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DIE JAKOBSLEITER

ENTSTEHUNGSZEIT: 1915 – 26. Mai 1917 (Libretto), Juni 1917 – 19. September 1917(Particell, Takte 1–601), 1917–1922 ERSTAUFFÜHRUNG: 12. Januar 1958, Hamburg (Norddeutscher Rundfunk, Dir. HansRosbaud, 160 Takte); 16. Juni 1961, Wien, Konzerthaus (Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester, Dir. Rafael Kubelik); 14. August 1968, Santa Fe, New Mexico (szenischeErstaufführung)QUELLEN: ASC, T07.01, T07.12, T08.01, T13.03, T26.15, T52.09 (Text); MS 74,Sk789–792, 795–796, 799–800; MS 74, Sk801–808; MS 78, 341–437, 440–447,450–452; MS 61, Archivnr. 3074–3120 (Particell) ERSTDRUCK: Belmont Music Publishers, Los Angeles 1974GESAMTAUSGABE: Arnold Schönberg, Sämtliche Werke, Abteilung VIII: Supplemente, ReiheA, Bd. 29, hrsg. v. Rudolf Stephan, Mainz–Wien 1985 (in Partitur gesetzt vonWinfried Zillig)Das Oratorium Die Jakobsleiter war bis zu Schönbergs Tod unvollendetgeblieben, doch auf Wunsch der Witwe erstellte Winfried Zillig in derFolge eine Aufführungsversion. Diese besteht aus der Orchestrierung von700 Takten, die Schönberg zwischen 1917 und 1922 komponiert hatte,erstellt auf der Basis von Schönbergs eigenem Particell, welches genaueAnmerkungen zur Instrumentierung enthielt. Das Werk, welches fürOrchester, acht Solisten, einen zwölfköpfigen, gemischten Chor sowie vierNebenensembles geschrieben wurde und über 45 Minuten dauert, istsogar als Fragment eines von Schönbergs wesentlichsten Werken. DasLibretto, welches der Komponist zwischen 18. Januar 1915 und 26. Mai1917 schrieb, wurde 1917 separat veröffentlicht. Es gliedert sich in zweiTeile, die – wie Schönberg es nannte – durch ein ›Großes symphoni-sches Zwischenspiel‹ getrennt sind. Die veröffentlichte Version des Werkesumfaßt den gesamten Teil I sowie zumindest einen Teil des orchestralenZwischenspiels, welches trotz seiner Unvollständigkeit einen erstaunlichwirkungsvollen Schluß aufweist. Selbst als Fragment stellt das Werk gewißeinen Wendepunkt in Schönbergs Schaffen dar. Technisch betrachtet stehtes am Scheitelpunkt der Zwölftonmusik ohne sich dieser Technik auchnur zu bedienen. Es zeigt, wie in dieser Periode unmittelbar vor derFormalisierung der Zwölftonmethode Schönberg – indem er grenzenloseErfindungsgabe und streng ökonomisches musikalisches Denken aufbesondere Weise kombinierte – ›unsystematisch‹ ein Werk schaffen konn-te, das trotzdem eine scheinbar systematische Einheit seiner Bestandteileüber 700 Takte hinweg aufweist.Der Titel basiert auf der Beschreibung eines Traumes im Buch Genesis(28: 10–17), in welchem Jakob eine große Zahl von Engeln sieht, dieeine Treppe vom Himmel zur Erde hinab- und hinaufsteigen. DieseVision spirituellen Fortschritts ist ein Kernpunkt in SchönbergsVorstellung und eine Darstellung jenes Vorgangs, durch die die Seele zu

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Gott gelangt, indem sie eine Reihe höherer Ebenen erklimmt. SchönbergsText ist jedoch nicht biblisch, sondern zeigt seine Absicht, ein modernesOratorium zu schaffen, ein Oratorium, welches mit den Zweifeln undwidersprüchlichen Glaubensansichten beginnt, die das moderne Zeitalterkennzeichneten. Eine frühe Quelle für diese Idee war Strindbergs halb-autobiographisches Werk Jakob ringt, dessen Betonung des Ringens mitGott und den Engeln zur Erlangung des Glaubens (wie Jakob in Genesis32: 22–32) sich häufig in Schönbergs Text wiederholt. Tatsächlich ist ›DerRingende‹ eine der Hauptfiguren von Teil I des Oratoriums.So beginnt das Werk mit dem Fehlen des Glaubens, mit dem EngelGabriel (in den frühesten Skizzen ›Der Antreiber‹ genannt), der den Chorweiter drängt, hin zu seinem weit entfernten Ziel: »man hat weiterzu-gehen, ohne zu fragen, was vor oder hinter einem liegt.«1 SchönbergsVorstellung war ungemein weit und die Leiden, die im folgendenChorabschnitt geschildert werden, sind jene der Menschheit im allge-meinen, das Streben nach spirituellen Antworten in einer Welt ohneGlauben. Wozu, fragen sie, erdulden wir diesen endlosen Kreislauf vonSchmerz, Sehnsucht und illusorischer Erfüllung? Gabriels Übergehen ihrerFragen wird gefolgt von einer Teilung des Chors in widersprüchlicheGruppen: Unzufriedene, Zweifelnde, Jubelnde, Gleichgültige und Sanft-ergebene. Der Chorabschnitt klingt in kraftloser Resignation aus: ›und sonimmt man’s auf sich, wie’s kommt‹ und in einer Art choralähnlichenHymne bürgerlicher Selbstzufriedenheit: »O wie schön lebt sich’s dochim Dreck.«2Gabriel wendet sich an Einzelpersonen, die glauben, den Himmlischenaufgrund ihrer Taten nahe gekommen zu sein. Der Erste, ›Ein Berufener‹,erzählt von einem Leben, das der Suche nach Schönheit gewidmet war,aber Gabriel sagt ihm, daß er nichts gesehen hat, weil er zu selb-stzufrieden war, um die Sehnsucht nach Höherem zu fühlen. Der Zweite,›Ein Aufrührerischer‹, stellt Impulsivität über das Gesetz. Ihm wird erk-lärt, daß dieses ständige Entweder – Oder bloß ein Hindernis für weit-eres Verstehen sei. Der Dritte, ›Ein Ringender‹, strebte nach Glück und,als ihm dies versagt blieb, nach Schmerzfreiheit. Darauf erwidert Gabriel,daß Leiden nicht unterdrückt werden darf, weil es ein Mittel zur spir-ituellen Entwicklung darstellt. ›Der Ringende‹ fährt fort zu beklagen, daßer immer versucht hat, die Gebote zu befolgen, daß er aber die ver-wirrenden Situationen des Lebens nicht bewältigen kann ohne einengewissen inneren Instinkt für unausgesprochene Gesetze, ohne Führungdurch das ›Wort‹.

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1 Die Jakobsleiter, Takte 13–16.2 Ebenda, Takte 158–161.