SoSe 0724.04.2007
Entwicklungsdiagnostik in der Sonderpädagogik
Entwicklungsdiagnostik in der Sonderpädagogik
• Zum Stand der Entwicklungsdiagnostik• Voraussetzungen von Entwicklungsdiagnostik• Beispiel: Intelligenz und kognitive Entwicklung
Zum Stand der Entwicklungsdiagnostik im
Vorschulalter
Anliegen an die Entwicklungsdiagnostik
Frage nach dem Entwicklungsstand Was ist?
Genese von Entwicklungsproblemen Wie ist es geworden?
Prognose Was wird?
Festlegung von Entwicklungszielen Was sollte werden?
Methoden und Mittel zur Zielerreichung
(Montada, 1985)
Historischer Überblick
Die ersten Entwicklungstests basierten auf endogenistischen Theorien
zunehmendes Lebensalter => Entwicklungsfortschritte Kindheit und Jugendalter als bevorzugte Zeiträume
Beispiele: Stufenleiter der Intelligenz von Binet & Simon (1905)
Bühler-Hetzer-Kleinkindertest (Bühler & Hetzer, 1932)
60er und 70er Jahre: Blütezeit der Testentwicklung im Zuge des Förderoptimismus (Head-Start-Programme)
Historischer Überblick
Interaktionistische / kontextualistische Entwicklungstheorien
Bedeutung der Umwelt Entwicklung als lebenslanger Prozess Forderung nach einer entwicklungstheoretischen Fundierung
der Testinstrumente
seit 1990: Stagnation in der Entwicklungsdiagnostik
enttäuschte Erwartungen an die Effekte kompensatorischer Vorschulerziehung
Schwierigkeit und Komplexität der Konstruktion solcher Verfahren
Praxis der Entwicklungsdiagnostik heute
Anspruch: Testverfahren für das Vorschulalter sollten theoretisch fundiert sein, ökonomisch sein und den Qualitätsstandards psychologischer Testdiagnostik
entsprechen.
Realität: Testanwender monieren... schlechte Standardisierung veraltete Normen „neue Tests“ werden aus Aufgaben anderer Tests gebildet Fehlen von geeigneten Verfahren für die Frühdiagnostik
Praxis der Entwicklungsdiagnostik heute
Ökonomische Engpässe Kostendruck Einsparung von Fachkräften Entwicklungsdiagnostik im „Schnellverfahren“ Screenings = vollwertige Leistungsdiagnostik ??
Aber: Komplexe Entwicklungsstörungen erfordern
vielschichtige Diagnostik gezielter Einsatz therapeutischer Ressourcen
Tests führen zu Wahrscheinlichkeitsaussagen, nicht zu Gewissheiten!!
Verbesserung psychologischer Diagnostik = Verbesserung der metrischen Qualitäten (Gütekriterien) von Testverfahren
Krause (2001)
Auszug aus dem Angebot an Entwicklungstests...
Allgemeine Entwicklungstests
Altersgruppe < 3 Jahre Bayley Scales of Infant Development (Bayley, 1969, 1993)
Altersgruppe 3 - 6 Jahre Bühler-Hetzer-Kleinkindertest
seit 1932 unverändertes Material schwerwiegende teststatistische Mängel
Denver-Skalen (Frankenburg & Dodds, 1967) McCarthy Scales of Childrens Abilities (McCarthy, 1972)
eher spezielles Verfahren: kognitive und motorische Entwicklung kein entwicklungstheoretisches Konzept
Wiener Entwicklungstest (Kastner-Koller & Deimann, 1998)
Auszug aus dem Angebot an Entwicklungstests...
Tests zur kognitiven Entwicklung
Altersgruppe 3 - 12 Jahre
Kaufman-Assessment-Battery for Children (Melchers & Preuß, 1994) basiert auf neueren kognitionspsychologischen Annahmen Entspricht den klassischen Gütekriterien Normierungsangaben beruhen z.T. auf veralteten Daten...
Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder-III (Tewes et al., 2000) wenig ökonomisch und nicht einfach in der Durchführung geeignet für erste Eindrucksbildung + strenge diagnostische Absicherung
Auszug aus dem Angebot an Entwicklungstests...
Verfahren zur Erfassung der Sprache
Altersgruppe < 3 Jahre Sprachentwicklungstest für zweijährige Kinder (Grimm, 2000)
Altersgruppe 3 - 6 Jahre Sprachentwicklungstest für drei- bis fünfjährige Kinder
(Grimm, 2001) Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese-
Rechtschreibschwierigkeiten
Altersgruppe > 6 Jahre Heidelberger Sprachentwicklungstest (Grimm & Schöler, 1975, 1991)
Auszug aus dem Angebot an Entwicklungstests...
