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Symptomlose Vertebralisdissektion nach Oberarmfraktur und Plexusparese Fallbericht

Bernd Illerhaus1, Martin Scholz1, Matthias König2, Albrecht Harders1

Zusammenfassung Vertebralisdissektionen können traumatisch, spontan oder iatrogen verursacht werden. Während spontane Vertebralisdis-sektionen häufiger sind, finden sich in der Literatur Einzelfallberichte von traumatischen Vertebralisdissektionen. Gerade bei polytraumatisierten Patienten ist die frühzeitige diagnostische Erkennung schwierig, und die geschilderten Beschwer-den des Patienten können leicht als Folge der Polytraumatisierung verkannt werden. Im Gegensatz zu den Vertebralisdis-sektionen stehen die traumatischen Ursachen der Ätiopathogenese von Armplexusläsionen an erster Stelle. Trotz ihrer ätiopathogenetischen Gemeinsamkeiten wurde nach Kenntnisstand der Autoren in der Literatur bisher noch keine Kombi-nation beider Verletzungen beim traumatisierten Patienten beschrieben.

Schlüsselwörter: Traumatische Vertebralisdissektion · Plexus-brachialis-Läsion · Outcome

Klin Neuroradiol 2004;14:252–5 DOI 10.1007/s00062-004-5393-3

Asymptomatic Vertebral Artery Dissection after Humeral Shaft Fracture and Plexus Paresis

Abstract Dissections of vertebral artery can have a traumatic, spontaneous or iatrogenic origin. Although spontaneous dissection of vertebral artery is more frequently found, also cases of traumatic dissections are reported in the literature. Especially in polytraumatized patients, early diagnostic detection may prove difficult and complaints reported by the patients can be misinterpreted. In comparison with vertebral dissection, a plexus brachialis injury due to traumatic origin is well known, especially in motorcycle accidents. To the authors’ knowledge the combination of both – plexus brachialis injury and dis-section of vertebral artery as documented by magnetic resonance images in a single patient – has never been reported in the literature.

Key Words: Traumatic dissection of vertebral artery · Plexus brachialis injury · Outcome

1Neurochirurgische Universitätsklinik Bochum, Knappschaftskrankenhaus Bochum-Langendreer, 2Institut für Radiologie, Knappschaftskrankenhaus Bochum-Langendreer.

Eingang: 2. August 2004; Annahme: 7. Oktober 2004

FallberichtNeuroradiologieKlinische

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Einleitung Vertebralisdissektionen können traumatisch, spontan oder iatrogen verursacht werden [1, 4, 6–8]. Während spontane Vertebralisdissektionen häufiger sind, finden sich in der Literatur Einzelfallberichte von traumati-schen Vertebralisdissektionen. In vielen Fällen werden traumatische Vertebralisdissektionen bei Motorrad- oder PKW-Unfällen (sog. whiplash injury), aber neuer-

dings auch zunehmend nach Unfällen bei sog. Mode-sportarten wie z.B. Inlineskaten beobachtet [9, 10, 12]. Durch stumpfe direkte Verletzungen im Halsabschnitt oder durch schnelle Kopfbewegungen, z.B. bei chiro-praktischen Behandlungen [13], kommt es zur Ablö-sung der Gefäßintima, Einblutung mit langstreckiger Thrombosierung und Stenosierung oder gar zum Ver-schluss des Gefäßes. Klinisch manifestieren sich Verte-

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bralisdissektionen durch heftigen okzipitalen Kopf-schmerz, Nackenschmerzen, Nausea, Vertigo, Ataxie oder seltener durch ein zentrales Horner Syndrom oder gekreuztes Hirnstammsyndrom [11]. Vertebralisdis-sektionen können klinisch auch völlig inapparent ver-laufen [11]. Gerade bei polytraumatisierten Patienten ist die frühzeitige diagnostische Erkennung schwierig, und die geschilderten Beschwerden des Patienten kön-nen leicht als Folge der Polytraumatisierung verkannt werden.

Im Gegensatz zu den Vertebralisdissektionen ste-hen die traumatischen Ursachen der Ätiopathogenese von Armplexusläsionen an erster Stelle. Plexusläsionen entstehen durch Zerrung, Dehnung, Zerreißung, Quet-schung und Prellung des Plexus brachialis und seltener durch direkte Schnitt- , Stech- oder Schussverletzungen [11]. Zerrungsverletzungen der Armplexus mit und oh-ne Wurzelausriss sind wie die Vertebralisdissektionen häufig durch Motorrad- und PKW-Unfälle ausgelöst.

Trotz ihrer ätiopathogenetischen Parallelen wurde nach unserem Kenntnisstand in der Literatur bisher noch keine Kombination beider Verletzungen beim traumatisierten Patienten beschrieben; nur ein einzel-ner Fallbericht beschreibt eine Schädigung einer zer-vikalen Nervenwurzel, ausgelöst durch das Hämatom einer Vertebralisdissektion [5].

Wir berichten über das kombi-nierte Auftreten beider Verletzun-gen bei einem 34-jährigen Patienten nach einem Motorradunfall.

Fallbericht Ein 34-jähriger Patient erlitt einen Motorradunfall; der genaue Unfall-hergang konnte jedoch nicht eruiert werden. Der Patient zog sich eine rechtsseitige Oberarmschaftfraktur mit traumatischer Zerreißung des rechten Nervus radialis zu, welche in einem auswärtigen Krankenhaus osteosynthetisch versorgt wurde. Anschließend wurde der Patient zur operativen Versorgung der Ner-venverletzung mittels Nervennaht in unsere neurochirurgische Klinik verlegt.

