1
Speners Wiedergeburtslehre
als Grundlegung der Ethik
1. Die Grundlegung lutherischer Ethik
Wer die Grundlegung lutherischer Ethik
verstehen will, wird bei Martin Luther und
seinen beiden Hauptschriften zur Ethik Von
der Freiheit eines Christenmenschen und Von
den guten Werken aus dem Jahr 1520
einsetzen müssen. Denn dort hat er sich
grundsätzlich und systematisch zur Ethik
geäußert.1 Mit dem biblischen Bild vom Baum
1 Christoph Ernst Luthardt, Die Ethik Luthers
in ihren Grundzügen, Leipzig 1867, S. 11:
„Die Prinzipien [der Ethik] sind am
2
und seinen Früchten verdeutlicht er das
Besondere seiner evangelischen Ethik:
„Wie nu die bawn mussen ehe seyn, den die
frucht, und die frucht machen nit die bawm
wider gutte noch böse, sondern die bawm
machen die früchte, Alßo muß der mensch ynn
der person zuvor frum oder böße seyn, ehe er
gutte oder böße werck thut, Und seyne werck
machen yhn nit gutt odder böße, sondern er
macht gutt odder böße werck... So dann die
werck niemant frum machen, und der mensch
zuvor muß frum sein, ehe er wirckt, so ists
zusammenhängendsten in der mehrerwähnten
Schrift von der Freiheit eines
Christenmenschen (1520) und in dem Sermon
von guten Werken (1520) ausgesprochen.“
3
offenbar, das allein der glaub auß lauttern
gnaden, durch christum und seyn wort, die
person gnugsam frum und selig machet.“2
Für Luther konzentriert sich alles auf die Frage
der Person. Solange ein Mensch in der
Entfremdung von Gott jenseits von Eden lebt,
gilt für ihn das Augustinische ‚non posse non
2 WA 7, S. 32, 13 - 18 ... 27 - 30. Umgekehrt
kommen die bösen Werke aus dem Unglauben
(WA 7, S. 32, 35 - 33, 2): „Widderumb dem,
der on glauben ist, ist kein gutt werck
furderlich zur frumkeyt und seligkeit,
Widderumb keyn boße werck yhn boße und
vordampt machen, sondernn der unglaub, der
die person und den bawm böß macht, der thutt
boße und vordampte werck.“
4
peccare’. Entgegen der in der katholischen
Tradition ausgebildeten Lehre, daß der Christ
bei den guten Werken mitwirken könne und
müsse, radikalisieren die Reformatoren die
Lehre von der Erbsünde. Sie mache den
Menschen ganz und gar unfähig, das
umfassend Gute aus eigenen Kräften bewirken
zu können. Die Radikalität der lutherischen
Auffassung kommt beispielhaft nicht nur
durch die hervorgehobene Stellung, sondern
auch die Formulierungen im zweiten Artikel
der Confessio Augustana zum Ausdruck:
„Weiter wird bei uns gelehrt, daß nach Adams
Fall alle Menschen, so naturlich geborn
werden, in Sunden empfangen und geborn
werden, das ist, daß sie alle von Mutterleib an
5
voll boser Lust und Neigung seind und kein
wahre Gottesfurcht, keinen wahren Glauben an
Gott von Natur haben können, daß auch
dieselbige angeborne Seuch und Erbsunde
wahrhaftiglich Sund sei und verdamme alle die
unter ewigen Gotteszorn, so nicht durch die
Tauf und den heiligen Geist wiederum neu
geborn werden.“3
3 BSLK, Göttingen 41959, S. 53. Die Tiefe
dieser Grund- und Hauptsünde zu erkennen
bedarf es nach Luther sogar einer Offenbarung
(BSLK, S. 434 [AS III]): „Solche Erbsunde ist
so gar ein tief bose Verderbung der Natur, daß
sie kein Vernunft nicht kennet, sondern muß
aus der Schrift Offenbarung gegläubt
werden...“
6
Ist der Mensch unter den Bedingungen des
Sündenfalls derart von Gott und allem Guten
abgeschnitten, dann bedarf es einer
gründlichen Erneuerung, damit er zu einem
wirklich ethischen Verhalten in der Lage ist.
Dies deutet sich am Schluß von CA II durch
den Hinweis auf die Wiedergeburt durch Taufe
und heiligen Geist an. Erst und allein mit der
durch die Wiedergeburt erneuerten Natur ist –
angesichts der radikal erkannten Trennung des
Menschen von Gott durch die Grund- und
Hauptsünde - die Bedingung der Möglichkeit
für eine lutherische Ethik gegeben. Diesen
Zusammenhang haben schon die Reformatoren
deutlich erkannt: Nur Taufe und Wiedergeburt
erneuern die Person so, daß sie zum Tun des
7
Guten befähigt wird.
