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Psychosoziale Situation von Patienten, Angehörigen und Behand lungs team

39.1 Krankheitsverhalten des Intensivpatienten – 51839.1.1 Der ablehnende Patient – 51939.1.2 Der überangepasste Patient – 51939.1.3 Der infantil regredierte Patient – 519

39.2 Psychische Störungen beim Intensivpatienten – 52039.2.1 Einteilung – 52039.2.2 Risikofaktoren psychischer Störungen beim Intensivpatienten – 52039.2.3 Depressive Störungen – 52139.2.4 Angststörungen – 52239.2.5 Akute Belastungsreaktion – 52239.2.6 Professionelle psychotherapeutische Hilfe – 522

39.3 Das Behandlungsteam – 52239.3.1 Pflegepersonal – 52239.3.2 Ärzte – 52439.3.3 Angehörige – 525

39.4 Umgang mit dem Intensivpatienten – 52639.4.1 Prophylaxe psychischer Störungen – 52639.4.2 Umgang mit dem sterbenden Intensivpatienten – 527

Nachschlagen und Weiterlesen – 529

R. Larsen, Anästhesie und Intensivmedizin für die Fachpfl ege,DOI 10.1007/978-3-642-28291-1_39, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012

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Die Intensivmedizin ist grundsätzlich der Gefahr ausgesetzt, die körperlichen Aspekte der Behandlung ganz in den Vor-dergrund zu stellen und die seelischen Bedürfnisse des Pa-tienten zu vernachlässigen oder gar zu ignorieren. Dabei kann gerade beim Intensivpatienten davon ausgegangen werden, dass seine oft lebensbedrohliche Erkrankung häufig mit psychischen Störungen einhergeht, die der besonderen Aufmerksamkeit und Zuwendung durch das Pflegepersonal und die behandelnden Ärzte bedürfen. Warum vielfach vom Personal der Intensivstation gerade die technischen Verrich-tungen als bevorzugte Umgangsform mit dem Patienten gewählt werden, liegt vermutlich z. T. an der großen eigenen psychischen Belastung des Personals durch die Arbeitssitua-tion auf der Intensivstation. Weitgehende Beschränkung auf technische Verrichtungen ermöglicht eine Distanzierung von den psychischen Bedürfnissen des Patienten und den teil-weise als bedrohlich erlebten Behandlungssituationen der Intensivstation und bewirkt eine gefühlsmäßige Entlastung.

> Arbeit am kranken Menschen ist jedoch immer auch »Gefühlsarbeit«, deren Vernachlässigung oder Verleugnung durch das Pflegepersonal und die Ärzte den Patienten zu einem bloßen Objekt erniedrigt und das Vorurteil von der »seelenlosen Apparatemedizin« verstärkt.

39.1 Krankheitsverhalten des Intensivpatienten

Die schwere Erkrankungssituation des Intensivpatienten ist objektiv gekennzeichnet durch:

4 körperliche und seelische Beeinträchtigung bis hin zur akuten Lebensbedrohung,

4 Einschränkung der Bewegungsmöglichkeit und -fä-higkeit (Immobilisation),

4 Verlust an Individualität und persönlicher Freiheit, 4 Unterbrechung der bisherigen zwischenmenschlichen

Beziehungen, 4 Ausgesetztsein in einer fremden Umgebung und

deren häufig unangenehmen oder schmerzhaften Maßnahmen,

4 Eingriffe in die biologischen Rhythmen.

Hinzu kommen als mehr subjektive, individuell unter-schiedlich empfundene Faktoren:

4 die mit der Erkrankung bzw. Behandlung in Zusam-menhang stehenden Beschwerden, Störungen des Selbstwertgefühls, Ängste über körperliche Beschädi-gungen, Phantasien über das Körpergeschehen bzw. die Bedeutung der Krankheit, Zukunftsängste,

4 das durch den Verlust der bisherigen zwischen-menschlichen Beziehungen ausgelöste Trennungs-

trauma, mit dem Gefühl des Abgeschnittenseins und des Verlustes sozialen Ansehens,

4 das Gefühl der Isolierung und Vereinsamung durch sensorische Verarmung (Deprivation) bei steriler, unpersönlicher Atmosphäre mit Mangel an Orien-tierungshilfen und durch die monotone Reizüberflu-tung mit Licht, Lärm, Entblößung, die Aufhebung der Persönlichkeitsgrenzen,

4 das affektive Klima der Intensivstation und die gefühlsmäßigen Beziehungen des Patienten zum Be-handlungsteam.

Auf diese Faktoren reagiert der Intensivpatient mit einem teilweise überindividuell typischen krankheitsabhängigen Verhalten, das jedoch von der primären Ausgangspersön-lichkeit (Persönlichkeitsstruktur), der Krankheitssituation selbst und dem affektiven Klima auf der Intensivstation beeinflusst wird.

Das krankheitsabhängige, gefühlsmäßige Verhalten des Intensivpatienten ist unter dem Druck der psychi-schen Stressfaktoren (Frustration, Gefühl der Verletzt-heit und realer oder phantasierter Verlust von Objekt-beziehungen) zunächst v. a. durch Angst (bis hin zur To-desangst oder dem Gefühl des Vernichtetwerdens) oder eine gefühlsmäßige Schockreaktion und eine tiefgreifen-de Erschütterung des Selbstwertgefühls gekennzeichnet. Im weiteren Verlauf entwickeln die Patienten bestimmte krankheitsabhängige Verhaltensweisen, die darauf abzie-len, die Situation der vitalen Bedrohung zu bewältigen. Hierzu gehören v. a. zwei grundlegende Mechanismen:

4 Anpassung an die Erkrankung und die Behandlungs-situation,

4 Entwicklung von Abwehrmechanismen.

Anpassungsreaktionen. Diese sind gekennzeichnet durch gefühlsmäßige, erkenntnismäßige und motorische Aktivitäten des Patienten, seine körperliche Unversehrt-heit und sein seelisches Gleichgewicht zu erhalten oder wiederherzustellen; d. h. der Patient erkennt die vitale Bedrohung und setzt sich mit ihr realistisch auseinander.

Abwehrreaktionen. Diese sind hingegen gekennzeichnet durch teilweise oder vollständige Abwehr und Verleug-nung der Wirklichkeit bzw. Bedeutung der Erkrankung für den Patienten und Rückzug auf unreife (»kindliche«, infantile), starre Verhaltensweisen. Dieser Rückzug wird auch als Regression bezeichnet.

> Es muss beachtet werden, dass die dem Patienten häufig zugeführten Psychopharmaka (Sedativa, Opioide, Neuroleptika) sein krank-heitsabhängiges Verhalten stark modifizieren können.

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Daneben gibt es noch weitere Techniken der seelischen Bewältigung bzw. Angstabwehr von Krankheit, die neben der bewussten und akzeptierten, vorübergehenden Re-gression dazu beitragen, dass viele Patienten die Intensiv-behandlung ohne wesentliche psychische Störungen und unbeschadet überstehen:

4 Verschiebung: Der Patient nimmt seine vitale Bedro-hung an, verkleinert sie jedoch, indem er sie nur auf das erkrankte Organ, z. B. die Lunge, verschiebt.

4 Isolierung: Auch hier wird die Bedrohung akzeptiert, der normalerweise damit verbundene Gefühlsgehalt jedoch vor dem Erleben, vorhangartig, abgeschirmt.

4 Schicksalergebenheit: Die Patienten fügen sich scheinbar ergeben in ihr Schicksal, wirken dabei viel-fach tapfer, bei näherem Eingehen auf ihre Situation jedoch eher gequält.

4 Magisches Denken und Allmachtsphantasien: Die Patienten glauben, ihr Schicksal durch magi-sches Denken bzw. sich Unterwerfen beeinflussen zu können; ihr Vertrauen in die Kunst der Ärzte und ihre Möglichkeiten ist oft nahezu grenzenlos. Das Behandlungsteam wird in ihrem Denken mit einer »Allmacht« ausgestattet, der sie sich vollständig hin-geben können; die Intensivbehandlung wird zumeist unkritisch idealisiert.

