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Studium für Massen und Eliten
Ein Diskussionspapier anlässlich der GEW-Wissenschaftskonferenz
2007 zu Studenten- und Schuldenbergen
TThhoommaass KKööhhlleerr uunndd HHiillkkee RReebbeennssttoorrff
Diskussionspapier Nr. 8
Februar 2008
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TThhoommaass KKööhhlleerr uunndd HHiillkkee RReebbeennssttoorrff
Studium für Massen und Eliten
Diskussionspapier anlässlich der GEW-Wissenschaftskonferenz 2007
zu Studenten- und Schuldenbergen
Einleitung..........................................................................................................2
(1) Das Teilhabegebot... .....................................................................................3
(2) ...und immer wieder die „alarmierenden Befunde“!..........................................7
(3) Das Bildungsgebot der Wissensgesellschaft und das Leistungsgebot des
Wettbewerbsstaats...........................................................................................11
(4) Restrukturierung von Klasse als Elite und Masse durch Bildung.......................13
(5) Das neue Hochschulfeld ..............................................................................16
(6) Die neuen Studierenden..............................................................................19
(7) Von der Theorie des Hochschulfeldes zur Pragmatik der „Studienbeiträge“ ......21
HDP 8/2008, S. 1
Einleitung
Wir haben dieses Diskussionspapier anlässlich des gemeinsamen Besuchs der GEW Wissen-
schaftskonferenz „Vom Studentenberg zum Schuldenberg“ im August 2007 geschrieben. Ziel
des Besuchs und dieses Papers ist es gewesen, die weitere Diskussion über unsere Lage an
den Hochschulen anzuregen. Es richtet sich natürlich an KollegInnen, insbesondere aber auch
an Studierende, die sich für ihre Belange in einer verallgemeinerungsfähigen Weise interes-
sieren, vielleicht auch engagieren wollen.
Das Motto der Konferenz signalisiert treffend: es muss um Zahlen und Zahlungen gehen.
Thema und die Ausgestaltung der Konferenz schien uns gut geeignet zu sein, für eine Refle-
xion der unübersichtlich gewordenen Lage in Klausur zu gehen: neue Organisations-, Stellen-
und Führungsstrukturen an den Hochschulen, der Bologna-Prozess, die Studiengebühren, die
OECD-Kritik am deutschen Bildungswesen – diese und andere Phänomene scheinen an unse-
rem Hochschulsystem kaum einen Stein auf dem anderen zu lassen. Endlich kommt Bewe-
gung in diese vor kurzem noch ultrastabil erscheinende Struktur. Aber ist das eine Bewegung
hin zur Verbesserung?
Diese unübersichtliche Entwicklung wollen wir hier durchaus summarisch angehen, müssen
aber auch versuchen, Fehler und Missverständnisse zu vermeiden, die entstehen würden,
wenn wir zu sehr vereinfachen. Zitiert wird sparsam; es werden, wo immer das möglich ist,
Texte mit Überblicksfunktion herangezogen, die leicht, am besten im Internet zugänglich
sind. Die Argumentationsstruktur unseres Diskussionspapers ist übrigens mal eng, mal nur
noch sehr locker an die Inhalte der Wissenschaftskonferenz angelehnt.
Rechtliche und soziologisch-gesellschaftstheoretische Gründe, um immer noch gegen Stu-
diengebühren zu sein, gibt es nach wie vor genug. Neben dem moralisch-rechtlichen Gebot,
die Teilhabechancen zu egalisieren, also die Bildungsbeteiligung der unteren Schichten mas-
siv zu erweitern (1), das immer wieder und nach PISA mit neuem Nachdruck von der empiri-
schen Soziologie mit „alarmierenden Befunden“ gestützt wird (2), gibt es das überall propa-
gierte Bild von der Wissensgesellschaft, es gibt die Kompetenzrevolution, die (auch bei sin-
kender Bevölkerungszahl) auf immer mehr hoch qualifizierte Fachkräfte angewiesen ist.
Auch das spricht gegen Gebühren, für eine weitere Öffnung. Trotzdem scheint es in Wissens-
gesellschaften, die sich auch als Leistungsgesellschaften verstehen, auch einen mehr oder (in
den letzten Jahren zunehmend) weniger verschwiegenen Bedarf an Ungleichheit zu geben (3).
Hieraus geht ein Widerspruch hervor, der strukturelle Inkonsistenzen und praktische Inkonse-
quenzen erzeugt; wir versuchen hier eine Theoretisierung, um die Beobachtungen zu integrie-
HDP 8/2008, S. 2
ren (4). Was die konkrete Hochschulpolitik betrifft, befinden wir uns jedenfalls in einer kom-
plizierten Situation: der Bologna-Prozess findet in einem Umfeld statt, in dem neue Führungs-
und Organisationsstrukturen sowie Studiengebühren etabliert werden. Gemeinsam verändern
diese Faktoren das Hochschulfeld in Richtung einer deutlich stratifizierten Hochschulland-
schaft (5), was aber in überraschender Weise für die neuen Studierenden auch Vorteile bieten
kann (6). Bei all dem bleibt es eine vordringliche Aufgabe, einen kritisch-pragmatischen Um-
gang mit den Studiengebühren zu entwickeln (7).
(1) Das Teilhabegebot...
Das Teilhabegebot lautet seit Dahrendorf in aller Kürze: Bildung ist ein Bürgerrecht (und die
Doktrin von der Wissensgesellschaft hat Bildung sogar zur Bürgerpflicht avancieren lassen).
Dahrendorfs Behauptung klang damals in der Bonner Republik mit ihren strengen schulischen
Ausleseprozeduren geradezu revolutionär. Dabei hatte Dahrendorf eigentlich nur griffig for-
muliert, was in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bereits 17 Jahre zuvor be-
nannt worden war. Dort hieß es in Artikel 26 (1) „Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung.“
Weitere UN-Resolutionen präzisierten dieses Recht. Bildung wird von den Vereinten Natio-
nen verstanden als Weg zur „vollen Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit“, sie gilt als
„empowerment right“ 1: Deshalb verlangt der UN-Sozialpakt von 19662 die Unentgeltlichkeit
höherer Bildung und verpflichtet die Unterzeichnerstaaten zur Einrichtung angemessener Sti-
pendiensystemeden „joys and rewards of human existence“ gesprochen.
In der Realität ist von diesen „joys and rewards of human existence“ kaum etwas zu sehen.
Hatte sich die Stimmung nach der Diskussion der Timms-Ergebniss3 1998 wieder etwas beru-
higt, so kommt Deutschland seit den Veröffentlichungen zu PISA 2000 nicht mehr aus den
Negativ-Schlagzeilen heraus. Nicht nur erwies sich das Kompetenzniveau der 15jährigen
Schüler und Schülerinnen als unterdurchschnittlich im OECD-Vergleich. Darüber hinaus wie-
sen die schichts- und migrationsspezifischen Disparitäten ein trauriges weltweites Rekordni-
veau auf.
1 Siehe zu den Rechten und den Kommentaren dazu z.B. UN Economic and Social Council, Implementation of the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, General Comment No. 13, The Right to Education (Article 13 of the Covenant), 1999, http://www.unhchr.ch/tbs/doc.nsf/%28symbol%29/E.C.12. 1999.10. En?OpenDocument [09.07]
2 Von der BRD 1973 ratifiziert. Nachdem auch die Bundesländer dem Vertrag zugestimmt hatten, trat er am 3. Januar 1976 als formelles Bundesrecht in Kraft.
HDP 8/2008, S. 3
Diese Befunde verwiesen deutlich auf eine Verletzung der Antidiskriminierungs- und Förder-
gebote der internationalen Verträge. Vernor Muñoz, Sonderberichterstatter der UNO-Men-
schenrechtskommission, nahm denn auch kein Blatt vor den Mund, als er nach zahlreichen
Fachgesprächen in Deutschland, dass offenbar tatsächlich gegen Menschenrechtskonventio-
nen, eben das Recht auf Bildung verstoßen wurde.4 OECD-Generalsekretär Angel Gurría be-
mängelte bei der Präsentation von „Bildung auf einen Blick“ im September 2007 die niedrige
Abiturienten- und Studierendenquote.