Das spricht Luther in beispielhaft deutlicher
Weise in einer Predigt vom 11. Juni 1536 über
die Nikodemusperikope aus: “Sic de nova
creatura, quando renati, debemus vivere in
bonis operibus. Nos praedicamus. Sed qui
convertuntur, nihil faciunt dazu, cum simus
creatura, opus, geschepff, ad hoc creati, ut tum
in bonis operibus ambulemus. Es ist deutlich
geredt und geschrieben.“4 Lebenslang bleibt er
bei seinem Grundsatz, daß die Erneuerung der
verdorbenen Natur des Menschen allein Gottes
Sache sei; wo aber ein Mensch durch Gottes
Wirken im heiligen Geist zu einer neuen
4 WA 41, S. 611, 23ff
8
Person geworden ist, wird das Tun des Guten
zur seiner selbstverständlichen Schuldigkeit.
Die guten Werke müssen aus der erneuerten
Person so hervorgehen, wie gute Früchte
notwendigerweise an einem guten Baum
wachsen müssen. Auch wenn Luther hier
unmißverständlich die Grundlage
evangelischer Ethik bestimmt, ist sein
Hauptanliegen doch ein anderes. Seine ganze
Leidenschaft gehört dem Kampf um die
Rechtfertigungslehre, die er in aller
theologischen Klarheit gegen jede Mißdeutung
verteidigt. Die aus ihr notwendig und
selbstverständlich hervorgehende Heiligung
problematisiert er nicht eigens. Doch schon zu
Luthers Lebzeiten und erst recht später in der
9
Orthodoxie stellte sich die Frage nach dem
sittlichen Leben in den evangelischen
Gemeinden. Wie konnte einerseits Evangelium
ohne jede Gesetzlichkeit gepredigt werden und
doch andererseits die Konsequenz des
Evangeliums, das Tun des Guten gefördert
werden?
Zunächst muß nach lutherischer Auffassung
der eigenwillige, selbstherrliche Mensch
zerbrechen und zur Erkenntnis der Wahrheit
kommen. Dies geschieht in der Konfrontation
mit dem Gesetz nach seinem strafenden
Gebrauch. Bevor ein neuer Mensch entstehen
kann, muß der „alte Adam“ zerbrechen.
Darum ringt die Buß- und Gesetzespredigt:
„Die gebott leren und schreyben uns fur
10
mancherley gutte werck, aber damit seyn sie
noch nit geschehen. Sie weyßen wol, sie
helffen aber nit, leren was man thun soll,
geben aber keyn sterck dartzu. Darumb seyn
sie nur datzu geordnet, das der mensch
drynnen sehe sein unvormügen zu dem gutten
und lerne an yhm selbs vortzweyffeln.“5
5 WA 7, S. 23, 31 - 35; vgl. WA 7, S. 22, 26 -
28: „Wie alle deyn leben und werck nichts
seyn fur gott, sondern müßist mit allen dem
das ynn dir ist ewiglich vorterben. Wilchs ßo
du recht glaubst, wie du schuldig bist, so
mustu an dir selbst vortzweyffelnn...“ Vgl
auch den Kleinen Katechismus, BSLK, S. 516:
„Die Taufe Zum vierden. Was bedeut denn
solch Wassertäufen? Antwort. Es bedeut, dass
11
Nun hat Luther das Gesetz, d. h. den Dekalog
angesichts der unübersehbaren ethischen
Überlieferungen als einfache Grundlage
christlichen Ethik ins Zentrum gerückt:
„So haben wir nu die zehen Gepot, ein
Ausbund göttlicher Lehre, was wir tuen sollen,
daß unser ganzes Leben Gotte gefalle, und den
rechten Born und Rohre, aus und in welchen
quellen und gehen müssen alles, was gute
Werk sein sollen, also daß außer den zehen
der alte Adam in uns durch tägliche Reu und
Buße soll ersäuft werden und sterben mit allen
Sunden und bösen Lüsten, und wiederumb
täglich erauskommen und auferstehen ein
neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und
Reinigkeit für Gott ewiglich lebe.“
12
Gepoten kein Werk noch Wesen gut und Gott
gefällig kann sein, es sei so groß und köstlich
fur der Welt, wie es wolle.“6
Konsequenterweise wird – so schon bei
Philipp Melanchthon in seinen Loci
communes– die lutherische Ethik der Lehre
vom Wort Gottes als Gesetz und Evangelium
zugeordnet und unter der Lehre vom Gesetz
entfaltet.7
Im Bemühen der nachfolgenden Orthodoxie,
durch die Predigt des Gesetzes Buße und
6 Großer Katechismus, BSLK, S. 639 (311). 7 Vgl. den Aufbau der Loci communes: „De
hominis viribus adeoque de libero arbitrio, De
peccato..., De lege ..., De evangelio...“ (CR
XXI, S. X).
