauptmotiv
dieses Theaterstückes 'der Augenblick' ist, wird also nicht die Situation oder das Event
betont, sondern vielmehr ein plötzlicher, augenblicklicher Einbruch des Realen.
In dieser Magisterarbeit will ich untersuchen wie Strauß in Schlußchor die Illusion
des dramatischen Theaters auf zeitlicher und visueller Ebene durchbricht. Ich will
nachgehen, wie er die Zuschauer auf der visuellen Ebene etwas sehen lassen kann, das
nichts repräsentiert, sondern selbst Realität ist, und wie Strauß das Publikum auf der
zeitlichen Ebene etwas erleben lassen kann, so dass sie das Gefühl haben, dass es in dem
Moment geschieht und keine Repräsentation eines Ereignisses aus der Vergangenheit ist.
52
Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 179.
25
3.3. Botho Strauß' Ästhetik der Präsenz
Auch Strauß selbst hat eine Theorie entwickelt, die auf den Unterschied zwischen
Präsentieren und Repräsentieren Bezug nimmt. Botho Strauß ist ein Vertreter der
Realpräsenz in der Kunst. Obwohl Präsentation und Präsenz auf den ersten Blick eng
miteinander verbunden sind, ist es doch wichtig, das postdramatische Theater nicht sofort
mit Strauß„ Ästhetik der Präsenz gleichzusetzen. Daher werde ich jetzt, nachdem ich im
vorigen Kapitel die Kennzeichen der Präsentation im postdramatischen Theater nach
Lehmann beschrieben habe, auch Botho Strauß„ Ästhetik der Präsenz erklären.
Botho Strauß hat den Begriff 'Ästhetik der Präsenz' zum ersten Mal benutzt in seinem
Essay Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der
Anwesenheit, dem Nachwort zu George Steiners 1990 erschienenem Buch Von realen
Gegenwart, Hat unser Sprechen Inhalt? Steiners Darlegung mündet in die These, „daß
jeder echten Kunst und Dichtung ein Moment des Transzendenten innewohnt.“53
George
Steiner benutzt in seiner Arbeit den Begriff 'real presences', den Strauß übersetzt hat mit
'Realpräsenz'54
, einem Begriff aus der Theologie. Bernhard Greiner hat daraus den Begriff
'Theater der Präsenz' abgeleitet, mit dem er die Stücke Schlußchor und Das Gleichgewicht
analysiert. Diese Stücke lassen „›das absolut Unerwartete des Kunstwerks, Präsenz statt
Re-Präsentation‹ mythopoetisch zum Ereignis werden.“55
Strauß„ Nachwort zu Steiners Arbeit nimmt seinen Ausgang in dem einmaligen
geschichtlichen Ereignis, das im Jahre 1989 stattfand.
Wir haben Reiche stürzen sehen binnen weniger Wochen. Menschen, Orte,
Gesinnungen und Doktrinen, von einem Tag auf den anderen aufgegeben, gewandelt,
widerrufen. Das Unvorhersehbare hatte sich sein Recht verschafft und zerschnitt das
scheinbar undurchdringliche Geflecht von Programmen und Prognosen,
Gewöhnungen und Folgerichtigkeiten.56
53
Parry: Aufstand, S. 60. 54
Wirkliche Gegenwart Christi in Brot und Wein beim Abendmahl. Dudenredaktion: Duden. Deutsches
Universalwörterbuch. 6. Überarbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim: Dudenverlag, 2006, S. 1362. 55
Roberg: auf der Bühne, S. 123. 56
Botho Strauß. „Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit.“
Nachwort in: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Hg. von George Steiner. München: Carl
Hanser, 1990, S. 317.
26
Gerade dieses „von einem Tag auf den anderen“ hat Botho Strauß auf die Künste
übertragen. „Strauß geht es nun darum, die Erfahrung der Plötzlichkeit als ästhetische
Kategorie zu verfolgen.“57
Damit will er aber nicht auf den Ersatz der Repräsentation durch
reine Präsentation in den Künsten hindeuten; die Künste sollen die Vergangenheit so
repräsentieren, dass sie hier und jetzt erscheinen und auf das Publikum einwirken. Botho
Strauß hat in seiner Georg-Büchner-Preisrede, ein Jahr vor dem Essay Der Aufstand gegen
die sekundäre Welt, seine Ansicht des Theaters schon erklärt:
Das Theater ist der Ort, wo die Gegenwart am durchlässigsten wird, wo Fremdzeit
einschlägt und gefunden – und nicht wo Fremdsein mit den billigen Tricks der
Vergegenwärtigung getilgt oder überzogen wird. Es ist altmodisch und lächerlich,
sich sogenannter Modernisierungen zu bedienen, den Jeep in Wallensteins Lager
vorfahren zu lassen. Viel anwesender ist das Theater dort, wo es zum Schauplatz
seines eigenen Gedächtnisses, seiner originalen Mehrzeitigkeit wird.[…] Wo es aber
gelingt und das Fernste durch die Schauspieler in unfaßliche Nähe rückt, gewinnt
Theater eine verwirrende Schönheit und die Gegenwart Augenblicke einer
ungeahnten Ergänzung.58
Hier sagt Strauß deutlich, dass er die Techniken des postdramatischen Theaters als
„billigen Tricks der Vergegenwärtigung“ abweist. Stattdessen will er ein Theater gestalten,
das Fremdzeit einschlagen lässt und das Fernste durch die Schauspieler ins Jetzt rücken
lässt. Er will mit anderen Worten die Vergangenheit präsentieren, als ob sie jetzt stattfindet.
Das postdramatische Theater von Lehmann würde die Präsentation der Vergangenheit
eigentlich Repräsentation nennen. Denn die Vergangenheit gibt es schon, und diese wird im
Schauspiel in einer neuen Version wiederholt. In seinem Essay Der Aufstand gegen die
sekundäre Welt erklärt Strauß, dass vor allem die Sprache für diese neue Erfahrung des
Unmittelbaren sorgt.
Die Unangemessenheit der sprachlichen Explikation, die Armut der ›Antwort‹, die
wir auf die Fülle des Empfangs geben, wenn wir zum Beispiel aufmerksam Musik
hören, ist eine erste Erfahrung des Unmittelbaren und der Andersheit, die im
Kunstwerk Asyl genießen. Das unerklärlich Schöne verbleibt in der complicatio, in
der Eingefaßtheit aller Bedeutungen, es wird unverletzt unenthüllt erlebt. Es bringt
uns in Berührung ›mit dem Stoff, der unerträumt ist in unserer Stofflichkeit‹. Weder
ist es ein utopisches Humanum noch ein höherer ästhetischer Gemütsreflex noch
überhaupt etwas vom Menschen Vermochtes, das sich in der Schönheit verbirgt.
Vielmehr klingt in ihm an oder schimmert durch: Realpräsenz, Anwesenheit; und 57
Willer: Strauß zur Einführung, S. 115. 58
Strauß„ Büchner-Preis-Rede S. 34-35, zitiert nach: Roberg: auf der Bühne, S. 114.
27
zwar unabhängig davon, welchen historischen oder biografischen Interessen sich die
Entstehung eines Romans oder eines Gemäldes verdankt.59
Die Künste sollen also beim Publikum eine plötzliche Wirkung haben, die sich dem
Präsentieren so gut wie möglich nähert. „So ergibt sich eine Verbindung zwischen der
Zeitlichkeit ästhetischer Erfahrung – gekennzeichnet durch Unmittelbarkeit, Plötzlichkeit,
Emergenz – und der Zeitlichkeit der Kunstwerke: ihrer Tradition, Dauer, Beständigkeit.“60
Greiner übertragt das auf das Theater und nennt dieses Theater eine „Grenzüberschreitung
von einem darstellenden zu einem ereignishaften Theater“.61
In der Forschungsliteratur gibt es aber verschiedene Meinungen über die Frage, was
die 'Präsenz' konkret bedeutet. Grieshop erklärt, dass Strauß„ Präsenz eine Präsenz des ganz
Anderen ist.
Das emergente Ereignis stellt qua definitione einen Augenblick da, in dem ein
Unerwartetes und Unvorhersehbares erscheint, etwas, das absolut neu und aus bisher
Bekanntem nicht ableitbar ist, kurz: ein ›ganz anderes‹. Diese Analogie von
Emergenz und ›Ganz Anderem‹ ist zentral für die Überlegungen von Strauß.62
Strauß„ Realpräsenz kommt, so Parry, zum Ausdruck in seinen Dramen wie Kalldewey,
Farce (1981), Der Park (1983), Die Fremdenführerin (1986) und Die Zeit und das Zimmer
(1989). „In diesen Dramen wurde das Mythische direkt in die Gegenwart
hineingetragen.“63
In Lehmanns Theorie des postdramatischen Theaters wird die
Verwendung der Mythologie und der Vergangenheit nicht als postdramatischer
Zeichengebrauch gedeutet. Einerseits ist die Absicht in Strauß„ Ästhetik der Präsenz und im
postdramatischen Theater dieselbe, das Ziel ist Präsentation statt Repräsentation. Die
Mittel, die benutzt werden, sind allerdings verschieden. In der Ästhetik der Präsenz wird
Mythologie benutzt während das Anwenden der Vergangenheit und der Mythologie für
Lehmann mit dem postdramatischen Theater unversöhnbar sind. Wir können also folgern,
dass Strauß„ Ästhetik der Präsenz und die Präsentation im postdramatischen Theater weit
auseinanderliegen. Die Frage die ich untersuche ist denn auch nicht, inwieweit Schlußchor
59
Strauß: Aufstand, S. 317. 60
Willer: Strauß zur Einführung, S. 116. 61
Zitiert nach: Roberg: auf der Bühne, S. 123. 62
Grieshop: Augenblick, S. 187. 63
Parry: Aufstand, S. 54.
28
ein Beispiel von Strauß„ Ästhetik der Präsenz ist, sondern inwieweit das Theaterstück
postdramatische Kennzeichen des Präsentierens enthält.
Im nächsten Kapitel fange ich mit meiner Analyse der Zeit und Optik in Schlußchor
an. Ich bespreche zuerst die Zeit in den drei Akten, denn die erste Assoziation, die man mit
dem Wort 'Augenblick' verbindet, ist die zeitliche Bedeutung eines Moments. Die
Definition im Duden64
betont die zeitliche Bedeutung, da die optische Bedeutung
heutzutage nebensächlich ist. Innerhalb des Theaterstückes Schlußchor sind die Worte, die
zum Wortfeld der Zeit gehören zahlreicher als die Worte, die Optik thematisieren. Aus
diesen Gründen ist es logischer, zuerst die Zeit im Stück zu analysieren und davon
ausgehend die kleinere Dimension der Optik zu untersuchen. Aus der größeren Zahl der
Worte, die Zeit explizieren, kann aber nicht abgeleitet werden, dass Zeit in Schlußchor
wichtiger sei als Optik, denn Zeit und Optik können auch implizit dargestellt werden.
Daher betrachte ich für jeden Akt zuerst die expliziten und darauf die impliziten Verweise
auf Zeit. Derselben Vorgehensweise folge ich für die Analyse der Optik in Schlußchor.
4. Zeit im Theater
In diesem Kapitel werde ich vom Allgemeinen bis ins Detail vorgehen. Zuerst gebe ich eine
kurze Übersicht der Zeitauffassungen im dramatischen Theater. Hierauf folgt eine
Zusammenfassung der Zeitkonzeption, die Hans-Thies Lehmann im Rahmen seiner Theorie
über das postdramatische Theater erwähnt. Drittens bespreche ich die Zeit spezifisch im
Stück Schlußchor. Zum Schluss analysiere ich den Zeitgebrauch in jedem Akt des Stückes.
Dabei achte ich neben den expliziten Ausdrücken des Wortfeldes 'Zeit' auch auf die
Darstellung einer Zeiterfahrung außerhalb des linguistischen Textes, die zu einer
Präsentation der Zeit führt.
64
„Augenblick [auch:--‚-], der [mhd. ougenblick, eigtl.: (schneller) Blick der Augen]: Zeitraum von sehr
kurzer Dauer; Moment“ Dudenredaktion: Duden, S. 205.
29
4.1. Dramatische Zeitästhetik
Der Faktor 'Zeit' ist nicht nur sehr wichtig im Zusammenhang mit dem Motiv des
Augenblicks, sondern auch in Bezug auf das Theater im Allgemeinen. „Raum und Zeit
stellen zusammen mit der Figur und ihren sprachlichen und außersprachlichen Aktivitäten
die konkreten Grundkategorien des dramatischen Textes dar.“65
Ein wichtiger Unterschied
beim Beobachten der Kategorie Zeit im dramatischen Theater ist der Unterschied zwischen
der realen Zeit auf der Bühne, welche die Schauspieler und die Beobachter erleben, und der
fiktiven Zeit der Geschichte, die dargestellt wird. Auch die Absolutheit des Dramas ist eine
der wichtigsten Grundvoraussetzungen einer korrekten dramatischen Zeitinterpretation,
denn ein traditionelles Drama repräsentiert eine fiktive Zeit und Welt, die nicht mit der
realen Zeitwahrnehmung des Publikums oder der Schauspieler zusammenhängt. „Die
Forderung, daß der Zuschauer sich aus seiner Alltagszeit in einen ausgegrenzten Bereich
der ›Traumzeit‹ begibt, seine Zeitsphäre verläßt, um in eine andere einzutreten, war die
Basis des dramatischen Theaters.“66
Im klassischen, dramatischen Theater werden die zeitliche Relationen „durch zwei
Achsen bestimmt: die 'horizontale' Achse des sukzessiven Nacheinander und die 'vertikale'
Achse des Gleichzeitigen.“67
Die Sukzession impliziert den Verlauf der Geschichte (das
Dargestellte) und den Verlauf auf der Bühne (die Darstellung). Gemäß Pfister enthält die
vertikale Achse der Simultaneität das Räumliche, denn während einer Vorstellung können
sich verschiedene Handlungen gleichzeitig auf der Bühne vollziehen. Auf dieser Achse
wird zum Beispiel bestimmt, wo die Gestalten sich während einer Szene auf der Bühne
befinden.
Wenn wir uns aber das postdramatische Theater ansehen, wird dieses Theater
gerade 'postdramatisch' genannt, weil es das Absolute des dramatischen Theaters hinter sich
lässt. Der Weg vom dramatischen bis zum postdramatischen Theater wird in Peter Szondis
Theorie des modernen Dramas68
, das im Jahre 1956 erschien, erläutert. Er beschreibt der
Übergang vom dramatischen, absoluten Theater zum postdramatischen Theater anhand
65
Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. München: Wilhelm Fink Verlag, 2001, S. 327. 66
Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 328. 67
Pfister: Das Drama, S. 361. 68
Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas. Frankfurt: Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M., 1956.
30
einer Krise im Theater. Diese Krise wird, so Szondi, exemplarisch von Theaterstücken von
Ibsen, Tsjechov, Strindberg, Maeterlinck und Hauptmann vertreten. Insofern zum Beispiel
Ibsens Stücke die Vergangenheit oder Strindbergs Schauspiele das Innerleben der
Menschen thematisieren, durchbrechen sie die Grundkategorien des dramatischen,
absoluten Theaters. Diese Grundkategorien sind eine geschlossene Handlung, die in der
Gegenwart stattfindet und in den zwischenmenschlichen Dialogen geführt werden. Szondi
sieht in den verschiedenen Strömungen wie der Naturalismus, das Konversationsstück, der
Einakter und der Existentialismus Versuche, das dramatische Theater aus dieser Krise zu
retten. Hans-Thies Lehmann dagegen sieht diese Strömungen als Ankündigungen für das
postdramatische Theater.
Die Absolutheit der Zeit wird auch in Schlußchor, wie in die meisten
postdramatischen Theaterstücken, durchbrochen. „Die postdramatische Ästhetik der
Realzeit sucht zwar ebenfalls nicht die Illusion, das heißt aber nun: der szenische Vorgang
ist von der Zeit des Publikums nicht abzulösen.“69
Das Durchbrechen der absoluten Zeit ist
zugleich ein Durchbrechen der Zeitachsen. Sukzession und Simultaneität werden, je nach
dem Theaterstück, mehr oder weniger vernachlässigt und das hat eine größere Direktheit
und eine kleinere Mittelbarkeit zur Folge. Im dramatischen Theater hat die Distanzierung
der Zeit nach Pfister jedoch keine Folgen für die Mittelbarkeit:
Es ist jedoch keineswegs generell so, daß eine große zeitliche Distanzierung immer
eine verstärkte Mittelbarkeit und Indirektheit des Realitätsbezugs, und eine geringere
zeitliche Distanzierung oder die zeitliche Deckung eine größere Direktheit bedeuten
würde; weder brauchen zeitliche Distanzierung und Aktualität einander
auszuschließen, noch muß Deckung der Zeitstufen immer einen verstärkten
Realitätsbezug implizieren.70
Im postdramatischen Theater strebt man, wie immer im Theater, nach der größtmöglichsten
Direktheit. Um die Unmittelbarkeit zu erreichen wird im postdramatischen Theater die
Technik des Präsentierens benutzt.
In Pfisters Beschreibung des dramatischen Theaters wird auch über die fiktive
Chronologie gesprochen, die durch allerhand von Techniken konkretisiert wird. Im
postdramatischen Theater aber wird diese Chronologie fast immer durchbrochen. Die
69
Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 329. 70
Pfister: Das Drama, S. 360.
31
Einheit von Zeit ist nicht wichtig mehr. Auch in Strauß„ Schlußchor ist das der Fall, in den
nächsten zwei Kapiteln erläutere ich die postdramatische Zeitästhetik und die Zeitästhetik
in Schlußchor.
4.2. Postdramatische Zeitästhetik
Innerhalb seines allgemeinen Überblicks teilt Hans-Thies Lehmann das postdramatische
Theater in sechs Bausteine auf, die er Schritt für Schritt analysiert: Performance, Text,
Raum, Zeit, Körper und Medien. Jetzt werde ich mich mit dem Baustein 'Zeit' beschäftigen.
„Für das Theater geht es immer um die erlebte Zeit, um das Zeiterleben, das Akteure und
Zuschauer teilen, und das offensichtlich nicht genau meßbar, sondern nur erfahrbar ist.“71
Lehmann verteilt die Zeit in Bezug auf das Drama in fünf Zeitschichten: die Text-Zeit, die
Zeit des Dramas, die Zeit der fiktiven Handlung, die Zeitdimension der Inszenierung und
die Zeit des Performance-Textes. In dieser Untersuchung werden vor allem die Text-Zeit,
die Zeit des Dramas und die Zeit der fiktiven Handlung analysiert. Die Text-Zeit ist die Zeit
des literarischen Textes, in welcher zum Beispiel der Rhythmus der Sätze oder die Pausen
durch Punkte wichtig sind. Die Zeit des Dramas ist dasjenige, was Aristoteles den Mythos
nennt und was analog in der Erzählforschung 'Erzählzeit' genannt wird.
Die Zeitorganisation des dramatischen Textes besteht aus der darin gewählten
Sequenz der Vorgänge und Szenen, kompliziert aber die Zeitstruktur sehr oft durch
Vorgriffe, Rückblenden, Parallelsequenzen und Zeitsprünge, die in aller Regel der
Komprimierung der Zeit dienen.72
Die Zeit des Dramas in Schlußchor enthält einundfünfzig Seiten die in drei Akten aufgeteilt
sind: einen Akt von zwölf, einen Akt von einundzwanzig und einen Akt von achtzehn
Seiten. Der Akt von einundzwanzig Seiten ist in zwei Teile aufgeteilt, einen Teil von vier
und eine halbe Seite und einen Teil von sechzehn und einer halben Seite.
Die Zeit der fiktiven Handlung dagegen wird ausschließend innerhalb der Handlung
und nicht im Text des Dramas oder in der Aufführung der Handlung gestaltet. In der
Erzählforschung wird dies analog 'erzählte Zeit' genannt. Die Zeit der fiktiven Handlung ist
schwieriger in Schlußchor festzustellen, weil in den Regieanweisungen keine
71
Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 309. 72
Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 310f.
32
Informationen über die Länge der verschiedenen Akten gegeben werden. Es gibt jedenfalls
keine großen Zeitsprünge oder Rückblenden. Alles geht in der Gegenwart vor, und in dieser
Gegenwart werden manchmal Erinnerungen aus der Vergangenheit erzählt. Die Zeit des
Dramas stimmt im Großen und Ganzen mit der Zeit der fiktiven Handlung überein.
Die Zeitdimension der Inszenierung kann hier nicht untersucht werden, weil sie bei
jeder Aufführung anders ist. Und auch die Zeit des Performance-Textes wird hier nicht
behandelt. „Dem Performance Text eignet eine jeweils eigentümliche Zeitstruktur für
Theater und Publikum: Pausen, Unterbrechungen, Zwischenspiele, gemeinsame Essen
klinken das Theater in einen sozialen Prozeß ein.“73
Ich arbeite mit dem Theatertext und
nicht mit einer Inszenierung oder Aufführung dieses Stückes, daher können nur die
Zeitschichten benutzt werden die ausschließend auf den Theatertext verweisen. Die Zeit die
dem Text inhärent ist, ist in dieser Untersuchung wichtig, nicht diejenige die sich bei jeder
Aufführung unterscheidet. Neben drei Zeitschichten (Text Zeit, Zeit des Dramas und Zeit
der fiktiven Handlung), die den ganzen Theatertext umfassen, ist in dieser Untersuchung
vor allem die Thematisierung der Zeit wichtig. Wenn zum Beispiel Gestalten explizit über
einen Zeitpunkt oder eine Geschichte reden, oder wenn eher implizit auf Zeit verwiesen
wird, werde ich das in meine Analyse einbeziehen.
4.3. Postdramatische Zeitästhetik in Schlußchor
Schlußchor ist, wie im Kapitel über das postdramatische Theater (cf. Kapitel 3) dargelegt,
ohne Zweifel postdramatisch, denn es ist keine klassische Intrige, in der anhand einer
Exposition und steigernder Spannungsmomente auf einen Höhepunkt hingelebt wird,
sondern es thematisiert in drei ganz verschiedenen Akten hauptsächlich das Verpassen
eines Augenblicks. In einer klassischen Intrige verläuft die Zeit ganz logisch und mit einer
bestimmten Regelmäßigkeit auf einen Höhepunkt zu. Da Schlußchor aus drei Akten
aufgebaut ist, die schwierig miteinander zu verbinden sind, und in denen es verschiedene
Höhepunkte gibt, zeigt das Zeitmuster dieses Stückes keine klare Struktur auf.
Ein zweiter Grund für die postdramatische Zeitästhetik ist das unregelmäßige
Zeitmuster. In Schlußchor wird die Zeit in den drei Akten auf eine unterschiedliche Weise
73
Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 316f.
33
behandelt. Der erste Akt thematisiert den Augenblick des Fotografierens. Im zweiten Akt
gibt ein kurzer Augenblick Anlass zu der Möglichkeit einer Geschichte, während im
Schlussakt die große Geschichte wichtiger wird als der Augenblick. In jedem Akt werden
die entgegengesetzten Zeitzustände aber auch ständig einander gegenübergestellt. Der
Augenblick wird mit der Geschichte konfrontiert, das Jetzt mit der Vergangenheit oder ein
neues Geschehen mit dem Mythos. In jedem Akt geschieht das aber auf eine andere Weise,
wodurch das Publikum die Konfrontation zweier Zeiterfahrungen jedes Mal aus einem
anderen Blickwinkel betrachten kann. Es gibt nicht nur im ganzen Stück eine
Wechselbeziehung zwischen dem Augenblick und der Geschichte, sondern auch in jedem
einzelnen Akt ist diese Wechselbeziehung spürbar. Die Tatsache, dass in Schlußchor die
Zeit durch die Entwicklung der Zeitauffassung in den drei Akten auf eine ganz andere
Weise behandelt wird, verursacht also ein unregelmäßiges Zeitmuster in Schlußchor. Die
genaue Thematisierung und Darstellung der Zeit in jedem Akt werden in den nächsten
Kapiteln erläutert.