Die Reaktionen waren durchaus gemischt. Kam es nach dem PISA-Schock noch zu anschei-
nend ernsthaft bemühten Diskussionen und Suchbewegungen nach Möglichkeiten der Ver-
besserung des Schul- und Hochschulwesens sowie der Förderung von „Arbeiter“- und
Migrantenkindern, so können die Reaktionen auf die Kritik von UNO und OECD nur als ver-
stockt bezeichnet werden. Herr Muñoz habe das deutsche Schulsystem einfach nicht verstan-
den und die OECD berücksichtige nicht, dass Deutschland ja ein so hervorragendes duales
Ausbildungssystem habe Einmal davon abgesehen, dass Herr Muñoz das deutsche Schulsys-
tem nur allzu gut verstanden hat und sich das duale Ausbildungssystem angesichts des wirt-
schaftlichen Strukturwandels selbst in einer deutlichen Krise befindet ist die deutsche Bilanz
im internationalen Vergleich auch im Hinblick auf höhere universitäre Bildungsabschlüsse
negativ. Bereits heute ist abzusehen, dass in absehbarer Zeit ein Mangel an spezifisch qualifi-
zierten Personen bestehen wird, da z.B. im Ingenieursberuf in den nächsten Jahren mehr Per-
sonen aus dem aktiven Berufsleben ausscheiden werden als aktuell in Ausbildung sind.
Der letzte Aspekt ist denn auch derjenige, der Wirtschaft und Politik aufhorchen lässt: Fach-
kräftemangel droht und damit eine Gefahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Und da-
mit sind wir mittendrin in einer polarisierten Diskussion, die bereits zu Zeiten Dahrendorfs
virulent war: Ist Bildung ein Bürgerrecht, ein Wert an sich? Oder ist Bildung ein Instrument
im internationalen wirtschaftlichen Konkurrenzkampf, oder nur im individuellen Konkur-
renzkampf um Platzierungschancen? In der Bildungssoziologie und der Bildungspolitik sind
diese beiden Positionen bekannt als Humankapitalansatz und Arbeitskräftebedarfansatz5. Das
Humankapital, das jemand erwirbt dient ihm oder ihr selbst – es kann als ein „empowerment
right“ gesehen werden. Anders beim Arbeitskräftebedarfansatz: hier geht es einzig darum, für
3 Third Internationale Mathematics and Science Study and der 1994/95 46 Länder teilnahmen – methodisch ähnlich wie PISA aufgebaut (vgl. http://www.timss.mpg.de [09.07]). Die Ergebnisse für Deutschland waren ähnlich niederschmetternd wie fünf Jahre später in der PISA-Studie.
4 Abrufbar unter http://www.ohchr.org/english/bodies/hrcouncil/docs/4session/A.HRC.4.29.Add.3.pdf [09.07] 5 Einen einführenden und allgemein verständlichen Überblick findet man bei Lenhardt 2001
HDP 8/2008, S. 4
die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes und damit der Wirtschaft auszubilden. Es liegt auf der
Hand, dass diese beiden Ansätze unterschiedliche bildungspolitische Strategien nach sich
ziehen, die in ihrer Kombination nichts Halbes und nichts Ganzes ergeben. Die Geschichte
bundesdeutscher Reformen des Bildungswesens macht kaum etwas deutlicher als das.
Zwischen den verschiedenen Schulformen und Berufswegen bestand ein Zusammenhang: die
Volks- oder auch Hauptschule für Arbeiterberufe, die Realschule für Angestelltenberufe und
die Gymnasien für Leitungspositionen. Der tertiäre Bildungssektors folgte der gleichen Lo-
gik: die Fachhochschulen für die praktischen Tätigkeiten, die Universitäten für die wissen-
schaftliche Bildung. Die nach sozialer Herkunft unterschiedliche Teilhabe am Bildungssys-
tem folgte genau dieser Logik, die man trefflich mit dem Sprichwort „Schuster, bleib bei dei-
nen Leisten“ umschreiben könnte. Die Bildungsbeteiligung der Kinder unterer Sozialschich-
ten stieg – das Maß an sozialer Mobilität blieb insgesamt jedoch recht bescheiden. Der Aus-
bau der Gymnasien und des Hochschulwesens führte zu einer stärkeren Akademisierung der
Kinder der höheren Sozialschichten: umfasste dann auch die Töchter. Kinder aus Mittel-
schichtsfamilien gingen auch öfter auf das Gymnasium, besuchten dann jedoch im Anschluss
häufiger Fachhochschulen. Kinder aus „Arbeiterfamilien“ – die werden ja ständig im Munde
geführt – erhöhten ihren Anteil in allen höheren Schulformen, an Gymnasien blieben sie je-
doch stark unterrepräsentiert, ihre Bastion wurde die Realschule. Die Hauptschule, auch die
in aller Munde, wurde zu einer „Restschule“ für Kinder Un- und Angelernter, Kinder aus be-
lasteten Familien, Kinder mit Migrationshintergrund.6
Wie lässt sich diese Situation, dass es in dem Leistungswettbewerb Gewinner und Verlierer
gibt, dass die Bildungsungleichheit statt abzunehmen offensichtlich zunimmt, nun angesichts
des Teilhabegebotes rechtfertigen? Der öffentlich-moralische Druck wurde seit der internati-
onalen Diskussion um die PISA-Ergebnisse stark erhöht und wieder wird von manchen Seiten
formuliert „Bildung ist Bürgerrecht“ – und obendrein noch ein gesetzlich abgesichertes. Ein
Recht, dass für alle unabhängig von sozialer oder ethnischer Herkunft7 besteht.
6 Erst in jüngster Zeit sind die Folgen der Bildungsexpansion unter dem Gesichtspunkt analysiert worden, was sie denn für die Verlierer in diesem Prozess bedeutet. An der Hauptschule wird sehr deutlich, dass die pro-pagierte Vorteile homogener Lerngruppen eine ideologische Schimäre darstellen. Vgl. hierzu H. Solga/S. Wagner: Paradoxie der Bildungsexpansion. Die doppelte Benachteiligung von Hauptschülern, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 4. Jg. 2001, S. 107-127; R. Becker/W. Lauterbach (Hrsg.): Bildung als Privileg. Erlärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit, 2. akt. Aufl. Wiesbaden 2007
7 Selbstverständlich darf auch nicht nach Geschlecht, religiöser, nationaler oder sonstigen Eigenschaften dis-kriminiert werden.
HDP 8/2008, S. 5
Die Apologeten der Ungleichheit ziehen sich in der Regel auf zwei Standpunkte zurück, die
beide als Entlastung fungieren können. Das eine ist das relativ einfache Begabungsargument:
„Die können nicht!“ Das zweite Argument ist komplexer, basiert auf Investitionsansätzen,
rationalen Kalkülen, Kosten-Nutzen-Rechnungen und lautet dann doch ganz einfach: „Die
wollen nicht!“ Merkwürdig nur, dass in anderen Ländern die Verteilungen nach sozialer und
ethnischer Herkunft so ganz anders sind – folgen dort auch die Begabungen anderen Mustern?
Werden dort Kosten-Nutzen-Rechnungen aufgrund anderer Parameter vorgenommen? Nicht
sehr wahrscheinlich. Aber das Argument: „Die sollen nicht!“, von dem man fast annehmen
kann, dass dieses eigentlich hinter der blamabel ungleichen Bildungsbeteiligung steckt, mag
wohl niemand öffentlich äußern.