13
Umkehr zu bewirken, gerät das Evangelische
lutherischer Ethik mehr und mehr aus dem
Blick. Das wirkliche Neuwerden des
Menschen durch den Glauben wird dadurch
nivelliert, daß die Formel vom simul iustus et
peccator – als Trost für das geängstigte
Gewissen gedacht – zunehmend zur Erklärung
für ein wachstumslosen Schwanken zwischen
Sündersein und Heiligung wird. Darüber
hinaus mag noch eine Rolle spielen, daß
Luther das ethische Subjekt zwar als ein durch
die Wiedergeburt zum Tun des Guten
befähigtes erkennt, aber nicht in seiner
Eigenwirksamkeit entfaltet. Der handelnde
Mensch wird von ihm nur als Objekt des
göttlichen Handelns, d. h. als
14
Durchgangsgefäß für Gottes Geist gedacht.8
8 Karl Holl, Gesammelte Aufsätze zur
Kirchengeschichte I. Luther, Tübingen, 4+51927, S. 224: „[W]wer wirklich im Glauben
mit Gott eines geworden ist, wird dadurch
hineingezogen, ja hineingerissen in die
Tätigkeit, die Gott selbst übt. Er wird ein
Werkzeug, ein Durchgangspunkt, eine Röhre,
durch die Gott andern seine Güter zufließen
läßt.“ Vgl. aaO., Anm. 1: WA XVII 1, 265, 3:
„`Christianus est similis einer roren, per quam
fluit aqua, per quem vult deus velut
instrumento bene fieri omnibus et opus suum
per eos et voluntatem agit...'“ Kirchenpostille
WA X 1, 100, 9ff: „`Glauben und Liebe,
durch welche der mensch zwischen Gott und
15
So stellt sich die Frage, wann und wie sich die
lutherisch-orthodoxe Ethik weiterentwickelt
hat. Gewöhnlich stehen dafür die Epitomes
theologiae moralis von Georg Calixt. Allein,
außer der Trennung von Dogmatik und Ethik
sowie der deutlichen Erkenntnis, daß der homo
renatus Subjekt der Ethik ist, wird die
Bedeutung seiner Ethik leicht überschätzt.9
seinen nehisten gesetzt wird, als ein mittel,
das von oben empfehet und unten wieder
ausgibt und gleich ein gefäß oder rohr wird,
durch wilchs der Brunn göttlicher Guter ohne
unterlaß fließen soll in andere leut...´“ 9 Luthardt, Kompendium der theologischen
Ethik, Leipzig 1889, S. 49: In der lutherischen
Kirche gab „G. Calixt's Epitomes theologiae
16
Schon eher ließe sich Johann Konrad Dürrs
Compendium theologiae moralis nennen, der
nach Luthardt die erste systematisch voll
moralis pars prima ect. Helmst. 1634 trotz
ihrer Unvollständigk. u. ihres mäßigen
wissschftl. Werthes einen erfolgreichen
Anstoß zu selbständiger Behandlg. der theol.
Moral in ihrem Untersch. sowohl v. der philos.
Moral als v. der Dogmatik, obwohl im innern
Zus.h. mit dieser. Beides dadurch, dass C. als
Subj. der theol. Moral den homo renatus
bezeichnete u. so dieselbe als Lehre v. d.
Heiligg. faßte, deren Prinzip der heil. Geist ist,
welchem sich die vires naturales: intellectus
(mit dem Gewissen), voluntas, appetitus
unterordnen.“
17
entfaltete lutherische Ethik geschrieben habe.10
Aber zu einem wirklich neuen Schritt in der
10 Vgl. Luthardt, Geschichte der christlichen
Ethik seit der Reformation, Leipzig 1893, Bd.
II, S. 192f: „Was Calixt in seinem Versuch
unvollendet gelassen, das bildete Joh. Konr.
Dürr in Altdorf in Calixt's Geist zu einem
vollständigen System der theologischen Ethik
aus, zuerst als Enchiridion theol. mor. 1662,
später erweitert zum Compendium theol. mor.
in quo virtutes et officia hominis christiani tum
in genere tum in certis vitae statibus
considerati explicantur et variae quaestiones
practicae deciduntur 1675..., dessen Titel
schon zeigt, daß wir es hier mit einer
vollständigen Arbeit, im Grunde der ersten
18
Entfaltung einer durch und durch
evangelischen Ethik kommt es erst durch
Philipp Jakob Spener.
2. Speners neue Einordnung der Ethik
Spener stellt sich der Frage nach einem Leben
aus dem Glauben aus der neuen Natur, aus der
Wiedergeburt und im heiligen Geist 150 Jahre
nach der Reformation. Er hat es nicht mehr mit
dem Kampf um die Reinheit der Lehre zu tun,
um die über fünf Generationen gestritten
wurde. Für ihn wird unter der Voraussetzung
der Rechtfertigung die Reinheit des Lebens, d.
h. die Frage nach der Heiligung zum zentralen
systematischen theologischen Ethik in der
lutherischen Kirche zu thun haben...“
19
Thema.11 Seine Bemühungen, die Reformation
an diesem Punkt weiterzuführen, lassen sich
11 Spener, Theologische Bedenken III, Halle
1702, S. 952f: „Wer eine Reformation
unserer Evangelischen lehr anstellen
wolte/ wie nemlich dieselbige in unsrer
kirchen bekantnüß/ was die ordnung des heils
anlangt/ enthalten ist/ der würde eben damit
sich verschulden: Dann die wahrheit kan nicht
reformiret werden/ ohne daß sie auffhören
müßte zu seyen was sie ist... Und ... weil leider
so wenig früchten der lehr sich bey unsern
kirchen am meisten orten zeigen/ können wir
nicht wohl leugnen/ daß wir nicht einer fast
starcken und allgemeinen reformation
bedörffen...“
20
an einer einzigen Predigt aus seinen
Lebenspflichten verdeutlichen.12 Wesentliche
Momente seiner evangelischen Ethik sollen
daher an dieser Predigt verdeutlicht werden.