Drittens ist die Zeit des Dramas, die Chronologie und die Reihenfolge der Akten
ungewohnt. In Schlußchor ist es im Gegensatz zum dramatischen Theater erstens schwierig
einen Zusammenhang (und zugleich auch eine Art von Chronologie) zu finden, denn wie
schon gesagt wird in den drei Akten nicht auf einen zentralen Höhepunkt hingelebt und
sind die drei Akten ganz verschieden und dadurch schwierig miteinander zu verbinden. In
jedem Akt gibt es andere Gestalten, und jeder Akt spielt in einem ganz verschiedenen
Raum. Die Gestalten im ersten Akt befinden sich in einem unbestimmten Zimmer. Der
zweite Akt geht in verschiedenen Räumen in Delias Haus vor. Und das Bühnenbild im
dritten Akt ist ein Restaurant. Wie schon im Kapitel über die Synthesis angezeigt, wird erst
im dritten Akt deutlich, dass in jedem Akt ein Rufer das Deutschlandthema vertritt.
Wenngleich im gemeinsamen Deutschlandthema ein Zusammenhang gefunden wird, ist es
doch schwierig festzustellen, ob sich die Akten gleichzeitig, chronologisch oder in einer
unbestimmten Reihenfolge vollziehen. Der Titel des dritten Aktes, 'Von nun an', verweist
auf den Ausruf des Rufers im zweiten Akt. Er sagt: „Ab nun verfällt die Republik.“74
Im
ersten Akt wird zwei Mal Deutschland gerufen, konkretere Bezüge auf die anderen Akten
74
Strauß: Theaterstücke, S. 435.
34
gibt es aber nicht. Die drei Akten sind nicht nur thematisch, anhand des
Deutschlandthemas, verbunden, sondern auch zeitlich. Die Art der zeitlichen Verbindung
ist jedoch unklar, ob die Akten gleichzeitig spielen oder chronologisch aufeinanderfolgen,
ist nicht deutlich.
Ein letzter Grund für das Fehlen einer logischen Zeitstruktur wird gefunden in den
Techniken der Zeiterfahrung im postdramatischen Theater, die von Lehmann beschrieben
werden. Im postdramatischen Theater wird die messbare Zeit des Theatervorgangs selbst
manchmal thematisiert. In der postdramatischen Zeitästhetik wird die Zeit
dergestalt zum Gegenstand einer ›direkten‹ Erfahrung, so treten logischerweise
insbesondere Techniken der Zeit-Verzerrung in den Vordergrund. Erst eine vom
Gewohnten abweichende Zeiterfahrung provoziert nämlich ihre ausdrückliche
Wahrnehmung, läßt sie von der beiherspielenden unausdrücklichen Gegebenheit in
den Rang eines Themas aufsteigen“75
Einige der Techniken der Zeit-Verzerrung sind Duration, Zeit und Photographie,
Repetition, Bild-Zeit und Ästhetiken der Geschwindigkeit wie Beschleunigung,
Simultaneität und Collage. In Schlußchor wird einfach Zeit und nicht die Zeit der
Theateraufführung selbst thematisiert. Die Techniken der Zeitverzerrung sind nicht
überherrschend, aber doch vorhanden im Theaterstück, das hier untersucht wird. Die
Techniken der Simultaneität und Collage zeigen sich zum Beispiel normalerweise auf der
Bühne darin, dass mehrere Leute zugleich reden oder dass Videobilder gezeigt werden,
während Gestalten eine Szene auf der Bühne spielen. In Schlußchor treten diese Techniken,
wenn auch weniger deutlich, doch auf. In diesem Theaterstück werden drei Akten wie im
dramatischen Theater nacheinander gespielt, aber es ist -wie gesagt- nicht deutlich ob sie
chronologisch aufeinanderfolgen oder simultan vorgehen. Die Technik der Simultaneität
oder der Collage wird hier in der Zeit des Dramas statt in der Zeit des Inszenierungstexts
vorgefunden. Auch die Technik der Repetition kann in Bezug auf den Deutschlandruf im
Stück erkennt werden. „Kaum ein anderes Verfahren ist so ›typisch‹ für das
postdramatische Theater wie die Wiederholung.“76
Weil der Zeitgebrauch in den
verschiedenen Akten nicht gleichzustellen ist, werden die Techniken der Zeit-Verzerrung in
75
Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 330. 76
Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 334.
35
jedem Akt auf eine andere Weise, die ich beim separaten Behandlung jedes Aktes genauer
erklären werde, verarbeitet.
4.4. Analyse der Zeit in Schlußchor
Nicht nur die Titel der Akten und das Hauptmotiv 'Augenblick', sondern auch die hohe
Anzahl der Worte, welche Zeit thematisieren (cf. Tabelle Zeit in der Anlage), deuten auf
die Wichtigkeit der Zeit im Theaterstück hin. Innerhalb der Untersuchung der Zeit
analysiere ich zuerst die Worte, die Zeit in der fiktiven Handlung explizit thematisieren wie
zum Beispiel 'warten', 'Augenblick', 'später', 'Moment'… Die explizite Behandlung der Zeit
in Schlußchor habe ich anhand einer Auflistung der Worte und Wortgruppen des
Wortfeldes 'Zeit' und einer grafischen Wiedergabe dieses Wortfeldes, zu analysieren
versucht. (cf. Anlage) Zunächst untersuche ich die impliziten Verweise auf Zeit, zum
Beispiel Situationen oder Symbole, die auf Zeit verweisen. Auch die Text-Zeit, Zeit des
Dramas und die Zeit der fiktiven Handlung werden zu den impliziten Verweisen auf Zeit
gerechnet. Auf diese Art und Weise werden alle Aspekte der Zeit im Stück untersucht und
kann gefolgert werden, ob die Zeit in Schlußchor vor allem dramatisch oder postdramatisch
gestaltet wird.
Darauf folgt anhand derselben Arbeitsweise eine Analyse der Optik. Erstens werden
also die Worte und Wortgruppen, die explizit auf Optik verweisen, aufgelistet, damit die
Inhalt des Wortfeldes 'Optik' übersehen werden kann. Zweitens werden die impliziten
Verweise auf Optik erläutert. Dazu gehört auch die Optik des Publikums.
Die Art und Weise, wie ich vorgegangen bin, um die Daten zu selektieren, habe ich
im Kapitel 3: Methodologie erklärt. Die Resultate meiner Untersuchung habe ich in
Grafiken, die in als Anlage vorzufinden sind, visualisiert. Die Grafik, welche die expliziten
Äußerungen in Bezug auf Zeit und Optik im ganzen Stück visualisiert (cf. Anlage 1, Grafik
4) macht deutlich, dass im ganzen Stück Zeit ausführlich explizit behandelt wird. Es fällt
auf, dass vor allem im dritten Akt die Zeit noch viel mehr explizit thematisiert wird als in
den ersten zwei Akten.
36
Um schließen zu können, dass die Zeit im dritten Akt tatsächlich wichtiger ist als in den
ersten zwei Akten, muss untersucht werden, ob die Zeit in den ersten zwei Akten nicht viel
mehr implizit an die Reihe kommt. Die Behandlung der Zeit wird dazu in den nächsten
Kapiteln in den drei verschiedenen Akten separat analysiert. Auf diese Art und Weise hoffe
ich folgern zu können, inwieweit die Zeit anhand des linguistischen Texts dramatisch
repräsentiert oder anhand eines neuen Zeichengebrauchs postdramatisch präsentiert wird.
4.4.1. Zeit im ersten Akt
4.4.1.1. Explizite Verweise auf Zeit
Der erste Akt handelt von einer Gruppe, die fotografiert werden muss. Das Bild dieser
Gruppe wird durch den Akt des Fotografierens für die Ewigkeit festgehalten: „Aber wir
stehen jetzt gemeinsam hier und lassen uns für die Ewigkeit festhalten. Genügt das
nicht?“77
Die Gruppenmitglieder warten die ganze Zeit auf den spezifischen Augenblick, in
dem das Bild genommen wird. Die Höhepunkte der Grafik des Zeitverlaufs im ersten Akt
77
Strauß: Theaterstücke, S. 417.
37
zeigen, dass auf den entsprechenden Seiten, vor allem der Akt des Fotografierens diskutiert
wird. Schon auf der ersten Seite des Stückes (S. 413) wird zwölf Mal explizit auf Zeit
verwiesen. Die ersten Sätze des Stückes zeigen das sehr deutlich:
F4 Warum nicht jetzt?
M11 Jetzt noch nicht.[…]
M11 warten wir noch einen Augenblick […]
F1 Sie haben sich den passenden Augenblick ausgesucht, um mich anzupöbeln.
M8 Ich bin gespannt, wie Sie aussehen. Später. Auf dem Foto. In dem Moment.
M3 Nach dem nächsten Klick ist alles wieder vorbei. F6 ist schon passiert.
F12 Das Ganze noch einmal.
M11 Es passierte also? F4 ja, es passierte eben.78
Am Anfang des Aktes findet eine Diskussion über den richtigen Augenblick um einen Foto
zu machen statt (S. 415, 416, 417), und das erweist sich in der Grafik. Auf diese Seiten
wird neun, dreizehn und zwölf Mal explizit auf Zeit verwiesen. Wenn der geeignete
Augenblick dann letztendlich da ist (auf Seite 416), hat der Fotograf den Augenblick
verpasst: „F12 Vorbei. Verpaßt. Umsonst.“79
Der Tiefpunkt, was die explizite Thematisierung der Zeit im ersten Akt betrifft,
befindet sich auf den Seiten, wo statt über Zeit, über die Optik des Fotografierens und über
78
Strauß: Theaterstücke, S. 413. 79
Strauß: Theaterstücke, S. 416.
0
2
4
6
8
10
12
14
16
18
Akt
I 4
13
41
4
41
5
41
6
41
7
41
8
41
9
42
0
42
1
42
2
Frau
42
3
42
4
42
5
zeit
Optik
Akt1
38
eine Einladung gesprochen wird (Seite 419 und 420). Die geringe Anzahl ganz am Ende
des Aktes ist dem geringen Textumfang zuzuschreiben.
Die vier Worte des Wortfeldes 'Zeit' die im ersten Akt am meisten vorkommen, sind
'Jetzt' (6 Mal), 'Augenblick' (8 Mal), 'Ewigkeit' (5 Mal) und 'später' (7 Mal) (cf. Tabelle Zeit
in der Anlage). Diese Worte spiegeln sehr deutlich den Inhalt des Aktes wider. Der ganzen
Akt handelt von dem Festhalten eines Augenblicks und dem Verpassen dieses Augenblicks:
„M9 Und gerade in der Sekunde hätte man sich später gern gesehen!“80
Zwar ist das
wichtigste Wort in Bezug auf Zeit im ersten Akt 'Augenblick'81
, aber auch über die Zukunft
und die Vergangenheit wird gesprochen. Die Vergangenheit von der die Rede ist, ist vor
allem die nahe Vergangenheit, weil Worte wie 'schon', 'soeben' oder 'vorbei' benutzt werden
(cf. Anlage 2, Grafik 1). In diesem Akt wird fast nirgends von ferner Vergangenheit
gesprochen. Nur einmal ganz am Ende des Aktes scheint es, als ob die Frau, indem sie ein
Chormitglied anspricht, ein Gespräch über die Vergangenheit auslösen kann:
DIE FRAU Die elende Zeit ist über dich gekommen. Du hast alle
Freunde verloren, dein Beruf ist aus, deine Frau hat sich bitter
an dir gerächt. Die Kinder sind aus dem Haus und haben dich
längst vergessen. Du willst nicht leiden?
M8 Woher weißt du das alles?
DIE FRAU Das sehe ich. Solche wie dich spür ich überall heraus.
Solche, die sich gern was vormachen…
M8 Warum sagst du das? So schlimm steht es doch auch wieder
nicht um mich.
DIE FRAU Du siehst, wie die Erde verdirbt und die Güter der
Erde ungerecht verteilt werden – und du willst nicht leiden?
M8 Ich kann doch nicht immerzu daran denken!
DIE FRAU Das mußt du aber.82
Das Gespräch endet sehr abrupt, ohne dass eine konkrete persönliche Geschichte mitgeteilt
wird. Geschichte bekommt im ersten Akt also keinen Platz. Die Chormitglieder haben auch
keine Namen und keine spezifischen Persönlichkeit und Charakteristiken. Es ist, als ob es
gar keine Vergangenheit oder Geschichte gibt. Auch an anderen Stellen wird das deutlich,
zum Beispiel wenn M3 von ihrer Vergangenheit erzählen will: „Schöne Jahre, als wir
80
Strauß: Theaterstücke, S. 416. 81
Augenblick wird im ersten Akt, von allen Worten die auf Zeit verweisen, am meisten (acht Mal) genannt.
(cf. Tabelle Zeit in der Anlage) 82
Strauß: Theaterstücke, S. 424.
39
Freunde waren. Stille Sommer, wenn alle in die Ferien reisten, und wir beide wanderten in
der halbleeren Stadt.“83
M3 vermittelt nur vage Informationen, keine Namen, keine
präzisen Daten oder persönlichen Gefühle werden erwähnt. Und obwohl über Ewigkeit
gesprochen wird, werden Ewigkeit und Später nicht konkretisiert. Die größere Geschichte
besteht nur aus der leeren Ewigkeit. Wenn man die Erwähnung der Vergangenheit und der
Zukunft genauer betrachtet, stellt man fest, dass in diesem Akt nur das Augenblickliche,
dasjenige, was jetzt geschieht, konkretisiert wird.
4.4.1.2. Implizite Verweise auf Zeit
Die Grenze des Wortfeldes, das implizit auf Zeit verweist, ist schwieriger zu bestimmen.
Eigentlich verweisen die Worte 'Fotographie' oder 'Foto' auch implizit auf Zeit, aber die
werde ich hier nicht erwähnen, weil diese Worte zur Analyse der Optik, die ich im zweiten
Teil dieser Arbeit bespreche, gehören. Worte wie der „Klick“84
des Fotografierens spiegeln
das Erleben eines kurzen Augenblicks wider und gehören zum Wortfeld der Zeit ohne auch
im Wortfeld 'Optik' vorzukommen.
Im ersten Akt wird auf den Zustand der deutschen Gesellschaft vor und während der
Zeit der Wende verwiesen. Erstens weist der Deutschlandruf auf die Thematisierung
Deutschlands in diesem Stück hin. Auch die vielen Anekdoten, die Gestalten einander
während des Fotografierens erzählen, erinnern an die Situation Deutschlands:
F13 Weißt du noch: dein erstes Foto hier im Westen, die Kaffeekanne in der
Sekunde, wo sie kippte?
F6 Im Westen? War das nicht viel früher?
F13 Kurz nach dem Krieg war‟s. Und der Krieg ist fünfzig Jahre her.
F6 Aber Mutter, wir sind erst sehr viel später in den Westen.85
Hier wird explizit von der deutschen Geschichte gesprochen, aber später im ersten Akt wird
impliziter auf die deutsche Geschichte hingewiesen:
Sein ist Gesehen werden. Selbst Gott der Allmächtige konnte nicht darauf verzichten,
sich zu offenbaren. Das ganze große Universum konnte nicht darauf verzichten, ein
Wesen hervorzubringen, das es beobachtet. Und selbst Sie, werte Damen, Herren,
83
Strauß: Theaterstücke, S. 418. 84
Strauß: Theaterstücke, S. 413. 85
Strauß: Theaterstücke, S. 416.
40
verzehren sich nach dem einen Augen, das Sie überblickt, das Ihre wahre Gestalt ans
Licht befördert! Erkannte wollen Sie sein!86
In diesem Abschnitt, das mit einem Zitat von dem Philosophen George Berkeley anfangt,
deutet der Fotograf explizit auf die Optik und die Wichtigkeit seiner Tätigkeit hin. Implizit
kann diese Äußerung als ein Verweis auf den gesellschaftlichen Verhältnissen
Deutschlands in der DDR, wo das Volk immer betrachtet wurde, interpretiert werden. Hier
werden durch das Thematisieren des Sehens, denn man benutzt die Worte 'Gesehen',
'offenbaren', 'beobachtet', 'Augen' und 'überblickt', Erinnerungen aufgerufen. Man kann
dieses Zitat auch wie eine Reflexion in Bezug auf die Theatersituation mit Akteure die von
dem Publikum beobachtet werden wollen, auffassen.
Die Szene, in der die Gruppe dem Fotografen eine Reihe von Befehlen zuruft,
spiegelt anhand von Worten die das Sehen thematisieren87
, implizit die Geschichte
Deutschlands wider:
Alle donnernd Schluß!
Kurz darauf eine Kanonade kurzer lauter Befehle, einzeln oder zu mehreren
abgegeben, die der Fotograf willenlos befolgt:
›Kamera zwei! Suchen! Scharfziehen! Belichtung! Auslösen!
Atem stop! Atem go! Hand aus der Hosentasche! Haare aus der
Stirn! Kamerawechsel! Gehen, nicht schleichen! Geradehalten!
Motiv! Linkes Auge, rechtes Auge! Nachdenken! Ideen! Blick-
winkel! Kontrolle! Tiefenschärfe! Gesamteindruck! Stirnrun-
zeln! Lächeln! Charme! Ernst! Sorge! Umsicht! Deutschland!
Knien! Abwärts! Erde! Abwärts! Schneller! Flach! Abwärts!
Liegenbleiben! Mund auf! Augen starr! Kein Mucks mehr!
Atem aus! Kein Mucks! Atem stop! Atem Ende! Licht aus!‹88
Erstens erinnern diese gerufene Anordnungen an die Befehle des Zweiten Weltkriegs.
Daneben beschwört die Szene Erinnerungen an die DDR herauf, wo der Staat entschied,
wie das Volk sich benehmen sollte. Hier werden die Verhältnisse aber umgedreht und
entscheidet das Volk (das von dem Chor vertreten wird) wie der Staat (der vom Fotograf
dargestellt wird) sich verhalten soll. Der erste Akt kann wie eine symbolische Darstellung
der Wende gesehen werden.
86
Strauß: Theaterstücke, S. 422f. 87
Kamera, Scharfziehen, Belichtung, Kamerawechsel, linkes Auge, rechtes Auge, Blickwinkel,
Gesamteindruck, Augen starr, Licht aus 88
Strauß: Theaterstücke, S. 423.
41
4.4.1.3. Die Text-Zeit
Lehmann beschreibt den Einfluss der Medien im postdramatischen Theater
folgendermaßen:
Andere Theaterformen zeichnen sich nicht in erster Linie durch den Einsatz von
Medientechnologie aus, sondern durch die in der Ästhetik der Inszenierung
erkennbare Inspiration durch Medienästhetik. Dazu gehören der rasante Wechsel von
Bildern, das Tempo der Konversation in Kürzeln, das Gagbewußtsein der TV-
Comedies, Anspielungen auf die Trivialunterhaltung des Fernsehens, auf Film- und
Fernsehstars, auf den Alltag der Unterhaltungsbranchen und ihre Macher, Zitate aus
der Popkultur, Unterhaltungsfilmen und Reizthemen der Medien-Öffentlichkeit.89
In der Text-Zeit des ersten Aktes scheint der Einfluss der Medien deutlich bemerkbar. Die
Text-Zeit ist, wie schon im Kapitel über die Zeit gemäß Lehmann gesagt, die pragmatische
Länge des Textes. Vor allem im ersten Akt werden die Sätze mit einem schnellen
Rhythmus und sehr kurz, mit syntaktischer Einfalt und wenig Pausen zusammengestellt.
„Wer an wen das Wort richtet, wer wem antwortet, bleibt meist unscharf und wechselt
rasch.“90
Das ist sehr deutlich im nächsten Zitat:
M2 Er hat Ihnen eine Schote erzählt.
F12 Mir?
F1 Mickey Schneider wird immer merkwürdiger.
M11 Versuchst es immer wieder?
F4 Ich geh kaum noch irgendwohin.
M11 Ach? Ich glaube, nur Delphine treiben es beliebiger. Die lassen sich mit jedem
Surfbrett ein.91
Zugleich ist dieser Sprachstil ein Beispiel von Stichomythie92
. Ob Strauß dieser Stil
gewählt hat wegen der Einfluss der Medien oder weil er auf die alte Form der Stichomythie
zurückgreifen wollte, ist also nicht deutlich. Auf jeden Fall ist dieses Gespräch ein
typisches Beispiel für die Straußische Sprache, wie sie von Thomas Roberg beschrieben
wird:
betrachten Sie doch bitte einmal die konventionelle, die Umgangssprache, wie völlig
entleert von Substanz und anthropologischem Bestand sie geworden ist. Hat sie
89
Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 419. 90
Roberg: auf der Bühne, S. 116. 91
Strauß: Theaterstücke, S. 414. 92
Schnelle, versweise wechselnde Rede u. Gegenrede in einem Versdrama als Ausdrucksmittel für ein
Lebhaftes Gespräch, einen heftigen Wortwechsel. Dudenredaktion: Duden, S. 1615.
42
überhaupt noch irgendeinen Rang? Hat die Sprache überhaupt noch einen
dialogischen Charakter im metaphysischen Sinne? Mir scheint, sie ist reiner Ausfall,
abgewetztes Palaver. Alles redet aneinander vorbei.93
Im Allgemeinen vermitteln die Unterhaltungen im Anfangsakt einen eher mechanischen als
menschlichen Eindruck denn die Sätze sind kurz und meistens sehr einfach. Die Dialoge
sind keine richtigen Gespräche zwischen zwei Menschen, sondern erscheinen als eine Folge
von Äußerungen von beliebigen Leuten. Der Rhythmus ist schnell, die Geschwindigkeit der
Dialoge kreiert ein Gefühl von Verwirrung und Chaos beim Leser. Dadurch, dass die
Gruppenmitglieder mit den Nummern nicht gut zu unterscheiden sind, fällt es die Leser des
Dramentextes schwerer darauf zu achten welches Gruppenmitglied was sagt.
Demgegenüber können die Zuschauer des Bühnenstückes genau erkennen, welche
Äußerung von wem ausgesprochen wird. Die Dialoge hinterlassen beim Publikum einen
orchestrierten und organisierten Eindruck. Leser und Zuschauer erfahren den ersten Akt
also ganz unterschiedlich. Während die Leser die Äußerungen eher als chaotische
Gesamtausdrücke einer Gruppe erfahren, erscheinen die Dialoge für das Publikum als ein
orchestrierter Mechanismus.