Zeichen der zunehmenden Dekompensation der Bewäl-tigungsmechanismen sind Projektionen (Verlagerung un-erträglicher eigener Phantasien nach außen), Depressio-nen und massive Verleugnungen.

39.1.1 Der ablehnende Patient

Der ablehnende Patient fühlt sich in der Beziehung zum Behandlungsteam bedroht; selbst für die Behandlung not-wendige Regressionen auf »kindliche« Verhaltensweisen lösen Ängste aus, das Gefühl der Abhängigkeit wird heftig verleugnet bzw. abgewehrt. Der Patient ist misstrauisch und möchte das Behandlungsteam beherrschen, zeigt sich entsprechend uneinsichtig, besserwissend und stark kon-trollierend.

> Der ablehnende Patient erlebt das Behand-lungsteam als Bedrohung.

Er ist nicht leicht zu führen und bereitet dem Behand-lungsteam entsprechende Schwierigkeiten. Hierbei muss beachtet werden, dass ein bestimmendes, dominierendes und starkes Verhalten des Personals die ablehnende Hal-tung und den Widerstand wie auch die Ängste und das Misstrauen des Patienten eher noch verstärken.

39.1.2 Der überangepasste Patient

Auch dieser Patient kann seine Krankheit und die damit verbundene Patientenrolle innerlich nicht annehmen. Er reagiert jedoch mit Verleugnung von Ängsten und trau-rigen Gefühlen, gibt sich nach außen hin ruhig und zu-versichtlich oder in sein Schicksal ergeben und entwickelt eine besondere Gefügigkeit gegenüber der Behandlungs-situation und den Mitgliedern des Behandlungsteams. Er überspielt seine gefühlsmäßige Hilflosigkeit und täuscht das Behandlungsteam (zumeist leicht) über seine wirkli-che innere Befindlichkeit und Not hinweg. Er schützt da-mit sich selbst und das Behandlungsteam vor seinen see-lischen Konflikten und erweckt den falschen Eindruck ei-nes »idealen Patienten«, zumal er die Pflegepersonen und die Ärzte mit Lob und Anerkennung bedenkt und deren eigene Unsicherheiten und Ängste verdeckt.

Insgesamt verbirgt sich somit hinter der Überange-passtheit des Patienten eine geheime Ablehnung der Be-handlungssituation und des Behandlungsteams, nur kann sie sich nicht offen äußern.

39.1.3 Der infantil regredierte Patient

Dieser Patient ist weitgehend auf infantile Verhaltenswei-sen zurückgefallen, von Angst überwältigt und emotional vollständig vom Behandlungsteam abhängig, das er als allmächtig erlebt. Typisch sind anklammernde Verhal-tensweisen bis hin zur Verschmelzung mit dem Behand-lungsteam sowie Hypochondrie und Verleugnung von Be-handlungsfortschritten. Entsprechend schwierig gestaltet sich häufig die Rehabilitationsphase, da der Patient nicht bereit ist, seine infantilen Verhaltensweisen aufzugeben und sich stattdessen weiter an das Personal klammert und seine Unsicherheit und Unselbständigkeit aufrechterhält. Gerade bei diesen Patienten kann sich z. B. die Entwöh-nung vom Respirator als sehr schwierig gestalten.

Die Beziehung zwischen dem Behandlungsteam und dem Patienten ist zumeist schwierig: während anfangs seine offen bekannte Bedürftigkeit und Schutzsuche vom Personal angenommen wird, lösen später seine Verhal-tensweisen beim Behandlungsteam Verärgerung und das Gefühl der Unfähigkeit aus, weil er ein Abgehen von der Intensivbehandlung verweigert. Neben dieser anfängli-chen Verkennung der psychischen Schwächen des Pati-enten wird das Verhalten noch durch Überfürsorglichkeit und übertriebene Aktivität des Pflegepersonals verstärkt. Am Schluss steht dann nicht selten ein schlagartiges ge-fühlsmäßiges Sichabwenden des Behandlungsteams. Hierdurch werden die reaktiven Störungen jedoch meist noch verstärkt.

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39.2 Psychische Störungen beim Intensivpatienten

39.2.1 Einteilung

Psychische Störungen beim Intensivpatienten können in zwei Kategorien eingeteilt werden:

4 akute organische Psychosyndrome (Durchgangssyn-drome),

4 reaktive psychische Störungen.

Akute organische PsychosyndromeHierbei handelt es sich um vorübergehende präpsychoti-sche oder psychotische Störungen, hervorgerufen durch organische Veränderungen im zentralen Nervensystem. Der Beginn ist meist akut, die Störungen fluktuieren und manifestieren sich im Bereich der geistigen Fähigkeiten, der Psychomotorik, der Affektivität und evtl. auch der Be-wusstseinslage (. Tab. 39.1). Akute Psychosyndrome tre-ten besonders häufig nach operativen Eingriffen auf, v. a. bei Patienten mit zerebraler Vorschädigung (z. B. durch Hirnverletzungen), weiterhin bei Sepsis, Alkohol-, Medi-kamenten- und Drogenmissbrauch.

z DurchgangssyndromDieser Begriff bezeichnet akute organische Psychosyndro-me ohne Bewusstseinsstörung. Die Bewusstseinsstörung gilt dagegen als Leitsymptom der schwereren Grade aku-ter organischer Psychosen.

Durchgangssyndrome können zwar bei allen Intensiv-patienten auftreten, werden jedoch gehäuft bei (älteren) postoperativen Patienten beobachtet. Sie gelten nach psy-chiatrischer Lehrmeinung nicht als psychoreaktiv, d. h. nicht als psychogen bedingt.

Reaktive psychische StörungenDies sind psychische Störungen, die als Reaktion auf be-stimmte Belastungssituationen (»Stress«) auftreten und sich in folgender Weise äußern:

4 Angst, Gefühle der Ohnmacht, Depression, 4 Störungen des Selbstwertgefühls, Abhängigkeitswün-

sche, 4 Infantilisierung (Verkindlichung) mit Gefühlen

extremer Hilflosigkeit und Abhängigkeit, kindlich-gläubige Zuwendung zu Ärzten und Pflegenden und Abnahme der Kritikfähigkeit,

4 starke Abwehr eigener Aggressionswünsche aus Angst vor Verlust von Zuwendung durch Pflegende und Ärzte,

4 Neigung zur Selbstbeobachtung des erkrankten Kör-pers (Hypochondrie),

4 Verleugnung unangenehmer Gefühle und Vorstellun-gen im Zusammenhang mit der Schwere der Er-

krankung einschließlich zugehöriger Ängste und der Abhängigkeit von Pflegenden und Ärzten.

39.2.2 Risikofaktoren psychischer Störungen beim Intensivpatienten

Abgesehen von der individuellen Persönlichkeitsstruktur des Intensivpatienten wird die Entstehung psychischer Störungen durch bestimmte Risikofaktoren begünstigt. Hierzu gehören v. a.:

4 die Erkrankung selbst, 4 bestimmte Behandlungsverfahren, 4 Wechselwirkungen aus den Beziehungen zwischen

Patient, Pflegenden und Ärzten im Zusammenhang mit der Behandlungssituation.

Psychische Belastung durch die ErkrankungIntensivpatienten sind (per definitionem) schwer oder so-gar akut lebensbedrohlich erkrankt und befinden sich so-mit objektiv in einer Extremsituation, die ein besonderes Abwehr- und Anpassungsverhalten erfordert. Durch die Erkrankung wird ihr körperliches Befinden beeinträchtigt oder sogar schwer gestört. Die gewohnte Verfügbarkeit über den eigenen Körper geht verloren. Die bisherigen Lebensbeziehungen und sozialen Verflechtungen werden weitgehend unterbrochen und es entwickelt sich eine um-fassende Abhängigkeit von Pflegepersonal und Ärzten.