„Die sollen nicht!“ – also macht man es ihnen noch ein wenig schwerer, aber möglichst in
einer Art, die unverdächtig erscheint, die es einem ermöglicht das Argument „Die wollen
nicht!“ zu verwenden. Studiengebühren – euphemistisch als Studienbeiträge bezeichnet – und
das, wieder einmal ein Verstoß gegen eine UNO-Konvention, ohne ein tragfähiges Stipen-
diensystem einzurichten, wird für junge Menschen aus sozioökonomisch wenig privilegierten
Familien die Aufnahme eines Studiums noch weiter erschweren. In diesem gesellschaftlichen
Segment finden wir auch den einen großen Teil der MigrantInnen erster, zweiter und dritter
Generation. Die GEW und der freie Zusammenschluss der Studierendenschaften (zfs) führen
also in ihrer Stellungnahme8 nicht nur Argumente an, die wir heute in allen Fensterreden hö-
ren: niemand soll benachteiligt werden. Offenbar können sie sich auf ein Recht berufen, dass
zwar nicht in den Hochschulgesetzen der Länder, dafür aber in von der Bundesregierung und
den Bundesländern ratifiziert internationalen Verträgen.
Doch wie sieht es denn aktuell mit der Benachteiligung bzw. der ungleichen Bildungsbeteili-
gung aus?
8 Stellungnahme der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und des freien zusammenschlusses von studentInnenschaften (fzs): Die Einführung von Studiengebühren und der internationale Pakt über wirt-schaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt), http://wissenschaft.gew.de/Binaries/Bina-ry27859/Sozialpakt.pdf
HDP 8/2008, S. 6
(2) ...und immer wieder die „alarmierenden Befunde“!
Wenn es um die Empirie der Teilhabe an Hochschulbildung geht, ist die alle drei Jahre neu
erscheinende Sozialerhebung unverzichtbar. In der 18. Sozialerhebung9 gibt es eine wichtige
Neuorientierung: die Kategorien sozialer Schichtung werden noch einmal nach Bildung diffe-
renziert. Frühere Sozialerhebungen haben Befunde ausgewiesen, wie sie in Abb. 1 zu sehen
sind. Abzulesen ist hier beispielsweise, dass 9%, absolut 76.000 aller Jugendlichen des Jahr-
gangs 2005 Beamtenkinder sind. Von diesen gehen 65% an die Hochschule, womit sie dann
17% oder 49.000 der Erstsemester-Studierenden ausmachen. Arbeiterkinder machen 41%
(abs. 349.000) des Jahrgangs aus. Von ihnen besuchen dann 17%, also 59.000 eine Hochschu-
Abb. 1: Bildungsbeteiligung und soziale Zusammensetzung 2005 nur Deutsche, absolut und in %
Abb. 2 (rechts): Bildungsbeteiligung und soziale Zusammensetzung 2005 nach akademischem Abschluss des Vaters nur Deutsche, absolut und in %
le, womit sie eine ähnlich große Gruppe wie die Beamtenkinder darstellen – und somit ist die
krasse Unterrepräsentation dieser Gruppe im Studierendenmilieu leicht nachgewiesen. Im-
merhin zeigt die Betrachtung im Längsschnitt der Sozialerhebungen eine zaghaft positive
Tendenz: „Obwohl sich zwischen 1985 und 2000 die Zahl der Arbeiterkinder im typischen
Alter halbiert hatte (von 446.000 auf 216.000), war die absolute Zahl der Arbeiterkinder unter
den Studienanfänger/innen im Jahr 2000 sogar etwas größer, weil der demographisch beding-
9 W. Isserstedt, E. Middendorff, G. Fabian, A. Wolter: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2006. 18. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, Berlin 2007, http://www.sozialerhebung.de/pdfs/Soz18_Hauptbericht_internet.pdf [10.07]
HDP 8/2008, S. 7
te Rückgang durch die gestiegene Bildungsbeteiligung (von 7% auf 12%) kompensiert wor-
den war.“ (Ebd., S. 113) Abb. 2 lässt nun noch die Differenzierung nach dem Bildungshinter-
grund zu. Hier sieht man, um wieder die Beamtenkinder herauszugreifen, dass von den Kin-
dern beamteter Väter mit Hochschulabschluss satte 95% die Hochschule besuchen: beinahe
alle also; während bei den Beamtenvätern ohne Hochschulabschluss die Beteiligungsquote
auf rund ein Drittel absinkt. Das Bildungsniveau der Eltern erweist sich damit als herausra-
gender Prädiktor, im Falle der Beamtenkategorie als beinahe vollständig determinierender.
Wer hätte gedacht, das es im Zeitalter der Individualisierung, Pluralisierung und Entstruktu-
rierung sozialer Klassen doch noch derart strikte Determinismen gibt?
Bei der Betrachtung längerfristiger Prozesse ist die theoretisch nicht leicht zu begründende
Stabilität der Zusammensetzung des Studierendenmilieus bei erheblich Schwankungen exter-
ner Variablen wie der demografischen Entwicklung oder eben den Beteiligungsraten der eben
genannten Kategorien auffallend. In der Sozialerhebung heißt es: „Der soziale Wandel, der
außerhalb der Hochschulen stattfindet, wirkt offenbar kaum in sie hinein. Primäre und sekun-
däre Effekte sozialer Ungleichheit, die der Hochschule zeitlich vorgelagert sind, erweisen
sich offenbar als sehr nachhaltig. Die soziale Binnenstruktur der Studierenden war seit den
1980er Jahren vor weiteren größeren Veränderungen abgeschottet und blieb weitgehend un-
verändert.“ (Ebd, S. 116) Gibt es hier eine irritierende Stabilität, so sind andererseits Progno-
sen zur Entwicklung der
Studierendenzahlen mit erheblichen
Ungewissheiten belastet. Die quasi
offizielle HRK-Prognose geht von
einem drastischen Anstieg der
Studierendenzahlen in den nächsten
zehn Jahren aus. Die Bildungsbeteili-
gung wurde für diese Prognose kon-
stant gesetzt, was eine konservative
Annahme darstellt. Effekte der Bache-
lorisierung wurden nicht berücksichtigt, da unmöglich einzuschätzen. Vielmehr handelt es
sich „um eine Status-Quo-Prognose, d. h. es wird berechnet, wie sich die Studienanfänger-,
Studierenden- und Absolventenzahlen unter den bekannten, weitgehend gleich bleibenden
Abb. 3: Studierende im ersten Fachsemester aus: KMK-Prognose, S. 33
HDP 8/2008, S. 8
Rahmenbedingungen entwickeln würden.“10
Sicher sind nur die beschlossenen
Schulzeitverkürzungen, die besonders ab
2011 eine Welle aufwerfen, und der
demografische Effekt einer höheren
Geburtenrate im und um das Vereinigungs-
jahr herum. In Abbildung 3 ist das Jahr 2004
auf 100 gesetzt. Nach einem deutlichen
Effekt, wie die Mark
leugnen, er lässt alle
denz zeichnet sich au
bende BaföG-Anpas
Effekt nach der Anh
ist also ganz einfach
rung bedeutsam, die
Abb. 4: Studienanfänger Erstes Hochschulsemester nach Bundesländ
http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sken/BildungForschungKultur/Hochschulen/TBundeslaender.psml [09.2007]
10 Prognose der Studiechungen der Kultusmtist/hochschulprognos
11 ...warum aktuell nur provisorisch beantwoschöpfter Beteiligungder ökonomischer Pro
Anstieg der Studierendenzahlen soll im Jahr
2015 die Kurve an diesen Punkt zurück
kehren. Bis dahin entstehe aber für alle
Bereiche des Tertiären Sektors ein kräftiger
Ausschlag nach oben. Wie die Tabelle des
Statistischen Bundesamts zeigt (Abb. 4),
stimmte diese KMK-Prognose schon für die
letzten Jahre nicht mehr: besonders die
Universitäten müssen Verluste hinnehmen.