Verfahren zur Erfassung des Verhaltens und der sozial-emotionalen Entwicklung
Altersgruppe < 6 Jahre Child Behavior Checklist für 1 ½ bis 5jährige (CBCL 1 ½-
5 Jahre)
Altersgruppe ab 4 Jahre Child Behavior Checklist für 4 bis 18jährige (CBCL 4-18
Jahre)
Voraussetzungen der Entwicklungsdiagnostik
Theoretische Grundlagen: Der Entwicklungsbegriff
enger Entwicklungsbegriff: biologische Entwicklungsmodelle Entwicklung ist
sequentiell, irreversibel, unidirektional, universell, qualitativ-strukturell
weiter Entwicklungsbegriff: Entwicklungspsychologie der Lebensspanne
Entwicklung ist nicht linear mit universalen Sequenzen, Veränderungen verlaufen multidimensional
(„Veränderungsmuster“), ungerichtet oder „multidirektional“, nicht einfaktoriell erklärbar, sondern multikausal.
Theoretische Grundlagen
Zentrale theoretische Fragen an ein Testverfahren:
Auf welchem Niveau sind die diagnostischen Merkmale angesiedelt? direkt beobachtbares Verhalten vs. Konstrukte
Wie wird der Bezug zwischen Merkmalen und Testaufgaben theoretisch begründet? Inhaltsvalidität vs. konvergente und diskriminante Validität (=>
empirisch)
Welches sind die zugrundeliegenden Annahmen im Hinblick auf die Transformation von Entwicklungskonstrukten über die Zeit? Stabilität vs. Variabilität / Kontinuität vs. Diskontinuität Beispiel: Intelligenz
Beispiel: Zwei-Komponenten-Modell der Intelligenz
Fluide Intelligenz (Mechanik) „Hardware“ des Gehirns
grundlegende biologische Lernkapazitäten des Individuums ~ neuronale Vernetzungen des kognitiven Systems,
Basisprozesse der Intelligenz, Operationalisierung: kulturfreie Aufgaben (räumlich-figürliches
Material).
Kristalline Intelligenz (Pragmatik) „Software“ des Gehirns
kulturelle Dimension der intellektuellen Entwicklung, Inhaltliche Ausgestaltung des Denkens und Wissens durch den
Enkulturationsprozess, Operationalisierung: Sprachliche Aufgaben, berufliches Wissen,
bereichsspezifisches Wissen.
Beispiel: Zwei-Komponenten-Modell der Intelligenz
Beispiel: Differenzierung/De-Differenzierung
Differenzierungshypothese der Intelligenz
Das Ausmaß der Kovariation zwischen verschiedenen Fähigkeiten (= die relative Stärke des g-Faktors) nimmt mit zunehmendem Leistungsniveau ab.
Der Generalfaktor der Intelligenz verliert im Laufe der Kindheit an Gewicht, Reifung und Ausdifferenzierung des Gehirns Erwerb spezifischer Wissensbestände (individuelle Stärken-Schwächen-
Profile)
bleibt vom Jugendalter bis ins späte Erwachsenenalter konstant auf mittlerem Niveau,
nimmt im hohen Alter erneut zu ( Dedifferenzierung/Neointegration) zunehmend ineffizientere Informationsverarbeitung durch biologische
Beschränkungen der Ressourcen.
Beispiel: Differenzierung/De-Differenzierung
g-Faktor g-Faktor
Kindheit höheres LA
Differenzierung De-Differenzierung
Theoretische Grundlagen
Problem allgemeiner Entwicklungstests: Es gibt keine allgemeingültige Theorie der allgemeinen
Entwicklung.
Lösung: Inhaltliche Präzisierung durch die Auswahl spezifischer
Merkmalsbereiche (Subtests) und deren Erfassung mittels spezifischer Testaufgaben.
Aber: Es gibt auch keine allgemein akzeptierte, umfassende Theorie der
Sprachentwicklung, der motorischen Entwicklung, der kognitiven Entwicklung etc. ...
Fazit
„Die theoretische Fundierung vieler entwicklungs-diagnostischer Verfahren ist äußerst unzureichend.“
Insbesondere im Hinblick aufa) den zugrundegelegten Entwicklungsbegriffb) den angenommenen Entwicklungsverlauf der erfassten Merkmale.
Filipp & Doenges, 1983
Normative Grundlagen: Der Normalitätsbegriff
„normal“ = altersadäquat verfrühte/verspätete Verhaltensformen gelten als
abweichend aber: Es gibt beträchtliche Varianzen zwischen und innerhalb
der Altersgruppen!!
