Neubürger in der westfälischen Flora:Neophyten, Einwanderer und eingeschleppte Pflanzen
54 Geographische Kommission für Westfalen
Altheimische Arten undArchäophytenDie Pflanzenwelt unseres Raumes setztsich aus Arten zusammen, die zu ganzunterschiedlichen Zeiten eingewandertsind. In der Gruppe der indigenen (alt-heimischen) Pflanzen überwiegen ent-sprechend der nacheiszeitlichen Floren-entfaltung Arten der Waldgesellschaf-ten. Seit dem Neolithikum und mit demSesshaftwerden des Menschen steigtsein Einfluss auf die umgebende Land-schaft nach Umfang und Intensität stetigan. Das hat Auswirkungen auf die Flora.Mit dem Ackerbau wird eine Vielzahlvon Begleitarten der angebauten Feld-früchte („Unkräuter“) eingeschleppt.Andere werden als Heilpflanzen (Kal-mus, Goldrute, Fingerhut, Eibisch,Engelwurz) oder als Zierpflanzen(Goldlack, Gelber Lerchensporn, März-veilchen) eingeführt. Diese erste Grup-pe gebietsfremder Arten, die bis in dasMittelalter hinein unter direkter oderindirekter, bewusster oder unbewussterMithilfe des Menschen eingeführt wur-den, nennen wir Archäophyten.
NeophytenNach der Entdeckung Amerikas bringtder zunehmende weltweite Handel eineVielzahl neuer Arten nach Mitteleuropa.Ausgehend von den UmschlagplätzenHafen und Güterbahnhof sowie von denLager- und Verarbeitungsstätten, breitetsich ein Strom dieser Neophyten, derNeueinwanderer aus der Zeit nach 1500,aus aller Herren Länder aus. Die großenLieferanten für den Transport und dieEinführung der exotischen Arten waren:Wolle und Baumwolle (Verarbeitungder Ballen in Wollkämmereien), Obstund Südfrüchte (Heu und Stroh als Ver-packungsmaterial), Ölfrüchte: Raps,Lein, Soja, Erdnuss (Verarbeitung inÖlmühlen), Getreide und Saatgut (auchheute noch: Grünlandeinsaaten mitLuzerne, Lupine, Ackersenf, Ägypter-klee u. a.).
Auch die Verkehrswege des Men-schen werden für die Ausbreitung vonPflanzen und sogar als Lebensraumgenutzt, selbst dann, wenn sie für denPflanzenwuchs so unwirtlich erscheinenwie die Bundesautobahnen. Ein Beispielaus jüngster Zeit ist das Dänische Löf-
felkraut, Cochlearia danica, dessenHeimat die Salzwiesen der deutschenNordseeküste sind. Die Karte 521 imVerbreitungsatlas der Farn- und Blüten-pflanzen der Bundesrepublik Deutsch-land (HAEUPLER & SCHÖNFELDER 1989)zeigt diesen Zustand noch an. Aberschon 1986 wurde die Pflanze erstmaligin Westfalen, am Autobahnkreuz Lot-te/Osnabrück (A 1/A 30), gefunden(LIENENBECKER 2000). In den Folgejah-ren drang sie auf der A 1 bis zum Ruhr-gebiet vor, gelangte auf die benachbar-ten und kreuzenden Autobahnen undbesiedelt inzwischen überall die Mittel-streifen. Lücken gibt es nur im Weser-und Süderbergland, wo es für die atlanti-sche Art im Winter zu kalt ist. Die win-terlichen Streumaßnahmen haben dersalzliebenden Pflanze den Weg ins Bin-nenland geebnet. Die Verbreitungskarte(Abb. 1) zeigt das aktuelle, durch weite-re Funde inzwischen noch zu ergänzen-de westfälische Verbreitungsmuster derPflanze; zugleich zeichnet sie rechtgenau den Verlauf der Autobahnen nach.
Die Schienenstränge der Eisenbahn
werden auf ähnliche Weise genutzt. Derwärmeliebende Purpur-Storchschnabel,Geranium purpureum, hat sein Haupt-areal im westlichen Mittelmeerraum.1992 galt er im Raum Basel als einge-bürgert. Über das Rheintal und dasRuhrgebiet gelangte er entlang derStrecke Dortmund – Hannover bis 2002ins Lippische Bergland. Der Dreifinger-Steinbrech, Saxifraga tridactylitis, alswämeliebende Art der Mauerkronenrecht selten geworden, besiedelt inzwi-schen die Schotterflächen der Bahn undist von Südosten kommend 2001 bisnach Rheine vorgedrungen. Als weitereEisenbahnwanderer seien genannt: Za-ckenschote, Bunias orientalis, Stachel-lattich, Lactuca serriola, Schaumkresse,Cardaminopsis arenosa, Nachtkerzen-Sippen der Gattung Oenothera.