Offenbar sind die Studiengebühren zwar we-
sentlich, aber nicht allein verantwortlich zu
machen für die rückläufige Entwicklung (der
ierung der Länder mit allgemeinen Gebühren ab 500 € zeigt, ist kaum zu
rdings, wie neuere Zahlen belegen, schon wieder nach), denn diese Ten-
ch in Bundesländern ohne neue Gebühren ab.11 Die über Jahre ausblei-
sung (die 17. Sozialerhebung belegte einen sehr deutlichen positivem
ebung, besonders und ganz wie zu erwarten bei den Arbeiterkindern: es
!) spielt hier wohl eine Hauptrolle, vermutlich ist auch die Bachelorisie-
an vielen Universitäten weitere Kapazitätsengpässe verursacht hat.
ern
ites/destatis/Internet/DE/Content/Statistiabellen/Content50/StudierendeErstesHS
nanfänger, Studierenden und Hochschulabsolventen bis 2020. Statistische Veröffentli-inisterkonferenz, Dokumentation Nr. 176 – Oktober 2005, http://www.kmk.org/sta-e.htm [11.07], S. 2 noch Bayern expandiert, wird man sich mit Blick auf die allgemeine Wirtschaftslage rten können; besonders für die Studierenden aus den Milieus mit noch nicht „ausge-squote“ stellt Hochschulbildung nun einmal ein Risiko dar, dessen Größe mit steigen-sperität abnimmt.
HDP 8/2008, S. 9
Den – an sich wenig dramatischen – demografischen Effekt und die Erhöhung dieser kleinen
Welle durch die Schulzeitverkürzung wird es in den nächsten zehn Jahren dennoch geben.
Schon jetzt scheint das Wellental durchschritten, die Zahlen steigen wieder und befinden sich
damit im KMK-Prognoserahmen. Sinkende Arbeitslosenzahlen, Abschaffung der Studienge-
bühren (wenigstens für BaföG-EmpfängerInnen), Erhöhung des BaföG (und natürlich auch
die Umstellung auf Zuschuss), Erleichterung des Zugangs insbesondere für „nicht-
traditionelle Studierende“12 sowie schlicht und einfach die Verbesserung und Ausweitung des
Angebots (manche Verhältnisse, an die man sich in deutschen Hochschulen gewöhnt hat, ver-
stoßen beinahe so gegen die Menschwürde wie die vom UN-Gesandten Munos kritisierte Se-
lektion im Elementar- und Primarbereich gegen das Menschenrecht auf Bildung verstößt)
könnten also sogar eine Monsterwelle auslösen; aber ein solcher Tsunami, der manche Klas-
senschranke und Distinktionsbarriere einfach wegspülen würde, scheint doch von relevanten
Teilen der Bevölkerung nicht wirklich gewollt zu werden.
Abb. 5: Studienanfänger Erstes Hochschulsemester nach Bundesländern, erste vorläufige Ergebnisse Dezember 2007
http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pm/2007/12/PD07__502__213,templateId=renderPrint.psml [12.2007]
12 Vgl. für diese Kategorie den kurzen Überblick vgl. U. Banscherus: Hochschulzugang für nicht-traditionelle Studierende – ein Luxusproblem? In: BdWi/fzs (Hrsg.): Bildung – Beruf – Praxis. Bildungsreform zwischen
HDP 8/2008, S. 10
(3) Das Bildungsgebot der Wissensgesellschaft und das Leistungsgebot des Wettbe-
werbsstaats
Bevor wir genauer dieses Phänomen des Festhaltens an Klassenschranken und Distinktions-
barrieren in Deutschland einkreisen, ist ein Blick auf die diskursive Landschaft angeraten. In
den 80er Jahren war die Kritik am „Ungleichheitsbedarf“ moderner Gesellschaften fast zur
Selbstverständlichkeit geworden. Man konnte zu dieser Zeit auf eine gut fundierte For-
schungstradition zurückschauen, die schon am „bürgerlichen“ Postulat der Chancengleichheit
(oder -gerechtigkeit), an der Leistungsgesellschaft (Meritokratie) anzusetzen begann und de-
ren apodiktische Voraussetzung als strukturell notwendiges Moment der Ungleichheitsrepro-
duktion kritisierte.
Einige Entwicklungen in der Debatte haben diese Argumentationen durcheinander gewirbelt,
teilweise völlig außer Kraft gesetzt. Mitte der 80er Jahre begann der Individualisierungsdis-
kurs, aber auch der (insbesondere feministische) Dekonstruktivismus dazu beizutragen, die
tatsächlich allzu starren Kollektivkategorien der Ungleichheitsforschung zu verunsichern. Ein
weiteres Moment war die einsetzende Diskussion über die Wissensgesellschaft, die mit Bei-
trägen von Lyotard und Bell zwar schon in den 70ern startete, jedoch erst zusammen mit der
in den 90ern immer häufiger, dann fast zwanghaft diagnostizierten Globalisierung richtig
Fahrt aufnehmen konnte. So konnte der 1997 amtierende Bundesbildungsminister Rüttgers im
Bundesbericht Forschung verlautbaren lassen: „Wettbewerbsvorteile haben diejenigen Län-
der, die bei der Erzeugung und Verteilung von Informationen, bei der effizienten Umwand-
lung in Wissen und insbesondere bei der breitenwirksamen Nutzung von Wissen Erfolge ver-
zeichnen.“13 Hier wird gesteigerte Wissensproduktion einzig als Kampfmittel eines „Wett-
bewerbsstaates“14 verstanden.
Für den weiteren Verlauf unserer Argumentation ist es wichtig, zwei Momente auseinander-
zuhalten, die meist konfundiert werden. Die analytische Unterscheidung der Ausweitung des
Wissens und der Steigerung des Wettbewerbs mit Hilfe der Ressource Wissen verdeutlicht,
Elfenbeinturm und Verwertungslogik. BdWi-Studienhaft, Marburg 2007, S. 45-47 13 Zitiert nach T. Köhler/J. Gapski: Studentische Lebenswelt, Hannover 1997, S. 10; für einen kurzen Einblick
vgl. dies.: Neuer Konformismus und Wissensgesellschaft, in: AGIS-INFO 5/1997, leicht gekürzt unter http://www.agis.uni-hannover.de/agisinfo/info4/neokonf.htm [10.07]
14 Vgl. den Klassiker zu diesem Begriff J. Hirsch: Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus, Berlin 1995 unter www.nadir.org/nadir/archiv/Diverses/pdfs/hirsch_wett-bewerb.pdf [10.07]
HDP 8/2008, S. 11
dass sich die zentralen Momente der idealtypisch zugespitzten Konzepte einer Wissens- und
einer Leistungsgesellschaft nicht bedingen, sondern geradezu gegeneinander ausschließen:
- die im Begriff Wissensgesellschaft enthaltene Konnotation der Ausweitung des Wissens
(bzw. des general intellect) zielt prinzipiell erst einmal nur auf eine möglichst breite Betei-
ligung an möglichst freier Bildung, durchaus unter der Annahme, dass hierdurch auch neue
Positionen, neue Berufsfelder, vielleicht sogar ganz neuartige Konstellationen von Arbeit,
Wissen und Eigentum entstehen. Die Perspektive muss hier immer sein: „Wissen repräsen-
tiert ein Positivsummenspiel: Alle können gewinnen.“15 Von diesem Positivsummenspiel
auszugehen ist längst auch die Haltung der OECD-Bildungsökonomen und anderer Akteu-
re der internationalen bildungspolitischen Landschaft;
- die Leistungsgesellschaft öffnet hingegen Bildungsinstitutionen nur unter der Bedingung,
dass damit der allgemeine Wettbewerb gestärkt wird, also nicht nur die „Ausschöpfung
von Begabungsreserven“ optimiert werden kann, sondern mit dieser Ausschöpfung auch
eine kompetitive Auslese (Selektion) der vermeintlich Leistungsfähigsten betrieben wird.