. Tab. 39.1 Organische Psychosyndrome mit ihren Leitsym-ptomen

Art des organischen Psychosyndroms

Leitsymptome

Delirantes Syndrom

Akute Störungen des Bewusst seins und der Aufmerksamkeit:

5 Denk- und Wahrnehmungsstörungen 5 Desorientierung zu Zeit, Ort und

Person 5 Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus

Organische Halluzinose

Halluzinationen, Stimmung unauffällig

Organische wahnhafte Störung

Paranoide Symptome: z. B. Verfolgungswahn

Organische affektive Störung

Depressivität, Affektlabilität

Organische Angststörung

Angstsymptomatik

Chronisches hirnorganisches Psychosyndrom

z. B. demenzielles Syndrom, Alzheimer-Krankheit

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39.2 · Psychische Störungen beim Intensivpatienten 521 39

Während zahlreiche Patienten überraschend gut mit ihrer Erkrankung »fertig werden«, treten bei anderen die oben beschriebenen, reaktiven psychischen Störungen auf, durch die der Krankheits- und Behandlungsverlauf ganz erheblich beeinträchtigt werden kann.

Belastung durch Behandlungsverfahren und -technikenDurch Behandlungsmaßnahmen ausgelöste Störungen sind seltener, als nach dem Bild der Intensivstation in der Öffentlichkeit als einer »seelenlosen Maschinenwelt« zu erwarten wäre. Hier besteht offensichtlich eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Meinung Außenstehender und dem tatsächlichen Erleben der betroffenen Patienten. So haben zahlreiche Untersuchungen gezeigt, dass von vielen Intensivpatienten die Intensivbehandlung keineswegs als »seelisch krank machend«, sondern als Sicherheit und Halt gebend empfunden wurde.

Allgemein werden besonders folgende Faktoren als belastend angesehen, ohne dass hier im Einzelfall entspre-chende Untersuchungsergebnisse vorgelegt wurden:

4 Ängstigung durch Schläuche, Tuben, Beatmungsgerä-te, Kabel, O2-Masken, Überwachungsgeräte usw.,

4 Unruhe und Lärm auf der Station, 4 fehlender Tag-Nacht-Rhythmus, Dauerlicht, 4 reizarme bzw. monotone Umgebung einerseits, Über-

stimulierung durch vielfältige Reize andererseits, 4 fehlendes Tageslicht, 4 häufige Pflege- und Überwachungsmaßnahmen, 4 Verlust der Blasen- und Darmkontrolle, 4 Mangel an Intimsphäre, 4 Erleben der Reanimation von Mitpatienten.

Belastung durch das Beziehungsgeflecht auf der IntensivstationIntensivpatienten bedürfen, wie andere Kranke auch, des Gefühls der Sicherheit und Geborgenheit in ihren Be-ziehungen zu Pflegenden und Ärzten. Eine wichtige Rolle spielen hierbei für einen großen Teil der Patienten auch die Angehörigen, die gewissermaßen die einzige Verbin-dung zur Außenwelt innerhalb der nahezu »totalen Insti-tution« Intensivstation darstellen.

Kontaktangebote und Zuwendung durch Pflegeper-sonal, Ärzte und Angehörige sollen dem Patienten das Gefühl der Isoliertheit und Ohnmächtigkeit nehmen oder lindern und Sicherheit und Geborgenheit vermitteln, um auf diese Weise potenzielle psychische Störungen zu ver-hindern. Ständige Anwesenheit und Kontinuität der Pfle-genden wirken als potenziell entlastende Faktoren für den Intensivpatienten.

> Einfühlende Zuwendung, häufige Kontakt-angebote und ausreichende Informationen über Pflege- und Behandlungsmaßnahmen sind der Schlüssel für eine menschenwürdige Beziehung des Personals zum Patienten.

Verlegung des Patienten. Die Verlegung des Langzeit-intensivpatienten kann ein besonderes Trennungstrauma darstellen, das zumeist durch rechtzeitige und behutsame Aufklärung verhindert oder gemildert werden kann. Ab-rupte Verlegungen sollten unbedingt vermieden werden. Einige Patienten reagieren auf die Verlegung mit akuten psychischen Störungen.

39.2.3 Depressive Störungen

Auf schwere akute körperliche Erkrankungen können Menschen mit einer depressiven Symptomatik reagieren. Grundlage der Depression ist eine angeborene Vulnerabi-lität (Verletzlichkeit); neurobiologisch wird ein Ungleich-gewicht von Transmittersystemen angenommen; psycho-logisch spielen negative Lebensereignisse als Auslöser eine Rolle: aus verhaltenstherapeutischer Sicht liegt eine kog-nitive Triade vor, gekennzeichnet durch negative Wahr-nehmung der eigenen Person (»ich bin nichts wert«), der Umwelt und der Zukunft. Stress wirkt als aktivierender Faktor dieser negativen Denkmuster.

z Klinisches BildApathie und vollständiger Rückzug müssen beim Inten-sivpatienten an ein depressives Syndrom denken lassen. Folgende Subtypen der Depression werden unterschieden:

4 gehemmte Depression: Abnahme der Aktivität und Psychomotorik,

4 agitierte Depression: ängstliche Getriebenheit, Be-wegungsunruhe, hektisches Verhalten, Jammern und Klagen,

4 somatisierte Depression: funktionelle Organbeschwer-den unterschiedlichster Art, vegetative Störungen,

4 psychotische Depression: depressive Wahngedanken.

Beim Intensivpatienten können sich depressive Reaktio-nen in folgender Weise manifestieren:

4 Äußerungen von Hoffnungslosigkeit und Vergeblich-keit der Behandlungsmaßnahmen,

4 Verweigerung aktiver Maßnahmen wie Mobilisation und Physiotherapie oder der Einnahme von Medika-menten,

4 Verweigerung jeglicher Kontaktaufnahme.

Bei stärkeren depressiven Reaktionen sollte ein Psycho-therapeut oder Psychiater hinzugezogen werden.

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39.2.4 Angststörungen

Mit Angststörungen muss bei Intensivpatienten immer gerechnet werden, da hier eine erheblich belastende, angsterzeugende Situation besteht. Folgende Angstfor-men werden unterschieden:

4 Panikstörungen bzw. -attacken mit ausgeprägter kör-perlicher Symptomatik,

4 generalisierte Angst: anhaltende Angst unterschiedli-cher Stärke,

4 phobische Angst: umschriebene Angst vor bestimm-ten Situationen, Objekten, Tieren.

39.2.5 Akute Belastungsreaktion

Die Reaktion tritt innerhalb von vier Wochen nach der Belastungssituation auf, hält mindestens zwei Tage an und klingt innerhalb von vier Wochen wieder ab. Der Patient erscheint angespannt und schreckhaft oder apathisch und völlig in sich gekehrt. Außerdem treten sog. dissoziative Symptome auf: Depersonalisation, Derealisation, dissozi-ative Amnesie, Gefühl der emotionalen Taubheit oder des Losgelöstseins.

39.2.6 Professionelle psychotherapeutische Hilfe

Es hat sich gezeigt, dass die meisten Behandlungsteams, insbesondere Pflegende, intuitiv eine Art »Psychotherapie des täglichen Lebens« beim Intensivpatienten anwenden, durch die es gelingt, dem Patienten Sicherheit, Geborgen-heit und Vertrauen zu vermitteln. Dieser Vorgang spielt sich sehr häufig auf nichtverbaler Ebene ab und vollzieht sich u. a. in Gestik, Mimik, Bewegungen und Stimme so-wie im körperlichen Kontakt mit dem Patienten.

Ebenso gelingt es, bei entsprechendem Einfühlungs-vermögen, dem Pflegepersonal, auch die seelische Befind-lichkeit sowie Ängste und Abwehrreaktionen von Pati-enten, die nicht sprechen können, richtig einzuschätzen. Erst in späteren Phasen, wenn der Patient extubiert ist, kann auch die Sprache wieder als Kommunikationsmittel eingesetzt werden, sodass es möglich wird, tiefer gehende Konflikte, Gefühle und Befürchtungen offen durchzuspre-chen und hierdurch eine sog. kathartische Abfuhr, d. h. Spannungsentlastung zu erreichen. Hierzu sollte der Pati-ent durchaus ermuntert werden, zumal seine Bereitschaft, sich anderen mitzuteilen, in der besonderen Intensivbe-handlungssituation viel größer als sonst ist.