Der Rhythmus der Text-Zeit ist schnell und angeregt. Die Leser erfahren diesen
Rhythmus nur anhand des Textes. Die Zuschauer dagegen bekommen auch durch das
Fotografieren den Eindruck des schnellen Rhythmus. Die Regieanweisung „Stille. Der
Fotograf unterbricht seine Arbeit.“94
zeugt davon, dass das Fotografieren während des
ganzen Aktes weitergeht und nur einmal kurz unterbrochen wird. Das Fotografieren
verstärkt die Geschwindigkeit des Aktes für die Zuschauer. Sie empfinden den Akt als eine
Reihenfolge von sehr kurzen Augenblicken des Sprechens und des Fotografierens. Die
Zuschauer erfahren die Zeit und den Chor als eine Aneinanderreihung von Augenblicken
bzw. Individuen.
M2 Haben Sie überhaupt den Versuch unternommen, an uns das Wesentliche zu
entdecken: die – Durch die Reihen auf – und abwärts läuft in Silben getrennt das
Wort >In-di-vi-du-al-i-tät<. Der Fotograf hat sich auf einen Hocker gesetzt, etwas
abseits vom Chor.95
93
Roberg: auf der Bühne, S. 115f. 94
Strauß: Theaterstücke, S. 416. 95
Strauß: Theaterstücke, S. 421.
43
Die Leser des Stückes haben es nicht nur schwerer, die Geschwindigkeit des Aktes zu
entdecken, weil sie den Rhythmus des Fotografierens nicht erleben, sondern die
Schwierigkeit liegt auch darin, die Individuen im Chor zu unterscheiden, denn sie sehen die
Gestalten nicht. Obzwar der Rhythmus und die Chormitglieder für die Leser des Textes
schwieriger zu entdecken sind, haben sie es im Bereich des Textverstehens leichter als die
Zuschauer des Theaters. Beide, Leser und Zuschauer, verpassen also ein Teil der
Theatererfahrung. Im Idealfall würde man, um ein Theaterstück völlig erleben zu können,
lesen und zuschauen kombinieren müssen.
4.4.2. Zeit im zweiten Akt
4.4.2.1. Explizite Verweise auf Zeit
Die Grafik der expliziten Verweise auf Zeit im zweiten Akt weist zwei Höhepunkte auf.
(cf. nachfolgende Grafik und Anlage 1, Grafik 2) Der ersten Höhepunkt zeichnet sich ab an
der Stelle, wo Lorenz eine Erinnerung aus seiner Jugend erzählt und danach überlegt, was
er jetzt und heute zu Delia sagen wird (cf. Seite 431, 432 auf nachfolgender Grafik). Wenn
die Beleibte ihre Lebens- und Liebesgeschichte erzählt und diese konfrontiert mit der Art
und Weise wie sie sich jetzt fühlt, ist einen zweiten Höhepunkt auf der Grafik
wahrnehmbar (cf. Seite 441 und 442 auf nachfolgender Grafik). In den Beispielen steht
zwei Mal eine Erinnerung oder Geschichte mit der Gegenwart in Zusammenhang. Diese
zwei Höhepunkte stellen die Behandlung der Zeit im ganzen Akt zusammengefasst dar. Im
zweiten Akt wird - wie der Titel zeigt - aus der Welt des Versehens eine Konfrontation von
dem Jetzt und der Vergangenheit dargestellt.
44
Im mittleren Akt haben die Worte 'jetzt' (10 Mal), 'Augenblick' (8 Mal), 'schon' (7 Mal),
'heute' (6 Mal), 'wieder' (6 Mal), 'Versehen' (6 Mal) und 'diesmal/einmal' (6 Mal) in Bezug
auf Zeit eine hohe Frequenz (Cf. Tabelle Zeit in der Anlage). Obwohl 'Augenblick' sehr viel
vorkommt, ist das zentrale Element nicht länger der Augenblick, sondern das Versehen
eines Augenblickes. Das stellt sich heraus in dem Titel des Aktes und in Sätzen wie „Wenn
man auch alles beisammen hat, fehlt einem zuletzt der geeignete Augenblick“96
oder
„Welch ein Augenblick das hätte werden können?“97
. Das wichtigste 'Versehen eines
Augenblickes' ist der Moment, in dem Lorenz die nackte Delia sieht; er wird von den zwei
Gestalten auf eine ganz andere Weise erlebt und interpretiert. Nach Greiner vertritt Delia
die Präsenz, während Lorenz das Versehen als den Anfang einer Geschichte sieht:
Für ihn ist der Anblick der nackten Frau lediglich ›zu früh‹ (SCH 39) gekommen, das
heißt, er will aus ihm den Beginn einer ›Liebes-Geschichte‹ (vgl. B 104) machen; sie
jedoch verweigert solches Entgegenwärtigen dessen, was im Augenblick absolut,
ungeteilt, jenseits jeder Geschichte war.98
Grieshop teilt den Gebrauch des Wortes 'versehen' in einen positiven und einen negativen
Gebrauch auf:
Grundsätzlich weist das Wort „versehen“ zwei Bedeutungsrichtungen auf, von denen
die negative diejenige ist, die im heutigen Sprachgebrauch vorherrscht. Das Wort
wird in diesem Sinne verwendet für ein falsches Sehen, ein Verachten, ein Übersehen
96
Strauß: Theaterstücke, S. 434. 97
Strauß: Theaterstücke, S. 443. 98
Greiner: Bleib in dem Bild, S. 215.
02468
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und ganz allgemein für ein Irren. In älterer Sprache wird dieses Wort dagegen auch
positiv benutzt, es wird damit eine Form des Wahrnehmens, des Erwartens, des
Voraussehens, des Gefaßtseins auf etwas oder des Bestimmens bezeichnet.99
Der positive und negative Gebrauch des Wortes 'versehen' kann mit den unterschiedlichen
Einstellungen von Lorenz und Delia, die Hauptgestalten des zweiten Aktes, verbunden
werden. Lorenz interpretiert das Versehen positiv als den Anfang einer Geschichte: er
erwartet also etwas, ist auf etwas gefasst. Delia dagegen fasst das Versehen negativ auf als
ein Irren oder ein Verachten, das in der Zukunft nicht verlängert werden muss.
Die Interpretation des Wortes 'versehen' kann auch auf eine andere Weise, in eine
zeitliche und optische Interpretation aufgeteilt werden, gleich wie ich mit dem Wort
'Augenblick' gemacht habe. Man kann das Wort 'Versehen' optisch auffassen als ein
falsches Sehen, ein Übersehen, eine Form des Wahrnehmens, oder man kann es zeitlich als
ein Verachten, Irren, eine Form des Erwartens oder eine Form des „Gefaßtseins auf etwas“
interpretieren. Greiner deutet das 'Versehen' im zeitlichen Sinn: „Das Mittelstück von
Schlußchor entwirft die Doppelorientierung an einem, wie Strauß später selbst kommentiert
[…], ››banalen‹‹ Beispiel für ››aufklärerisch‹‹ verdrängenden Umgang mit der Erfahrung
von Präsenz.“100
Greiner nennt das Versehen am Anfang des Aktes 'eine Erfahrung von
Präsenz' die verdrängt wird. Der zweite Teil des Aktes ist, so Greiner, die
Doppelorientierung an der verdrängten Erfahrung von Präsenz. Meiner Meinung nach kann
diese Doppelorientierung nicht nur in zwei zeitliche Deutungen des Versehens aufgeteilt
werden, sondern auch in eine zeitliche und eine optische Auslegung des Versehens. Delia
interpretiert das Versehen optisch als einen zufälligen Blick der Augen, während Lorenz
diesen Augenblick zeitlich interpretiert als einen Moment, den Anfang einer möglichen
Liebesgeschichte. Im ersten Teil erleben sie beide den Augenblick. Im zweiten Teil (von
Seite 431 an) dagegen ist es nur Lorenz, der darüber weiter nachdenkt. Delia ist im zweiten
Teil nur eine Nebenfigur, denn sie will dem Augenblick keine Folge leisten. Sie hat, in der
Gestalt eines anderen Architekten, auch schon einen Stellvertreter für Lorenz gefunden.
Trotz die Verknüpfung der zeitlichen und optischen Interpretation des Wortes 'versehen',
99
Grieshop: Augenblick, S. 204. 100
Greiner: Bleib in dem Bild, S. 215.
46
steht in diesem Kapitel die zeitliche Interpretation für mich zentral, während später in der
Untersuchung der optischen Interpretation Aufmerksamkeit gewidmet werden soll.
Der zweite Akt besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil stellt den Moment des
Versehens dar, während der zweite Teil die Konsequenzen jenes Moments abbildet. Im
ersten Teil „Lorenz vor dem Spiegel (Aus der Welt des Versehens) 1“101
wird ein optisches
Geschehen, eine Diskussion über die Architektur des neuen Gebäudes, gemischt mit einem
zeitlichen Verfahren, nämlich dem Augenblick, in dem Lorenz Delia nackt gesehen hat,
und der Diskussion über Lorenz„ und Delias unterschiedliche Interpretationen dieses
Moments:
LORENZ Eben, das wollte ich sagen. Man wird schon mit einem sehr teuren
Spezialglas arbeiten müssen, deshalb-
DELIA Wie konnten Sie das tun?
LORENZ Es tut mir Leid. Es war ein Versehen. So etwas kann passieren.
DELIA Dort könnte – ich betone: könnte – die Bauaufsicht einen freien Zugang
fordern, weil der Schornstein in der Nähe ist.102
Am Anfang wird vor allem über Architektur und eher implizit über das Versehen geredet.
Am Ende des ersten Teils wird die Diskussion über die Interpretation des optischen
Moments des Versehens wichtiger als die Diskussion über die optische Architektur. Die
unten stehende Grafik der expliziten zeitlichen und optischen Äußerungen zeigt, dass im
ersten Teil des zweiten Aktes (bis zu Seite 430) nicht mehr über Zeit als über Optik
gesprochen wird. Die Anzahl der expliziten Äußerungen über Zeit und Optik scheint
ungefähr gleich zu sein. Der Grund dafür ist, dass Lorenz die Wichtigkeit des Augenblickes
anfänglich anhand von optischen Beschreibungen betont. Auf diese optischen
Beschreibungen gehe ich in Kapitel 5.5.2. Optik im zweiten Akt noch ausführlich ein.
101
Strauß: Theaterstücke, S. 426. 102
Strauß: Theaterstücke, S. 427.
47
In der zweiten Hälfte dieses Aktes „Lorenz vor dem Spiegel (Aus der Welt des
Versehens) 2“103
wird die Diskussion über die Auffassung des Versehen weitergeführt, sie
wird aber auf eine ganz andere, indirektere Weise dargestellt. Erstens gibt es außer Delia
und Lorenz noch vierzehn Gestalten in diesem Akt: die Frau in Schilfgrün, die Unbedachte,
den bitteren Mann, den Mann mit Zigarre, die Frau mit Hut, den Versprochenen, die
Versprochene, den Rufer, die Beleibte, die Unbedachte, der Hässliche, Henriette, den
Hageren und den gewandten Mann. Zweitens sorgen die Nebenfiguren dafür, dass es auch
viel mehr nebensächliches Gerede gibt. Dieses Gerede hat manchmal auch mit einem
Augenblick zu tun, der nicht passieren wird, also mit dem Versehen eines Augenblickes.
Die oben stehende Grafik (cf. Anlage 1, Grafik 2) weist auf, dass im zweiten Teil des
zweiten Aktes Zeit viel mehr thematisiert wird als Optik. Jetzt untersuche ich, auf welche
Weise Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich im mittleren Akt zueinander verhalten.
103
Strauß: Theaterstücke, S. 430.
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Der wichtigste Handlungsstrang dieses Akts ist die der Hauptgestalt Lorenz.
Nachstehende Grafik weist auf, dass am Anfang des zweiten Teils (Seite 431, 432, 433,
434) hauptsachlich über die Gegenwart gesprochen wird.
Lorenz äußert sich auf diesen Seiten in der Tat über die Art und Weise wie er sich jetzt
fühlt. Erst macht er das anhand einer Erinnerung an seine Kindheit (Seite 431): „Wie früher
in der Schule, wenn man zu spät kam […]“.104
Darauf folgen allerdings nur Ausdrücke in
Bezug auf die Gegenwart: „Wenn ich ihre Nähe suche, hier und jetzt und heute bereits
wieder ein letztes Mal…Ah!“105
Er spricht zwischen dem Gerede der anderen Gestalten
durch, in einem Spiegel zu sich selbst. Auf diese Weise überlegt er, wie er das Versehen
des ersten Teils rückgängig machen kann. Er versucht die ganze Zeit Delia für sich zu
gewinnen, oder zeitlich ausgedrückt, will er das Rad der Geschichte zurückzudrehen,
wodurch er Delia Schritt für Schritt für sich gewinnen hätte können, aber es gelingt ihm
nicht. Er kann seine Gefühle nicht angemessen zum Ausdruck bringen: „Irgend etwas in
mir, irgend etwas zwischen Hirn und Zunge dreht, was ich sagen will, im letzten
Augenblick noch einmal um! Sie müssen, liebste Delia, ungeheure Scheußlichkeiten
104
Strauß: Theaterstücke, S. 431. 105
Strauß: Theaterstücke, S. 432
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vernehmen, wenn ich zart und geständig sein will.“106
Wenn er dann doch die Initiative
ergreift, nimmt das ein schlechtes Ende:
Lorenz läuft mit dem Satz auf den Lippen in den Saal. […]Kurz darauf im Saal ein
allgemeiner Aufschrei. […]Alle Gäste im Halbkreis. Lorenz erhebt sich vom Boden
und geht hinaus in die Diele. Als er den Spiegel passiert, wendet er sich kurz mit
erhobenem Zeigefinger an sich selbst…
LORENZ Das hätte nicht passieren dürfen, mein Lieber.107
Am Ende des Aktes erkennt er, dass es unmöglich ist, Delia die Folgen des Geschehens auf
eine positive Weise interpretieren zu lassen. Delia will kein Verhältnis mit Lorenz. Wenn
Lorenz bewusst wird, dass er Delia nicht davon überzeugen kann, das Versehen als den
Anfang einer Liebesgeschichte zu interpretieren, verübt er Selbstmord. Der Selbstmord
wird wieder durch ein Versehen ermöglicht:
DER VERSPROCHENE Mein Herr! Einen Augenblick, bitte! Warten Sie, mein Herr.
Sie haben den Mantel verwechselt. Meinen Mantel haben Sie genommen.
Lorenz fährt unwillkürlich in die Taschen des Mantels, um zu prüfen, ob es seiner
ist. Er spürt den Revolver, zieht ihn unauffällig hervor und steckt ihn in seine
Hosentasche.
LORENZ Sie haben recht. Es ist nicht mein Mantel. Ein Versehen. Keine böse
Absicht.108
Hier wird dadurch, dass das 'Versehen' zusammen mit dem Wort 'Absicht' erscheint, die
optische Dimension des Wortes betont. Lorenz macht aus dem Versehen diesmal keinen
Anfang einer Geschichte, wie er beim ersten Versehen des Aktes gemacht hat. Die
Möglichkeit des zeitlichen Interpretierens wird buchstäblich und figürlich abgebrochen,
indem er sich erschießt. Das wird deutlich im folgenden Zitat:
Im Spiegel erscheint Delia nackt wie zu Beginn, in derselben Pose. Sie wendet ihren
Kopf über die rechte Schulter und blickt Lorenz an.
DELIA Siehst du…
Lorenz stülpt seinen Hut vors Gesicht, zieht den Revolver und erschießt sich bei
verdecktem Gesicht. Plötzliche Stille im Saal. Die Tür öffnet sich einen Spalt. Der
Häßliche steckt seinen Kopf als erster hervor. Dann zwei, drei andere darüber.
Dunkel.109
106
Strauß: Theaterstücke, S. 438. 107
Strauß: Theaterstücke, S. 445. 108
Strauß: Theaterstücke, S. 445. 109
Strauß: Theaterstücke, S. 446.
50
Die optische Interpretation des Versehens wird durch die Erscheinung von Delia –wie am
Anfang des Aktes- und die Worte „siehst du“ betont. Lorenz erkennt, dass er das erste
Versehen optisch hätte auffassen müssen. Er will die Möglichkeit einer zeitlichen
Interpretation beseitigen und erschießt sich. Mit dem Selbstmord findet die Geschichte
nicht nur für Lorenz, sondern auch für die Leser und Zuschauer ein Ende, denn es wird
dunkel, und der nächste Akt fängt an.
Abgesehen von Lorenz, tritt im zweiten Stück des Mittelteils eine ganze Menge von
Nebenpersonen auf, welche explizit zeitliche Ausdrücke verwenden. Während Lorenz über
Delia und das Versehen erzählt, frischen die Nebenfiguren hauptsächlich Erinnerungen auf.
Von dem Auftritt des Rufers (S. 435) an werden, wie die unten stehende Grafik zeigt, die
Gegenwart und die Vergangenheit beide repräsentiert. Wie schon vermittelt, spricht Lorenz
meistens über die Gegenwart, die Äußerungen in Bezug auf Vergangenheit stammen von
den Nebenfiguren. Die Beleibte, die über ihr Leben erzählt (S. 441 und 442 auf
nachstehende Grafik), vertritt die Thematisierung der Vergangenheit. Sie vergleicht sich als
junge Frau und Liebhaberin in einem Dreiecksverhältnis mit demjenigen, der sie jetzt, nach
dem Tod ihres Geliebten, ist: „Ein Leben lang gab‟s mich nur: als seine Geliebte. So hieß
ich, als ich jung war und hieß noch so als meine Haare grau geworden sind.“110
Die
Beleibte spricht über Scham in Bezug auf ihre Liebesgeschichte: „Scham? Kennen Sie
Scham? Nicht die Scham der ermatteten Lusthenne, nein. Scham über die lange, leere,
emsige Zeit – über so viel sinnlosen Eifer…“111
Diese Geschichte ist ein Bespiel eines
Versehens einer Nebenfigur. Auf einer anderen Stelle reden die zwei Versprochenen über
eine Handlung mit einer Pistole, die sie aber doch nicht durchführen werden:
DER VERSPROCHENE aber jetzt liegt es hier in meiner Hand. Jetzt ist es nur noch ein
kleiner Schritt. Nicht einmal ein Schritt. Nur noch zwei feste ruhige Armbewegungen
DIE VERSPROCHENE Glaubst du? Wer weiß. Wenn man auch alles beisammen hat,
fehlt einem zuletzt der geeignete Augenblick.112
Dieses Versehen ist eine Ankündigung von Lorenz„ Versehen am Ende des zweiten Aktes.
Im Gegensatz zu den Versprochenen findet er den geeigneten Augenblick, sich zu
erschießen.
110
Strauß: Theaterstücke, S. 441. 111
Strauß: Theaterstücke, S. 442. 112
Strauß: Theaterstücke, S. 434.
51
Die Grafik weist auf, dass am Ende des Aktes wie am Anfang des zweiten Teils
hauptsächlich die Gegenwart thematisiert wird. Vor allem Lorenz führt hier das Wort, aber
auch ein Gespräch zwischen der Frau mit Hut und dem Rufer findet statt (Seite 443). Der
Rufer sagt ihr Folgendes: „Wissen Sie übrigens, wie viele Millionen dieser Bluthund, der
kürzlich gestürzte Diktator, in die Schweiz verfrachten ließ?“113
Die Frau mit Hut reagiert
ganz ungewöhnlich auf diese Äußerung. Sie wirft dem Rufer vor, dass er etwas erzählt,
dass schon allgemein bekannt ist. In dem darauf folgenden Redefluss betont sie die
Wichtigkeit des Augenblickes: „Es ist erstickend, wie stillos, wie unsäglich banal und
abgeschmackt, wie unempfindlich, verkehrt, wie hundsgemein das alles ist, was sich in
diesem Augenblick zwischen Ihnen und mir abspielt.“114
Indem die Frau die Banalität des
Augenblickes zwischen den Beiden betont, wird die Abwesenheit eines anderen sich im
Moment ereignenden Augenblicks des Mauerfalls, impliziert. Die Frau hebt hervor, dass
der Rufer sich durch das Ausweichen des Mauerfalls versieht. Dadurch, dass nicht nur
113
Strauß: Theaterstücke, S. 443. 114
Strauß: Theaterstücke, S. 443.
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Lorenz, sondern auch die Nebenfiguren das Versehen thematisieren, wird nachgewiesen,
dass das Versehen das zentrale Element des Aktes ist.
Der Deutschlandruf, das einzige in den drei Akten rekurrierende Element, wird im
mittleren Akt von einem Rufer anstatt der anonymen M8-Gestalt des ersten Aktes gerufen.
Wie schon im Kapitel über den Verlust der Synthesis beschrieben, nehmen seine Beiträge
immer konkreter Bezug auf die Geschichte Deutschlands. Nicht nur das Deutschlandthema
wird mit Hilfe des Rufers konkreter gemacht, sondern auch die zeitlichen Umstände, unter
denen dieses Stück spielt, werden im Gegensatz zum ersten Akt explizit geäußert: „Ab nun
verfällt die Republik. Es ist später denn je, sage ich Ihnen. Welch hübschen Körperteil, was
meinen Sie, wird uns die freizügige Germania als nächsten entblößen?“115
Von dem
Moment an werden auch Lorenz„ kleine Probleme in Bezug auf Delia mit der großen
Geschichte Deutschlands verwoben. Hier wird nicht nur das augenblickliche Geschehen
mit der großen Geschichte konfrontiert, sie werden sogar gleichgesetzt:
DER RUFER Ab nun verfällt die Republik. Es ist später denn je, sage ich Ihnen. Welch
hübschen Körperteil, was meinen Sie, wird uns die freizügige Germania als nächsten
entblößen? Ihr Knie vielleicht von wegen.
LORENZ Die Schönheit einer Frau bleibt doch, Geschichte hin, Geschichte her, der
einzige Kriegsgrund, der bis heute überzeugt. Oder sagen wir: ein Ort des Unfriedens.
Oder sagen wir: echter Friede läßt sich niemals mit ihr schließen, ich meine: ein
Rätsel bleibt sie doch?116
Dadurch, dass Lorenz die Wichtigkeit des Mauerfalls nicht einsieht und stattdessen die
Geschichte so interpretiert, dass sie auf seine eigenen Probleme mit Delia anwendbar wird,
wird in diesem Akt die Geschichte Deutschlands ignoriert. Auch hier wird also, wenn über
Vergangenheit gesprochen wird, vor allem die nahe Vergangenheit betont. Diese nahe
Vergangenheit nimmt Bezug auf das Versehen am Anfang des Mittelteils. Wenn die ferne
Vergangenheit, die Geschichte Deutschlands, thematisiert wird, wird diese nur kurz
erwähnt und nicht weiter ausgearbeitet.
115
Strauß: Theaterstücke, S. 435. 116
Strauß: Theaterstücke, S. 435.
53
4.4.2.2. Implizite Verweise auf Zeit
Im ersten Teil des zweiten Aktes besprechen Lorenz und Delia neben der Haupthandlung
auch die Architektur des Gebäudes, das Lorenz für Delia entwirft. In diesem Gespräch
handelt es sich um einen ersten Entwurf: „Sie greifen wohl auf erprobtes zurück?“117
, wie
dieser Entwurf angepasst wurde: „Ich laborierte an Ihrer Idee herum“118
und wie das Haus
in der Zukunft aussehen kann. Die Zukunft hat zwei Möglichkeiten, welche krasse
Gegenteile sind. Die zweite Möglichkeit wird von Delia angefeindet:
LORENZ Bitte, erschrecken Sie nicht. Das krasse Gegenteil der ersten Lösung.
DELIA Nein…nein! Ein Kuppelgrab! Ein Pavillon! Ein Iglu auf dem Dach!