Zierpflanzen und ihre exotischenBegleitarten haben sich nicht selten ausGärtnereien, Baumschulen und sogarBotanischen Gärten verflüchtigt. DasFranzosenkraut, Galinsoga parviflora,verwilderte um 1800 aus dem Botani-schen Garten in Paris, das Kleine
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30 kmVerbreitung des Dä-nischen Löffelkrautes(Vorkommen im Quadrantender entsprechenden TK 25)
Bundesautobahn
Quelle: HAEUPLER, JAGEL &SCHUMACHER 2003, S. 228Entwurf: H. LIENENBECKER
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Verbreitung des DänischenLöffelkrautes inWestfalen
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A2
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Abb. 1: Verbreitung des Dänischen Löffelkrautes in Westfalen(Quelle: HAEUPLER, JAGEL & SCHUMACHER 2003, S. 228; Entwurf: H. LIENENBECKER)
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Stand: 2007
Neubürger in der westfälischen Flora
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Springkraut, Impatiens parviflora, 1837aus dem Botanischen Garten Berlin-Dahlem. Die Strahlenlose Kamille,Matricaria discoidea, entwich um 1850aus Berlin-Schöneberg. Mit Baumschul-ware sind die Samen des Tellerkrauts,Claytonia perfoliata, des Spring-Schaumkrauts, Cardamine hirsuta, unddes Gehörnten Sauerklees, Oxalis corni-culata, in unsere Gärten gelangt undinzwischen in weiten Teilen des Landesallgegenwärtig. Zu den Gartenflüchtlin-gen gehört auch die Nachtviole, Hespe-ris matronalis, die seit dem 16. Jh. inBauerngärten gehalten wurde, heute
aber kaum noch als Garten-pflanze gepflegt wird, dafüraber an Wegeböschungenam Ortsrand vieler Dörfervor allem des Berglandesund in den Fluss- undBachauen in großen duften-den Beständen gedeiht.Auch das Zymbelkraut,Cymbalaria muralis, ist ausden Gärten längst ver-schwunden und wächststattdessen in Mauerfugeninmitten der kleinen Mauer-farn-Arten.
ProblemfälleAls kritisch für die heimi-sche Flora ist das gezielteAusbringen kultivierter Ar-ten in die freie Landschaft zubewerten: Gartenteichbesit-zer entsorgen ihren wuchern-den Überschuss an Vegetabi-lien im nächsten Kleinge-wässer (dort findet man dannspäter Krebsschere, Fieber-klee und Schwanenblume).Gartenpflanzen (Schnee-glöckchen, Osterglocken,Silberblatt) gelangten durchGartenabfälle unter Heckenund in Feldgehölze. Auchaus der Fisch- und Forstwirt-schaft ist die Ausbringunggebietsfremder Artenbekannt. Solche „Ansalbun-gen“ hat der Gesetzgeberausdrücklich untersagt.
Besonders problembelas-tet ist das in den letzten Jahr-
zehnten sich vollziehende invasive Ein-dringen bestimmter längst etablierterNeophyten in heimische Pflanzengesell-schaften. Es handelt sich dabei umwenige, dafür aber sehr auffällige undauch in der Öffentlichkeit bekannteArten: den Riesen-Bärenklau (die „Her-kulesstaude“, Abb. 2), Heracleum man-tegazzianum, das Drüsige Springkraut,Impatiens glandulifera (Abb. 3) und diebeiden Staudenknöterich-Arten Fallo-pia japoncica und F. sachalinensis.Gelegentlich verdrängt ein Neophyt denanderen; so geschieht das gegenwärtigin den Ruhrstauseen, wo die Schmal-
blättrige Wasserpest, Elodea nuttallii,eine Massenvermehrung durchmacht(ihre übergroßen Bestände werden vonBooten aus maschinell gemäht!) unddabei der bereits seit längerem einge-bürgerten Kanadischen Wasserpest, E.canadensis, das Leben schwer macht.
FazitDie aufgeführten Arten haben sich übermehrere Generationen an ihren neuenStandorten gehalten und sich in beste-hende Lebensgemeinschaften einge-passt (oder, je nach Sichtweise, einge-drängt). Wenn sie sich auch noch selbst-ständig vermehren, gelten sie als einge-bürgert. Alle anderen bei uns einge-schleppten Arten – und ihre Zahl geht indie Tausende – sind nur vorübergehen-de, unbeständige, ephemere Gäste unse-rer Flora. Man findet diese Adventiv-pflanzen heute bevorzugt an nährstoff-reichen offenen und gestörten Standor-ten: Ruderalstellen, Industriebrachen,Schutt- und Müllplätzen. Spätestensnach einem strengen Winter oder nachaufkommender Beschattung durchBewuchs sind sie zumeist wieder ver-schwunden.
Unsere Flora ist in einem ständigenWandel. Bei mehr als einem Drittel allerArten ist heute ein Rückgang feststell-bar, der im schlimmsten Fall zum Ver-schwinden ganzer Sippen führt. AlleAnstrengungen des Arten- und Natur-schutzes haben das nicht verhindern,sondern allenfalls abschwächen oderverlangsamen können. Die Neophytenstellen für die verschwundenen botani-schen Kostbarkeiten keinen echtenErsatz dar. Dennoch sollten die Neubür-ger als Elemente eines unvermeidlichenund letztlich auch natürlichen Floren-wandels akzeptiert werden – auch wennuns das bei den hochinvasiven Artengelegentlich schwer fallen mag. Einevorurteilsfreie, sachkundige Beurteilungder „Neophyten-Problematik“ kommtinzwischen zu dem Ergebnis, dass „eineBedrohung für einheimische Pflanzen-arten durch Verdrängung … von derweitaus größten Zahl der Neophyten“nicht ausgeht (SCHMITZ & LÖSCH 2005).
REINER FELDMANN,HEINZ LIENENBECKER
Abb. 3: Drüsiges Springkraut (Impatiensglandulifera) (Foto: R. FELDMANN)
Abb. 2: Riesen-Bärenklau (Heracleummantegazzianum) (Foto: R. FELDMANN)
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