Nur sehr selten sind die psychischen Störungen von Intensivpatienten so stark ausgeprägt, dass die professio-

nelle Hilfe eines Psychotherapeuten in Anspruch genom-men werden muss.

Öfter ergeben sich hierbei zu Anfang neue Konflikte, weil der von außen in das Behandlungsteam kommende Psychotherapeut häufig misstrauisch und kritisch geprüft wird.

39.3 Das Behandlungsteam

Das Personal der Intensivstation ist besonderen Belastun-gen und hohen Anforderungen ausgesetzt, die nicht selten zu Spannungen und Konflikten führen. Erwartet werden insbesondere maximale pflegerische und ärztliche Leis-tung, hohes Können und Kompetenz sowie unbedingte Einsatzbereitschaft – Forderungen, letztlich des »Unmög-lichen«, die von keinem Mitglied des Teams auf Dauer er-füllt werden können.

Als besondere Belastungen für das Behandlungsteam gelten:

4 die ständige Konfrontation mit schwerstkranken Patienten,

4 die relativ hohe Sterblichkeitsrate trotz maximalem Einsatz, die zu Gefühlen von Schuld, Versagen, Ent-täuschung und Trauer führen kann,

4 der häufige Wechsel von Patienten bei der Akutver-sorgung,

4 der Mangel oder das vollständige Fehlen von Kon-takten bei bewusstlosen oder bewusstseinsgetrübten Patienten, die vielfach nur als Objekte des Handelns wahrgenommen werden,

4 der hohe Grad von Technisierung bei der Behand-lung und Überwachung (»totale Verkabelung des Patienten«),

4 die Konfrontation mit den Todesängsten des Patien-ten, die oft zu Abwehrreaktionen in Form von Hy-peraktivität oder Distanzierung führt und damit das emotionale Erleben des Behandlungsteams veröden lässt,

4 die Aktivierung eigener Probleme beim Umgang mit Suizidpatienten und die entsprechende Auslösung von Abwehrmechanismen,

4 der Umgang mit den häufig beunruhigten und verun-sicherten Angehörigen.

39.3.1 Pflegepersonal

Pflegende sind aufgrund ihrer Aufgabe und der ständigen Präsenz am Patientenbett die zentralen Bezugspersonen der Patienten. Sie gelten den Psychologen als Schlüssel-figuren der Intensivbehandlung und treten, sich dieser Einschätzung häufig bewusst, mit einem gewissen elitären

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39.3 · Das Behandlungsteam523 39

Anspruch auf, der ihnen zumeist von den anderen Kran-kenabteilungen und auch von außen zugestanden wird. Dabei wirken jedoch zahlreiche Stressfaktoren auf die Pflegenden ein, die dazu führen können, dass sie sich öfter als »hilflose Helfer« empfinden, die selbst der Unterstüt-zung von außen bedürfen. Hierbei entstehen die Selbst-konflikte des Pflegepersonals v. a. aus zwei Quellen:

4 Gefühle, die in den Pflegenden aus dem Umgang mit dem Patienten aktiviert werden sowie Gefühle, die von den Pflegenden auf den Patienten übertragen werden. Hierzu gehört auch das Aufrühren eigener, unbewältigter Konflikte durch die Konfrontation mit den Patienten.

4 Spannungen und Rollenkonflikte zwischen Ärzten und Pflegepersonal und innerhalb der Pflegegruppe selbst. Dies gilt insbesondere für den Elitestatus des Pflegepersonals, der einerseits Ansehen und Befriedi-gung schafft, andererseits aufgrund der großen Belas-tungen zu Gefühlen der Überforderung, Arbeitsstö-rungen und Verstimmungen führen kann.

RollenkonfliktDie Rollen zwischen Pflegenden und Ärzten sind auf In-tensivstationen nicht so scharf definiert wie auf Allge-meinstationen und überschneiden sich häufig. Hieraus ergeben sich teilweise erhebliche Spannungen zwischen den verschiedenen Berufsgruppen. Als Ursache von Span-nungen zwischen Pflegepersonal und Ärzten werden vom Pflegepersonal meist Mangel an Anerkennung und direk-ter Verständigung, Kompetenzstreitigkeiten, hierarchische Führung und Arbeitsstress angegeben, von den Ärzten hingegen Kompetenzüberschreitungen von Pflegenden so-wie Fehlverhalten anderer Ärzte. Konflikte innerhalb der Pflegegruppe ergeben sich im Wesentlichen aus folgenden Faktoren:

4 ungenügende Absprachen oder Kooperation, 4 dominierendes Verhalten einzelner Teammitglieder, 4 hierarchischer Führungsstil, 4 Konkurrenzdenken, 4 mangelnde Solidarität, 4 Rivalität, 4 ungenügende gegenseitige Anerkennung.

Emotionale Reaktionen und Bewältigungs-strategien des PflegepersonalsDie Grundreaktion des Pflegepersonals auf die Hilflosigkeit und totale Abhängigkeit des Patienten besteht zunächst in einer Art »Bemutterung« mit den entsprechenden Gefüh-len. Während diese Reaktionen wegen ihrer positiven Aus-wirkungen erwünscht sind, muss eine zu enge, verschmel-zende (symbiotische) Beziehung zum Patienten unbedingt vermieden werden. Eine zu enge Verwicklung mit dem Patienten geht meist mit starken Gegenübertragungen ein-

her, wobei eigene Gefühle, Wünsche und Vorstellungen in den Patienten hinein projiziert werden, obwohl sie dort gar nicht vorhanden sind. Dieser Gefahr erliegen v. a. selbstun-sichere, depressive und ängstliche Pflegende.

> Die emotionalen Beziehungen vom Personal zum Patienten müssen auf Einfühlung beruhen und beim Patienten das Gefühl von Wärme, Sicherheit und Vertrauen auslösen.

Gefühle des Personals wie Angst, Ärger, Schuld und Über-wältigtsein stören ein empathisches Eingehen auf den Pa-tienten und sollten nicht ausgelebt werden.

z Abwehrreaktionen beim BehandlungsteamFür die Bewältigung der verschiedenen Belastungssi-tuationen auf der Intensivstation werden vom Behand-lungsteam zahlreiche Abwehrreaktionen bzw. -mechanis-men eingesetzt:

4 gesteigerte Aktivität, 4 Vermeidung, 4 Verleugnung, 4 Verschiebung und Projektion.

Gesteigerte Aktivität. Hierbei handelt es sich um ein häu-figer auf Intensivstationen zu beobachtendes Geschehen, das besonders in sehr ruhigen Phasen (z. B. bei geringer Belegung) entsteht und sich in Unruhe, Unzufriedenheit, Gereiztheit und Spannungen äußert. Äußerlich werden Langeweile und Unterforderung vom Personal als Ursa-che des Aktivismus angegeben. Psychologisch muss jedoch dieses Verhalten als Abwehrreaktion gedeutet werden, mit der deprimierte und traurige Stimmungen, die sich aus der Wahrnehmung eigener Konflikte und Gefühle sowie der des Patienten ergeben würden, unterdrückt werden sollen.

Vermeidung und Rückzug. Hierbei zieht sich das Pflege-personal gefühlsmäßig vom Patienten zurück und wendet sich bevorzugt den Apparaten und Überwachungsgerä-ten, also den technischen Verrichtungen zu.

Verleugnung. Häufig sind insbesondere Außenstehende über den rauen, polternden, schnoddrigen Ton und bur-schikoses, exaltiert fröhliches oder albernes Verhalten des Pflegepersonals auf einigen Intensivstationen verblüfft oder schockiert. Dieses Verhalten muss als Abwehr einer gefühlsmäßig überwältigenden Situation gedeutet wer-den, das eine Verleugnung eigener Gefühle und innerer Betroffenheit zum Ziel hat.