LORENZ Ich bitte Sie herzlich: lassen Sie es erst einmal auf sich wirken!
DELIA Niemals etwas Rundes! Keine Kugel, kein Oval! Tun Sie‟s weg! […] Sie
können die Zeichnung ruhig wieder einrollen. Ich werde mich nie damit
befreunden.119
Die Diskussion über Architektur kann als eine Metapher gesehen werden für dasjenige, was
auch mit Lorenz selbst im zweiten Teil geschieht. Delia tauscht nicht nur den Entwurf des
Hauses für einen anderen Entwurf um, sie tauscht auch den Architekt dieses Entwurfes
(Lorenz) um für einen anderen Architekten, sie tauscht sogar ihren Geliebten für einen
neuen Geliebten um. Indem sie nicht nur ihre Pläne, sondern auch ihre persönlichen
Beziehungen verändert, versucht sie der Geschichte zu entgehen. Hier wird, wie im ersten
Akt, anhand einer Diskussion der Optik, über die Zukunft gesprochen.
Danach vergleicht Lorenz den Moment des Versehens mit dem Schaffen eines
Kunstwerks. Dies ist vor allem ein optisches Verfahren, das ich im Kapitel über Optik
erläutern werde. Für die Analyse der impliziten Verweise auf Zeit ist es jedoch wichtig,
dass Lorenz sich selbst mit dem alten Künstler Degas vergleicht. Er sieht sich selbst als ein
Schöpfer der schönen Nacktheit, die später von anderen Leuten bewundert wird, und auch
als den möglichen Anfang einer schönen Geschichte, denn er sagt „Ich frage mich was aus
Ihrer Schönheit würde, wenn ich bliebe.“120
117
Strauß: Theaterstücke, S. 426. 118
Strauß: Theaterstücke, S. 426. 119
Strauß: Theaterstücke, S. 428. 120
Strauß: Theaterstücke, S. 429.
54
Am Ende des ersten Teils wird eine ähnliche Geschichte erzählt, der gegenüber
Lorenz und Delia jedoch einen entgegengesetzten Standpunkt einnehmen. Lorenz erzählt
über David, der eine schöne Frau sich waschen sah, er ließ sie holen und schlief bei ihr.121
Delia erwidert, dass diese Frau sich danach von ihrer Unreinheit reinigt und wieder zu
ihrem Haus zurückkehrt. Lorenz tut aber, als ob er das nicht hört, und erzählt die
Geschichte weiter wie eine schöne Fantasie, auf die Delia letztendlich folgendermaßen
reagiert: „DELIA Oh gewiß, es ist besser, Sie erheitern mich mit Ihren ausgemalten
Fantasien, als daß Ihnen, in meiner Gegenwart, gar nichts Verbotenes mehr einfiele. Ich
hüllenlos. Bathseba hüllenlos. Wie oft bringen Sie das noch über die Lippen.“122
Mit dieser
letzten Anekdote ist es ganz deutlich, dass Lorenz die schöne Nacktheit als den
fantastischen Beginn einer Liebesgeschichte sieht. Er holt dafür Inspiration bei
mythologischen Geschichten und Malereien. Delia ist viel realistischer und sieht den
Moment, in dem Lorenz sie beim Baden ertappt hat, nur als einen kurzen Augenblick, als
ein Versehen, das passiert ist, ohne dass es eine Fortsetzung geben muss.
Im zweiten Teil des mittleren Aktes wird Zeit ausführlich explizit behandelt.
Implizite Verweise auf Zeit trifft man in diesem Teil wenig an. Wie ich am Beispiel des
Beleibten und der Versprochenen vermittelt habe, deutet das Gerede anderer Leuten in
Bezug auf Zeit meistens auf das Verpassen oder Versehen eines Augenblicks hin. Diese
Gestalten benutzen in ihrer Gerede Worte wie „fünfundzwanzig Jahre“123
oder
„Augenblick“124
. Sie thematisieren also explizit die Zeit. Ganz am Anfang des zweiten
Teils wird implizit auf ein Versehen verwiesen. „DIE FRAU IN SCHILFGRÜN Ich bin eine
lichte Perle auf schwarzem Samt… […] Nein. Ich bring es nicht. Ich bring es einfach nicht
heraus. Es war zu schön, ihm sowas mal zu sagen, ganz spontan. ›Ich bin eine lichte Perle
auf schwarzem Samt.‹ Na ja. Geht doch.“125
Die Frau in Schilfgrün thematisiert subtil das
Versehen, ohne explizit Worte des Wortfeldes 'Zeit' zu verwenden. Und auch das deutet auf
die wichtige Position des Versehens in diesem Akt.
121
Strauß: Theaterstücke, S. 430. 122
Strauß: Theaterstücke, S. 430. 123
Strauß: Theaterstücke, S. 441. 124
Strauß: Theaterstücke, S. 434. 125
Strauß: Theaterstücke, S. 430f.
55
4.4.2.3. Mythosverarbeitung
Wie ich im einleitenden Kapitel beschrieben habe, ist das verarbeiten von Mythen eines der
Grundmotive in den Prosawerken und Theaterstücken Botho Strauß„. Auch im
Theaterstück Schlußchor ist dies der Fall. Die Mythen hängen mit dem Hauptmotiv
Augenblick zusammen. Indem ein Mythos benutzt wird, um einen bestimmten Augenblick
zu mythologisieren, bekommt dieser Augenblick einen erhabenen Status. Zugmann,
Englhart und Grieshop besprechen in ihren Analysen des Stückes alle den Mythos von
Diana und Aktaion, auf den die Anfangsszene des zweiten Aktes verweist. In Schlußchor
bekommt der Augenblick von Lorenz„ Versehen im zweiten Akt auf diese Weise einen
erhabenen Status. Der Mythos von Aktaion und Diana wird von Lorenz und Delia
wiederholt. In diesem Mythos überrascht Aktaion während der Jagd die Göttin Diana beim
Baden. Daraufhin verwandelt sie ihn in einen Hirsch, und er wird von seinen eigenen
Hunden zerfleischt. Nach Grieshop sind Delias Handlungen durch den Mythos
vorbestimmt. „Sie muß sich rächen, weil das die mythische Vorlage, die durch
Namensgebung, Handlung, Figurenkonstellation und Aussagen der Figuren explizit und
implizit beschworen wird, das so vorschreibt.“126
Der moderne Theatertext und der alte
Mythos sind intertextuell verbunden. Greiner erklärt die Mythosverarbeitung
folgendermaßen: „In dieser Welt stellt Lorenz mit seinem Blick des Versehens nicht einen
neuen Aktaion vor, sondern ist er Aktaion in dem Körper und Habitus einer Gestalt der
Jetztzeit.“127
Greiner verweist für diese Aussage auf Strauß„ Nachwort zu George Steiners
Von realer Gegenwart. Strauß hat in diesem Essay mit dem Titel Der Aufstand gegen die
sekundäre Welt Folgendes geschrieben (cf. Kapitel 2.3. Strauß‘ Ästhetik der Präsenz)
Die Kunstlehre von der realen Gegenwart oder: die um die Kunst erweiterte
Sakramentenlehre ist davon überzeugt, daß das Bildnis des Mädchens nicht ein
Mädchen zeigt, sondern daß es das Mädchen ist unter der Gestalt von Farbe und
Leinwand. […] Die Ikone mit der Gottesmutter ist nicht einmal ein Bild, sondern
126
Grieshop: Augenblick, S. 206. 127
Bernhard Greiner: Der Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretation. [zweite,
aktualisierte und ergänzte Auflage] Tübingen und Basel: A. Francke, 2006, S. 471.
56
vielmehr ein Fenster, durch das wir sie selbst erblicken. Der Maler wendet seine
ganze Kunst an, um einen Vorhang zu öffnen, die Vision zu ermöglichen.128
Das Verwenden eines Mythos sei also ein Mittel, um Strauß„ Ästhetik der Präsenz dadurch
zu gestalten, dass der Mythos Realität wird. Strauß meint (cf. Kapitel 3.3. Botho Strauß‘
Ästhetik der Präsenz) dass die Einarbeitung der alten Mythos in ein neues Theaterstück ein
Mittel der Präsentation ist. Nach Hans-Thies Lehmanns Auffassung des postdramatischen
Theaters ist die Einarbeitung eines Mythos jedoch reine Repräsentation.
4.4.3. Zeit im dritten Akt
4.4.3.1. Explizite Verweise auf Zeit
Im Gegensatz zu den Titeln der ersten zwei Akten129
, die beide auf einen visuellen Aspekt
hindeuten, ist der Titel des dritten Akts „Von nun an“130
ausschließlich zeitlich bestimmt.
Mit dem Wort 'nun' in diesem Titel deutet Strauß, so Grieshop, auf den historischen
Zeitpunkt des Mauerfalls am 9. November 1989 hin. Grieshop erklärt den Titel
folgendermaßen:
Strauß spricht also mit der Formel „von nun an“, so der Titel des dritten Akts, gerade
nicht die kausale Bedeutung an, die dieses „nun“ im Deutschen auch hat, sondern
betont allein das Unvorhergesehene des Ereignisses und die zu diesem Zeitpunkt von
niemandem absehbaren Auswirkungen. „Von nun an“ wird es ein anderes
Deutschland geben, und zwar gilt das für West- wie für Ostdeutsche. Doch das
Modell dafür ist noch nicht gefunden. Die einzige Wahrheit, die sich in diesem
Augenblick offenbart, ist – typisch für den historischen Augenblicks des
Systemwandels – die Tatsache, dass von diesem Zeitpunkt an alle
Wahrheitsbedingungen verändert sind.131
Der Titel enthält, so Grieshop, weder eine kausale Bedeutung, eine Vorgeschichte, noch die
Auswirkungen, die Konsequenzen für die Zukunft, des 'Nuns' und betont auf diese Weise
den Augenblick. Anhand des Titels des Schlussaktes wird das Hauptmotiv des Stückes
noch mal nachdrücklich hervorgehoben. Die bedeutende Position der Zeit im Schlussakt
128
Strauß: Der Aufstand, S. 309. 129
“Sehen und Gesehenwerden” und “Lorenz vor dem Spiegel (Aus der Welt des Versehens)” 130
Strauß: Theaterstücke, S. 447. 131
Grieshop: Augenblick, S. 209.
57
geht nicht nur aus dem Titel hervor, sondern auch aus der Anzahl Worte, welche
Geschichte, sowohl die ferne als die nahe Vergangenheit, zur Sprache bringen.
Die nachfolgende Grafik, die das explizite Erwähnen von Zeit im ganzen Stück
zeigt, weist deutlich auf, dass im dritten Akt viel mehr über Zeit gesprochen wird als in den
ersten zwei Akten.
Aus der Tabelle (cf. Tabelle Zeit in der Anlage) kann das auch gefolgert werden: im
ersten Akt wird 81 Mal, im zweiten Akt 139 Mal und im dritten Akt 156 Mal explizit über
Zeit gesprochen. Die Grafik, die die expliziten Ausdrücke in Bezug auf die ferne
Vergangenheit im ganzen Stück visualisiert, zeigt, dass im dritten Akt viel mehr über die
ferne Vergangenheit gesprochen wird als in dem ersten und zweiten Akt (cf. Anlage 2,
Grafik 4). Und die Grafik, die die expliziten Ausdrücke in Bezug auf die nahe
Vergangenheit im ganzen Stück visualisiert, zeigt, dass auch die nahe Vergangenheit im
dritten Akt am meisten thematisiert wird (cf. Anlage 2, Grafik 5). Der Titel und die hohe
Anzahl Worte aus dem Wortfeld 'Zeit' weisen also auf die wichtige Position der Zeit in
diesem Akt hin.
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Zoo
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Optik
Schlußchor: 3
Akten
58
Ein anderer Grund für die Wichtigkeit der Zeit im Schlussakt ist, dass letztlich
deutlich gemacht wird, dass dieses Stück von der deutschen Wende handelt: „DER WIRT
[…] Aber heute scheint wirklich etwas loszugehen. In den Nachrichten hieß es, sie wollen
die Grenze öffnen.“132
Zwar glaubt der Wirt zuerst, man hätte die Grenze aus Versehen
geöffnet, aber es stellt sich heraus, dass den Mauerfall echte Realität ist. Später sagt der
Rufer, der Vertreter der Geschichte, noch mal buchstäblich:
DER RUFER Deutschland! Das ist Geschichte, sag ich, hier und heute, sage ich,
Valmy, sage ich, Goethe! Und diesmal sind wir dabei gewesen. Die Grenzen sind
geöffnet! Die Mauer bricht! Der Osten… der Osten ist frei!133
Danach folgt eine Szene mit einem Ostdeutschen Paar, das im Westen ankommt:
DIE BLOUSON-FRAU Die Republik ist ja das einzige, was wir uns wirklich
geschaffen haben.
PATRICK Was geht in Ihnen vor? Was geht hier und jetzt, in diesen Minuten, in
Ihnen wirklich vor? Erzählen Sie es uns bitte!134
Die klischeehaften Erfahrungen der Ostdeutschen im Westen sorgen dafür, dass fürs erste
Mal in diesem Bühnenstück ein Appell an das Publikum gemacht wird. Die Zuschauer
erinnern sich durch diese Szene daran, wo sie in diesem wichtigen Augenblick des
Mauerfalls gewesen sind und wie sie sich damals gefühlt haben. Das Theaterstück wird also
konkreter. Die Zeit wird näher bestimmt anhand der deutschen Geschichte und des
Augenblicks des Mauerfalls. Die Nazis135
werden genannt gleich wie konkrete Daten und
Worte wie 'Kriegszeit'. Auch die Gestalten werden näher bestimmt. Im ersten Akt werden
die Figuren nur angedeutet mit Buchstaben und Zahlen, im zweiten Akt vor allem mit
Umschreibungen, und erst im dritten Akt werden fast alle Gestalten mit Namen genannt:
Anita von Schastorf, Ursula, Rudolf, Solveig…
Von den meisten Forschern wird der dritte Akt als eine hauptsächlich zeitliche
Begebenheit gedeutet. Bernhard Greiner zum Beispiel beschreibt den Inhalt des dritten
Aktes folgendermaßen: „Der dritte Teil des Stücks konfrontiert das emergente Ereignis, den
Fall der Berliner Mauer, mit dem Versuch einer Historiker, die am Beispiel ihrer eigenen
Familie die Geschichte der Nazis umfälscht, eine würdigere ››Ankunft‹‹ des politischen
132
Strauß: Theaterstücke, S. 448. 133
Strauß: Theaterstücke, S. 456. 134
Strauß: Theaterstücke, S. 457. 135
Strauß: Theaterstücke, S. 454.
59
Neuen zu inszenieren.“136
In Greiners Zusammenfassung des Aktes wird wieder der
Augenblick des Mauerfalls betont, aber er spricht auch über Anlässe und Folgen des
Augenblicks. Vorgeschichte und Nachwirkung sind allerdings subjektiv. Der zweite Grund
für die ausführliche explizite Thematisierung der Zeit hat auch nach Grieshop mit diesen
subjektiven, persönlichen Anlässen zu tun:
Was Strauß bei seiner Interpretation bewußt vernachlässigt, sind die langfristigen
Ursachen dieses Moments, der eben nicht ‚aus heiterem Himmel„ kam, sondern als
Folge krisenhafter Entwicklungen in der DDR und den anderen sozialistischen
Staaten vorbereitet worden war. In seiner dramatischen Verarbeitung dieses Stoffes
interessiert Strauß – wie in den beiden ersten Akten – allein dafür, wie die Figuren
mit diesem unerwarteten „Versehen“ – so nennt der Wirt die Maueröffnung –
umgehen und wie eine angemessene Reaktion auf einen solchen historischen
Augenblick aussehen müßte.137
Grieshop meint, dass das persönliche Umgehen mit der Wende das Thema des dritten Aktes
ist. Über den wichtigen Zeitpunkt der Wende wird nicht dadurch reflektiert, dass Strauß die
Gestalten auf die Anlässe zurückblicken lässt, die es für die Wende gegeben hat, oder dass
er die Gestalten vorausdenken lässt, was die Bedeutung des Augenblickes für die Zukunft
sein wird. Er lässt alle Gestalten auf ihre persönliche Weise mit der Wende in der deutschen
Geschichte umgehen oder vielmehr nicht umgehen und bewirkt auf diese Weise das
Reflektieren beim Publikum. Jeder Gestalt hat eine eigene, persönliche Geschichte.
Oberender deutet darauf hin, dass diese persönliche Geschichte wichtiger erscheint als der
Mauerfall und der großen Geschichte Deutschlands.
Botho Strauß zeigt in Schlußchor, daß das historische Ereignis keineswegs Resultat
einer planvollen Entwicklung war. Daß die Mauer fällt, erscheint innerhalb des
Dramas als das Ergebnis einer genauso willkürlich gefaßten Entscheidung wie der
plötzliche Auftritt von Freunden, die bekennen, ‹daß wir heute abend jeden Entschluß
spontan geändert haben.›138
Daher erscheint dieser in der Geschichte wichtigen Zeitpunkt unwichtig für die Gestalten
des Bühnenstückes. Die Weise, wie die Figuren die Wende auffassen, ist der Weise, wie die
Zuschauer diesen wichtigen Zeitpunkt deuten, diametral entgegengesetzt. Nicht nur durch
136
Greiner: Bleib in dem Bild, S. 218. 137
Grieshop: Augenblick, S. 209. 138
Oberender: Wiederrichtung, S. 85.
60
die klischeehaften Erfahrungen der Ostdeutschen, sondern auch durch die uninteressierte
Haltung der Gestalten dem Mauerfall gegenüber wird ein Appell ans Publikum gemacht.
4.4.3.2. Persönliche Geschichten
Wie schon im vorigen Kapitel erwähnt, ist die Reaktion der Gestalten auf den historischen
Augenblick eher uninteressiert. Statt über die sich in dem Moment vollziehende Geschichte
Deutschlands zu reden, erzählen die Gestalten vor allem ihre eigenen, persönlichen
Geschichten. Die unpersönliche Interpretation der Gegenwart ist der persönlichen
Vergangenheit in diesem Akt gegenübergestellt. Die hohe Anzahl von Worten, sichtbar auf
nachstehenden Grafik, die sowohl von der nahen als auch von der fernen Vergangenheit
handeln, thematisieren hauptsächlich die persönlichen Geschichten der Gestalten. Obwohl
der Schlussakt konkretere Daten über die Wende vermittelt, werden, so Grieshop, die
langfristigen Anlässe nicht dargelegt.139
Die Grafik zeigt, dass am Anfang des Aktes hauptsächlich über Vergangenheit und in
geringerem Maße über die Gegenwart erzählt wird. Das hängt mit den Geschichten von
Ursula und der Mutter zusammen. Die erste persönliche Geschichte, die innerhalb des
139
Grieshop: Augenblick, S. 209.
0
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ferne Vergangenheit
nahe Vergangenheit
Heute
Zukunft
Akt3
61
dritten Aktes auf Zeit verweist, wird von Ursula ganz am Anfang des Teils erzählt. Die
Geschichte über die Enttäuschung über ihren Reisegefährten nach einer jahrelangen und
schwierigen Reise, war von entscheidender Bedeutung für ihr Leben: „Jedenfalls, eines
weiß ich jetzt für immer: ein Hochseesegler, und wenn du jahrelang mit ihm alleine
draußen warst, mutterwindallein in jeder Lage, der träumt trotz allem neben dir von einer
letzten, noch größeren Einsamkeit, der träumt vom Abenteuer ohne dich.“140
Sie erzählt
über die Vergangenheit und über die Frage welchen Effekt diese Erlebnisse auf ihren
heutigen Zustand haben.
Darauf (auf Seite 448) tritt die Mutter auf und erzählt eine sehr persönliche
Geschichte, die ihr Leben ganz bestimmt hat, die Geschichte der anspruchsvollen Tochter.
Es ist sehr schwer für mich, glauben Sie mir. Ich habe Sie den ganzen Tag um mich.
Den ganzen Tag bin ich mit ihr allein. Meine drei Söhne leben schon lange im
Ausland. Wir sind eine große Familie, wenn wir einmal im Jahr zusammenkommen.
Ich habe jetzt sieben Enkelkinder. Anita ist – ein anspruchsvoller Mensch. Sie macht
es einer Mutter nicht leicht.141
Die nächste Gestalt, die etwas über ihre eigene Vergangenheit erzählt, ist Solveig (auf
Seite 451). Sie berichtet erstens, dass sie seit anderthalb Jahren verheiratet ist, daneben
auch über die Tatsache, dass sie an diesem Abend spontan ihre Pläne geändert hat, und
drittens dass die Begegnung mit Rudolf also zufällig ist. Diese Erzählung hat aber mehr mit
dem zeitlichen Verfahren 'Jetzt' als mit der Geschichte zu tun, das zeigt die hohe Anzahl
Worte in Bezug auf die Gegenwart (cf. S. 451 auf oben stehender Grafik).
Danach, ab Seite 451, fängt eine Diskussion an zwischen Solveig, Rudolf, Patrick
und dem Leser. Diese Diskussion handelt von der Zeit einer Verabredung. Wenn Anita (auf
Seite 452) und letztlich der Wirt (auf Seite 453) sich in die Diskussion mischen, verlieren
sie sich immer mehr in Argumenten aus der (nahen) Vergangenheit: „DER WIRT Die hat
schon letzte Woche hier herumgeredet…“142
(cf. oben stehende Grafik). Weil die
Diskussion sich steigert, mischt die Mutter sich ein und erzählt über den Vater, Hans Ulrich
von Schastorf, der Mitte 1944 von den Nazis erschossen wurde. Er würde bei den
Historikern bekannt sein wegen seines herausgegebenen Tagebuchs. Die Ausgabe des
140
Strauß: Theaterstücke, S. 447. 141
Strauß: Theaterstücke, S. 448. 142
Strauß: Theaterstücke, S. 453.
62
Tagebuchs sorgt dafür, dass die persönliche Geschichte öffentlich bekannt wird. Und dann
entsteht sogar eine Diskussion zwischen Mutter und Tochter, wobei die Mutter Vertreterin
ihrer persönlichen Geschichte und die Tochter sich als Vertreterin der größeren Geschichte
bewährt. „DIE MUTTER Du klammerst dich an eine einzige Zeile im Tagebuch, wo jeder
kleinste Zwist später wie ein Höllenschlund erscheint! Es ist alles so lange vorbei, und sie
erzählt es daher, als sei es gestern gewesen. Du hast die Zeit doch gar nicht mitgemacht!“143
Die Grafik (cf. oben stehende Grafik und Anlage 2, Grafik 3) weist deutlich auf, dass die
Seiten, die die Diskussion und die Erzählung des Mutters vertreten (s.453, 454, 455), ein
Höhepunkt in der expliziten Thematisierung der Zeit im dritten Akt darstellen.
Die Grafik zeigt, dass beim Auftreten des Blouson-Paares (S. 456 auf oben stehender
Grafik und Anlage 2, Grafik 3) die Äußerungen über die Gegenwart eine hohe Frequenz
haben. Das Blouson-Paar vermittelt den anderen Gestalten gegenüber jedoch keine sehr
persönliche Erzählung. Das ostdeutsche Paar hat eine so klischeehafte persönliche
Vergangenheit, dass es eigentlich die Geschichte jedes durchschnittlichen ostdeutschen
Paares ist:
SOLVEIG Aber Sie können jetzt frei in den Westen und wieder nach Haus. Da muß
ihnen doch ein Grabstein von der Brust fallen! […]
DIE BLOUSON-FRAU Wir waren zuerst in einer Disco, um uns etwas aufzuwärmen.