Lebenslang bekämpft Spener eine in der
damaligen lutherischen Kirchenfrömmigkeit
übliche, doppelte Fehleinschätzung. Es sei
ebenso unnötig wie unmöglich, ein wirklich
ethisches Leben aus dem Glauben zu führen:
„Eine ... hindernüß und einbildung ist ferner/
die auch sich bey vielen antreffen läst/
entweder/ es seye einmal unmöglich/ daß wir
12 Spener, Die Evangelische Lebens-Pflichten
II, S. 41 (künftig: LP II): „Am Fest der H.
Dreyeinigkeit. Erneurung und Wachsthum im
guten. Evangelium Joh. III, 1. – 15.“
21
uns so erneuern/ und in der erneuerung so
wachsen könten: der gerechte falle ja deß
tages siebenmal/ aus Sprüchw. 24/16. was
man ins gemein mehr von den leuten fordern
wolle? oder aber es seye auch nicht nöthig/
GOtt nehme es eben so genaue nicht: zwar
seye es wol fein/ wo man sich solcher
täglichen erneuerung und wachsthum in der
erkantnuß und anderm guten befleisse/ stehe
auch den jenigen wohl an/ die nicht viel anders
zu thun hätten; aber GOtt fordere es nicht von
allen/ sonderlich von den jenigen leuten/ die in
der welt leben müsten/ könte es nicht gefordert
werden.“13
13 LP II, S. 59.
22
Schon seine Epistelpredigten über den Römer-
und die Korintherbriefe nennt er deswegen:
„Deß thätigen Christenthums Nothwendigkeit
und Möglichkeit“14 Doch wie soll die bisher
bei vielen für unnötig gehaltene und als
unmöglich zu verwirklichende Ethik nun
wirklich werden? Haben sich nicht seine
orthodoxen Vorgänger wieder und wieder
darum gemüht, die Ethik auf evangelische
Weise zu treiben? Was will Spener über die
bisherige lutherische Lehre hinaus ins Feld
führen?
Seine Antwort beginnt schon mit der Trilogie
von drei Predigtreihen auf der Höhe seines
Wirkens als Oberhofprediger in Dresden. Er
14 Franckfurt am Maeyn, 1687.
23
predigt in drei Jahrgängen über Die
Evangelische Glaubens-Lehre (1686/7), Die
Evangelische[n] Lebens-Pflichten 1687/8) und
Der[n] Evangelische[n] Glaubens-Trost
(1688/9). Wie schon gesagt war es seit Georg
Calixt üblich geworden, die Ethik gesondert
von der Dogmatik zu verhandeln. Doch Spener
geht noch einen Schritt weiter. Das
verwandelnde Evangelium als Leben aus dem
Wort Gottes, als praxis pietatis ist für ihn die
unverzichtbare Voraussetzung, um das Gute
überhaupt tun zu können. Weil die Kraft zum
Tun des Guten allein aus dem Evangelium
kommen kann, muß es beständig wachgerufen
werden. So will er nicht nur seine
Lebenspflichten evangelisch treiben, d. h. auf
24
dem Evangelium begründen, sondern bettet sie
zwischen die reine Lehre vom Glauben und in
den umfassenden Trost des Glaubens ein und
konstituiert mit dem letzteren einen dritten
Bereich der Theologie. Auf diese Weise macht
er das Evangelium zur Voraussetzung, zur
Grundlage und zur Bestärkung seiner Ethik.
Bemerkenswerterweise gliedert er seine
Lebenspflichten auch nicht mehr wie die
Orthodoxie vor ihm nach den zwei Tafeln des
Gesetzes, sondern führt – in der lutherischen
Ethik erstmals – die Selbstliebe als dritten
größten Hauptteil seiner Ethik ein.15 Wurde
15 Erste rudimentäre Ansätze zu einer
Neugliederung finden sich in dem
Compendium theologiae moralis von Dürr,
25
bislang das Selbst des Menschen nur in
negativer Hinsicht unter dem Gebot der
Selbstverleugnung betrachtet, dient Spener das
Doppelgebot der Liebe dazu, die Selbstliebe
positiv zu thematisieren. Das ist nur möglich,
weil er das Selbst nicht nur aus der Perspektive
seines Gefallenseins, sondern vielmehr und
besonders aus der der Wiedergeburt in den
Blick nimmt.
3. Speners Lehre von der Wiedergeburt und
der Erneuerung
Schon seine Zeitgenossen konnten nicht
glauben, daß Spener sich ganz und gar als
Lutheraner verstand, ja nicht nur verstand, wie ich in meiner eingangs erwähnten
Untersuchung im einzelnen nachweise.