Während die Wissensgesellschaft als Modell der umfassenden Extension kognitiver Kapazitä-
ten als wichtige analytische Kategorie für den Zugang zu entwicklungslogischen Potentialen
moderner Gesellschaften fungieren kann, meistens allerdings für ideologische Zwecke einge-
spannt wird, scheint jedem Konzept einer Leistungsgesellschaft von vorneherein Ideologi-
sches zuzueignen. Der semantische Kern dieser Kategorie besteht ja offenbar darin, Herr-
schaftsstrukturen zu legitimieren: In einer wahrhaftigen Leistungsgesellschaft soll nicht der
Adel oder eine Klasse von Besitz- oder Bildungsbürgern, sondern keine andere als die quali-
fizierteste, kompetenteste und kreativste Gruppierung herrschen, nur die Leistungsfähigsten
sollen oben stehen, die Führung übernehmen. Bei der empirischen Suche nach einer mög-
lichst gelungenen Umsetzung dieser ja nur sehr groben Vorgabe fällt indessen schnell auf,
dass es ganz und gar nicht leicht zu überprüfen ist, was denn eigentlich „gelungen“ heißen
soll. Es tauchen jedenfalls schnell völlig unterschiedliche Modelle einer solchen Umsetzung
auf, wenn etwa die doch extrem kleine Gruppe der PISA-Tabellenführer verglichen wird, in
der hohe „Leistung“ mit geringer Ungleichheit verbunden werden: haben Finnland und Süd-
korea, Kanada und Japan denn wirklich vieles gemeinsam, was unter dem Begriff Leis-
tung(sgesellschaft) beschrieben werden könnte?
15 N. Stehr: Moderne Wissensgesellschaften, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 36/2001, S. 7-14, ein Text, der sich für den schnellen Einblick in das Forschungsfeld eignet.
HDP 8/2008, S. 12
Da Wissens- und Leistungsgesellschaft analytisch zwar leicht getrennt von einander betrach-
tet werden können, im gesellschafts- und bildungspolitischen Diskurs aber fast unauflöslich
miteinander verknüpft sind, wird die Wissens-/Leistungsgesellschaft als eine Art Dispositiv
gesehen und von der Kritik zu Recht als „ideologisch“ gebrandmarkt.16 Sie ist als eine in sich
widersprüchliche Gedankenfigur sowohl auf eine expansive Wissensproduktion, auf eine fort-
schreitende Arbeitskraftmobilisierung und -verwertung, wie auch auf die Reproduktion von
Hierarchien und Privilegien gerichtet. Dass die Wissens-/Leistungsgesellschaft der Produkti-
on und dem Erhalt von Legitimation für die in den letzten Jahren zügig ausgebauten sozialen
Ungleichheiten dient, wollen wir im nächsten Abschnitt belegen.
(4) Restrukturierung von Klasse als Elite und Masse durch Bildung
Die Idee der Statuszuweisung über Leistung kam auf im ausgehenden 19. Jahrhundert, als das
Bürgertum seiner wirtschaftlichen Macht entsprechende politische Partizipationsmöglichkei-
ten einforderte. Das Wort „Elite“ wurde damals zum Kampfbegriff, durch Leistung sich als
Führungsgruppe ausweisende Bürger sollten/wollten an Stelle des qua Geburt regierenden
Adels das Sagen haben. Das klang damals noch halbwegs einleuchtend17, verdeckte aber zu
dieser Zeit schon die Tatsache, dass stets alte „Eliten“ oder Klassenfraktionen relativ zu den
neuen in einem Kampf um die Macht verstrickt sind. Die Etablierten gaben nie kampflos auf,
und sie stehen immer noch „an der Spitze“18, wobei diese indikative Ortsbeschreibung präzi-
siert werden müsste. Die einfache hierarchische Ständestruktur hat sich aufgelöst in eine
komplexe Klassenstruktur, die mehrdimensional gegliedert ist, einen sozialen Raum darstellt,
in dem die verschiedenen Klassen und Klassenfraktionen um die einflussreichen Positionen
kämpfen. Hierbei geht es nicht nur darum, Terrain zu erobern, sondern auch Terrain zu ver-
teidigen, in dem der relative Abstand zu anderen reproduziert wird.
Im Abschnitt zum Teilhabegebot war bereits darauf hingewiesen worden, dass die Expansion
des Bildungssystems in klassenspezifisch unterschiedlicher Weise genutzt wurde. Insgesamt
erhöhte sich das Bildungsniveau der Bevölkerung, aber an den Relationen änderte sich kaum
etwas. Die Beteiligung in den Ausbildungsinstitutionen des Tertiären Sektors wies ebenfalls
16 Vgl. für einen kurzen Überblick U. H. Bittlingmayer: Die politische Leerformel ‚Wissensgesellschaft’, in: BdWi/fzs 2007 (vgl. Fn. 12), S. 15-17
17 Wobei man es fast als Ironie der Geschichte bezeichnen kann, dass manche Verfechter des Elitestandpunktes und Entwickler von Elitetheorien (wie Vilfredo Pareto, Robert Michels und José Ortega y Gasset) zu Wegbe-reitern und Apologeten faschistischer Herrschaft wurden. Dass sowohl Adel als auch Bürgertum die Faschis-ten als Pöbel ansahen und eben nicht als Elite ist hinlänglich bekannt.
HDP 8/2008, S. 13
bei einer erhöhten Beteiligung insgesamt klassenspezifische Differenzen auf – je höher die
Sozialschicht, um so höher der Ausbildungsweg. Die behutsame Diversifizierung, die in das
Bildungssystem über die Jahrzehnte Einzug hielt, entspricht der schleichenden Fraktionierung
und Ausdifferenzierung der Klassenlagen – bei einem allgemeinen „Fahrstuhleffekt“ (Beck),
einer Erhöhung des durchschnittlichen Wohlstands- und Bildungsniveaus blieben doch immer
die Relationen der Klassen zueinander erhalten. Dennoch waren angesichts der mit dem Fahr-
stuhleffekt sich weiter verfeinernden Unterschiede, der zunehmenden Pluralisierung der Le-
benslagen, wachsenden Individualisierung und der Auflösung traditioneller Bindungen die
Klassenlagen einigermaßen unübersichtlich geworden.
Erst mit einer offensichtlichen Expansion der Gelegenheitsstrukturen eines Teils der Bevölke-
rung bei gleichzeitiger Reduktion der Chancen eines anderen Teils nehmen die Kämpfe um
vorteilhafte Positionen an Dramatik wieder zu.
Genau das passiert seit rund 15 Jahren wieder. Ein immer noch wachsender finanzkapitalisti-
scher Sektor und die entsprechende neoliberale Globalisierung sind häufig genannte Stich-
worte. Einer neu entstandenen transnationalen Klasse der „Symbol-Analytiker“ (R. Reich)
bzw. den Profiteuren der „Netzwerkpolis“ (L. Boltanski, E. Chiapello) steht mit dem im digi-
talen Kapitalismus immer rascher voranschreitenden Abbau gering qualifizierter Arbeit eine
neu anwachsende Armutsschicht gegenüber. Der internationale Reichtumsboom19 und die mit
ihm einhergehende neue Armut sind längst auch in Deutschland angekommen. Das gleichzei-
tige Aufkommen von immer mehr Einkommensmillionären und immer mehr ALG II-Armut
wurde von massiven symbolischen Kämpfen begleitet, in denen der Situation angemessene
legitimatorische Verfahren und Diskurse etabliert wurden. Die Durchsetzung der Anerken-
nung legitimer Währungen für die Positionierungen im Machtfeld ist Teil der Kämpfe – aktu-
ell scheint man sich für die auseinanderdriftende Verteilung von Kapitalressourcen auf das
Wissens-/Leistungsdispositiv als Leitwährung geeinigt zu haben. Nun kann keine andere In-
stanz der Gesellschaft Ungleichheiten so gut, so subtil, so dauerhaft legitimieren wie das Bil-
dungssystem. Bildungssysteme inkorporieren die Ungleichheit einer Gesellschaft in die Sub-
jekte, sie verankern soziale Distanzen gleichsam in loco parentis in den individuellen Orien-
tierungshaushalt. Und eine Gesellschaft, die sich wachsende soziale Ungleichheit zur Thera-
18 Vgl. B. Krais (Hrsg.): An der Spitze. Von Eliten und herrschenden Klassen, Konstanz 2001 19 Anschaulich dazu R. Frank: Richi$tan. A Journey through the 21st Century Wealth Boom and the Lives of
the New Rich, New York 2007
HDP 8/2008, S. 14
pie ihrer ökonomischen Probleme verschreibt, wird auch einen Bedarf an neuen, noch größere
Distanzen legitimierende Ungleichheitsstrukturen im Bildungssystem haben.