Fünfundzwanzig Ostmark wollten die für eine Cola.[…]
DER BLOUSON-MANN Wir haben zwar nichts geglaubt, aber waren doch überzeugt,
daß uns der Betrug vor Schlimmerem bewahrt.144
Das Blouson-Paar berichtet über die Gegenwart, über den Fall der Mauer. Obschon sie die
Möglichkeit haben, zu erzählen, wie sie diesen wichtigen Augenblick erlebt haben,
vermitteln sie nur die weit verbreitete, klischeehafte Ansicht, die jeder Ostdeutsche hätte
erzählen können. Durch das Blouson-Paar kommen die anderen Gestalten und das
Publikum in Schlußchor einer Konfrontation mit der deutschen Geschichte sehr nahe, aber
die Möglichkeit einer persönlichen Interpretation des Mauerfalls wird hier nicht benutzt.
Auf der Grafik der Zeit im dritten Akt (cf. Anlage 2, Grafik 3) ist deutlich, dass von
dem Moment an, dass der Jubel auf der Straße hörbar wird (S. 458) die Äußerungen in
Bezug auf die Vergangenheit wieder zahlreicher werden. Darauf fangen Anita und Patrick
143
Strauß: Theaterstücke, S. 455. 144
Strauß: Theaterstücke, S. 456f.
63
mit einer Diskussion über den Inhalt des Tagebuches von Anitas Vater an (S. 458, 459,
460). Diesmal geht es nicht um eine persönliche Geschichte einerseits und eine
herausgegebene Geschichte anderseits, sondern um zwei Versionen der im
herausgegebenen Tagebuch beschriebenen Geschichte.
PATRICK […] Weshalb haben Sie in der Neuausgabe seines Tagebuchs zahlreiche
Stellen unterdrückt, die ihn ins Zwielicht setzen könnten?
ANITA Es gibt nur Kleinigkeiten, die ich weggelassen habe. Und manches ist tabu.
PATRICK Ah, tabu, so. Er war, wie man sagt, ein großartiger und unbestechlicher
Chronist der Terrorzeit. Aber, nicht wahr, an keiner einzigen Stelle lassen Sie zu, daß
seine Frauengeschichten bekannt werden. Dabei wissen wir aus zahllosen Briefen
längst, daß sich seine subversive Tätigkeit im Wesentlichen darauf beschränkte, einen
oberen NS-Chargen Hörner aufzusetzen. Wollte er vielleicht durch Liebeskummer
die Führung demoralisieren?
ANITA steht auf und schlägt Patrick ins Gesicht. Du schiefes kaltes dreckiges
Schmähmaul…145
Grieshop charakterisiert Patrick als den „Prototyp des - westdeutschen - Intellektuellen,
dessen Interesse darin besteht, Tabus kritisch aufzuklären und Geschichte zu
entmystifizieren.“146
Gegenüber Patricks Haltung steht, so Grieshop, Anitas Benehmen:
Dieser Haltung auf- und abgeklärter Objektivität wird von Strauß der
leidenschaftliche Enthusiasmus der Außenseiterin Anita von Schastorf
entgegengesetzt, die mit ihren reaktionären und mythischen Vorstellungen nicht nur
intellektuell einen Gegenpol zu demokratisch-aufgeklärten Vorstellungen eines
idealen Staates beschwört, sondern auch in ihrem Verhalten extreme Züge aufweist:
Sie reagiert auf das radikal Neue des weltgeschichtlichen Moments mit ebenso
radikalen Mitteln, nämlich einem orgiastischen, im Wahnsinn endenden
Tötungsakt.147
Die Grafik (cf. S. 461 auf Anlage 2, Grafik 3) verdeutlicht, dass von dem Ende der
Diskussion an die Thematisierung der Zeit weniger wichtig ist. Die Schlussszene des
ganzen Stückes nimmt dann auch keinen Bezug auf Zeit.
4.4.3.3. Mythosversuch
Der dritte Akt handelt explizit von Zeit und vor allem von Geschichte. Der Augenblick des
Mauerfalls ist dasjenige, was in diesem Akt „hier und heute“, wie der Rufer sagt, vorgeht.
145
Strauß: Theaterstücke, S. 460. 146
Grieshop: Augenblick, S. 210. 147
Grieshop: Augenblick, S. 210.
64
Man würde denn auch eine Reaktion auf diesen wichtigen Geschehen erwarten, aber
stattdessen werden hier persönlichen Geschichten erzählt. Die Präsenz ist einfach da und
hat fast keine Konsequenzen für den Verlauf des Stückes, er wird insofern ignoriert, dass
alle nur ihre eigenen Geschichten erzählen. Nur auf Anita von Schastorf macht der
Mauerfall Eindruck. Letztendlich sorgt sie dafür, dass sich am Ende des Theaterstückes
eine Wende vollzieht. Nachdem das ganze Stück glaubwürdig erschien, stellt der Schluss
von Schlußchor eine mysteriöse und phantastische Szene mit Anita im Zoo bei der Voliere
eines Steinadlers dar.
Anita steht vor der Voliere eines Steinadlers, dem sie sich in ihrem langen,
werbenden Schlussmonolog anbietet. Unklar bleibt, ob sie ihm Balzpartnerin,
Spielgefährtin oder Beute sein will – in jedem Fall endet die Szene nicht mit ihrer
Unterwerfung unter den Adler, sondern mit dessen Tötung.148
Indem sie den Adler, das Symbol für Deutschland und für die deutsche Geschichte,
vernichtet, versucht sie aus der Präsenz ein verrücktes Schauspiel zu machen, um auf diese
Weise die vorangehende Geschichte zu beenden und „von nun an“ eine neue Geschichte für
die Zukunft zu schaffen. Gemäß Andreas Englhart ist der dritte Akt „ein letzter Versuch,
das ‚Jetzt„ im sich bewegenden Text zu begreifen.“149
Anita versucht dem Augenblick
einen mythischen Status zu geben. Der Versuch misslingt jedoch, weil die Schlussszene
nicht auf einen bestehenden Mythos verweist. In der Forschungsliteratur gibt es zwar keine
Eindeutigkeit über die Bedeutung des Endes des Stückes. Durch die Unbestimmtheit
hinterlässt die Schlussszene eher einen Eindruck der Präsentation statt der Repräsentation.
4.4.4. Schlussfolgerungen Zeit
In den drei Akten werden verschiedene Aspekte der Zeit thematisiert. Im ersten Akt wird
die Zeit im Augenblick des Fotografierens dargestellt. Der zweite Akt handelt von zwei
Interpretationen eines Versehens. Das Versehen kann erstens als ein kurzer Moment und
zweitens als der Anfang einer Geschichte interpretiert werden. Im Schlussakt wird die
Geschichte Deutschlands mit den persönlichen Geschichten der Gestalten konfrontiert. In
148
Willer: Strauß zur Einführung, S. 126. 149
Englhart: Labyrinth, S. 264.
65
den drei Akten ist der Rufer derjenige, der das Deutschlandthema introduziert, aber das ruft
jedes Mal eine andere Reaktion der Gestalten hervor. Im Anfangsakt wird der Ausruf
„Deutschland“ ignoriert und hat man nur Auge für das Fotografieren. Im zweiten Akt wird
der Umgang mit der Geschichte Deutschlands vermieden, denn obschon die Wende hier
von dem Rufer explizit sprachlich repräsentiert wird, gibt es keine Darstellung einer
Auffassung dieses Augenblickes. Stattdessen werden persönliche Geschichten der
Nebenpersonen erzählt. Hier wird präsentiert, wie man mit dem Fall der Mauer und mit der
Geschichte Deutschlands umgehen kann, und in diesem Fall ist die Reaktion eine, die
Bewältigung vermeidet. Denn das Thema hängt im Anfangs- und im mittleren Akt in der
Luft, ohne dass darüber explizit gesprochen wird. Der dritte Akt ist in Bezug auf Zeit
gerade das Umgekehrte des ersten Akts. Im ersten Akt wird Alles gemeinsam erlebt von
einer Gruppe, die aus anonymen Individuen zusammengesetzt ist. Im dritten Akt dagegen
hat jedes Individuum eine persönliche Geschichte, und in diesem Akt ist gerade das
Zusammenfügen der individuellen Geschichten zu einem gemeinsamen Gruppenerlebnis
des Mauerfalls problematisch. Die Schlussszene mit dem Adler ist postdramatisch, weil es
mit dem Vorangehenden bricht und nicht gedeutet wird.
Greiner geht davon aus, dass Schlußchor „die Verweigerung von Geschichten wie
Geschichte“150
thematisiert. Ich meine, dass in den drei Akten drei verschiedene
Zeiterfahrungen an die Stelle der wichtigen Zeiterfahrung der deutschen Geschichte treten
und dass die Geschichte dadurch verweigert wird. Das Ziel ist das Publikum darüber
nachdenken zu lassen, wie man mit der Geschichte umgehen muss und wie jeder, der sich
das Stück angesehen hat, mit dem Mauerfall umgegangen ist oder jetzt noch umgeht.
5. Optik im Theater
Nachdem die explizite und implizite Thematisierung der Zeit in Schlußchor analysiert
wurde, untersuche ich die Optik. Meine Vorgehensweise ist fast dieselbe wie bei der
Analyse der Zeit. Zuerst bespreche ich die unterschiedliche Bedeutung der Optik im
dramatischen und im postdramatischen Theater. Darauf folgt eine Analyse der Optik im
150
Greiner: Bleib in dem Bild, S. 215.
66
ganzen Stück und der Art und Weise, wie die Optik in jedem Akt von Schlußchor explizit
und implizit dargestellt wird. Um die expliziten bzw. impliziten Äußerungen der Optik
untersuchen zu können, benutze ich wieder eine Tabelle mit den Worten des Wortfeldes
'Optik' und grafische Wiedergaben dieser Daten (cf. Anlage).
5.1. Optik im dramatischen Theater
Wenn im Hinblick auf das Hauptmotiv 'Augenblick' die Optik in Schlußchor analysiert
wird, ist das nicht so selbstverständlich wie die Kategorie Zeit. Denn Zeit und Raum sind,
zusammen mit der Figur und ihren sprachlichen und außersprachlichen Aktivitäten, die
konkreten Grundkategorien des Dramas.151
Optik wird in diesem Zusammenhang nicht
erwähnt. Doch liegen die Begriffspaare 'Zeit und Raum' und 'Optik und Raum' nicht so weit
auseinander. Wenngleich nicht immer explizit darauf geachtet wird, ist alles, was man
optisch wahrnimmt, eigentlich räumlich bestimmt. Raum ist aber nur eine Kategorie der
Optik, die von viel mehr Kategorien wie Farbe, Größe, Abstand oder Helligkeit bestimmt
wird. Man kann also schließen, dass das Begriffspaar 'Zeit und Optik', das hier untersucht
wird, viel mehr umfasst als das traditionelle Begriffspaar 'Zeit und Raum', das in Manfred
Pfisters Theorie Das Drama152
dargestellt wird. Pfister meint, dass die Funktion des
Raumes sich nicht nur erschöpft „in der Notwendigkeit eines Schauplatzes für eine
Geschichte […] [oder eines] Aktionsraums für die agierenden Figuren. Dies gilt für das
Drama in besonderer Weise, in dem der Raum ja nicht nur verbal vermittelt, sondern
konkret präsentiert wird.“153
Pfister analysiert Raum im Theater, indem er unter anderem
erklärt, wie Raum semantisiert wird. Räumliche Relationen werden zum Modell für
semantische Oppositionen. Und die modellbildende Rolle des Raums unterscheidet den
fiktiven von dem realen Raum. Darauf bespricht er den Unterschied zwischen Raum on-
stage und off-stage, er erläutert die Unterschiede zwischen dem fiktiven Schauplatz und
dem realen räumlichen Kontext. Weiterhin analysiert Pfister die Raumkonzeption, die sich
von abstrakten neutralen bis zu realistischen konkreten Räumen erstreckt, und er widmet
151
Pfister: Drama, S. 327. 152
Pfister: Drama. 153
Pfister: Drama, S. 338f.
67
einige Kapitel den Lokalisierungstechniken. Das sind die Techniken, um Raum in einem
dramatischen Text sprachlich und auch außersprachlich zu realisieren. Wenn aber auf diese
räumlichen Bedingungen zu viel eingegangen wird, wird die Ganzheit der Optik zu viel
vernachlässigt, daher erwähne ich hier die Kategorie Raum im dramatischen Theater nur
beschränkt. Pfister schließt seine Einleitung über den Raum im Theater ab mit der Aussage,
dass „das Drama auch Raumkunst ist.“154
Daraus kann hier weiter geschlossen werden,
dass das Drama nicht nur Raumkunst, sondern auch optische Kunst ist.
Auch in anderen Theorien des Dramas wird nicht explizit auf das Optische, sondern
nur auf Teilkategorien der Optik wie Kostüme, Dekor oder Lichteffekte und vor allem auf
Raum hingewiesen. In den meisten Theaterstücken werden diese Kategorien in den
Regieanweisungen oder erst vom Regisseur in dem Inszenierungstext konkretisiert. In
Schlußchor wird die Optik jedoch viel expliziter betont, denn die Optik ist nicht nur in den
Regieanweisungen und außersprachlich wahrnehmbar, sondern auch in dem linguistischen
Text spricht man über das Sehen, die Augen und die Fotografie.
5.2. Raum im postdramatischen Theater
Lehmann beschreibt die postdramatische Raumästhetik, die um 1980 eine Wende erlebt.
Text und Bedeutungsvermittlung „hatte[n] das Visuelle im tradierten dramatischen Theater
schon immer zu dienen.“155
Anfang der 80er Jahre wird die Bühnengestalt akzentuiert, es
gab „ein Interesse am formal durchstilisierten Theaterraum, […] [an der] Versenkung des
Zuschauers in einen Anblick, in Details, Formkonstruktionen und Signifikanz“.156
So
entwickelte sich ein für das postdramatische Theater typisches Raumerlebnis. „Der
postdramatische Raum ›dient‹ nicht mehr dem Drama, auch nicht in einer politisierenden
Aktualisierung. Vielmehr wird umgekehrt der Theatervorgang zur wesentlich
bildräumlichen Erfahrung.“157
Im postdramatischen Theater werden die Verhältnisse auf
der Bühne und zwischen der Bühne und dem Publikum auf verschiedene Weisen
154
Pfister: Drama, S. 339. 155
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 291. 156
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 291. 157
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 292.
68
dargestellt. Erstens hat man Bühnen mit deutlicher Trennung gegenüber dem
Zuschauerraum. Davon ist die Tableau-Wirkung oder das Theater der Rahmen, in dem die
Geschlossenheit der inneren Organisation betont wird, ein deutliches Beispiel. Auch
Theaterräume, die ein „Spiel mit Raum und Fläche“158
oder eine „Szenische Montage“159
auf der Bühne gestalten, sind typische postdramatische Räume, die einen großen Abstand
zum Zuschauer kreieren. Daneben verbindet der ungewöhnliche Spielort in integrierten
oder interaktiven Räumen sich mit der Darstellung eines szenischen Spiels.160
Ein Beispiel
von integrierten Theaterräumen sind „Zeit-Räume“161
, bei denen ein mit einer spezifischen
Zeit verbundener Raum die Bühne eines Theaterstückes bildet. Auch „Site Specific
Theatre“162
ist Theater mit integrierten Räumen, denn es wird gespielt in einem Raum, der
nicht den Raum der Regieanweisungen darstellt, sondern selbst den Raum der dramatischen
Handlung ist. Wenn in den Regieanweisungen eines Theaterstücks beschrieben wird, dass
die dramatische Handlung sich zum Beispiel in einer Fabrik vollzieht, wird die Fabrik nicht
auf der Bühne nachgeahmt, sondern das Stück wird in einer realen Fabrik aufgeführt. Bei
einem interaktiven Raum ist die Bühne nicht von dem Publikum getrennt, sie ist zum
Beispiel zusammengesetzt aus Stegen, die durch die Zuschauer laufen. Bei
Theaterprojekten, die eine „Aktivierung öffentlicher Räume“163
zum Ziel haben, benutzt
man heterogene Räume. Mit diesen Theaterprojekten, will man einen architektonischen
Prozess oder den Ablauf einer Reise durch eine bestimmte Landschaft betonen. Die
integrierten und interaktiven Räume bilden zusammen eine „Wende zum Visuellen“164
, die
Hans-Thies Lehmann folgendermaßen zusammenfasst:
Stets ging es im dramatischen Theater darum, einen adäquaten Rahmen für die
Erfahrung des Dramatischen zu schaffen, einen zugleich realen und geistigen Raum,
ein Hintergrundsbild, ein allegorisches Denkbild, schließlich die szenische
Konstellation selbst als Bild. Mit der Autonomisierung der Bilderfahrung in der
Moderne war die Voraussetzung dafür gegeben, daß die Szene sich konzeptionell der
158
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 294. 159
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 295. 160
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 306. 161
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 299. 162
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 304. 163
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 307. 164
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 294.
69
Bildlogik annäherte und sich folglich die dem Bild eigentümliche Rezeptionsweise in
gewissen Grenzen zueignete.165
Bei Strauß können wir nicht von integrierten oder interaktiven Räumen sprechen und
sicherlich nicht von heterogenen Räumen, denn es gibt eine deutliche Distanz zwischen
dem Bühnenraum und dem Publikum. Schlußchor wird in traditionellen Theaterhäusern
gespielt. Zwar ist dieses Stück postdramatisch und ist das Visuelle sehr wichtig, doch hat es
nicht den Schritt zu einer autonomen Bilderfahrung gemacht. Das Visuelle wird vor allem
in dem linguistischen Text und auf der klassischen Bühne zum Ausdruck gebracht. Der
Raum, wo es aufgeführt wird, ist von weniger Bedeutung.
5.3. Optik im postdramatischen Theater
In Hans-Thies Lehmanns Theorie des postdramatischen Theaters werden Performance,
Raum, Körper und Medien als wichtige Kategorien des postdramatischen Theaters
besprochen. Der Körper und die Medien können neben dem Raum als Teilkategorien der
Optik betrachtet werden, weil sie im Gegensatz zu Text und Zeit auf der Bühne visuell
wahrnehmbar sind. In seinem Panorama der postdramatischen Theaterzeichen hat Lehmann
der Optik ein Kapitel gewidmet: „Szenographie, visuelle Dramaturgie.“166
In diesem
Kapitel nennt er die visuelle Dimension sehr wichtig für das postdramatische Theater:
„'Visuelle Dramaturgie' heißt dabei nicht eine exklusiv visuell organisierte Dramaturgie,
sondern eine, die sich nicht dem Text unterordnet und ihre eigene Logik frei entfalten
kann.“167
Besonders im Theater der 1970er und 1980er Jahre erreichte die visuelle
Dramaturgie einen Höhepunkt, und in 1990er Jahren gab es nach Lehmann eine
„Wiederkehr des Textes.“168
Die visuelle Dramaturgie entstand unter dem Einfluss der
anderen Künste, vor allem der bildenden Kunst, Film und Fotographie. In Strauß„ Stück
geht es jedoch nicht nur um die unmittelbare Einwirkung dieser Künste auf außersprachlich
wahrnehmbare Elemente, sondern die Künste nehmen auch Einfluss auf die sprachliche
165
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 294. 166
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 158. 167
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 159. 168
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 159.
70
Ebene. In Schlußchor wird zum Beispiel neben einem optisch wahrnehmbaren Fotografen
oder dem Grundriss eines Gebäudes auch über Fotographie und Architektur gesprochen.
Ein anderes Kapitel in Lehmanns Theorie, das von der Optik im Theater handelt, hat
den Titel konkretes Theater. Mit dem Begriff 'abstraktes Theater' wird handlungsloses
Theater bezeichnet, in dem „das Überwiegen der formalen Strukturen soweit [geht], daß
Referenz kaum mehr als solche auszumachen ist.“169
Beim konkreten Theater dagegen geht
es „darum, Theater als eine Kunst im Raum, in der Zeit, mit menschlichen Körpern und
überhaupt allen Mitteln, die es als Gesamtkunstwerk einschließt, für sich selbst zu
exponieren“.170
Das für sich selbst exponieren hängt nahe zusammen mit der Absicht, zu
Präsentieren statt Repräsentieren, so wie mit dem Blick, mit dem Sehen.
Schauspieler, Beleuchtungskörper, Tänzer usw. werden einer rein formalen
Betrachtung dargeboten, der Blick findet keinen Anlaß, über das Gegebene hinaus
eine Tiefe symbolischer Signifikanz zu erschließen, sondern wird in der je nachdem
genußvoll oder gelangweilt vollzogenen Aktivität des Sehens der ›Oberfläche‹ selbst
festgehalten.171
Das konkrete Theater wird hier also beschrieben als ein Theater, in dem das Sehen schon
Alles preisgibt. Das Publikum muss nicht über eine tiefere Bedeutung nachdenken, denn
die wird auf der Bühne gezeigt. Lehmann nennt dieses konkrete Theater auch eine extreme
Zuspitzung des Prinzips der visuellen Dramaturgie. So konkret kann Schlußchor jedoch
nicht interpretiert werden, weil aus diesem Theaterstück sehr wohl eine tiefe symbolische
Signifikanz, die nicht auf der Stelle sichtbar ist, ableitbar ist. Das kann man schon
begründen, indem es in Schlußchor unter anderem eine Verarbeitung von der Geschichte
und den Mythen gibt, deren Bedeutung nicht im Theaterstück selbst erläutert wird, sondern
erst deutlich wird, wenn man Sekundärliteratur und Strauß„ Ästhetik der Präsenz gelesen
hat.
Im Kapitel „konkretes Theater“172
spricht Lehmann auch über ein Theater der
Wahrnehmbarkeit. Das ist nach Lehmann eine Form des postdramatischen Theaters, die das
Unabgeschlossene und Unabschließbare [so sehr betont], daß es seine eigene
›Phänomenologie der Wahrnehmung‹ realisiert, die sich durch eine Überwindung der
169
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 167. 170
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 167. 171
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 168f. 172
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 167.
71
Prinzipien der Mimesis und der Fiktion auszeichnet. Das Spiel als im Moment
erzeugtes konkretes Ereignis verändert grundlegend die Logik der Wahrnehmung und
den Status des Subjekts dieser Wahrnehmung, das sich nicht mehr auf eine
repräsentative Ordnung stützen kann.173
Ein Hauptvertreter dieses Theaters ist Jan Fabre, der sehr experimentelles und manchmal
textloses Theater macht, er wird von Lehmann denn auch ein radikaler Künstler genannt.
Strauß„ Stück ist schon postdramatisch aber in geringerem Maße. Die Wahrnehmbarkeit ist
in Schlußchor sehr wichtig, aber befindet sich auf einer anderen Ebene. Im Theater der
Wahrnehmbarkeit wird die Wahrnehmbarkeit ausschließlich von außersprachlichen
Elementen wie Körpern, Tanz, Bildern usw. kreiert, während die Betonung der Optik in
Schlußchor auch von sprachlichen Elementen in dem linguistischen Text kreiert wird.