Verschiebung und Projektion. Im übermäßigen Stre-ben nach fachlicher und technischer Kompetenz und den damit nicht selten verbundenen Kompetenzstrei-tigkeiten und Konkurrenzgefühlen verbirgt sich häufig

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ein Mechanismus der Angstabwehr beim Pflegepersonal, ebenso bei der Schaffung von Sündenböcken im Be-handlungsteam.

z Gesteigerte GruppenkontaktePflegende von Intensivstationen halten untereinander, auch außerhalb der Klinik, häufiger Kontakte als Ange-hörige der Normalpflegegruppe. Nach Ansicht einiger Psychologen bildet das Team hierbei für einige Mitglie-der eine Art Familienersatz mit starken Gruppenzwängen und gefühlsmäßiger Unterstützung für das einzelne Mit-glied. Viele Intensivbehandlungsteams sollen (unbewusst) nach Art einer Familie strukturiert sein, wobei der ärztli-che Leiter als »Vater« und die Stationsschwester als »Mut-ter« fungieren.

Die Auswirkungen des Gruppenzusammenhalts sind nicht nur positiv zu sehen: häufig findet sich eine gemein-same Unterdrückung und Abwehr von Trennungsängs-ten, Minderwertigkeits- und Versagens- sowie Schuldge-fühlen, die dazu führt, dass eigene Gefühle nicht mehr wahrgenommen und erlebt werden können.

z Burn-out-SyndromDie belastenden Arbeitsbedingungen auf der Intensivsta-tion können beim Personal zu schwerwiegenden klini-schen Symptomen, dem sog. Burn-out-Syndrom (»Aus-brennen«) führen, allerdings ist derzeit nicht bekannt, wie häufig solche Störungen sind.

Das Burn-out-Syndrom weist folgende Merkmale auf: 4 anfangs übersteigertes Engagement, freiwilliges Leis-

ten unbezahlter Mehrarbeit, Einschränkung sozialer Kontakte und Freizeitaktivitäten; dadurch chronische Müdigkeit und Erschöpfung,

4 dann vermindertes Engagement, desillusionierter Rückzug aus der Arbeit und verringertes privates Engagement,

4 Depressionen, Aggressionen und Schuldzuweisun-gen,

4 Abbau der kognitiven Leistungsfähigkeit, Abnahme der Motivation und Kreativität,

4 psychosomatische Beschwerdebilder, 4 Verzweiflung und Depression.

Derartige Symptome sollen ernst genommen und ggf. professionelle Hilfe aufgesucht werden.

z Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)Die posttraumatische Belastungsstörung ist als verzöger-te oder verlängerte Reaktion auf eine extreme Belastung definiert. Sie kann nicht nur als Folge selbst erlittener Traumen auftreten, sondern auch bei Berufsgruppen, die häufig Extremsituationen, Leid anderer Menschen oder deren Tod ausgesetzt sind. Die Störung manifestiert

sich als Symptom einer erhöhten psychischen Sensitivi-tät und Erregung, die vor der Belastung nicht vorhanden waren:

4 Ein- und Durchschlafstörungen mit sich aufdrängen-den Erinnerungen oder Alpträumen; wiederholtes Erleben des Traumas,

4 Reizbarkeit und Wutausbrüche, emotionaler und so-zialer Rückzug, Verlust der Lebensfreude,

4 Konzentrationsstörungen, 4 Überwachheit, 4 erhöhte Schreckhaftigkeit.

In der Regel treten diese Symptome innerhalb von sechs Monaten nach dem belastenden Ereignis oder einer Be-lastungsphase auf und halten mindestens einen Monat an. Sie können zu Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch und Suizidalität führen.

39.3.2 Ärzte

Die Ärzte sind im Wesentlichen den gleichen Belastungs-situationen ausgesetzt wie das Pflegepersonal, jedoch gibt es einige spezifische Faktoren, die eng an ihre Rolle ge-knüpft sind und teilweise auch mit ihrer medizinischen Ausbildung zusammenhängen.

Ärzte werden traditionell so ausgebildet, dass sich ihr Denken auf die körperliche Seite einer Erkrankung zentriert; psychische Faktoren werden sehr häufig distanzierend bei-seitegeschoben. Ebenso haben viele Ärzte nicht gelernt, mit eigenen Gefühlen und seelischen Konflikten und denen von Patienten, Pflegepersonen und Angehörigen angemessen umzugehen. Insbesondere sind die meisten Ärzte nicht in der Lage, die Rollenerwartung des Pflegepersonals als Leit-figur (sog. »mütterlicher Vater«) des Behandlungsteams zu erfüllen. Hieraus ergeben sich sehr leicht Spannungen und Konflikte, die zu einer Belastung der Behandlungssituation führen und letztlich auf den Patienten rückwirken können.

z Umgang mit Sterben und TodWenig vorbereitet sind die Ärzte auch auf den Umgang mit dem sterbenden Patienten. Gewohnt, ihre anerzoge-ne Rolle als Lebensretter zu spielen und zu erleben, ver-zichten sie häufig darauf, dem Patienten ein menschen-würdiges Sterben zu ermöglichen und sind stattdessen eher geneigt, auch in völlig aussichtslosen Situationen das ganze Repertoire des intensivmedizinisch Machbaren ein-zusetzen, ja, sich ihm teilweise zu unterwerfen, weil sie ihre Rolle als Helfer beim Sterben des todkranken Patien-ten nicht akzeptieren können oder wollen und sich auch scheuen, eine klare persönliche Position zu beziehen, es vielmehr vorziehen, sich hinter formal-juristischen Argu-menten zu verstecken.

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39.3 · Das Behandlungsteam525 39

z Intensität der BelastungInsgesamt scheint die seelische Belastung von Ärzten auf In-tensivstationen geringer zu sein als die des Pflegepersonals, u. a. weil ihre Beziehungen sich auf viele Patienten erstre-cken, der Kontakt nicht so eng und anhaltend ist, sie sich leichter aus der Behandlungssituation zurückziehen kön-nen, ihre Anwesenheit auf der Intensivstation zumeist von eng begrenzter Dauer ist und ihnen vielfach die Möglichkeit gegeben ist, sich durch andere Aufgaben »abzureagieren«.

z Kritik des PflegepersonalsNach Meinung vieler Pflegender sind die meisten Ärzte nicht in der Lage, die emotionalen Belastungen des Pfle-gepersonals wahrzunehmen, weil es ihnen an Intuition und Einfühlungsvermögen mangele und sie gefühlsmä-ßig verkümmert seien. Auch seien viele Ärzte aufgrund ihrer traditionell verstandesbetonten Sicht nicht imstan-de, das seelische Befinden des Patienten wahrzunehmen, geschweige denn ausreichend einzuschätzen.

Mögen diese Vorwürfe vielleicht ein wenig übertrie-ben sein, den Kern der Sache treffen sie doch, besonders, wenn man die Konfliktbewältigungsstrategien von Ärzten analysiert.

Distanzierung. Ärzte auf Intensivstationen neigen dazu, ihre emotionale Beteiligung am Behandlungsgeschehen durch den Mechanismus der Distanzierung zu verdecken oder einzudämmen, um sich vor einer als bedrohlich empfundenen Gefühlsüberschwemmung zu schützen. Di-stanzierung manifestiert sich als betont vernünftige Sicht der Dinge, Herauskehrung der Kompetenz und geschäfts-mäßig-routinierter Umgang mit dem Patienten.

Weiterleitung von Aufgaben. Viele Ärzte neigen dazu, neben zahlreichen körperlichen (auch eigentlich ärztli-chen) Maßnahmen gerade die gefühlsmäßige Versorgung (»Bemutterung«) der Patienten dem Pflegepersonal zu übertragen und sich ihrer Aufgabe zu entziehen, obwohl sie deren Bedeutung für das Wohl des Patienten meist durchaus anerkennen.

Projektion. Insbesondere jüngere und unerfahrene Ärz-te auf Intensivstationen fühlen sich unsicher und leiden unter Versagensängsten, die sie sich nicht eingestehen wollen. Ein häufig eingesetzter Abwehrmechanismus ist hierbei die Projektion, d. h. das Ausstatten von Personen der Außenwelt, hier des Pflegepersonals, mit Wünschen, Gefühlen und Eigenschaften, die man bei sich selbst nicht wahrnehmen will und zur Entlastung in andere Personen hineinprojiziert. Hieraus ergeben sich oft vielfältige Span-nungen und Konflikte im Behandlungsteam und die Zu-weisung von Schuld in unbewältigten Krisensituationen (»Auswählen eines Sündenbocks«).