26
sondern sich der Reinheit seiner lutherischen
Lehre gewiß war. Konnte ihn doch keiner
seiner zahlreichen Gegner in irgendeiner
Sache einer Irrlehre überführen.16 So bleibt bis
16 Spener, Letzte Theologische Bedencken I,
Halle 1711, S. 131f: „Indessen ob wol solche
lehr nicht nur mündlich sondern schrifftlich
der kirchen öfters vorgeleget und mich völlig
erklähret habe/ hat sich doch kein Theologus
gefunden der das hertz gehabt hätte/ mich
hierinnen offentlich zu beschuldigen und eines
abtritts von unserer Evangelischen lehr zu
überzeugen/ ja ie deutlicher ich mich heraus
gelassen und die sach getrieben/ ie mehr hat
sich der verdacht geleget. Da ich doch wol
weiß/ es habe an Theologis nicht gemangelt/
27
in die Gegenwart der Verdacht, er müsse an
irgendeiner Stelle von der lutherischen
Rechtfertigungslehre abgewichen sein.
Typisch für diese Haltung ist der Versuch
Martin Schmidts, Speners Wiedergeburtslehre
aus dem mystischen Spiritualismus heraus zu
bestimmen. So habe Spener, mißtraut Schmidt,
die/ weil es geschienen/ ich griffe zuweilen sie
an stücken/ darinnen sie ihre autoriät suchen/
und da es ihnen wehe thäte/ an/ besorglich
keine gelegenheit würden unterlassen haben/
mich anzugreiffen und einer heterodoxiae zu
überführen. Daß aber nie keiner sich dessen
unterstanden/ ist ein offenbares zeugnus/ daß
meine lehre eben diejenige seye/ welche unser
kirchen lehr auch ist.“
28
„die Rechtfertigungslehre als ein Moment in
die alles umfassende Wiedergeburt
aufgenommen“ und somit aus ihrer
Zentralstellung verdrängt.17 Jan Olav Rüttgardt
zieht in Nachfolge Schmidts daraus die fatale
Konsequenz:
„In der von Spener vertretenen pietistischen
Frömmigkeit bleibt der Rechtfertigungsglaube
ein hervorragendes Element. Insofern
entsprechen Speners Beteuerungen, er halte
am Rechtfertigungsglauben als dem Herzstück
des wahren, seligmachenden Glaubens fest,
17 Martin Schmidt, Speners
Wiedergeburtslehre, in: Wiedergeburt und
neuer Mensch, AGP 2, Witten 1969, S. 169 –
194; hier: S. 173, Anm. 14.
29
durchaus der Wirklichkeit. Anders steht es
hinsichtlich der Rechtfertigungslehre. Das alle
soteriologischen Einzelaussagen integrierende
Theologumenon ist der Spenerschen Theologie
nicht mehr die imputative
Rechtfertigungslehre, sondern die Lehre von
der Wiedergeburt.“18
Gegen ein solches Mißverständnis hätte sich
nicht nur schon Spener entschieden gewehrt,
denn er beruft sich mit seiner
Wiedergeburtslehre auf die Formula
Concordia: „Diese rechtfertigung wird
zuweilen sonsten der wiedergeburt
entgegengesetzet zuweilen/ wie mehrmal in
18 Rüttgardt, Heiliges Leben in der Welt,
Bielefeld 1978, S. 47f.
30
unsern Symbolischen bücher geschihet/ wird
sie die wiedergeburt genennet; wir begreiffen
sie aber am bequemlichsten mit der
wiedergeburt.“19
Nicht die dogmatische Form der
Wiedergeburtslehre ist bei Spener neu. Er folgt
mit seinem inklusiven Verständnis der
Wiedergeburt einer bei den späteren
Dogmatikern aufgrund des Konkordienbuchs
längst vollzogenen Lehrform.20 So lehrt er mit
19 Spener, Die Evangelische Glaubens-Lehre I,
Frankfurt/Mäyn 1688, Bd. I, S. 708 (künftig
(GL I; II). Vgl. dazu BSLK, S. 920, 5 – 921,
18 (SD III). 20 BSLK, S. 920ff; vgl. Heinrich Schmid, Die
Dogmatik der evangelisch-lutherischen
31
seiner inklusiven Wiedergeburtslehre im
Vergleich zur orthodoxen Tradition nichts
Neues:
„Wo wir aber/ wie es sich eigentlich mit der
wiedergeburt verhalte/ kürtzlich auß der
schrifft zusammen ziehen wollen: so mögen
wir sagen/ daß gleichsam dreyerley dinge in
derselben vorgehen: 1. Ist dieses/ daß der H.
Kirche, Fankfurt (Main)/Erlangen 1853², S.
318, Anm. 2: Sowohl bei Baier („de fide in
Christum – de regeneratione et conversione –
de justificatione – de renovatione et bonis
operibus“) wie bei Hollaz („de gratia vocante,
illuminante, convertente, regenerante,
justificante, inhabitante et renovante ect.“)
folgt die Rechtfertigung der Wiedergeburt.
32
Geist in der seele/ die er wiedergebähren will/
sein liecht und also den glauben entzündet.