Optik bildet eine Lücke innerhalb der dramatischen Theatertheorie, weil man
meistens Teilaspekte der Optik, wie den Raum, betrachtet hat. Erst in der postdramatischen
Theatertheorie wird die Optik dadurch als eine wichtige Theaterkategorie separat
behandelt, dass Lehmann der visuellen Dramaturgie und dem konkreten Theater ein Kapitel
widmet. Jetzt analysiere ich, mit der Theorie im Gedanken, die Optik in Schlußchor. Ich
werde mich für jeden Akt zuerst auf die explizite Optik konzentrieren, auf die Frage, wie
Optik sprachlich thematisiert wird, und untersuche, wie das Visuelle explizit gezeigt wird
anhand der Regieanweisungen. Danach analysiere ich die implizite Optik, die vom
Publikum wahrgenommen wird, ohne dass darauf explizit im linguistischen Text
hingedeutet wird.
5.4. Postdramatische Optik in Schlußchor
In Bezug auf Optik ist es, gleich wie das in Bezug auf Zeit der Fall ist, schwierig, einen
Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Akten in Schlußchor zu finden. Der Rufer
ist das Element in den drei Akten, an dem das gemeinsame Thema der deutschen
Geschichte deutlich wird. Und auch optisch ist er die einzige Gestalt, die in den drei Akten
sichtbar ist. Die anderen Gestalten wechseln gleich wie Dekor und Raum in jedem Akt,
daher gibt es kein allgemein überherrschendes Bild des Stückes, das hängen bleibt, sondern
173
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 169f. Hinzufügung von mir, JV.
72
eher drei verschiedene Bilder. Obwohl man bei den meisten Theaterstücken nicht ein
großes Bild in Erinnerung hat, erinnert man sich mindestens einen allgemeinen
Erzählstrang. Nachdem man Schlußchor gesehen oder gelesen hat, werden eher drei
Handlungsstränge die mit drei Bildern der Szene zusammenhängen, hängen bleiben.
In Kapitel 4.2 Postdramatische Zeitästhetik habe ich festgestellt, dass die Zeit des
Dramas ungefähr identisch ist mit der Zeit der fiktiven Handlung. Die Zeit, die die
Gestalten des Stückes erleben, unterscheidet sich nicht wirklich von der Zeit, die die
Zuschauer erleben. Im Vergleich mit der Zeit kann gesagt werden, dass die Optik des
Dramas und die Optik der fiktiven Handlung ganz unterschiedlich sind. Die Zuschauer
haben einen Überblick über alles, was sich auf der Bühne vollzieht, während die Gestalten
dadurch, dass sie sich auf der Bühne befinden, nur eine begrenzte Perspektive haben. Dabei
muss aufgemerkt werden, dass die Optik des Publikums im dramatischen Theater immer
einen großen Unterschied mit der Optik der Gestalten bildet, um die Absolutheit des
dramatischen Theaters zu verstärken. Im postdramatischen Theater versucht man, durch
den Gebrauch integrierter oder interaktiver Räume diese Absolutheit zu durchbrechen (cf.
Kapitel 5.2. Raum im postdramatischen Theater). Auf den ersten Blick ist die Optik in
Schlußchor dramatisch gebildet, denn die Absolutheit wird erhalten. In der Fortsetzung
meiner Analyse werde ich untersuchen, ob Strauß„ an einigen Stellen die Absolutheit
durchbricht, um die Zuschauer im Theaterstück mit hinein zu beziehen indem ihnen eine
Optik präsentiert statt repräsentiert wird.
5.5. Analyse der Optik in Schlußchor
Die nachstehende Grafik weist auf, dass die expliziten Äußerungen in Bezug auf Optik in
Schlußchor eine umgekehrte Entwicklung durchlaufen als die Ausdrücke des Wortfeldes
'Zeit'. Wie ich ausführlich im vorigen Kapitel (Kapitel 4 Zeit im Theater) erläutert habe,
wird Zeit im ersten Akt mit der niedrigsten und im dritten Akt mit der höchsten Frequenz
thematisiert. Bei der Optik sind die Verhältnisse gerade umgekehrt. Wie diese Entwicklung
genau verläuft, untersuche ich, indem ich die Optik in jedem Akt genauer betrachte.
73
5.5.1. Optik im ersten Akt
5.5.1.1. Explizite Verweise auf Optik
Aus der oben stehenden Grafik und den Titel des Aktes „Sehen und Gesehenwerden“
erweist sich, dass die Optik im ersten Akt im Vergleich zu den anderen Akten am
deutlichsten in den Vordergrund tritt. Der Anfangsakt dreht nicht nur um den richtigen
zeitlichen Augenblick um ein Foto zu machen, sondern zugleich um den perfekten
optischen Augenblick, zum Fotografieren. Der Augenblick, den die Gruppe, wie Grieshop
sagt, gewärtigt174
, ist eine Kombination von zeitlichen und optischen Bedingungen: „M9
Und gerade in der Sekunde hätte man sich später gern gesehen!“175
In diesem Satz werden
die drei Zeitachsen: Vergangenheit (hätte gesehen), Präsens (Sekunde) und Zukunft (später)
mit Optik (sehen) kombiniert um den Augenblick des Fotografierens wiederzugeben. In
174
Grieshop: Augenblick, S. 189. 175
Strauß: Theaterstücke, S. 416.
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Zoo
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zeit
Optik
Akt1 2 3
74
diesem Kapitel versuche ich, wenn Zeit und Optik auch miteinander verwoben sind, nur das
Optische im ersten Akt zu analysieren.
Der Anfangsakt bildet erstens einen Dialog zwischen zwei verschiedenen
Blickwinkeln: dem Chor, der fotografiert werden muss, und dem Fotografen, der den Chor
als Gruppe überblickt und fotografiert. Zweitens kommunizieren auch innerhalb des Chors
verschiedene Mitglieder aus verschiedenen Blickwinkeln miteinander, ohne dass sie einen
Überblick über die Gruppe haben. Im ersten Akt wird Optik vor allem im Zusammenhang
mit Fotografie besprochen, das erweist sich aus unten stehenden Grafik der optischen
Wiedergabe (cf. Anlage 3, Grafik 4).
Die unten stehende grafische Darstellung der Frequenz der Wortfelder 'Zeit' und 'Optik' im
ersten Akt zeigt einen Höhepunkt in der expliziten Thematisierung der Optik am Anfang
des Aktes (auf Seite 415). Die Mitglieder der Gruppe reden an dieser Stelle nicht nur über
den Moment, an dem das Foto gemacht werden soll, sondern auch über die Art und Weise,
wie sie in jenem Blick des Auges aussehen, und wie sie später auf dem Bild aussehen
werden.
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Zoo
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1
Zoo
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4
optische Wiedergabe
optische Wiedergabe
Schlußchor 3 Akten
75
F6 Woher wollen Sie wissen, wie es aussieht, wenn Sie, hoffe ich, wie wir alle
geradeaus in die Kamera starren? Sie verderben nichts mit Seitwärts-Schielen?
F1 Ich starre nicht, ich halte nur mein Aussehen fest. Ich spür doch, wie er neben mir
Grimassen schneidet.176
Grieshop umschreibt das Gerede folgendermaßen: „Im fröhlich-bissigen Party-Plauderton,
der konsequent jede inhaltliche Vertiefung eines Themas vermeidet, wird der Augenblick in
seiner visuell-temporalen Doppelbedeutung sprachlich durchdekliniert.“177
Allerdings wird
nicht nur der Augenblick besprochen.
Die oben stehende Grafik macht deutlich, dass etwa in der Mitte des ersten Aktes (S. 417
und S. 420) fast nicht über Optik gesprochen wird. Hier werden Themen besprochen, die
als aus der Luft gegriffen erscheinen:
M9 Wenn sie einschläft, ist es am ärgsten. Wenn irgend jemand von uns einschläft,
geht es ja noch.
M3 Es gibt Menschen, die schlafen isoliert für sich ein. Es gibt andere, die schlafen
ausgesprochen ansteckend ein.178
Dieses Gerede dauert während des Kameraschusses an, bis der Fotograf die Gruppe
unterbricht, weil er einen Fehler bemerkt hat: ein Mitglied der Gruppe wird von einem
176
Strauß: Theaterstücke, S. 414f. 177
Grieshop: Augenblick, S. 198. 178
Strauß: Theaterstücke, S. 417.
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Optik
Akt1
76
anderen abgedeckt. Dieser Fehler löst eine Diskussion aus über die Art und Weise, wie die
Gruppe von dem Fotografen gesehen werden muss. Die Diskussion ist sichtbar auf der oben
stehenden Grafik (cf. Anlage 1, Grafik 1), nachdem der Fotograf sein Fehler entdeckt hat
zeichnet sich in den expliziten Äußerungen in Bezug auf Optik einen Höhepunkt ab (S.
421).
F12 Wann hätten Sie uns je ins Auge geblickt?
M3 Sie schießen ein Pauschalfoto nach dem anderen!
M2 Haben Sie überhaupt den Versuch unternommen, an uns das Wesentliche zu
entdecken: die- Durch die Reihen auf-und abwärts läuft in Silben getrennt das Wort
›In-di-vi-du-al-i-tät‹. Der Fotograf hat sich auf einen Hocker gesetzt, etwas abseits
vom Chor. Fotograf: Kein Mensch weiß, was das für Leute sind.
ALLE Was?!
M14 Selbst wenn wir nun ein zufälliger Allerweltsausschnitt wären, hätten Sie nicht
das Recht, auch nur einen von uns für eine einzige Sekunde zu übersehen – aus dem
Auge zu verlieren.179
Hier wird Kritik geübt an der Betrachtungsweise des Fotografen, der die Gruppe als eine
Einheit auffasst. Nach Grieshop ist die Wesensbestimmung, die Individualität, „höchst
ironisch unterlaufen dadurch, dass der Begriff von einem namenlosen Kollektiv chorisch
durchbuchstabiert wird.“180
Auch wenn einige Namen der Gruppenmitglieder bekannt
sind181
, spricht der Fotograf niemals ein Gruppenmitglied beim Namen an. Er macht nur
Gebrauch von mit einer Platzbestimmung kombinierten Benennungen wie 'Frau' oder
'Mann' zum Beispiel „Frau zweite rechts eins“182
oder „Mann dritte rechts zwei“183
. Der
Fotograf erwähnt jedoch nicht ob er 'rechts' aus seinem Standpunkt oder aus der
Perspektive der Gruppe meint, das wird also von der Inszenierung abhängig sein. Der
Fotograf ist nicht im Stande, die Gruppe als eine Gemeinschaft von Individuen zu
betrachten, und obwohl er dazu von der Gruppe gemahnt wird, bietet sie ihm durch ihre
chorischen Aussagen gar keine Möglichkeit, seine Betrachtungsweise zu individualisieren.
179
Strauß: Theaterstücke, S. 421. 180
Grieshop: Augenblick, S. 198. 181
M8 heißt Johannes (Strauß: Theaterstücke, S. 424), M14 heißt Mickey Schneider (Strauß: Theaterstücke,
S. 414 und S. 418), F10 heißt Charlotte Klein (Strauß: Theaterstücke, S. 418) und F1 heißt Annemarie Köhler
(Strauß: Theaterstücke, S. 417) 182
Strauß: Theaterstücke, S. 423. 183
Strauß: Theaterstücke, S. 423.
77
Das Gespräch zwischen Fotograf und Gruppe über die Tatsache, dass der Fotograf
die Gruppe wie ein Gesicht, ein Antlitz sieht, geht weiter auf Seite 422 (cf. nachstehende
Grafik oder Anlage 1, Grafik 1). Der Chor wirft dem Fotografen vor, dass er die Gruppe
nicht unter Kontrolle hat.
Auf Seite 423 erreicht diese Diskussion einen Höhepunkt, und das äußert sich auch in der
Grafik der Frequenz des Wortfeldes 'Optik', die auf dieser Seite ein Maximum erreicht (cf.
oben stehende Grafik und Anlage 1, Grafik 1). Im Höhepunkt der Diskussion werden die
Rollen vertauscht und gelingt es der Gruppe, die Kontrolle über den Fotografen zu
gewinnen: „Kurz darauf eine Kanonade kurzer lauter Befehle, einzeln oder zu mehreren
abgegeben, die der Fotograf willenlos befolgt.“184
Diese Befehle enthalten auch
Anordnungen wie „Liegenbleiben! Mund auf! Augen starr! Kein Mucks mehr! Atem aus!
Kein Mucks! Atem stop! Atem Ende! Licht aus!“185
an denen der Fotograf letztendlich
untergeht. In diesem Moment entsteht das Problem des Fotos, das noch immer gemacht
werden muss. Und dafür bietet sich eine zufällige Lösung in der Gestalt einer jungen Frau
an, welcher sich die Gruppe folgendermaßen vorstellt:
M9 Wir sind ein kleines Betriebsjubiläum.
F10 Wir sind ein kleiner Ausflug des Historischen Seminars.
M3 Wir sind ein kleines Klassentreffen.
184
Strauß: Theaterstücke, S. 423. 185
Strauß: Theaterstücke, S. 423.
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Akt1
78
ALLE sanft Wir sind der Chor…186
Sie betonen hier wieder ihrer Einheit statt ihre Individualität, es ist nicht wichtig, welche
Art von Gruppe sie sind, das Einzige, das feststeht, ist, dass sie eine Einheit sind. Doch
wird durch die Frau zum ersten Mal im Akt ein Individuum aus der Gruppe herausgehoben,
indem sie einem Mitglied der Gruppe einen spezifischen Namen, Johannes, und eine
persönliche Geschichte gibt. Es gelingt ihr auch, die Kontrolle über die Gruppe zu
gewinnen, indem sie der Gruppe Stillschweigen auferlegt: „DIE FRAU Wenn Sie so
freundlich sein wollen, Ihre Unterhaltung einzustellen, solange ich Sie fotografiere.“187
Dadurch, dass sie die Gruppe während des Fotografierens schweigen lässt, wird den
expliziten Äußerungen über Optik Einhalt geboten, um der außersprachlichen Optik, dem
Fotografieren, mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Mit dem Sprechverbot endet der Akt,
denn das Hauptziel des Anfangsakts war ein Gespräch zwischen Gruppenmitgliedern
während des Fotografierens.
Beim Fotografen gab es viel mehr Gerede über Optik, also viel mehr sprachliche als
visuelle Optik. Der Versuch, ein gutes Foto zu machen, misslingt bei ihm. Andreas
Englhart bezeichnet das Auftreten der Frau, die den Chor unter Kontrolle hat, nicht als den
unmittelbaren Anlass zum gelungenen Akt des Fotografierens. Er betont, dass der Chor am
Ende wieder triumphiert und es weder der Frau noch dem Mann, Johannes, gelingt, „aus
dem Chor herauszutreten, um als Subjekt einen Dialog zu beginnen und zu stabilisieren.“188
Das Triumphieren des Chors zeigt sich im Summen ganz am Ende des Aktes: „Der Chor
fängt leise an zu summen. Es wird dunkel.“189
Wenn man Schlußchor wie Englhart vor
allem kulturhistorisch betrachtet, in Hinblick auf die deutsche Geschichte und den
Medieneinfluss, dann ist das Ende in der Tat eher negativ. Denn die Gruppe ist während
des ganzen Aktes nicht individualisiert. Am Anfang konnte die Gruppe noch frei reden,
aber am Ende wird ihr von einem kontrollierenden Individuum das Stillschweigen auferlegt
und ist der Zustand der Gruppe schlimmer als am Anfang. Wenn man Schlußchor aus
186
Strauß: Theaterstücke, S. 423f. 187
Strauß: Theaterstücke, S. 425. 188
Englhart: Labyrinth, S. 247. 189
Strauß: Theaterstücke, S. 425.
79
visueller Perspektive betrachtet – wie ich in diesem Teil meiner Untersuchung gemacht
habe -, endet es positiv, denn das Ende ist ein Anlass zum Gelingen des Fotografierens.
Eine explizite visuelle Handlung wird angetroffen, wenn Mitglied F7 sich entblößt.
„F7 reißt ihren Pullover über dem nackten Oberkörper hoch. Wird dieser Film seinen
sicheren Weg gehen? Wird er im Dunkeln entwickelt, gebadet und getrocknet? Wird er die
ganze Wahrheit festhalten? Werden wir uns je auf Bildern wiedersehen?“190
Grieshop nennt
diesen Akt das Evozieren der Metapher der nackten Wahrheit.191
Diese Evokation vollzieht
sich anhand einer Kombination eines sprachlichen Aktes mit einem visuellen Akt. Im
linguistischen Text wird über Wahrheit gesprochen, während man zugleich visuell die
Nacktheit wahrnehmen kann. Patrizia Zugmann192
nennt diese Handlung eine Wende. Ihrer
Meinung nach kehrt sich das Innere nach außen und zeigt sich der Mensch in seiner
existenziellen Nacktheit. Die Fragen von F7 werden von Zugmann einem Menschen
zugeschrieben, der sich selbst in der Mediengesellschaft verloren hat. Sie verbindet also
eine visuelle Handlung mit der Mediengesellschaft. Sie nennt das Infragestellen des
Fotografierens eben einen Einbruch des Mythischen, des Schicksalhaften, und geht so weit,
dass sie in den Fragen nach dem Effekt eines Fotos Fragen nach der menschlichen Existenz
sieht.193
Ich wurde die Bedeutung der Entblößung aber nicht so weit treiben und schließe
mich eher Grieshops Analyse an denn die steht in Zusammenhang mit der Problematik der
Individualität. Für ihn ist die Enthüllung des nackten Oberkörpers eher ein misslungener
Versuch, figürlich die Wahrheit zu enthüllen. „Die Nacktheit offenbart nicht, was sie zu
offenbaren vorgibt: Zur Erkenntnis der Individualität von F7 trägt ihr nackter Busen nicht
bei.“194
Nach dem Versuch, sprachlich die Individualität zu betonen, erfolgt jetzt ein
Versuch visuell die Individualität zu betonen.
Neben der expliziten Thematisierung der Optik, wird in Schlußchor auch auf
implizite Weise auf Optik hingewiesen. Die Optik des Publikums, die nicht thematisiert
wird aber doch in jedem Theaterstück wichtig ist, wird im folgenden Kapitel analysiert.
190
Strauß: Theaterstücke, S. 419. 191
Grieshop: Augenblick, S. 199. 192
Patrizia Zugmann: In der Schwebe. Subjektivität und Ästhetik in Botho Strauß‘ Dramen Besucher,
Schlußchor und Das Gleichgewicht. München: unveröffentlichte Dissertation, 2003, S. 112. 193
Zugmann: Schwebe, S. 112. 194
Grieshop: Augenblick, S. 199.
80
5.5.1.2. Implizite Verweise auf Optik: Optik des Publikums
Die Aussicht der Bühne wird am Anfang in den Regieanweisungen skizziert. „Eine Schar
von fünfzehn Frauen und Männern in vier Stufenreihen zum Gruppenfoto aufgestellt. Im
Vordergrund der Fotograf der drei Kameras an verschiedenen Positionen bedient.“195
Für
die Leser ist, weil sie die Gruppe nicht sehen können, auch ein Diagramm der
Gruppenaufstellung gegeben. Es ist wichtig aufzumerken, dass die Gruppenmitglieder im
Theatertext nicht mit einem Namen, sondern mit einer Kombination von einem Buchstaben
und einer Zahl angedeutet werden, dadurch ist es schwierig, die Individuen zu
unterscheiden. Strauß macht im Theatertext deutlich, dass er die Anonymität der
Gruppenmitglieder behalten will. Die Zuschauer des Stückes dagegen können die
Chormitglieder auf der Bühne sehen. Für sie ist es leichter, die Individuen zu
unterscheiden. Um die Anonymität der Individuen auch für die Zuschauer des Stückes zu
gewährleisten, soll der Regisseur die Mitglieder nicht als Individuen erscheinen lassen; die
Gestalten können zum Beispiel die gleichen Kleider tragen oder eine Maske aufsetzen. Für
die Zuschauer und Leser wie für den Fotografen erscheint die Gruppe also als eine Einheit,
in der die Einzelpersonen aufgehen. Andreas Englhart sagt dazu, dass die Äußerungen der
Mitglieder nicht als individuell bestimmte Äußerungen erscheinen:
Der Dialog unter der Gruppe geht kreuz und quer durch die Reihen, sein Schema
ähnelt chaotischen Abläufen. Zwischen die Ordnungsinseln, in denen der Dialog
einen Sinn erkennen läßt, schieben sich unvorhergesehene Brüche und Schnitte. Zu
diesen äußert sich Strauß: ›Es herrscht der Drill des Vorübergehenden, gegen den
keine Instanz der Rede sich noch auflehnen kann. Dieser wird im wesentlichen mit
Schnitten ermöglicht; aber die Schnitte haben entgegen dem Wortsinn nichts
Trennendes, sie bringen es vielmehr zustande, daß eine unendliche Kette der
Berührungen entsteht, daß letztlich allem mit allem in Berührung gerät.‹196
Strauß hat diese chaotische Art von Sprechen gewählt, nicht nur um die Geschwindigkeit
des Fotografierens zu betonen (cf. Kapitel 4.4.1.3. Die Text-Zeit), sondern auch um dem
visuellen Gruppenbild Nachdruck zu verleihen.
Beide, Zuschauer und Fotograf, betrachten die Gruppe auf der Bühne. Der Fotograf
sieht den Chor aus einer seiner drei Kameras, während das Publikum einen Überblick über 195
Strauß: Theaterstücke, S. 413. 196
Englhart: Labyrinth, S. 243.
81
die ganze Bühne hat. Ihre Perspektive sind also verschieden. Wenn die Individuen der
Gruppe die Optik des Fotografen kritisieren (wie ich im vorigen Kapitel erläutert habe),
üben sie auch Kritik an der Optik des Publikums. Die Kritik impliziert einen Appell an das
Publikum. Die Zuschauer fühlen sich angesprochen und werden gemahnt, über die eigene
Optik nachzudenken. Zusammen mit der Kritik, dass er die Individualität der Mitglieder
nicht sieht, bekommt der Fotograf auch den Vorwurf, er habe die Gruppe nicht unter
Kontrolle halten können und habe keinen guten Überblick, da die ganze Zeit ein Mitglied
abgedeckt wurde. Das Publikum hat aber schon diesen Überblick. Sie betrachten die ganze
Bühne erstens von einem größeren Abstand, und zweitens gibt es in vielen Theatern
Balkons, von denen aus die Bühne überblickt werden kann.
5.5.1.3. Optik und Medien
Wie im Kapitel über Zeit im ersten Akt schon besprochen, ist der postdramatische Einfluss
der Medien spürbar in diesem Akt. Nicht nur das auf zeitlicher Ebene rasche Tempo der
Dialoge, sondern auch die Optik, die durch die Geschwindigkeit der Dialoge entsteht,
spiegelt den Einfluss der Medien. In ihrer Dissertation meint Patrizia Zugmann, dass das
Wechselspiel von Fotograf und Gruppe zeigt, wie die Medien der Gesellschaft ein Bild von
sich selbst geben, dass sie die Masse mit rasch aufeinander folgenden Momentaufnahmen
füttern, ohne ihr das Wesentliche, das im Verborgenen liegt, mitteilen zu können. Ihrer
Meinung nach erinnert das „an die Bilder von Menschenmengen vor dem Brandenburger
Tor, die Zeitungen und Fernsehen zum Thema Wiedervereinigung veröffentlichten und
darin doch nicht zeigen konnten, was die Einheit bedeutet.“197
Nach Zugmann übt die Optik
im ersten Akt Kritik an den Medien. Nach der Meinung anderer Literaturwissenschaftler
wie Thomas Oberender kritisiert das Wechselspiel von Fotograf und Gruppe nicht nur das
Verhältnis zwischen Medien und Masse, sondern auch das Verhältnis von Staat und Masse.