39.3.3 Angehörige

Die Angehörigen des Patienten können eine Belastung oder aber eine Hilfe in der Behandlungssituation sein. Ins-gesamt überwiegt die positive Beurteilung der Angehöri-genbeziehung, sodass zumindest auf fortschrittlich einge-stellten Intensivstationen großzügige Besuchsregelungen gewährt werden.

Angehörige als BelastungGerade in der Anfangsphase der Intensivbehandlung kön-nen die Kontakte der Angehörigen für den Patienten und auch das Pflegepersonal eher belastend als hilfreich sein. Umgekehrt stellt natürlich die Erkrankung des Patienten und die Umwelt der Intensivstation für die meisten Ange-hörigen ebenfalls eine oft hochgradige Belastung dar, mit der sie zunächst einmal umzugehen lernen müssen. Hier-zu ist die Unterstützung des Pflegepersonals und der Ärzte in Form von Beruhigung, Aufklärung und Durchsprechen der Unsicherheiten und Ängste erforderlich. Gerade die-se unterstützende Funktion wird vom Behandlungsteam jedoch oft als besondere Belastung erlebt und nicht selten abgewehrt und hierdurch den Angehörigen das Gefühl vermittelt, unerwünscht zu sein oder gar zu stören.

Belastend sind die Angehörigenkontakte für den Pati-enten dann, wenn sie ihn verunsichern und ängstigen statt Sicherheit, Trost, Ermutigung und wohltuende Nähe her-vorzurufen. Ursachen für ungünstige Angehörigenkon-takte sind z. B. vorbestehende Konflikte und Spannungen zwischen Patient und Angehörigen, übermäßige Ängste der Angehörigen sowie Unsicherheit.

Angehörige als HilfeDie Einbeziehung der Angehörigen in das Behandlungs-konzept kann eine große Hilfe für den Patienten, aber auch für die Pflegepersonen und Ärzte sein. Im günstigen Fall erfährt der Patient Stützung und Ermutigung sowie eine Abschwächung seiner Trennungsängste, während das Be-handlungsteam durch Gespräche mit den Angehörigen In-formationen über die Persönlichkeit des Patienten erlangt, die in das Behandlungskonzept integriert werden können.

Da die individuelle Reaktion des Patienten auf An-gehörigenkontakte nicht pauschal eingeschätzt werden kann, ist jeweils eine am Patienten orientierte Entschei-dung über Art, Umfang und Dauer der Kontakte erforder-lich. Eine für alle Patienten gleiche Regelung kann den in-dividuellen Erfordernissen nicht gerecht werden. Grund-sätzlich ist es wünschenswert, dass die Betreuung der Angehörigen und ihre Aufklärung über den klinischen Zustand des Patienten durch den Arzt erfolgt (möglichst immer durch denselben, um einander widersprechende Aussagen zu vermeiden). Dennoch werden die Pflegeper-sonen zwangsläufig am Krankenbett in die Problematik

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der Angehörigenkontakte einbezogen, weil sie entspre-chenden Fragen, Ängsten und Befürchtungen der Ange-hörigen nicht ausweichen können.

39.4 Umgang mit dem Intensivpatienten

Der korrekte Umgang mit dem Intensivpatienten kann in vier Grundregeln zusammengefasst werden:

z 1. Die Würde des Patienten erhalten und fördern 4 Respektvoller Umgang: sich selbst mit Namen vor-

stellen, eigene Funktion benennen, den erwachsenen Patienten mit seinem Familiennamen ansprechen, Jugendliche meist mit Vornamen,

4 Privatsphäre soweit wie möglich erhalten: eigenes Vorgehen ankündigen (durch Ansprechen und/oder Berühren); Körper weitgehend bedeckt halten, beson-ders den Intimbereich; wenn nötig Vorhänge oder spanische Wände einsetzen,

4 den Patienten immer über bevorstehende Maßnah-men informieren,

4 Gespräche über den Kopf des Patienten hinweg ver-meiden, besonders bei Visiten.

z 2. Gefühle der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins vermeiden

4 Wünsche und Bedürfnisse des Patienten erfassen und soweit wie möglich erfüllen,

4 Autonomiebestreben des Patienten unterstützen: Selbstständigkeit durch Beteiligung an Maßnahmen der Pflege und Therapie fördern, Eigenkontrolle fördern, kleine Erfolge und Fortschritte durch Lob verstärken, den Patienten mit in die Tagesplanung einbeziehen.

z 3. Schädliche Umgebungseinflüsse minimieren 4 Unnötige und belästigende Geräusche vermeiden,

Alarme leiser stellen, ausgelöste Alarme umgehend abschalten (Aktivierung nicht vergessen),

4 Beeinträchtigung durch Geräte, Schläuche usw. so-weit wie möglich vermeiden,

4 für möglichst ungestörten Schlaf sorgen (Tag-Nacht-Rhythmus erhalten).

z 4. Emotionale Belastungen (»Stress«) so gering wie möglich halten

4 Sich selbst mit Namen und Funktion vorstellen, ausdrücklich die persönliche Zuständigkeit betonen; verlässlich sein und gegebene Versprechen einhalten; bewusstseinseingeschränkte Patienten mit einfachen und verständlichen Worten ansprechen, keine langen Sätze, keine weitschweifigen Erklärungen, wenn nötig

geduldig wiederholen; hierbei immer Blick- und Kör-perkontakt halten,

4 körperliche Berührungen großzügig einsetzen, hier-bei behutsam und einfühlend vorgehen, nicht grob und gefühllos; Körpergrenzen erfahren lassen (7 Kap. 41),

4 Angehörigenkontakte unterstützen und fördern; Angehörige bei der Kontaktaufnahme anleiten (Sitz-möglichkeiten anbieten, Bettgitter herunterlassen, Ansprechen und Berühren zulassen und fördern, beruhigende, stützende Gespräche mit den Angehöri-gen führen, ihre Sorgen und Befürchtungen anhören, Informationsbedürfnisse umfassend und geduldig erfüllen,

4 Gefühle des Patienten zulassen; sein Verhalten und seine Gefühlsausbrüche nicht moralisch bewerten; gezielt nach Schmerzen, Unwohlsein, Niedergeschla-genheit, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Depressio-nen und Angst fragen,

4 bei gestörter Kommunikation: Hilfsmittel anwenden; Rückmeldungen des Patienten zulassen,

4 Verlegungen von der Station rechtzeitig ankündigen und positiv, d. h. als Zeichen der Besserung bewerten; dabei eigenes Vertrauen in die neue Station signali-sieren (z. B.: »Sie sind dort sehr gut aufgehoben!« oder »Sie werden dort ebenfalls sehr gut betreut!«). Ange-hörige ebenfalls rechtzeitig über die Verlegung und deren Gründe informieren.

39.4.1 Prophylaxe psychischer Störungen

Die Intensivbehandlung selbst ist, entgegen einer weit verbreiteten Ansicht, kein Risikofaktor für psychische Störungen. Sie kann vielmehr  – bei entsprechender Or-ganisation und konzeptueller Gestaltung – dem durch die Krankheit stark verunsicherten oder sich bedroht fühlen-den Patienten Halt und Sicherheit geben. Ursache psy-chischer Störungen beim Intensivpatienten sind unspe-zifische und spezifische Einflüsse durch die Erkrankung, weiterhin die Aktivierung früherer traumatischer Erfah-rungen. Durch prophylaktische Maßnahmen kann die Häufigkeit psychischer Störungen des Intensivpatienten vermindert werden.

> Grundlage der Prophylaxe psychischer Störungen beim schwer kranken Intensiv-patienten ist der Aufbau einer umfassend unter-stützenden Beziehung, verbunden mit einer sorgfältigen Information über geplante Eingriffe, Funktion von Geräten, geplante Verlegung auf die Intensivstation, aber auch Rückverlegung auf die Normalstation.