Dieser ist der erste funcken des geistlichen
lebens in der wiedergeburt/ und also der
anfang des neuen menschen... 2. Weil nun so
bald der glaube in einer seele ist/ GOtt
dieselbe gefüllet/ und er gleich seinen Sohn
mit allen seinen gütern derselben schencket/
also ist so bald das andere in der wiedergeburt/
daß GOTT einem menschen/ in dem er nun
durch seinen Geist den glauben gewürcket hat/
stracks alle seine sünden vergiebet/ und
hingegen die gerechtigkeit seines Sohns/ die
der glaube in seiner ordnung ergreifft/
zurechnet: damit ist der Mensch vor GOttes
gericht gerecht/ und wird auch so bald von
33
demselben zu seinem kind angenommen/ daß
der die kindschafft empfänget. Galat. 4/ 5.
daher die rechtfertigung und Göttliche
kindschafft mit zu der wiedergeburt gehören;
sonderlich wird deßwegen die wiedergeburt in
unsern symbolischen büchern mehrmal vor die
rechtfertigung genommen. 3. Sobald nun
GOTT einen menschen durch den glauben
gerecht gemacht/ und zu seinem kind
angenommen hat/ will sichs nicht ziemen/ daß
er denselben bloß in seiner alten verderbnuß
lasse/ daher folget so bald/ daß er in
demselben einen neuen menschen oder eine
neue art schafft/ daß er nun ein gantz anderer
mensch ist.“ 21
21 LP II, S. 48.
34
Nicht also die Zusammenfassung dreier unter
der Wiedergeburt subsummierten Stufen des
ordo salutis sind neu, wie der Vergleich mit
der orthodoxen Dogmatik zeigt. Wenn es aber
nicht die veränderte Lehrform ist, was ist dann
das Neue der Wiedergeburtslehre bei Spener,
an dem sich die Geister scheiden und sich in
Spätorthodoxie und Pietismus polarisieren?
Neu ist gewiß mit welcher unermüdlichen
Konsequenz und Entschiedenheit er auf ein
wirklich sittliches Leben seiner Gemeinde
drängt.22 Nach eine Epoche, in der sich die
22 GL II, S. 926f (Hervorhebung von mir):
„Sehet M. G. dieses ist auch das jenige
gewesen/ wogegen ich dieses gantze Jahr/ als
ich nun durch Gottes gnade hier bin/ und also
35
heute das zweyte in meiner sonntagsarbeit
anfange/ geprediget habe/ wie E. C. L. nicht
leugnen wird/ wie offt/ ja fast fort und fort/ ich
dieses getrieben/ wie unser Christenthum gar
etwas anders seye/ und einen viel andern
gehorsam erfordere/ als die meiste sich
einbilden/ und der nur in solchem äusserlichen
bestehe/ welches aber recht der Pharisäische
wahn oder Pharisaismus ist; wo ich auch euch
auff euer gewissen fragen solte/ achte ich/ eure
hertzen werden euch zeugnüß geben/ daß die
meiste in solchem wahn gesteckt/ als welches
leider bey denen/ die nicht gar offenbar
ruchloß und böse sind/ der allergemeinste
fehler ist... Ich muß aber leider sorgen/ es
stecke solcher wahn noch in vielen hertzen/
36
orthodoxe Theologie vor allem auf die
Reinerhaltung der Rechtfertigungslehre
konzentrierte, ist es für ihn an der Zeit, sich
der schon seit der Reformation ausstehenden
Aufgabe der Ethik, d. h. eines Lebens in der
Heiligung zuzuwenden:
„Sondern wie die Böhmen unterschiedlich
mahl mit Luthero gehandelt/ daßwegen zu ihn
nachdem man theils zuweilen klagen höret/ ob
triebe man die sache zu hoch/ wie mans
gleichwol in der welt dahin nicht bringen
könne/... theils nachdem ich auffs wenigste
nicht sehe/ daß das leben bey vielen gebessert
und geändert seye/ welches doch zu hoffen/
wo erstlich jener wahn recht aus dem hertzen
gebracht wäre.“
37
gesandt/ und an der reformation das jenige
gestrafft/ daß es schiene/ es seye allein um die
lehr/ mit hindansetzung des lebens/ zu thun/
unser liebe Lutherus auch verlangt/ daß ers
dahin bringen möchte/ wie die disciplin bey
ihnen wäre/ aber über die hindernüssen/ die er
nicht überwinden könte/ geklagt... also
erkenne gern/ daß das werck zu zeitlich
stecken geblieben. Ich dancke zwar freylich
dem grossen GOtt vor auch solche
unaussprechliche wohlthat/ die in sothaner
reformation der kirchen erwiesen worden/ in
dem auch dasjenige schon ein grosses ist ...