Der Staat berücksichtigt die individuellen Bürger nicht genügend, nimmt sie wie der
Fotograf nur als eine Einheit wahr. In seiner kurzen Präsentation des Stückes erläutert
Oberender das folgendermaßen: er bezeichnet die Gruppe am Anfang als „die
197
Zugmann: Schwebe, S. 109.
82
individualisierte Masse der alten Bundesrepublik [, die] noch einmal zum Gruppenbild
angetreten [ist].“198
Er meint also, dass es eine direkte Widerspiegelung der Masse der
ehemaligen Bundesrepublik ist und nicht, wie Zugmann meint, eine Widerspiegelung der
Art und Weise, wie die Medien mit dieser Masse umgegangen sind.
5.5.2. Optik im zweiten Akt
5.5.2.1. Explizite Verweise auf Optik
Aus dem Titel „Lorenz vor dem Spiegel“ und dem Untertitel „Aus der Welt des Versehens“
geht hervor, dass auch im mittleren Akt die Optik sehr wichtig ist. Die Entwicklung des
ganzen Aktes wird von einer visuellen Handlung bestimmt: von der Eingangsszene, in dem
Lorenz versehentlich die nackte Delia sieht. Im zweiten Teil des Aktes reflektiert Lorenz
das Ereignis wortwörtlich und figürlich. Während er und die anderen Gestalten in dem
Spiegel sich selbst buchstäblich reflektiert sehen, reflektiert Lorenz auch figürlich über sich
selbst, über die Konsequenzen des Ereignisses im ersten Teil und über seine Beziehung zu
Delia. Drittens sind die Haltungen Lorenz„ und Delias dem Geschehenen gegenüber
spiegelbildlich. Das Wort 'Spiegel' erscheint in Bezug auf Optik außerhalb von 'Sehen' (19
Mal) in diesem Akt am meisten (10 Mal) (cf. Tabelle Optik in der Anlage). Das Motiv des
Spiegels und damit auch des Reflektierens ist neben dem Motiv des Versehens sehr wichtig
im zweiten Akt. Nach Patrizia Zugmann ist „der Blick das durchgängige Leitmotiv [ist], an
dem Möglichkeit und Unmöglichkeit subjektiver Vervollkommnung entwickelt werden.“199
Im ersten Teil des Aktes werden Bilder wie zum Beispiel die Gemälde von Degas explizit
beschrieben, die Präsentation des Blickes, von dem Zugmann spricht. Trotz der zentralen
Aufstellung des Spiegels im zweiten Teil, wird in diesem Teil viel mehr über Sachen, die
nicht visuell wahrgenommen werden, gesagt als über dasjenige was im Spiegel reflektiert
wird. Die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit subjektiver Vervollkommnung von Lorenz und
von den anderen Gestalten wird in der zweiten Hälfte des Aktes entwickelt.
198
Hinzufügung von mir. Oberender: Wiederrichtung, S. 80. 199
Zugmann: Schwebe, S. 117.
83
Im Untertitel „Aus der Welt des Versehens“ springt das Wort 'Versehen' ins Auge.
Im Kapitel über die Zeit im zweiten Akt wurde erklärt, dass 'Versehen' nicht nur positiv
und negativ, sondern auch zeitlich und visuell interpretiert werden kann. Jetzt gilt die
visuelle Bedeutung des Wortes 'Versehen'. Die visuelle Bedeutung fällt in zwei Teile
auseinander: in die Bedeutung des falschen Sehens und in die Bedeutung des
Voraussehens. Diese zwei Bedeutungen des Wortes können mit den unterschiedlichen
Ansichten der zwei Hauptgestalten des zweiten Aktes, Lorenz und Delia, verbunden
werden. Nachdem Lorenz Delia beim Baden ertappt hat, sieht er diesen Augenblick als den
Anfang einer Liebesgeschichte. Er interpretiert den Augenblick im Sinne der alten
Bedeutung des Versehens, des Voraussehens: „LORENZ […] Ich frage mich, was aus Ihrer
Schönheit würde, wenn ich bliebe.“200
Er will dem Anblick noch eine positive Folge in der
Zukunft geben, indem er das Bild von Delia als „reine, aufgeschreckte Kreatur“201
in ein
dauerhaftes Bild umsetzen will. Delia dagegen sieht den Augenblick, in dem Lorenz sie
beim Baden entdeckt hat, eher in Bezug auf die andere visuelle Bedeutung dieses Wortes:
ein falsches Sehen, ein Übersehen, das nicht der Anfang einer Liebesgeschichte sein kann:
„DELIA Sie wollten gar nicht, was Sie bekommen haben: so viel. Mehr als jede Geschichte,
die Mann und Frau gemeinsam haben. Anfang und Ende auf einmal. Das konnten Sie gar
nicht wollen. Aber ich will.“202
Die zwei verschiedenen Interpretationen der Anfangsszene
setzen sich also in Bezug auf Zeit (wie im Kapitel 4.4.2. Zeit im zweiten Akt vermittelt) und
in Bezug auf Optik während des ganzen Aktes weiter. Jetzt erläutere ich, wie der Akt sich
visuell entwickelt. Dafür betrachte ich erstens die explizite Thematisierung der Optik und
zweitens die Optik außerhalb der sprachlichen Äußerungen.
Der erste Teil des zweiten Aktes
Der erste Teil ist eine Aufeinanderfolge von Beschreibungen von Bildern aus dem
Standpunkt von Lorenz. Das wichtigste Bild, die Eingangsszene des Versehens, wird zuerst
wahrgenommen und später sprachlich vermittelt. Die ersten Worte und das Erste, was vom
Publikum auf der Bühne wahrgenommen wird, sind rein visuell bestimmt.
200
Strauß: Theaterstücke, S. 429. 201
Strauß: Theaterstücke, S. 429. 202
Strauß: Theaterstücke, S. 428.
84
LORENZ Kein Licht… Gibt‟s nirgends Licht?... Wo ist der Schalter? Er reißt eine
Tür auf. In der Mitte der Bühne fällt das Licht auf die nackte Delia, die sich nach
dem Bad abtrocknet, den Fuß auf einen Schemel gesetzt. Sie erblickt über ihre
Schulter rückwärts den Eindringling.203
Hier wird dasjenige, was wahrgenommen wird, nicht sprachlich vermittelt. Die visuelle
Darstellung eines Geschehens ist typisch für das Theater, weil es sich durch das
Zusammengehen von Text und Darstellung von Prosa und Lyrik unterscheidet. Dadurch,
dass in Schlußchor eine Handlung meistens von einer Beschreibung begleitet wird, fällt die
Stille am Anfang des mittleren Aktes auf. Die Wichtigkeit der Handlung wird durch die
ungewöhnliche Stille betont. Der Vorfall, in dem ein Mann eine Frau zufällig beim Baden
erblickt, ist eine moderne Version des Mythos von Aktaion und Diana. In dem Mythos ist
der Blick das Hauptmotiv. Wenn Aktaion Diana nackt am Kithairon baden sieht, hält er und
starrt sie an.204
Steffen Damm beschreibt den auf dem Mythos basierten Blick im zweiten
Akt folgendermaßen:
Sehen ist für Strauß jedesmal ein Wiedersehen, denn was sich dem indiskreten
Architekten als badende Kundin im Frotteekleid präsentiert, ist die Wiederholung
eines vielfach modifizierten, archetypischen Musters; ein Bild aus längst vergangener
Zeit, das im modernen Ambiente machtvoll Geltung beansprucht.205
Dadurch, dass die Handlung nicht sprachlich beschrieben wird, könnte man wie Damm
meinen, es ginge hier um Präsentation, aber der Verweis auf den Mythos und das
'Wiedersehen', wovon Damm spricht, zeigen dass diese Handlung ein deutliches Beispiel
von Repräsentation ist.
Die ersten Bilder, die in dem linguistischen Text des zweiten Aktes sprachlich
vermittelt werden, sind die Entwürfe des Hauses. Delia und Lorenz besprechen
abwechselnd die Entwürfe des Hauses und die Konsequenzen des soeben passierten
Versehens:
LORENZ Dort könnte – ich betone: könnte – die Bauaufsicht einen freien Zugang
fordern, weil der Schornstein in der Nähe ist.
203
Strauß: Theaterstücke, S. 426. 204
Michael Grant et al: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. München: Taschenbuch, 2008, S. 33. 205
Steffen Damm: Die Archäologie der Zeit: Geschichtsbegriff und Mythosrezeption in den jüngeren Texten
von Botho Strauß. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1998, S. 85.
85
DELIA Man wird die Ecke aber wenigstens begrünen dürfen? Das schlimmste ist: mag
kommen, was will. Sie haben im Versehen schon alles gesehen.206
Die Diskussion über die Auswirkungen des Versehens wird weitergeführt (auf Seite 427,
428, 429). Lorenz will Delia von der Wichtigkeit und der Schönheit des Augenblickes
überzeugen.
Die oben stehende Grafik zeigt auf Seite 429 einen Höhepunkt in den expliziten
Äußerungen in Bezug auf Optik, denn Lorenz erhärtet seinen Standpunkt, indem er Delia
mit einer Kreatur „wie der Künstler sie erschafft“207
vergleicht. Um seiner Äußerung
Nachdruck zu verleihen, beschreibt er die Gemälde von Degas, die im Gegensatz zu den
Entwürfen nicht auf der Bühne sichtbar sind. Das dritte Bild, das er beschreibt, ist das Bild
von David, der „vom Dach ein Weib sich waschen“208
sah. Auch hier ist das Bild nicht
visuell wahrnehmbar, und obschon er es nicht selbst wahrgenommen hat, beschreibt er die
Szene sehr detailliert, als ob er selbst dabei war:
In einer Mauerscharte erscheinen Teile ihres Liebesspiels, die Sicht ist eng
beschnitten: ein nacktes Knie, geküßt von einem bärtigen Mund. Eine Wange
schmiegt sich an eine hohle Hand. Dann ein breiter Nacken mit flachen Locken, dann
die zarte hüllenlose Schulter, und das Schulterblatt rollt langsam auf und ab […]209
206
Strauß: Theaterstücke, S. 427. 207
Strauß: Theaterstücke, S. 429. 208
Strauß: Theaterstücke, S. 430. 209
Strauß: Theaterstücke, S. 430.
02468
1012141618
Akt
II 4
26
42
7
42
8
42
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Teil
II 4
30
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43
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3
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Frau
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43
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4
44
5
44
6
zeit
Optik
Akt2
86
Zugmann nennt diese Bibelgeschichte einen Versuch von Lorenz, sich vor Delia zu
rechtfertigen. Delia akzeptiert seinen Versuch nicht und beharrt auf ihren Vorwürfen
insofern sie seine Beschreibungen sehr treffend „ausgemalte Fantasien“ nennt. Mit diesen
Beschreibungen versucht er sich also nicht nur zu rechtfertigen, sondern er idealisiert Delia
auch. Doch zeigt er sich dessen bewusst, dass sein Bild der Frau irreal ist: „man selbst ist
blind vor Überraschung bei solch einem Irrtum in der Tür… Vor meinem plötzlichen
Gesicht standen Sie ganz unverletzbar, in Bann und Rüstung da.“210
Nach Patrizia
Zugmann hat Lorenz Delias körperliche Nacktheit ausgeblendet, „um im Augenblick die
Idealität wahren zu können.“211
Meiner Meinung nach soll der Begriff 'blind' nicht
buchstäblich aufgefasst werden, Lorenz sagt ja auch, dass sie „in Bann und Rüstung da“
stand, also in einer idealisierten Nacktheit. Man soll 'blind', meiner Meinung nach auffassen
als 'blind für die Realität'. Anstatt des reellen Körpers von Delia tritt jetzt ein idealisierter
Körper hervor. Delias Beharren auf dem fehlerhaften Benehmen Lorenz„ und ihre
Verweigerung, ein Kompliment von ihm anzunehmen, sind der Anlass für den zweiten Teil
dieses Akts, in dem Lorenz doch versucht, sie zur Besinnung zu bringen.
Der zweite Teil des zweiten Aktes: Bild wird durch Sprache ersetzt
Die grafische Wiedergabe der Regieanweisungen in Bezug auf Optik zeigt eine hohe
Frequenz im zweiten Teil des zweiten Aktes, denn die dramatische Handlung konzentriert
sich um den im Mittelpunkt stehenden Spiegel (cf. Anlage 3, Grafik 2). Eine Folge davon
ist, dass das Sehen explizit thematisiert wird und sehr viel Worte in Bezug auf das direkte
Sehen vorkommen (cf. Anlage 3, Grafik 5). Die Grafik der optischen Wiedergabe (cf.
Anlage 3, Grafik 4) zeigt dagegen, dass im zweiten Teil des zweiten Aktes fast nicht über
Bilder gesprochen wird. Lorenz versucht sein Versehen, sein falsches Sehen, im zweiten
Teil in einen positiven Blick, in ein positives Sehen zu verwandeln. Das gelingt ihm aber
nicht, und er fällt in Gerede und Sprachprobleme zurück. Auch wenn dieser Teil des Akts
sich vor einem Spiegel ereignet, tritt das Sprachliche als ein Ersatz für die Bilder ein: „Ah!
Das langsame Gift der Scham zerstört mir meine Muttersprache! Bei jedem Wort, das ich
210
Strauß: Theaterstücke, S. 427. 211
Zugmann: Schwebe, S. 131.
87
an Delia richte, blinkt im Geist ein Rotlicht auf: Vorsicht, Ausdrucksschwäche! Verfehlter
Ton…“212
Lorenz verdichtet, so Englhart, „seine Gefühle in Wörter, sperrt sich damit aber
in deren Immanenz.“213
Ein erstes Beispiel des Ersatzes von Bildern durch Sprache ist Lorenz„ Erzählung
einer Erinnerung „wie früher in der Schule“214
; diese geht in eine innerliche Rede über , die
mit Hilfe des Spiegels auch für das Publikum ausgesprochen wird. In der Rede wird
deutlich, dass Lorenz das Bild des ersten Teils Folge leisten will. Und weil es ihm nicht
visuell gelingt, versucht er es sprachlich:
Er tritt vor den Spiegel, stützt sich mit beiden Armen auf die Kommode, senkt den
Kopf, um ihn dann zu seinem Spiegelbild emporzuheben. Wenn du sie ansprichst -
wenn du sie erwischt und sprichst sie an, tu mir den Gefallen und berichte nicht sofort
von deinen leiblichen Beschwerden. Bitte: erwähne deine scheußliche
Sehnenentzündung nicht.215
Jedes Mal, wenn er vor den Spiegel tritt, versucht er das Visuelle in Worte zu fassen und
muss folgern, dass Bilder nicht in Sprache auszudrücken sind:
Ich habe sie… ich habe sie vor mir!... Erwischt! Schnell! Wie sagt man denn, wie
heißt es treffend: ›was mir vollkommen undurchsichtig… was mir völlig schleierhaft
– gänzlich nebulös‹? Ein Meer von Varianten! Ich stehe wie gelähmt vor dem
Reichtum meines Deutsch! Muttersprache!216
Meiner Meinung nach nimmt Lorenz hier gleich wie Aktaion in dem Mythos eine
andere Gestalt an. Zuerst war er ein Architekt, der vor allem mit Bildern arbeitete und auch
das Visuelle sehr schätzte. Im zweiten Teil wird er, wie Aktaion in dem Mythos dadurch
gestraft,217
dass er jetzt nicht buchstäblich eine andere Gestalt annimmt, sondern seine
Denkweise verändert. Es gelingt ihm nicht länger, seine Gefühle in Bildern zu zeigen, und
stattdessen wird die Sprache sein wichtigstes Ausdrucksmittel. Aber auch mit diesem neuen
Mittel gelingt es ihm nicht, sein Ziel zu erreichen. Die Ausdrücke „das zerstört mir meine
Muttersprache“, „Ausdrucksschwäche! Verfehlter Ton“, „Ich stehe wie gelähmt vor dem
Reichtum meines Deutschs! Muttersprache!“ zeigen, dass er auch mittels seiner
212
Strauß: Theaterstücke, S. 432. 213
Englhart: Labyrinth, S. 252. 214
Strauß: Theaterstücke, S. 431. 215
Strauß: Theaterstücke, S. 431. 216
Strauß: Theaterstücke, S. 433. 217
Diana verwandelte ihn in einen Hirsch, wonach er von seinen eigenen Hunden zerrissen wurde. (Grant:
Lexikon der antiken Mythen, S. 33.)
88
Muttersprache seine Gefühle nicht äußern kann. Gerade das fehlerhafte Sprechen ist ein
Kennzeichen des postdramatischen Theaters. Lehmann spricht über den Sprechakt als
Ereignis. Im postdramatischen Theater wird oft der motorische Akt des Sprechens als
unselbstverständlicher Vorgang bewusst gemacht. „Aus den Lücken der Sprache tritt ihr
Angstgegner und Doppelgänger hervor: Stottern, Versagen, Akzent, fehlerhafte Aussprache
skandieren den Konflikt zwischen Körper und Wort.“218
Das passiert aus Widerstand gegen
eine perfekte Sprache mit Hilfe von Dialekten, von unprofessionellen Sprechweisen oder
von den unterschiedlichen Sprachkompetenzen verschiedener Akteure. Meistens wird das
mangelhafte Sprechen erst im Inszenierungstext geschaffen. Durch die Art und Weise, wie
sie sprechen, lassen die Akteure die im linguistischen Text perfekte Sprache als
unvollkommen erscheinen. In Schlußchor liegt die mangelhafte Sprache schon im
linguistischen Text fest. Sprach- und Kommunikationsprobleme sind typisch für Strauß„
Arbeit, wie in Thomas Robergs Artikel über die Dramenpoetik und die Theaterästhetik von
Botho Strauß dargelegt wird. „In den Konversationskrisen straußscher Figuren tritt immer
wieder deren Unvermögen hervor, im sprachlichen Austausch mit anderen gehaltvoll die
eigene Individualität zur Geltung zu bringen, womit häufig ein Identitätsverlust
einhergeht.“219
In Schlußchor ist der Identitätsverlust Lorenz„ großes Problem. Es ist ihm
unmöglich, sich auf eine visuelle Weise zu äußern und seine Identität, die so stark mit
Optik zusammenhing, zu behalten. Nach Patrizia Zugmann220
ist Delia nicht länger das
Objekt von Lorenz„ Blick, sondern der Blick selbst. Das Begehren ist ihrer Meinung nach
also nicht länger auf Delia, sondern auf den Blick gerichtet. Mit ihrer Interpretation schließt
sich Zugmann der von Roberg vertretenen These des Identitätsverlusts an. Eher als er Delia
begehrt, sehnt Lorenz sich nach seiner früheren Gestalt, in der er eine Person war, die
mittels seines Blickes schöne Bilder sah. Jetzt hat er nur noch die Sprache, und auch diese
ist fehlerhaft. Lorenz„ Ausdrucksproblem endet fatal. Am Ende wird er aufs Neue mit
einem Akt des Versehens konfrontiert, indem er den falschen Mantel nimmt:
DER VERSPROCHENE Mein Herr! Einen Augenblick, bitte! Warten Sie, mein Herr. Sie
haben den Mantel verwechselt. Meinen Mantel haben Sie genommen. […]
218
Lehmann: postdramatisches Theater, S. 269. 219
Roberg: auf der Bühne, S. 115. 220
Zugmann: Schwebe, S. 122.
89
LORENZ Sie haben recht. Es ist nicht mein Mantel. Ein Versehen. Keine böse
Absicht.221
Insofern er die böse Absicht zurückweist, weicht Lorenz den Missverständnisse aus, so wie
es sie zuvor beim Ertappen der nackten Delia gegeben hat. Wenn gleich darauf „Delia
nackt wie zu Beginn, in derselben Pose [erscheint]“, ihren Kopf über die rechte Schulter
wendet und Lorenz anblickt,222
erkennt er, dass das Versehen der Anfang seiner Probleme
war, und stirbt dann wie Aktaion aufgrund seines Identitätsverlusts. Aktaion wurde von
seinen eigenen Hunden zerrissen denn die hatten ihn in seiner neuen Gestalt (ein Hirsch)
buchstäblich nicht erkannt, während Lorenz sich erschießt weil er sich selbst in
übertragener Bedeutung nicht mehr erkennt.
5.5.2.2. Implizite Verweise auf Optik
Im zweiten Akt ist die Bühne nicht länger ein leerer und unbestimmter Raum wie im ersten
Akt. Die erste Szene des zweiten Akts findet im umzubauenden Haus von Delia statt. Der
zweite Teil spielt im Vestibül dieses Hauses. Vor allem das Dekor der zweiten Szene ist
konkret in den Regieanweisungen beschrieben:
Geräumiges Vestibül einer älteren Villa. Zur rechten Bühnenseite die Haustür, zur
linken die Flügeltür zu den Gesellschaftsräumen, zum ›Saal‹. In der Mitte der Szene
ein sehr großer, gekippter Spiegel über einer Kommode, flankiert von zwei Stühlen.
In der Rückwand, unweit des Eingangs zum Saal, eine Tür, die zum Waschraum und
zur Toilette führt. Rechts (neben der Haustür) ein offener Garderobenraum.223
Die Deskription erinnert zusammen mit den Beschreibungen der Kleidung an die
ausführlichen Regieanweisungen eines realistischen Dramas von Strindberg oder Ibsen. In
Ibsens Theaterstück Hedda Gabler zum Beispiel, kann man sich durch die
Regieanweisungen schon sehr exakt vorstellen, wie die Bühne und die Gestalten aussehen.
Auch im zweiten Akt von Schlußchor braucht man wenig Einbildungsvermögen. Anhand
der ausführlichen Beschreibung wird die Illusion auf der Bühne verstärkt. Die Absolutheit
221
Strauß: Theaterstücke, S. 445. 222
Strauß: Theaterstücke, S. 446. 223
Strauß: Theaterstücke, S. 430.
90
der Welt auf der Bühne steht dem Einbruch des realen und auch dem postdramatischen
Theater fern.
Der Gegensatz zwischen den runden weiblichen Formen der nackten Delia und den
eckigen Formen auf den Architekturentwürfen kann auch von den Zuschauern aufgemerkt
werden. Wenn man die eckigen Formen eines Hauses mit Männlichkeit identifiziert, ist
Delias Reaktion auf die runden Formen des zweiten Entwurfs ganz logisch: „Niemals etwas
Rundes! Keine Kugel, kein Oval! Tun Sie‟s weg! Die Chance ist gleich Null. Hüllenlos?
Bringen Sie das anstandslos über die Lippen? Sie können die Zeichnung ruhig wieder
einrollen. Ich werde mich nie damit befreunden.“224
Schon hier gibt sie in bildsprachlicher
Form ihre Gedanken über eine mögliche Liebesbeziehung wieder. Sie will keine
Vereinigung weiblicher und männlicher Formen im Haus und keine Vereinigung von sich
selbst mit Lorenz. Am Ende des ersten Teils ist es deutlich, dass es zwischen Lorenz und
Delia keine Beziehung geben wird. Wenn Delia im zweiten Teil einen Ersatzarchitekt
gefunden hat, ist das Ende ihrer noch nicht angefangenen Beziehung deutlich. „Sie bauen
ihr Haus, das eine Metapher für das Dasein ist, nicht mehr gemeinsam auf.“225
Das Haus ist
meiner Meinung nach eine visuelle Metapher für ihre Beziehung.