Aber die Entwicklung wachsender ökonomischer Ungleichheit ist nicht das einzige Problem,
das vom Bildungssystem kompensiert werden soll. Die Selektionsfunktion des Systems
garantiert ja nicht nur, dass diejenigen, die es durchlaufen, in vermeintlich leistungshomogene
Gruppen sortiert werden, sondern sie sorgt auch dafür, dass potentielle Arbeitgeber sich vor-
stellen können, über welche Fertigkeiten und Kenntnisse jemand verfügt, der oder die einen
bestimmten Bildungstitel trägt. Angesichts der mit der Leistungsselektion einhergehenden
sozialen Selektion beinhaltet dies auch Vorstellungen über die sogenannten sekundären
Merkmale, eben über jene Merkmale, die im klassenspezifischen Habitus verkörpert werden
und für den Aufstieg in Führungspositionen so wichtig sind. Die „Inflation der Titel“, die mit
der Ausweitung des tertiären Bildungssektors ab den 1960er Jahren Einzug hielt, hat über die
Unterscheidung von Fachhochschule und Universität, über die Zunahme der sozial noch er-
heblich selektiveren Promotionen im Vergleich zur tertiären Bildungsbeteiligung insgesamt
zwar zu manchen individuellen Aufstiegen geführt, dabei jedoch das System der Abstände
reproduziert. Dieses Reproduktionssystem scheint nun durch zwei Entwicklungen wachsender
kultureller Angleichung gefährdet, auf die – wie schon im Fall der wachsenden ökonomischen
Ungleichheit – Studiengebühren und Exzellenzinitiative eine beruhigende Antwort zumindest
möglich erscheinen lassen.
Die eine Entwicklung liegt in der angestrebten Erhöhung der Studierendenquote20. Unter Bei-
behaltung des alten Systems wird die soziale Selektivität dann zwangsläufig gemindert wer-
den müssen mit der Folge erschwerter Reproduktion des System von Abständen im sozialen
Raum. Distinktionsverlust droht. Solange die Studierenden-, insbes. aber die AbsolventInnen-
quote nicht das kritische Maß überschreitet, verläuft die Reproduktion der Klassen und ihrer
Abstände problemlos. Mit der angestrebten Steigerung auf 40% eines Jahrgangs wächst je-
doch der Bedarf an Distinktion, Exklusivitätsansprüche sollen genauso wie die Verweise auf
zweit- und drittrangige Positionen weiter klar zertifizierbar sein.
Die zweite bedrohliche Entwicklung liegt in der Internationalisierung nicht nur der Bildungs-
abschlüsse im Zuge des Bologna-Prozesses, sondern dieser ist selbst eher als Folge der
Globalisierung des Marktes um Köpfe und Positionen zu sehen. Das Feld der Macht, der
soziale Raum sind nicht länger national begrenzt – die OECD-Studien und die Debatte um 20 ...wobei es angesichts der Bilanz von Bildung auf einen Blick 2007 nicht nur um die Anhebung der Hoch-
schulabschlüsse auf niedrigem Niveau gehen kann, sondern im OECD-Vergleich Deutschland auch gerade im Bereich der höheren Abschlüsse wird zulegen müssen.
HDP 8/2008, S. 15
Raum sind nicht länger national begrenzt – die OECD-Studien und die Debatte um das Ran-
king, also um eine Leistungsschau der Mitglieds- sowie der assoziierten Länder zeigen dies
sehr deutlich. Selektions- und Allokationsfunktion der nach wie vor national operierenden
Bildungssysteme sind also nicht mehr nur auf den nationalen Markt bezogen, Absolventen
konkurrieren nicht mehr nur untereinander, sondern auch mit Absolventen der Bildungssys-
teme anderer, der leistungsfähigeren, besseren, kompetenteren Länder.
Beide Entwicklung verlangen nach neuen Möglichkeiten der Distinktion, erfordern innovative
Ideen zur Reproduktion des Systems sozialer Abstände. Dabei scheinen die Einführung von
Studiengebühren und Exzellenzinitiative untrennbar miteinander verbunden. Das eine macht
ohne das andere keinen Sinn – nicht dass politische Entscheidungen in der Vergangenheit
immer unmittelbar ihren Sinn offenbar hätten, häufig nicht einmal nach langer Zeit – betrach-
tet man jedoch die Möglichkeiten, die sich aus dieser Kombination ergeben, scheint ein wirk-
lich rationaler Plan dahinter zu stehen.
(5) Das neue Hochschulfeld
Nur auf den ersten Blick scheint die Einführung von Studiengebühren dem selbst gesteckten
Ziel der Erhöhung der Studierendenzahlen zu widersprechen – früher oder später werden sie
sich wieder auf dem üblichen Niveau einpendeln, man wird sich daran gewöhnen und viel-
leicht gibt es ja doch noch irgendwann ein Stipendiensystem. Was diese Neuerungen aber auf
jeden Fall bewirken wird eine drastische Veränderung in der Selektions- und Allokationska-
pazität des tertiären Bildungssystems. Im Unterschied zu den anderen führenden Industriena-
tionen wie die USA, Großbritannien, Frankreich und Japan gibt es in Deutschland bis heute
keine Bildungseinrichtungen, welche den Absolventen spätere gesellschaftliche Spitzenposi-
tionen garantieren. Es gibt auch keine Elitebildungseinrichtungen, die über die nationalen
Grenzen hinaus über eine hohe Reputation verfügen – im Unterschied zu öffentlichen For-
schungseinrichtungen, die in Deutschland erstaunlich strickt von den Universitäten, in denen
doch Forschungsergebnisse in die Lehre eingebracht werden sollen, getrennt sind21. Für inter-
national operierende Organisationen, unabhängig davon ob Wirtschaft, Forschung, Politikbe-
21 Die Max-Planck-Institute, die Institute der Frauenhofer- und Helmholtzgesellschaft und wie sie noch alle heißen berufen zwar ihre Direktoren in der Regel gemeinsam mit ortsansässigen Universitäten, faktisch wer-den diese jedoch in erster Linie gebraucht, um die Nachwuchswissenschaftler der Forschungsinstitute zu promovieren. Diese Trennung zwischen infrastrukturelle hervorragend ausgestatteten öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen mit Vollzeitforschern und infrastrukturell deutlich minder ausgestatteten Universi-täten mit per definitionem Halbtagsforschern ist in der Konsequenz wie wir sie in Deutschland finden, auch relativ einmalig.
HDP 8/2008, S. 16
ratung o.a. im Zentrum ihrer Aktivitäten steht, gibt der deutsche Bildungsmarkt keine Hilfe-
stellung bei der Vorauswahl des zu rekrutierenden Personals – die Hochschulen und die Ab-
schlüsse sind nominell alle gleich viel Wert, es lassen sich keine Distinktionsgewinne erzie-
len. Unter den Bedingungen hoher sozialer Selektivität noch relativ unproblematisch, unter
den Bedingungen erhöhter Bildungsbeteiligung im tertiären System tödlich, es sei denn man
geht gleich zum Studium ins Ausland – das gehört sich aber auf der Ebene des Bachelor nur
für die Angehörigen von Dritt-Welt-Ländern, in denen die nationalen Bildungseinrichtungen
ein niedrigeres Niveau haben.