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39.4 · Umgang mit dem Intensivpatienten527 39

Im Einzelnen sollte sich die Prophylaxe psychischer Stö-rungen auf folgende Prinzipien stützen:

4 Angebot einer kontinuierlichen, Halt und Sicherheit vermittelnden Beziehung, die auch nicht durch krank-heitsbedingte negative Affekte des Patienten beein-trächtigt werden darf.

4 Stützung der Ich-Funktionen des Patienten: geziel-te Orientierungshilfen bei Bewusstseinsgetrübten, Erfüllung der Informationswünsche des Patienten; Korrektur unzutreffender Vorstellungen und The-orien des Patienten über die Erkrankung und ihre Behandlung, Berücksichtigung patientenspezifischer Bewältigungs- und Anpassungsstrategien und deren Anerkennung als psychische Leistungen.

4 Unterstützung des Selbstgefühls: Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse nach Unabhängigkeit (Autonomie), Kompetenz und Verbundenheit. Hier-für sollte der Patient so viel Restautonomie wie mög-lich erleben, z. B. durch Mitwirkung bei therapeuti-schen und pflegerischen Maßnahmen. Die verbleiben-de Kompetenz sollte anerkannt und bestärkt werden.

4 Unterstützung der Selbstbewertung: Oft wird eine gro-ße Kluft zwischen dem akuten Zustand des Selbstge-fühls und dem ursprünglichen Ideal-Selbst erlebt, die zu depressiven Episoden führen kann. Hilfreich sind in diesen Fällen angemessene Informationen über die weitere Entwicklung sowie die Korrektur falscher Vorstellungen und Befürchtungen.

39.4.2 Umgang mit dem sterbenden Intensivpatienten

» Schlussstück Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns. « (Rainer Maria Rilke)

Die Bundesärztekammer hat Grundsätze zur Sterbebe-gleitung herausgegeben, die kurz zusammengefasst lauten:

Sterbenden, d. h. Kranken oder Verletzten mit irrever-siblem Versagen einer oder mehrerer vitaler Funktionen, deren Tod innerhalb kurzer Zeit zu erwarten ist, muss so geholfen werden, dass sie in Würde sterben können. Hier-zu gehört eine Basisbetreuung, bestehend aus folgenden Maßnahmen:

4 menschenwürdige Unterbringung, 4 Zuwendung, 4 Körperpflege,

4 Linderung von Schmerzen, Atemnot und Übelkeit, 4 Stillen von Hunger und Durst.

Art und Ausmaß der Behandlung sind vom Arzt zu verant-worten. Er muss dabei den Willen des Patienten beachten; auch sollte er bei seiner Entscheidungsfindung Konsens mit den ärztlichen und pflegenden Mitarbeitern suchen.

Lebensverlängernde Maßnahmen dürfen, in Über-einstimmung mit dem Willen des Patienten, unterlassen oder nicht weitergeführt werden, wenn diese nur den To-deseintritt verzögern und die Krankheit in ihrem Verlauf nicht mehr aufgehalten werden kann. Eine unvermeidba-re Lebensverkürzung des Sterbenden kann hingenommen werden, wenn die Linderung des Leidens im Vordergrund stehen muss.

Die Unterrichtung des Sterbenden über seinen Zu-stand und mögliche Maßnahmen muss wahrheitsgemäß sein. Sie soll sich aber an der Situation des Sterbenden ori-entieren und vorhandene Ängste berücksichtigen.

Auswirkungen auf das PflegepersonalDurch die intensive Pflege und Betreuung, v. a. wenn sie über einen längeren Zeitraum erfolgte, entwickelt sich oft eine emotionale Beziehung zum Patienten, die das Ab-schiednehmen erheblich erschwert. Das Erleben des To-des kann bei den Helfern starke Gefühle der Ohnmacht und des Versagens auslösen. Nicht selten werden auch eigene Ängste vor dem Sterben aktiviert. Andere Helfer schützen sich vor ihren eigenen Gefühlen, indem sie eine große Distanz zwischen sich und dem Patienten aufbauen, ihn nicht in seiner Gesamtheit wahrnehmen, sondern nur auf die Symptome oder auf den Ablauf achten. Für einen reifen Umgang mit dem Sterbenden ist ein schwieriges Gleichgewicht zwischen Distanz und Identifikation erfor-derlich: Betroffenheit und Trauer sollten zugelassen wer-den, aber nicht zu eigenem Leiden oder gar dazu führen, dass die beruflichen Aufgaben nicht mehr professionell ausgeübt werden können. Hilfreich sind hierbei Gesprä-che mit eigenen Angehörigen, aber auch mit Kollegen, z. B. in einer Balint- oder Supervisionsgruppe.

Grundregeln für den Umgang mit dem Sterben 4 Eigene Gefühle zulassen und akzeptieren;

sich über die eigenen Abwehrmechanismen Klarheit verschaffen (z. B. Abblocken bei Fragen des Patienten, nicht aktiv zuhören, das Thema Krankheit und Tod vermeiden usw.)

4 Gefühle des Patienten respektieren und auf sie eingehen, nicht moralisch werten oder verurteilen, stattdessen Wertschätzung vermitteln

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4 Sich der Trauer des Patienten nicht verschließen; seinem Wunsch nachkommen, wenn er über das Sterben und den Tod reden will, ihm dabei Halt geben und in seinen Gefühlen beistehen; kein vorschnelles Trösten beim Weinen des Patienten (Tränen zulassen!)

4 Angehörigen die Sterbebegleitung am Krankenbett ermöglichen

4 Das Sterben des Patienten aushalten und selbst von ihm Abschied nehmen

4 Die Teamarbeit verbessern

Umgang mit den Angehörigen gestorbener IntensivpatientenSterben und Tod gehören zu den großen Tabus unserer Gesellschaft, dabei können wir dem Tod nicht entrinnen, sind vielmehr mitten im Leben von ihm umfangen. Schon der Gedanke an den Tod ist unangenehm und löst Angst aus. Über Tod und Sterben spricht man nicht, Tod be-trifft die anderen, nicht mich. Der Umgang mit dem Tod ist durch Verleugnung und Verdrängung gekennzeichnet; der Tod passt nicht in unsere Gesellschaft, er ist etwas Stö-rendes und gehört abgeschafft. Wir lernen nicht, wie man trauert, die Trauer annimmt und durchlebt, und erhalten meist nur eine kurze Frist, unseren Schmerz und unseren Zorn über den Verlust auszusprechen. Diese Verleugnung des Todes ist allgemein verbreitet und findet sich auch bei den Personen wieder, die am häufigsten damit konfron-tiert werden: den Ärzten und Pflegenden auf der Inten-sivstation. Nicht einmal die Techniken der Gesprächs-führung, die Übermittlung der Todesnachricht und der Umgang mit Trauernden werden in dieser Berufsgruppe ausreichend gelehrt und vermittelt. Dabei ist es für den angemessenen Umgang mit den Hinterbliebenen des In-tensivpatienten erforderlich, den psychischen Hinter-grund und den Verlauf der Trauer zu kennen und sein Verhalten danach auszurichten.

Der Tod eines geliebten Menschen löst bei den Ange-hörigen Trauer aus. Trauer ist eine normale, in allen Kul-turen vorkommende Reaktion auf den Verlust. Trauer ist keine einmalige, kurze Reaktion auf den Tod, sondern ein Prozess, der meist in Phasen verläuft, die durch typische affektive, kognitive, verhaltensbezogene und körperliche Reaktionen gekennzeichnet sind:

4 Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens: Schock und Verleugnung,

4 Phase der Traurigkeit und Verzweiflung, 4 Phase der langsamen Neuorientierung oder Auflö-

sung, 4 neues inneres Gleichgewicht.