[Ich] venerire die göttliche heilige providenz,
so ihr werck auf unterschiedliche art treibet/
und einer zeit diese/ einer andern eine andere
38
und mehrere/ gnade bestimmet hat: aber
glaube freylich/ daß mit der reformation noch
bey weiten nicht alles geschehen/ was hat
geschehen sollen/ und an dessen verfolge die
nachkömmlinge zu arbeiten billig verbunden
gewesen und noch sind...“23
23 Spener, Theologische Bedencken, Halle
1702, Bd. III, S. 179f. Vgl Bd. I, (Halle, 1700),
S. 258 (Hervorhebung von mir): „Was nun
unsern Lutherum anlangt/ hatte der theure
mann zwahr auch in andern stücken ein
grosses maaß der gnaden/ die haupt-gabe aber
war diese/ daß von der Apostel zeit an
schwehrlich einer gewesen/ welcher in hellerm
liecht die lehr von der seligmachenden krafft
des glaubens/ wie wir allein aus demselben/
39
und also der blossen göttlichen gnade ohne
vermischung der wercke gerecht werde
müsten/ erkant/ und mit treflicherm nachtruck
zu treiben begabt gewesen wäre... Also fand er
vor sich keine rohe sichere leute/ daß die
haupt-absicht auff die dämpfung der sicherheit
hätten müssen gerichtet werden/ sondern
grossen theils personen, welche nach dem
Evangelischen trost hungrig... Daß aber
nunmehr von der gottseligkeit des lebens mehr
gehandelt werden muß/ ist die ursach/ weil wir
es nun meistens mit einer solchen zeit und
personen zu thun haben/ welche sich des
Evangelii und lehr des glaubens unrecht und
mit unrechtem verstand mißbrauchen... So
bleibet zu allen zeiten die göttliche lehre
40
Für Spener besteht die Treue gegenüber der
lutherischen Theologie in ihrer konsequenten
Entfaltung und Weiterentwicklung auf dem
systematisch noch wenig bearbeiteten Feld
lutherischer Ethik. Neu ist ganz sicher, daß er
die Wiedergeburt als Grundlage der Ethik so
ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Sie
gilt zwar schon in der orthodoxen Theologie
als unverzichtbare und selbstverständliche
Voraussetzung ethischen Handelns.24 Aber
einerley/ nur daß einmahl/ und bey einigen
leuten/ ein stück derselben ernstlicher als zu
andernmalen und bey andern eingeschärffet
werden muß.“ 24 So doch z. B. Dürrii, Johannes Conradii,
Compendium Theologiae moralis..., Altdorffi,
41
Spener stellt ihre Wirklichkeit im
Wiedergeborenen heraus und dringt beständig
darauf, das kraft dieser Wiedergeburt jeder
Christ zum Tun des Guten befähigt ist und im
Guten zunehmen wird.25 So ist das Neue seiner
Ethik die Konzentration auf die wirkliche
Verwandlung im Subjekt der Ethik.
1675, S. 15: „THEOLOGIAE MORALIS
PARS II. De Subjecto - quod est homo fidelis
& regenitus.“ 25 Dabei darf die Wiedergeburt nicht als
Leistung des Menschen mißverstanden
werden. Sie ist beneficium Gottes, d. h. seine
Wohltat, seine Gnade am Menschen, die durch
die Taufe und das Wirken des heiligen Geistes
im Glaubenden Realität annimmt.
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Denn nur eine neue Natur, eine grundlegende
Veränderung und eine tägliche Erneuerung
und gegenwärtige Erfahrung von Seligkeit
befähige zum Tun des göttlichen Willens.
Spener stellt sich den Mensch ist nicht mehr
nur passiv als Röhre vor, d. h. er denkt ihn
nicht mehr nur als Objekt, als Instrument des
heiligen Geistes; sondern er erkennt den
Menschen als wirkliches Subjekt
eigenständigen Handelns. Aber er hat die
Fähigkeiten dazu nicht aus sich selbst, sondern
empfängt sie in einer neuen Natur durch die
Wiedergeburt. Erst dadurch wird für Spener
das ethische Subjekt konstituiert. Und diese
Konstitution nicht nur systematisch
vorauszusetzen, sondern ihre tägliche
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Realisierung im Leben des Glaubens
aufzuzeigen und zu fördern ist sein ganzes
Lebensanliegen.
Doch sei nicht verschwiegen, daß neben dieser
großen Leistung einer wirklich evangelischen
Grundlegung der Ethik bei Spener auch
Schattenseiten zu finden sind. Seine Ethik
wird erstens von einer bestimmten
Ängstlichkeit im Sittlichen begleitet, die ihre
Hintergründe in reformierten Einflüssen haben
könnte. Speners Angst vor sittlichen
Verfehlungen im lebensweltlichen Alltag und
sein zum Präzisionismus neigender Umgang
mit den Adiaphora schränken eben die Freiheit
wieder ein, die Luther gegen ein katholisches
Heiligungsverständnis erkämpft hatte. So
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riskiert Spener auch die evangelische Freiheit
im lebensweltlichen Bereich, die er doch
gerade durch die Wiedergeburtslehre
gegenüber den Forderungen einer nur
gesetzlich getriebenen Sittenlehre gewonnen
hatte. Seine spätorthodoxen Gegner haben die
Gefahren seiner Ängstlichkeit und des mit ihr
verbundenen Präzisionismus deutlich gesehen
und standen deswegen Speners Bemühungen
kritisch gegenüber.