Exzellenzinitiative verbunden mit Studiengebühren eröffnen hier nun ganz neue Möglichkei-
ten. Richard Münch und Michael Hartmann22 sind aufgrund ihrer Forschungsarbeiten zu (a-
kademischen) Eliten, deren Herstellung und Reproduktion besonders sensibilisiert für die
Folgen der augenblicklich stattfindenen und noch längst nicht abgeschlossenen Umstruktie-
rungen. Beide formulieren sehr ähnlich klingende Prognosen, Münch stärker bezogen auf die
inneruniversitären Veränderungen oder auch auf das gesamte akademische Feld, Hartmann
stärker unter dem Blickwinkel der Reproduktion sozialer Ungleichheit. Die Argumentation ist
für Kenner des akademischen Feldes unmittelbar einleuchtend: die aus der Exzellenzinitiative
siegreich hervorgegangenen Universitäten werden finanziell besser ausgestattet als der Rest.
Für die Anschubfinanzierung wurden hierfür aus dem Bundeshaushalt zusätzliche Mittel be-
reit gestellt. Auf Dauer werden die Gesamtzuweisungen an die Hochschulen jedoch wohl nur
in geringem Umfang zunehmen, so dass sich die Schieflage zwischen herraussragenden und
normalen Universitateten auf Dauer verstärken wird. Studienbeiträge werden dazu genutzt
werden müssen, die Infrastruktur einigermaßen aufrecht zu erhalten.
Doch die Eliteuniversitäten haben ein Problem, eines dieser Verwaltungsungeheuer, genannt
Kapazitätsverordnung. Diese Verordnung schreibt fest, wieviele Studierende bei welchem
Personalbestand in einem gegebenen Studiengang aufgenommen werden müssen. Sie sorgt
somit dafür, dass in jeder Hochschule – und in den Bundesländern jeweils sehr ähnlich – das
quantitative Verhältnis von Lehrenden und Lernenden gleich ist, dass sich keine dem öffentli-
chen Recht unterliegende Hochschule durch ein besonders gute Betreuungsrelation auszeich-
nen kann. Bislang. Rein formal könnten Stiftungshochschulen bereits heute von den Vorga-
HDP 8/2008, S. 17
ben abweichen, aufgrund ihrer Rechtsform sind Regierungsverordnungen und -erlasse nicht
bindend. Faktisch sind sie es schon, da auch die Stiftungshochschulen von öffentlichen Mit-
teln leben und im Falle einer Nichtanwendung von Verordnungen und Erlassen Sanktions-
möglichkeiten offenbar sind. Wahrscheinlicher ist, und manche Lobbyisten arbeiten bereits
daran, dass die Kapazitätsverordnung fällt. Hochschulen könnten dann mit Unterschieden in
den Betreuungsrelationen werben, aber natürlich nur, wenn sie auch über die finanziellen Mit-
tel hierzu verfügen. Die in der Exzellenzinitiative ausgezeichneten Hochschulen bekommen
bereits jetzt zusätzliche Mittel, und natürlich wird „man“ dann bereit sein, für eine bessere
Ausbildung, einen besseren Klang des Titels auch mehr zu bezahlen – wie die angelsächsi-
schen Beispiele zeigen. Die Hochschulgesetze mancher Bundesländer stellen es bereits jetzt
in die Verantwortung der einzelnen Hochschulen, wie hoch die Studiengebühren bei ihnen
sind, andere Länder können über kurz oder lang nachziehen. Einige jedenfalls, bei anderen,
den Verlierern, wird das keinen Sinn machen. Sie müssen sich ganz auf die Massenausbil-
dung spezialisieren, bleiben bei geringen Gebühren und stellen sich auf die verschlankte Stu-
dienstruktur des Bachelor ein. Und dementsprechend wird die Steuerung der sozialen Selekti-
on über die Höhe der Studienbeiträge23 funktionieren. Im Ergebnis wird die neoliberale Dere-
gulierungspolitik im Bildungssektor, die damit verbundene Ökonomisierung der Bildung un-
ter dem Primat der Leistungsideologie eine Diversifizierung der Hochschullandschaft nach
sich ziehen, welche es leichter machen wird, Distinktionsgewinne zu realisieren und das Sys-
tem sozialer Abstände zu reproduzieren, als es jemals in der Geschichte Nachkriegsdeutsch-
lands möglich war. Vor allem lassen sich jetzt aber die Studierendenquoten erhöhen, ohne
dass die sozialen Abstandsmarkierungen dabei verloren gehen würden: die neue Struktur
schafft eine neue Segregationsgrenze, die Elite und Masse wieder so deutlich wie erträumt
unterscheidbar werden lassen.
22 R. Münch: Akademischer Kapitalismus, in: Die Zeit Nr. 40, 2007, http://www.zeit.de/2007/40/Akademi-scher-Kapitalismus [11.07]; ders.: Schafft den Mittelbau ab! Einheit von Forschung und Lehre jenseits von Oligarchie und Patriarchat, in: Forschung & Lehre, 14. Jg., 9/07, S. 530-533; ders.: Wissenschaft im Schat-ten von Kartell, Monopol und Oligarchie. Die latenten Effekte der Exzellenzinitiative, in: Leviathan, 34. Jg., 2006, S. 466-486; Michael Hartmann, Die Exzellenzinitiative – ein Paradigmenwechsel in der deutschen Hochschulpolitik, in: Leviathan, 34. Jg., 2006, S. 447-465
23 Eine weitere Neuerung an den Hochschulen, die universitätsspezifischen Zulassungsverordnungen, stärken die Auswahl aufgrund persönlicher Gespräche, Concours oder was immer sich die Hochschulen haben ein-fallen lassen, um sich ihre Klientel zu einem immer größeren Anteil handverlesen aussuchen zu können, wird diese noch verstärken. Siehe dazu die Beschreibung zur Entwicklung der Elitebildungseinrichtungen in Eu-ropa nach dem Zweiten Weltkrieg in M. Hartmann: Eliten und Macht in Europa. Ein internationaler Ver-gleich, Frankfurt am Main/New York 2007, S. 61-82; S. Kiel: Willkommen im Club der Auserwählten! In: Studiengebühren, Elitekonzeptionen & Agenda 2010. BdWi-Studienheft, Marburg 2004, S. 13-16; H. Keupp: Unternehmen Universität. Vom Elfenbeinturm zum Eventmarketing, in: Blätter für deutsche und in-
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(6) Die neuen Studierenden
„When students choose colleges,
institutions advertise education as a service and a life style.”24
Die stärkere Differenzierung der Hochschulabschlüsse – Bachelor und Master statt nur Dip-
lom oder Magister – die Differenzierung der Hochschulen in exzellente und Rest, der in sich
wiederum differenziert werden wird in reichere und ärmere mit je unterschiedlicher Infra-
struktur, basiert auf politischen Entscheidungen, so dass man aktuell durchaus mit Beate
Krais, in Anlehnung an Bourdieu sagen kann: „die Herrschaft der Bourgeoisie wird nicht nur
über ‚Sachzwänge‘ und die ‚Gesetze des Marktes‘, sie wird auch durch politische Prozesse
und kulturelle Mechanismen befestigt; sie konstituiert eine umfassende, komplexe soziale
Ordnung, die in der Sphäre der Politik und in den staatlichen Instanzen ebenso verankert ist
wie im sozialen Leben und in den gesellschaftlichen Institutionen.“ (Krais 2001: 29) Diese
Komplizenschaft von Politik und herrschender Klasse, der Beitrag der ideologischen Verbrei-
tung des Leistungsideals zur Reproduktion bestehender Herrschaftsverhältnisse und sozialer
Ungleichheit ist etwas, das heute gespürt wird. Vielleicht ist es vergleichbar der Situation am
Ende des 19. Jahrhunderts, als das Bürgertum der Herrschaft des Adels, der Inthronisation
qua Geburt den Leistungsgedanken und den Elitebegriff entgegensetzten, um ihrer Leistungs-
kraft entsprechend an der Herrschaft beteiligt zu werden. Ähnlich scheinen auch die heute
Ausgeschlossenen, oder vom Ausschluss Bedrohten, den Widerspruch propagierter Chancen-
gleichheit und faktischer Klassenreproduktion zum Anlass zu nehmen, den Etablierten wieder
etwas entgegen zu setzen, nämlich den Kampf auf der symbolischen Ebene über die Bedeu-
tung der Änderungen im tertiären Bildungssystem aufzunehmen.