Klinisch sind diese Phasen nicht scharf voneinander ab-gegrenzt, sondern überschneiden sich. Pflegende erleben die Angehörigen meist in der Phase des Nicht-wahrha-ben-Wollens.

z Schock und VerleugnungDie Nachricht des Todes, v. a. wenn er plötzlich und uner-wartet eintrat, führt bei den Angehörigen zu Schock und Erstarrung oder einem heftigen Gefühlsausbruch. Diese erste Phase dauert Stunden bis Tage, mitunter auch Mo-nate und ist gekennzeichnet durch Verleugnung (Nicht-Wahrhaben-Wollen, Gefühle der Betäubung, der Unwirk-lichkeit des Ereignisses, der Desorganisation und der Hilf-losigkeit). Heftige Emotionen wie Angst und Wut, Weinen oder rastlos suchende Aktivität mit dem Ziel, den verlore-nen Angehörigen zurückzugewinnen, treten auf. Typisch sind weiterhin Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Unruhe, Engegefühl im Hals, Seufzeratmung.

Die Phase des Schocks und der Verleugnung beginnt unmittelbar nach Erhalt der Todesnachricht und dauert mehrere Tage, mitunter auch mehrere Monate.

z Traurigkeit und VerzweiflungInnerhalb von etwa zwei Wochen nach dem Tod des An-gehörigen wird die Endgültigkeit des Verlustes allmählich erkannt und es kommt zum Durchbruch von Gefühlen der tiefen Verzweiflung, Angst, Hilflosigkeit, Einsamkeit, Schuld, aber auch Wut auf sich und den Toten. Weinen tritt in Wellen auf, die Welt erscheint leer, das Interesse an alltäglichen Dingen ist erheblich eingeschränkt oder nicht mehr vorhanden. Nicht selten wird der Tote als anwe-send erlebt und mit ihm ein phantasiertes Zwiegespräch geführt. Körperliche Begleiterscheinungen können sein: Unruhe, Appetitlosigkeit oder Essanfälle, Verstopfung oder Durchfälle, Schlaflosigkeit, Gedächtnisstörungen, Konzentrationsstörungen. Die Phase kann 1–2  Jahre an-halten, manchmal auch länger, bis der Betroffene den Ver-lust akzeptieren kann.

Umgang mit den Angehörigen in der SchockphaseBeim erwarteten Tod nach längerer Krankheit können sich die Helfer und auch die Angehörigen auf die Situati-on vorbereiten. Anders hingegen beim plötzlichen, unvor-hersehbaren Tod, z. B. durch Unfälle, Herzinfarkt, Suizid, Komplikationen im Behandlungsverlauf usw. Hier bleibt dem Personal oft keine Zeit, eigene Gefühle, insbesondere des Versagens, zu verarbeiten; vielmehr müssen die Ange-hörigen akut auf den nahenden oder bereits eingetretenen Tod vorbereitet werden.

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529 39Nachschlagen und Weiterlesen

zz Praktische Grundregeln 4 Der die Todesnachricht Übermittelnde – auf der In-

tensivstation in der Regel der Arzt – sollte sich mutig und entschlossen auf die Gesprächssituation vorbe-reiten.

4 Die Aufklärung der Angehörigen über den Tod sollte ungestört in einem speziellen Raum, z. B. dem Arzt-zimmer, erfolgen. Hier sollten die Angehörigen un-gehindert und ohne Störung von außen ihre Gefühle der Trauer, Verzweiflung und Wut äußern dürfen. Bei der Sitzordnung sollte darauf geachtet werden, die Stühle zur psychologischen Rückendeckung an der Wand zu positionieren. Zwischen den Angehörigen und dem Aufklärenden sollte sich kein unnötige Di-stanz schaffender Schreibtisch befinden. Ein direktes Gegenübersitzen sollte ebenfalls vermieden werden, damit die Angehörigen – je nach Wunsch – vor sich hinblicken oder Augenkontakt mit dem Aufklären-den suchen können. Eine seitliche Sitzposition bietet sich hierfür an.

4 Die Übermittlung der Todesnachricht sollte ohne lange und umständliche Erklärungen erfolgen, da die Angehörigen den Toten meist umgehend sehen wol-len und sich ohnehin im Zustand äußerster innerer Anspannung und emotionalen Aufruhrs befinden. Auch sollte der Aufklärende die erforderliche Ruhe ausstrahlen und sich nicht von der Aufgeregtheit der Angehörigen anstecken lassen. Empathie ausstrah-len, nicht distanzierte Geschäftigkeit. Keine Floskeln verwenden wie »Kopf hoch, wird schon wieder« oder »Zeit heilt alle Wunden«.

4 Bei der Begrüßung der Angehörigen sollte sich der Aufklärende mit Namen und Funktion vorstellen und sich außerdem vergewissern, dass er mit den richtigen Angehörigen spricht. Nach der Begrüßung sollten Stühle angeboten und die Übermittlung der Todesnachricht an die sitzenden Angehörigen erfol-gen.

4 Auf dem Weg zum Verstorbenen sollten die Angehö-rigen, wenn erforderlich, auf dessen Anblick vorbe-reitet werden. Hierdurch können Erschrecken und Entsetzen im günstigen Fall gemildert werden.

4 Befindet sich der Patient im Zustand des Sterbens bzw. ist seine Prognose aussichtslos, dürfen bei den Angehörigen keine falschen Hoffnungen mehr ge-weckt werden; vielmehr muss unmissverständlich klargestellt werden, dass keine Hoffnung mehr be-steht und mit dem baldigen Tod zu rechnen ist. Diese Botschaft sollte so früh wie möglich erfolgen, damit der Angehörige sich besser auf den herannahenden Verlust einstellen und so der Schock etwas gemindert werden kann.

4 Nach Übermittlung der Todesnachricht und dem Hinweis, dass alles medizinisch nur Mögliche getan worden sei, um den Tod abzuwenden, sollten die Angehörigen Gelegenheit haben, sich von dem To-ten zu verabschieden. Sie müssen sich selbst davon überzeugen können, dass es sich wirklich um ihren Angehörigen handelt. Wird den Angehörigen dieser letzte Anblick verweigert, bleibt häufig das Gefühl der unglaublichen Leere und Unwirklichkeit zurück. Bei schwerst entstellten Patienten sollte die Konfrontati-on aber nicht erzwungen werden.

4 Eine Reaktionslosigkeit mancher Angehöriger auf die Todesnachricht darf nicht falsch interpretiert werden. Oft handelt es sich um einen Rückzug oder Trancezu-stand, der zum eigenen Schutz aufgebaut und meist innerhalb der nächsten Stunden aufgelöst wird.

4 Schuldgefühle gegenüber dem Verstorbenen bis hin zu dem Gedanken, an seinem Tod schuld zu sein, gehören zu den häufigsten Trauerreaktionen. Diese zumeist irrationalen Gefühle müssen ernst genom-men werden, lassen sich aber in der Akutsituation meist nur sehr schwer auflösen.

4 Bei einigen Angehörigen muss in der Akutsituati-on mit heftigen körperlichen Reaktionen gerechnet werden, z. B. Zittern, heftiges Atmen, Schluchzen, Schreien oder Toben, aber auch Erstarrung. Auch diese Reaktionen sind normal und sollten den Arzt nicht zur Verabreichung von Beruhigungsmitteln veranlassen.

Nachschlagen und Weiterlesen

Bucka-Lassen E (2005) Das schwere Gespräch. Deutscher Ärzte, KölnHontschik B (2006) Körper, Seele, Mensch. Versuch über die Kunst des

Heilens. Suhrkamp, FrankfurtKöllner V, Broda M (2005) Praktische Verhaltensmedizin. Thieme,

Stuttgart Ratheiser K (2006) Dauerfeuer. Das verborgene Drama im Kranken-

hausalltag. Suhrkamp, Frankfurtde Ridder M (2011) Wie wollen wir sterben? Pantheon, MünchenSchmidbauer W (2002) Helfersyndrom und Burn-out-Gefahr. Elsevier,

Münchenvon Uexküll T (2010) Psychosomatische Medizin. 7. Aufl. Elsevier,

München

z InternetBundesärztkammer. Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztli-

chen Sterbebegleitung. www.bundes-aerztekammer.deDIVI Medizinische Versorgung Sterbender und von Patienten mit

infauster Prognose auf Intensivstationen. www.divi-org.de


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