Zweitens war die Spätorthodoxie sensibel und
streitbar in der Frage nach dem Verhältnis von
Geist und Schrift. Jede Äußerung, die einem
nicht schriftgebundenen Geistverständnis hätte
Nahrung geben können, wurde von ihr
mißtrauisch verfolgt. So geriet ihnen Speners
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orthodoxe Lehre vom lebendigen,
geistgewirkten Glauben als einer im Subjekt
wirkenden Wiedergeburt und seine Rede vom
lebendigen, erneuernden Geist als einem
inneren Licht im Menschen in den Verdacht,
das orthodoxe, streng schriftgebundene,
biblizistische Geistverständnis zu
unterminieren. Angesichts von Speners
Auffassung des Geistes als einem inneren
Licht befürchteten sie, daß dem
Mißverständnis Vorschub geleistet werden
könnte, ein Mensch könne aus sich selbst
heraus ohne Zutun des heiligen Geistes Gott
erkennen. Sie entwickelten lebenspraktisch
eine hohe Sensibilität, ja nicht dem
Wiedergeborenen zuviel zuzutrauen, weil das
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in einem katholischen Verständnis einer
Kooperation enden könnte. Und jede Form der
Selbstperfektionierung war ihnen deswegen
zuwider, weil damit die lutherische Freiheit
bedroht wurde, in der wir Menschen bleiben
können und nicht Heilige werden müssen.
Aber daß die Vertreter dieser Spätorthodoxie
Richtiges befürchteten, macht sie zugleich
unfähig, das Wahre der Spenerschen Einsicht
zu fördern. Sie konnten nicht sagen, daß, wenn
man in der Wahrheit – in der Liebe – ist, das,
was man in dieser Wahrheit – dieser Liebe –
ist, nicht aus sich selbst heraus tut, sondern es
eben der Wahrheit – der Liebe – verdankt.
Ihnen war nicht in der Tiefe bewußt, daß man
zwar an der Wahrheit – der Liebe – teilhaben
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kann, sie aber doch niemals besitzen und
schon gar nicht zur Grundlage der
Selbstüberhebung mißbrauchen kann. Weil sie
die wiedergeborene und sich wachstümlich
ausbreitende Natur des Menschen als sein
innerstes Eigentum nur privativ, d. h.
beraubend und in der Eigenständigkeit
gegenüber Gott denken konnten, mußten sie
eine so verstandene Selbständigkeit der neuen
Natur im Menschen zurückweisen und alles
auf das alleinige Handeln Gottes verlagern.
Daß aber das Neue im Menschen nur in der
Verbundenheit mit Gott wirklich und daher in
seinem Wirken niemals aus der
Gottesbeziehung herauszulösen ist und in
diesem Sinne zum Privateigentum gemacht
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werden könnte, wurde ihnen nicht klar. So ist
ihr unbefangener Gebrauch der Adiaphora und
ihre tiefe Vergebungsgewißheit von einer der
Spenerschen entgegengesetzten, bestimmten
Ängstlichkeit begleitet, das neue Leben eines
Christen könnte in einem selbstherrlichen
Perfektionismus der Heiligung enden. Diese
Angst machte ihnen den Anschluß an die neue,
zukunftsweisende Weiterführung der
lutherischen Lehre, wie sie Spener anstieß,
unmöglich.
Spener bestimmt nämlich weniger das Was der
Lehre als vielmehr ihr Wie, ihr
Lebendigwerden im Einzelnen. Darin findet er
zunächst bei vielen Vertretern der Orthodoxie
- das beweist die zunächst freundliche
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Aufnahme seiner Pia desideria - viel
Zustimmung. Die Lebendigkeit und
Wirksamkeit des Glaubens gehört ja zum
Allgemeingut lutherisch-orthodoxer
Theologie. Aber er lehrt den lebendigen
Glauben nicht nur als ein von außen, von Gott
kommendes Wirken. Sondern in der
Wiedergeburt begreift er ihn als Wirkung im
Subjekt, als ein den Menschen in seinem
Innersten umwandelndes, erneuerndes und
zum Tun des Guten befähigendes Geschehen.
Selbst das ist im Prinzip nicht theoretisch neu,
sondern neu ist das in seiner zentralen
Bedeutung für das faktischen Leben des
Christen. Die zentrale Intention Speners ist das
Dringen auf die Wirklichwerdung der Gnade
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im Menschen.
Um das zum Ausdruck zu bringen ist für ihn
kein anderes Moment des ordo salutis
geeigneter als die orthodoxe Lehre von der
Wiedergeburt. Sie rückt er deswegen ins
Zentrum seiner Ethik, denn nur der
wiedergeborene Glaube mit seiner die – durch
den Sündenfall verdorbene - Natur des
Menschen verwandelnden und erneuernden
Kraft kann die angemessene Grundlage einer
evangelischen Ethik bilden. Nur so wird für
ihn die Ethik frei ist von der Unerfüllbarkeit
sittlicher Forderungen. Und nur so, in einem
guten, von heiligen Geist geschenkten Leben
wird nach Spener die Kraft zum Tun des
Guten frei. In einer Zeit, in der gegenwärtig
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viel darüber gehandelt wird, was an Gutem zu
tun sei, ist die konsequente Erinnerung daran,
wie man es aus der Freude und der Freiheit des
Evangeliums tun könne - und das ist doch
Speners Grundanliegen - noch immer und
weiterhin von höchster Dringlichkeit.