Das Visuelle wird während des ganzen Aktes thematisiert, indem sich ein Spiegel
auf der Bühne befindet. Wenn nicht über Optik oder Bilder gesprochen wird, werden die
Leser und die Zuschauer durch den Spiegel doch auf das Visuelle aufmerksam gemacht.
Die Leser werden in den Regieanweisungen an den Spiegel erinnert, und die Zuschauer
beachten den Spiegel auf der Bühne. Sie können nicht nur die Gestalten des Stückes,
sondern auch sich selbst im Spiegel reflektiert sehen. Das hängt natürlich davon ab, wie
man den Spiegel auf der Bühne aufstellt, aber wenn man die Regieanweisungen liest, ist es
logisch, dass das Publikum die reflektierende Seite des Spiegels sehen kann. Der Effekt
dieses Reflektierens ist subjektiv bedingt, aber doch richtet der Spiegel einen Appell an das
Publikum. Auch die Tatsache, dass die Zuschauer neben einem direkten Bild der Gestalten
auch manchmal ein reflektiertes Bild ihrer eigenen Gesichter sehen, macht die
Theatererfahrung ungewöhnlich. Auf diese Weise integriert das Publikum im zweiten Teil
224
Strauß: Theaterstücke, S. 428. 225
Zugmann: Schwebe, S. 127.
91
des mittleren Aktes mit der Theaterhandlung, wird sogar in das Geschehen integriert. Die
Absolutheit der Welt auf der Bühne wird subtil durchbrochen und das ist typisch für ein
postdramatisches Theaterstück.
5.5.3. Optik im dritten Akt
5.5.3.1. Explizite Verweise auf Optik
Gleich wie im zweiten Akt vermitteln die Regieanweisungen am Anfang des dritten Aktes
ein sehr konkretes Bild der Gestalten und der Bühne:
Am letzten, hinteren Tisch sitzen Anita von Schastorf, eine schöne, doch auf Anhieb
sonderbar wirkende Frau in ihren späten Vierzigern, und ihre alte Mutter. […]
Durch die Eingangstür treten Patrick, ein gutaussehender, etwas jugendlich
auftretender Mann, und Ursula, eine kleine, wendige Person, beide um die Mitte
dreißig.226
Die konkreten Regieanweisungen prägen die Illusion auf der Bühne. Im ersten Akt können
sowohl die Zuschauer als auch die Leser ihre eigene Fantasie benutzen, um die Welt auf der
Bühne zu konkretisieren. Im dritten Akt hat Strauß die Illusion schon völlig selbst kreiert.
Die Illusionsbildung ist typisch für das dramatische Theater, in dem es buchstäblich und
figürlich eine deutliche Trennung zwischen Bühne und Publikum gibt.
Der Titel des dritten Aktes „Von nun an“ weist im Gegensatz zu den Titeln der
anderen Akten nicht auf Optik hin. Auch der Anteil der Worte in Bezug auf Optik ist in
diesem Akt viel kleiner als in den ersten zwei Akten.
226
Strauß: Theaterstücke, S. 447.
92
Die wenigen auf Optik verweisenden Worten bedeuten aber nicht, dass Optik unwichtig ist
in diesem Akt, denn die Bilder, die auf der Bühne erscheinen, zum Beispiel das
Schlussbild, sind kräftig und beeindruckend. Wenn wir uns nur die Optik im dritten Akt
angucken (cf. unten stehende Grafik), wird deutlich dass die meisten expliziten
Äußerungen in Bezug auf Optik, auch wenn es nur wenige sind, bei der Schlussszene im
Zoo auftreten.
02468
1012141618
Akt
I 4
13
41
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41
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Zoo
46
1
Zoo
46
2
Zoo
46
3
Zoo
46
4
zeit
Optik
Akt3
93
5.5.3.2. Implizite Verweise auf Optik
Im dritten Akt werden vor allem mittels detaillierte Beschreibungen implizit Bilder
heraufbeschworen. Die Bilder sind nicht wie Gemälde, unverändert, sondern es sind
Szenen, bewegende Bilder oder Geschichten, wie die Geschichte Ursulas über die Reise
nach Feuerland. Den Eindruck den man von dieser Frau bekommt, ist kein statisches Bild
ihres Aussehens, sondern eine Reihenfolge von mehreren Bildern ihrer Vergangenheit die
einen Überblick ihres Lebens darstellen. Die Optik wird, wie die Zeit in diesem Akt sich
auf Geschichte statt auf Momente konzentriert, von bewegenden Überblicken statt von
kurzen, momentanen Blicken bestimmt. Das Deutschlandthema wird im Schlussakt anhand
der Äußerungen des Rufers und einiger kräftiger Bilder auf der Bühne konkretisiert.
Ein erstes Bild, das das Deutschlandthema hervorruft, ist das der Ostdeutschen. In der
Hälfte des dritten Aktes tritt ein Paar aus Ostdeutschland auf: „Er zieht ein Paar aus der
DDR mit sich, bescheidene, etwas unförmig wirkende Leute in ihren graublauen
Blousons.“227
Nach Thomas Oberender steht im dritten Akt das andere Deutschland „in
Gestalt der freigelassenen Ostdeutschen“228
plötzlich im Raum. Durch das optische Bild
wird das Publikum an die Zeit vor der Wende erinnert. Auch für die Leser des Schauspiels
wird das Paar visuell beschrieben, indem die Ostdeutschen anhand ihrer Kleidung benannt
werden: der Blouson-Mann und die Blouson-Frau. Das Bild des Paares wird durch ihre
“unförmige“, “bescheidene“ Haltung noch verstärkt. Gunter Schandera zitiert einige
Rezensenten in Bezug auf die klischeehafte Darstellung der Ossis. Ein Rezensent schrieb:
„Man ist hier mitten in gegenwärtiger deutscher Wirklichkeit.“229
Ein anderer meinte: „Der
Auftritt der beiden Ostdeutschen geriet zum ›'authentischen' Ereignis, das in beiderseitiger
Verlegenheit und im Auseinanderlaufen endet.‹“230
Das Benehmen des ostdeutschen Paares
führt also zur Erkennung beim zeitgenössischen Publikum. Durch die Repräsentation der
nahen Vergangenheit wird das Publikum mit seiner eigenen Reaktion konfrontiert und wird
227
Strauß: Theaterstücke, S. 456. 228
Oberender: Wiederrichtung, S. 80. 229
Schandera: Ausstehende Begegnung, S. 146. 230
Schandera: Ausstehende Begegnung, S. 146.
94
die Art und Weise, wie man mit der Maueröffnung umgeht, an der Stelle hervorgerufen und
präsentiert.
Auch am Ende des Theaterstückes erscheint ein Bild, das unlöslich mit Deutschland
verbunden ist. Aus den Regieanweisungen geht hervor, dass ein Adler, das Symbol
Deutschlands, in der Schlussszene auf der Bühne sichtbar ist: „Zoo. Voliere mit Steinadler.
Eine niedrige Einfriedung, eine Bank. Im Hintergrund Gitterstäbe und ein weißer
Rundhorizont, auf dem Schatten von Feuerwerk und Adlerflug erscheinen.“231
Nach
Patrizia Zugmann verkörpert der Adler die stammesgeschichtliche, politisch unteilbare
Einheit des Volkes. Anita reagiert, wenn sie den Adler sieht, voller Bewunderung: „Daß du
so schön bist, wie du aussiehst. Stolz in einem Stück.“232
Daneben gibt es in dieser
Schlussszene noch ein anders Symbol Deutschlands, das in den abschließenden Worten des
Stückes evoziert wird: „ANITA Wald… Wald… Wald… Wald…“233
Jaak de Vos meint
Folgendes: “Met de adelaar en het oer-››Duitse‹‹ romantische woud worden twee centrale
››mythen‹‹ van de Duitse geschiedenis geactiveerd, maar tegelijk ook als vormen van leeg
pathos ontkracht: de vogel als heraldiek symbool met ››nichts dahinter‹‹, het landschap als
slechts talig geëvoceerde ››realiteit‹‹, als inhoudsloze frase.”234
Auch nach Zugmann ist der
Wald nicht länger ein Motiv romantischer Verzauberung, „sondern ein Symbol für die
Zentrumlosigkeit und Undurchdringlichkeit der Lebenswelt.“235
Hierbei kann die Frage
gestellt werden, ob es einen Unterschied machen würde, wenn dieser Wald auf der Bühne
sichtbar wäre. De Vos„ Meinung nach macht es offensichtlich nichts aus, denn der Vogel
hat keinen größeren Inhalt als der Wald, trotz seiner visuellen Anwesenheit auf der Bühne.
Stefan Willer dagegen meint, dass die überdeterminierte Präsenz des Adlers mit der
Abwesenheit des Waldes kontrastiert:
Als Name ohne Referenz im Spiel auf der Bühne rückt der Wald in eine
unverkennbare Analogie zum immer wieder gerufenen Wort ›Deutschland‹. Wenn
aber weder Wald noch Deutschland in irgendeiner Weise szenisch gedeckt sind,
erscheint auch der symbolische Bezug des einen zum anderen semantisch entleert.
231
Strauß: Theaterstücke, S. 461. 232
Strauß: Theaterstücke, S. 461. 233
Strauß: Theaterstücke, S. 464. 234
Jaak De Vos: „Botho Strauß.” In: Duitstalige literatuur na 1945. Deel 1: Duitsland 1945-1989. Leuven:
Peeters, 2006, S. 168. 235
Zugmann: Schwebe, S. 139.
95
[…] ›Deutschland‹ und ›Wald‹ sind, gerade weil sie nichts mehr repräsentieren, die
Pathosformeln im Schlußchor.236
Das Schlussbild von Schlußchor ist im Gegensatz zum Rest des Stückes sehr
grausam: „Lichtwechsel. Niederstürzen des Adlerschattens auf der Leinwand. Wenn es
wieder hell wird, steht Anita bis zu den Waden in Federn, mit blutendem Gesicht, den
abgeschnittenen Fang des Vogels in der herabhängenden Hand.“237
Dieser Akt wird von
Greiner folgendermaßen interpretiert: „einen Akt sodomitischer Vermählung mit einem
Adler als dem deutschen Wappenvogel, poetologisch eine Groteske, Vereinigung von
Mensch und Tier.“238
Meiner Meinung nach ist dieser Akt in der Tat grotesk, aber Anita
tötet den Adler, von „sodomitische Vermählung“ oder „Vereinigung von Mensch und Tier“
ist in der Schlussszene gar keine Rede. Das Besondere an dieser Handlung ist die Tatsache,
dass der Vogel real auf der Bühne anwesend ist. Die Schlusshandlung würde, so Greiner,
eine Allegorie auf den Mythos von Zeus sein die Europa als Stier entführt und sich dann
mit ihr in der Gestalt eines Adlers begattet.239
Die Schlussszene wäre aber nur eine
Allegorie wenn der Adler als Verweis auf den Wappenvogel, der seinerseits ein Verweis
auf die Nation ist, vernichtet werde. Jetzt wird allerdings ein realer Vogel vernichtet.
Greiner meint dann auch das diesen Akt ein „Gefangen-Bleiben in der Welt bloßer Zeichen
einerseits und Geworfen-Werden auf das Reale andererseits“240
ist. Er betrachtet das
grausame Ende als eine misslungene Repräsentation des Mythos, da die Handlung anhand
des realen Adlers den Eindruck erweckt etwas mythologisches darzustellen aber nicht auf
eine bestehende Situation zurückgreift.
5.5.4. Schlussfolgerungen Optik
Die Grafiken und ihre Analyse zeigen, dass die Optik in Schlußchor eine Entwicklung von
einer sprachlichen zu einer außersprachlichen und von einer konkreten zu einer
236
Willer: Strauß zur Einführung, S. 127. 237
Strauß: Theaterstücke, S. 463f. 238
Bernhard Greiner: Der Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretation. [zweite,
aktualisierte und ergänzte Auflage] Tübingen und Basel: A. Francke Verlag, 2006, 472. 239
Greiner: Der Komödie, S. 472. 240
Greiner: Der Komödie, S. 472.
96
allgemeinen Thematisierung erlebt. Im ersten Akt wird das Visuelle vor allem anhand von
Gesprächen über Fotografie und über den Augenblick des Fotografierens
heraufbeschworen. Daneben ist auch außersprachlich ein Fotograf sichtbar auf der Bühne.
Im zweiten Akt wird hauptsachlich über das Misslingen der Optik gesprochen, im ersten
Teil anhand des Wortes 'Versehen', im zweiten Teil mithilfe der mangelhaften Sprache.
Außersprachlich befindet sich ein Spiegel auf der Bühne, der die Absolutheit des Theaters
subtil durchbricht. Die Titel der ersten zwei Akten enthalten auch Verweise auf Optik. Im
dritten Akt dagegen wird kaum noch sprachlich auf Optik verwiesen. Die
Deutschlandbilder, die auf der Bühne erscheinen, sind aber für das Publikum viel
beeindruckender als diejenigen in den ersten zwei Akten. Erst im dritten Akt werden die
Bilder eher präsentiert als repräsentiert, insofern sie durch die ausgelöste Reaktion beim
Publikum ein Einbruch in die Realität implizieren.
Die Aussicht der Bühne und die Gestalten werden auch immer konkreter. Der Raum
des ersten Aktes ist gar nicht konkret, die Handlung kann irgendwo, irgendwann und mit
irgendwelchen Gestalten erfolgen. Im zweiten Akt haben einige Gestalten schon einen
Namen, und der Raum ist konkreter. Im dritten Akt, schließlich, sind Raum und Gestalten
ganz präzise definiert.
6. Schlussfolgerungen
6.1. Entwicklungen
Die zeitliche und optische Dimension des Hauptmotives 'Augenblick' sind nicht immer
leicht zu trennen, denn das Wort Augenblick enthält fast immer die zwei Komponenten
gleichzeitig. Zeit und Optik sind im Augenblick miteinander verwoben. Doch war es sehr
nützlich, diese Trennung durchzuführen, weil auf diese Weise neue Aspekte des
Augenblicks und des Stückes ans Licht kommen. Eine solche Hinsicht ist die
entgegengesetzte Art und Weise, wie sich die Zeit und die Optik in Schlußchor entwickeln.
Wie schon im Kapitel Zeit vermittelt, gibt es innerhalb der zeitlichen Dimension
eine Entwicklung von der kurzen Zeit, von dem Jetzt im ersten Akt bis zur allgemeineren
Zeit, bis zur Geschichte im dritten Akt. Innerhalb der optischen Dimension gibt es eine
97
ähnliche Entwicklung. Im ersten Akt wird eine sehr spezifische, fokussierte Optik, die
Optik des Fotografierens, thematisiert. Im zweiten Akt wird anhand einer ganz spezifischen
optischen Wahrnehmung eine längere Geschichte erzählt. Und im dritten Akt ist die Optik
nicht mehr so wichtig, weil sie in eine größere Geschichte aufgeht. Die Optik bekommt hier
eher die Bedeutung eines Überblickes.
Ein Teil der Optik ist der Raum, und auch auf räumlicher Ebene gibt es eine
Entwicklung vom konkreten, kleinen Raum bis zum größeren, allgemeinen Raum. Der erste
Akt spielt in einem Zimmer. Der zweite Akt ist offener. Er findet auch in einem Zimmer
statt, aber es gibt eine Tür zu einem Saal, die manchmal geöffnet wird. Dadurch wird ein
Gefühl der Offenheit kreiert, das es im ersten Akt nicht gab. Der dritte Akt vollzieht sich in
einem Restaurant, aber dieses Restaurant ist kein abgeschlossener Raum, denn man hat
Sicht auf die Straßenseite und auf den Eingang des Restaurants Leute kommen rein und
gehen raus. Im dritten Akt ist der Raum also viel offener als im ersten und zweiten Akt.
Neben den Entwicklungen innerhalb der zeitlichen und der optischen Dimension
des Stückes gibt es auch einige allgemeinere Entwicklungen in Bezug auf den Augenblick.
Der Augenblick wird im ersten Akt vor allem optisch interpretiert, während er im dritten
Akt vor allem verweist auf einen Augenblick in der Geschichte. Im dritten Akt wird der
Augenblick also zeitlich interpretiert. Der zweite Akt sorgt dann für einen Übergang von
der optischen Interpretation zu der zeitlichen Interpretation des Augenblicks. Dieser
Übergang geschieht anhand des Begriffs 'Versehen', das sowohl optisch als zeitlich
aufgefasst werden kann.
Eine allgemeine Entwicklung, in der die vorhergehenden Entwicklungen
einbegriffen sind, ist die vom Abstrakten ins Konkrete. Im ersten Akt sind die Gestalten,
der Raum, die Zeit und die Umstände unbestimmt. Im dritten Akt dagegen haben die
Gestalten einen Eigennamen, ist der Raum ein Restaurant in West-Deutschland, die
Handlung vollzieht sich im Moment des Mauerfalls, und die Gestalten haben eine
persönliche Geschichte. Der zweite Akt bildet einen Übergang zwischen dem ersten und
dem dritten Akt. In diesem Akt haben einige Gestalten einen Eigennamen, andere
bekommen nur eine Umschreibung. Der Raum ist das Haus von Delia, und die zwei
98
Hauptgestalten bekommen eine persönliche Geschichte, während die anderen Gestalten
eher oberflächlich beschrieben werden.
6.2. Präsentation oder Repräsentation
Wenn Lehmanns Definition des postdramatischen Theaters gefolgt wird, wie ich hier
gemacht habe, ist es deutlich, dass, wie schon in den Konklusionen der jeweiligen Kapitel
dargelegt, Zeit und Optik sowohl dramatisch (anhand des linguistischen Textes) als auch
postdramatisch (jenseits von Sprache und Text) gestaltet werden. Auf der zeitlichen Ebene
wird im ersten Akt der Augenblick, im zweiten Akt das Versehen und im dritten Akt die
Geschichte repräsentiert. Der Augenblick, das Versehen und die Geschichte werden explizit
thematisiert. In jedem Akt wird auch die deutsche Geschichte von dem Rufer repräsentiert,
denn er spricht über den Mauerfall und die Öffnung der Grenze, aber das Thema der
deutschen Geschichte wird nicht von den anderen Gestalten weitergeführt. Im ersten Akt
sind die Gestalten nur mit dem Augenblick beschäftigt, im zweiten Akt wird die Geschichte
angewendet, um das Versehen zu interpretieren, und im dritten Akt treten persönliche
Geschichten an die Stelle des Augenblicks der deutschen Wende. Wie man mit dem
Mauerfall umgehen soll, wird also nicht repräsentiert in Schlußchor, denn in jedem Akt
wird repräsentiert, wie man der deutschen Geschichte verweigert hat. Und gerade dadurch
präsentiert dieses Schauspiel, wie man auf die deutsche Wende reagieren soll, oder wie
man persönlich mit diesem Augenblick in der Geschichte umgehen kann. Es gibt natürlich
nicht eine angemessene Reaktion auf diesen wichtigen Moment in der deutschen
Geschichte. Botho Strauß präsentiert dadurch, die Reaktion auf den Mauerfall dass er die
Leser und Zuschauer selbst bestimmen lässt. In Schlußchor wird das Umgehen mit der
deutschen Geschichte präsentiert, nicht indem es auf der Bühne wiedergegeben wird,
sondern indem sich das Nachdenken über dieses Umgehen mit dem Augenblick, in dem die
Geschichte gemacht wird, sich im Publikum oder im Leser ereignet.
Auch die Optik wird hauptsachlich dramatisch wiedergegeben, indem es sprachlich
thematisiert wird. Gleich wie die Zeit wird auch das Visuelle in jedem Akt auf eine andere
Weise problematisiert. Der erste Akt handelt von dem Gruppenbild und von dem
99
Fotografieren der Gruppe, im zweiten Akt ist der Blick die Ursache für einen Ersatz von
Bild durch Sprache, und im letzten Akt wird das Deutschlandbild problematisiert. Diese
Themen werden explizit sprachlich repräsentiert, aber in jedem Akt wird die Absolutheit
der Bühne auch subtil durchbrochen. Im ersten Akt wird der Blick des Publikums kritisiert,
im mittleren Akt wird die Absolutheit auf der Bühne durch einen Spiegel durchbrochen und
im Schlussakt präsentieren die beeindruckenden Bilder das Deutschlandthema.
Wie im von Lehmann beschriebenen postdramatischen Happening oder in der
soziale Situation erfahren die Leser oder Zuschauer des Stückes Schlußchor eine
persönliche Reflexion. Sie denken darüber nach, wie sie mit dem Mauerfall umgegangen
sind und wie sie diesen wichtigen Augenblick der deutschen Geschichte bewältigen
können. Auf diese Weise gibt es, wenn auch weniger deutlich als in einem Happening oder
in einer sozialen Situation, eine Teilnahme des Publikums. Die Zuschauer erfahren das was
auf der Bühne geschieht, anstatt dass sie es nur wahrnehmen.
Das ganze Stück ist also nicht nur wegen seiner fehlenden Synthesis, sondern auch
wegen seines Appells an das Publikum postdramatisch. Es sind nicht die einzelnen Akten
die das postdramatische Ereignistheater verursachen, sondern es ist die Gesamtheit der drei
Akten, die Einwirkung der drei unterschiedlichen Augenblickserlebnisse die beim
Publikum ein bestimmtes Ereignisgefühl kreieren.
6.3. Ausblick
In dieser Arbeit bin ich, weil ich Schlußchor als eine Literaturwissenschaftlerin untersuchen
wollte, nur von dem Theatertext ausgegangen, um die postdramatischen von den
dramatischen Kennzeichen zu unterscheiden. Die Kunstform des Theaters wird aber an
erster Stelle von der Aufführung bestimmt. Die Aufführung ist dasjenige, was Theater von
anderen Kunstformen unterscheidet. Um eine vollständige Analyse der postdramatischen
Kennzeichen durchzuführen, würde man neben dem Text auch eine Aufführung des
Stückes analysieren müssen. Und wie aus dem Theatertext eine Aufführung zustande
kommt, wird von dem Regisseur bestimmt. Ein möglicher Ansatz für eine weitere
Untersuchung wäre daher die Beschäftigung mit der Frage, inwieweit die postdramatischen
101
Bibliografie
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103
Anlage 1: Zeit und Optik
Grafik 1: Zeit und Optik im ersten Akt
Grafik 2: Zeit und Optik im zweiten Akt
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Anlage 2: Zeit
Grafik 1: Zeit im ersten Akt
Grafik 2: Zeit im zweiten Akt
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Grafik 3: Zeit im dritten Akt
Grafik 4: ferne Vergangenheit im ganzen Stück
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Grafik 5: nahe Vergangenheit im ganzen Stück
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Anlage 3: Optik
Grafik 1: Optik im ganzen Stück
Grafik 2: Regieanweisungen Optik im ganzen Stück
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Optik Regieanweisungen
Optik Regieanweisungen
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Grafik 3: Beurteilung der Optik im ganzen Stück
Grafik 4: Optische Wiedergabe im ganzen Stück
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optische Wiedergabe
optische Wiedergabe
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Grafik 5: Sehen der Optik im ganzen Stück
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sehen der Optik
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Hilfsmittel/Instrumente
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Schlußchor 3 Akten