Lässt sich die zeit-räumliche Strukturierung von Bildungsprozessen, bei der es um die Her-
stellung von dauerhafter Produktivität und Ungleichheit bzw. den Widerstand gegen diese
Herstellung (die als Enteignung erfahren wird) geht, in eine feldtheoretische Perspektive fas-
sen, wie es bis hierhin versucht wurde, dann kann aus dieser Perspektive auch etwas über
neue Studierweisen, über die neuen Studierenden gesagt werden. Die Etablierung von Quali-
fikationseliten als geschlossene Gruppen aus der anerkannten „oberen Schicht“ oder besser
ternationale Politik 10/2007, http://www.blaetter.de/artikel.php?pr=2669 24 S. Slaughter/ G. Rhoades: Academic Capitalism and the New Economy. Markets, State, and Higher Educa-
tion, Baltimore 2004, S. 1, einige Seiten finden sich unter http://www.amazon.com/gp/reader/0801879493/ ref=sib_dp_pt/105-2498554-5250809#reader-link
HDP 8/2008, S. 19
der „herrschenden Klasse“ mit ‚herausragender’ Bildung ist ein greifbarer Effekt aus der
Kombination von Exzellenzinitiativen, Einführung gestufter Studiengänge und Studiengebüh-
ren. Gleichzeitig wird ein Teil des Studierendenmilieus auf dem Niveau einer keineswegs
exzellenten College-Ausbildung verharren müssen. Garantierte das Studium zuvor immerhin
den offiziell gleichwertigen Abschluss, so wird es bald große Teile Studierender ohne Chance
auf den Master geben. Während heute noch Kapitalhintergrund und der Habitus großen Ein-
fluss auf die Karriere nach dem Studium haben, könnten bald Studientitel und -ort wieder zu
eindeutiger Aussagekraft gelangen. Aus einer anderen Perspektive betrachtet könnte man
mutmaßen: in dem Moment, da PISA vielleicht über das differenzierte Schulsystem obsiegt,
kehrt die Differenz ein Stockwerk höher wieder ein.
So gesehen bleibt aber auch die Ahnung, das im Rahmen dieses umgebauten Bildungssystems
immer noch manche Verbesserung sich Bahn brechen wird. Ärgste Probleme der Selektion
und Segmentierung durch das System liegen ja auf der Sekundarstufe. Gerade die, die derzeit
noch kaum Chancen haben, ein Studium als
a service and a life style wahrzunehmen,
könnten bald immerhin in die Reichweite
eines passablen Bachelors kommen. Und
die Eingemeindung vieler Ausbildungsbe-
rufe in den akademischen Bereich scheint
ja längst überfällig. Für diese Kategorie
von Studierenden, die in Zukunft das
größte Wachstumspotenzial haben dürfte,
ist die Befreiung von Studiengebühren
wohl die einzige Möglichkeit, auch etwas
von den Freiheiten der Wissenschaften zu
erfahren. Die Befreiung von Studiengebüh-
ren und der Kampf um Muße für die
Wissenschaft ist immer schon am wichtigs-
ten für die gewesen, die ‚von Haus aus’ ge-
ringe Kapitalressourcen mitbringen, die
meist einen Nebenjob brauchen, die vielleicht schon Kinder haben etc.; oft finden sich hier
Langzeitstudierende, für die die Gebühren jetzt eine existenzielle Frage darstellen. Für sie
sollte das Projekt einer Idle League ins Auge gefasst werden, einer Hochschule, die Phasen
Abb. 6: Langzeitstudierende...weichen in die letzten gebührenarmen Länder aus.
http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pk/2007/Hochschulstandort/begleitmaterial,property=file.pdf
HDP 8/2008, S. 20
der Muße und Theorie auch und gerade denjenigen einräumt, die dazu qua Geburt nicht aus-
ersehen sind.
(7) Von der Theorie des Hochschulfeldes zur Pragmatik der „Studienbeiträge“
Wenn die Studiengebühren zwar abzulehnen sind, aber nun einmal existieren, muss ein Um-
gang mit ihnen gefunden werden. Wie also mit ihnen umgehen?
Auf der Wissenschaftskonferenz wurden von Peer Pasternack zwei politische Postulate for-
muliert, (a) das der Gesetzeskonformität und Haushaltstransparenz und (b) das der Reversibi-
lität; wir fügen (c) das Postulat der lebendigen Denunziationskultur hinzu.
(a) Das Postulat der Gesetzeskonformität und Haushaltstransparenz erscheint trivial, versteht
sich beides doch von selbst. In der Praxis sind aber schon jetzt Verstöße dagegen unzäh-
lig. Gelder aus Tutorenprogrammen werden umgeschichtet, das sie jetzt aus Studienge-
bühren bezahlt werden können; man schafft verschraubt konstruierte Dauerstellen, die
nur im Nebeneffekt auch die Lehre verbessern; das Geld versickert in baulichen Maß-
nahmen; usf. Tatsächliche Konformität und Transparenz kann nur gewährleistet werden,
wenn die Mittel „unabhängig von staatlicher Exekutive und Hochschulverwaltung, allein
über akademische Strukturen“ verteilt werden und wenn die Studierenden, so Pasternack
in seinem Vortrag, dann noch „in entscheidender Weise an der hochschulinternen Vertei-
lung beteiligt werden“.
(b) Wer Studiengebühren ablehnt und sich dennoch pragmatisch zu ihnen verhalten muss,
wird auf den reversiblen Mitteleinsatz acht geben: alles, was aus ihnen finanziert wurde
und wird, muss klar identifizierbar und disponibel bleiben. Sie dürfen also nicht für Dau-
erzweckbestimmungen (Entfristung, Hochschulbau) eingesetzt werden. Studiengebühren
dürfen ausschließlich zur Lehrunterstützung, also (auch nicht in verringertem Anteil einer
Stelle) für Forschungszwecke ausgegeben werden, schon weil die entsprechenden Stellen
dann nicht mehr von den normalen Haushaltsmitteln unterschieden werden können.
Bis hierhin erfüllt offenbar eine Institution wie die in Hildesheim geschaffene Studienbei-
tragskommission die Bedingungen, diesen Postulaten nachzukommen, vortrefflich. Besonders
die aktiven Studierenden sind (derzeit jedenfalls noch) gegen die Gebühren, sie werden die
Kommission nutzen müssen, um die Mittel Transparent und Reversibel einzusetzen.
Auch für das dritte Postulat könnte die Kommission ein gute Basis bieten:
(c) Mit der lebendigen Denunziationskultur meinen wir eine Praxis, die es trotz der Komple-
xität der Materie und der Unübersichtlichkeit der Prozesse ermöglicht, Verstöße zu iden-
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tifizieren und öffentlich zu machen. Nicht nur auf einzelne Akteure bezogen, nicht nur
inneruniversitär: die Landesastenkonferenz sollte bspw., soweit möglich, mit dem Lan-
desrechnungshof kooperieren. Die Arbeit der Kontrolle und des öffentlichen Monierens
ist aufwendig und kompliziert, kann aber vielleicht im Rahmen der Arbeit der ASten
auch verstetigt werden, wenn es gelänge, professionelle Mitarbeiter (Juristen!) über Stu-
diengebühren für diese Aufgabe zu finanzieren.
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