Annahme eines komplexeren Wirkgefüges: Standardisierungsstichproben müssen sehr groß gewählt
werden Entwicklungsnormen für einzelne Standardisierungs-
gruppen, die sich in entwicklungsrelevanten Umweltmerkmalen in entwicklungsrelevanten Eigenschaften unterscheiden.
Psychometrischer Ansatz Intelligenztests
Selektion, Diagnose, Evaluation
Gesamttestwert und verschiedene Subtestwerte (M = 100, SD = 15)
95% der Population erreicht einen Testwert zwischen 70 und 130 (+/- 2 SD) Rund 50% der deutschen Bevölkerung hat einen
IQ von 100.
Hochbegabung
Normative Grundlagen Problem:
Altersnormen wurden aufgrund querschnittlicher Altersvergleiche gewonnen Altersdifferenzen = Entwicklungs- oder Kohortenunterschiede?
Forderung nach kohortenspezifischen Entwicklungsnormen aber: beträchtliche Variation der Entwicklungsbedingungen auch
innerhalb einer Kohorte Lösungen:
kriterienorientierte Diagnostik Definition des „Kriteriums“ durch eine zugrundeliegende
hypothetische Entwicklungssequenz aber: Wie gesichert sind die Beziehungen zwischen
diagnostiziertem Entwicklungsniveau und gewähltem Kriterium?
individuelle Bezugsnorm „Fortschritt“, „Retardierung“, „Stillstand“ als Merkmale des
individuellen Entwicklungsprozesses
Normative Grundlagen
Ökologische Ausweitung der Entwicklungsdiagnostik Betrachtung und Bewertung der Entwicklungsumwelt
Aufhebung der Konfundierung von Merkmals- und Umweltstabilität z.B. Veränderungen im sprachlichen Leistungsniveau =>
Variationen im emotionalen Klima der Familie prognostischer Wert von Testergebnissen wird durch die
Berücksichtigung von Umweltparametern erhöht
Voraussetzungen: Kenntnis der entwicklungsrelevanten Umweltfaktoren Kenntnis der Veränderungen ihres Einflusses im Laufe der
Entwicklung
Fazit Dominanz der Altersnormierung von Entwicklungstests
geringer Aufwand an konzeptueller Vorarbeit entwicklungstheoretisch eher voraussetzungsfrei
eher weniger exakte und gesicherte individualdiagnostische Aussagen, als numerische Kennwerte suggerieren... Entwicklungsalter Entwicklungsquotient etc.
umweltdiagnostische Verfahren stehen eher beziehungslos zu entwicklungsdiagnostischen Fragen Forderung nach einer Explizierung des Entwicklungsbegriffs!!
Grundlagen der Testkonstruktion: Gütekriterien
Objektivität = Vergleichbarkeit als Voraussetzung für
Unterscheidbarkeit Untersuchungssituation Untersuchungsmaterial Aufgabenstellung Bewertung und Interpretation der erhobenen Daten
Wie kann festgestellt werden, ob ein Test diesem Gütekriterium genügt?
Durchführungsobjektivität Auswertungsobjektivität Interpretationsobjektivität (r >= .90)
Grundlagen der Testkonstruktion: Gütekriterien
Reliabilität = Zuverlässigkeit des ermittelten Testergebnisses
Wachheit des Kindes Motivation etc. wirken als Störvariablen
maximal so hoch wie die Objektivität...
Wie kann festgestellt werden, ob ein Test diesem Gütekriterium genügt? Test-Retest-Reliabilität r = .80-.90 o.k.
Paralleltest-Reliabilität r >= .90 hoch
Split-Half-Reliabilität
Innere Konsistenz (Cronbach´s Alpha)
Grundlagen der Testkonstruktion: Gütekriterien
Validität = Wie gut bewältigt der Test die Aufgabe, für die er
konstruiert wurde? Wie kann festgestellt werden, ob ein Test diesem
Gütekriterium genügt? Inhaltsvalidität (Augenscheinvalidität, logische Validität)
Kritieriumsvalidität prognostische Validität r = .40-.60 o.k. Übereinstimmungsvalidität r >= .60 hoch
Konstruktvalidität konvergente Validität diskriminante Validität
Fazit
Ein Entwicklungstest kann nur so gut sein, wie seine entwicklungstheoretischen Grundlagen...
Es wäre illusionär, Tests zu fordern, die perfekte oder nahezu perfekte Entscheidungen gewährleisten.
Der Wert eines Testes bemisst sich letztlich an seinem Beitrag zur Optimierung von Entscheidungen.