In der neurologischen Aufnah-meuntersuchung wurden bei massi-vem lokalen Schmerzsyndrom und

Schwellung des gesamten rechten Arms eine Fallhand rechts sowie eine Hypästhesie im Bereich des dorsola-teralen Unterarms einschließlich der palmar-dorsalen, radialen Handseite und der Finger I und II diagnosti-ziert. Bei eingeschränkter neurologischer Beurteilbar-keit konnten keine weiteren sicheren sensomotorischen Paresen nachgewiesen werden.

Nach komplikationsloser Operation mit Naht des rechten N. radialis mittels N.-suralis-Interponat kris-tallisierte sich nach Rückgang der massiven Ober-armschwellung und der Schmerzen immer mehr eine proximal betonte, rechtsseitige Plexusparese heraus, die durch zusätzliche sensible Störungen im Ulnaris-versorgungsgebiet und initial komplette Lähmung der Oberarmmuskulatur gekennzeichnet war. Zum Nach-weis evtl. bestehender Nervenwurzelausrisse führten wir eine Kernspintomographie der Halswirbelsäule durch.

In der Kernspintomographie wurden keine Zeichen eines Nervenwurzelausrisses mit Wurzeltaschen gese-hen; jedoch zeigte sich eine langstreckige Vertebra-lisdissektion rechts über eine Distanz von mindestens 5 cm, beginnend Oberkante C3 und nach kaudal rei-chend bis C7, mit einem ausgedehntem Weichteilödem und Hämatom im Bereich des Plexus brachialis (Ab-bildung 1).

Abbildung 2. Axialer T1-gewichteter Schnitt Höhe Halswirbelkörper (HWK) 3 mit deutli-cher Lumeneinengung der A. vertebralis im Seitenvergleich durch die Dissektion rechts; die dissezierte Gefäßwand erscheint relativ scharf abgegrenzt.

Figure 2. Axial T1-weighted image in the level of C3 with significant narrowing of the right vertebral artery lumen due to dissection, the vessel wall appears clearly limited.

Abbildung 1. Kernspintomographie (MRT), T2-gewichteter koronarer Schnitt durch die obere Halswirbelsäule (HWS) mit langstre-ckiger Vertebralisdissektion rechts von Ober-kante C3 bis C7.

Figure 1. Magnetic resonance imaging (MRI), coronal T2-weighted image of the upper cer-vical spine with vertebral artery dissection C3 – C7.

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Duplex-dopplersonographisch konnte die rechts-seitige, intervertebrale Loge der Arteria vertebralis im B-Bild-Modus mit einem Lumen von 0,41 cm (s. Abbil-dung 6 +) dargestellt, jedoch nur dorsal in einem Lumen von 0,19 cm (s. Abbildung 6 *) ein orthograd gerichteter Fluss nachgewiesen werden. Supraklavikulär und im

lateralen Atlasbereich ließ sich der prävertebrale Ab-schnitt der A. vertebralis nicht zweifelsfrei identifizie-ren. Ebenso zeigte sich auf der rechten Seite ein invers gerichtetes Flusssignal am rechten, lateralen Rand des Foramen occipitale magnum, was als retrograder Fluss interpretiert wurde.

Eine zervikale Myelographie er-gab keinen Hinweis auf einen Wur-zeltaschenausriss oder eine Einen-gung des Duralsacks.

Nach Vollheparinisierung und anschließender Marcumarisierung konnte der Patient nach Besserung der Armparese unter intensiver konservativer und krankengymnas-tischer Therapie, bei weiterhin be-stehender rechtsseitiger Radialispa-rese, in eine Rehabilitationsklinik verlegt werden.

In einer Verlaufskontrolle nach 1 Jahr berichtete der Patient eine deutliche Beschwerdebesserung, beklagte jedoch weiter eine deutli-che Bewegungseinschränkung der Handstreckung, der Ellenbogen-beugung und des Faustschlusses so-wie Kribbeln und Hypästhesien im Bereich des Unterarms und der ers-ten drei Finger der rechten Hand.

Abbildung 3. Verlaufs-MRT, T2-gewichteter koronarer Schnitt durch die obere HWS, 19 Tage nach Diagnosestellung.

Figure 3. Follow-up MRI, T2-weighted coronal section of the upper cervical spine 19 days af-ter diagnosis.

Abbildung 4. Verlaufs-MRT, T1-gewichteter axialer Schnitt durch C3, 19 Tage nach Diag-nosestellung.

Figure 4. Follow-up MRI, T1-weighted axial section in the level of C3, 19 days after diag-nosis.

Abbildung 5. Verlaufs-MRT, T1-gewichteter axialer Schnitt durch C5/6, 19 Tage nach Di-agnosestellung.

Figure 5. Follow-up MRI, T1-weighted image in the level of C 5/6, 19 days after diagnosis.

Abbildung 6. Duplexsonographie der intervertebralen Loge, mit deutlicher Lumeneinengung der A. vertebralis rechts (+–+: Gesamtlumen; *–*: Restlumen).

Figure 6. Duplexsonography of the intervertebral space with significant lumen narrowing of the right vertebral artery (+–+ complete lumen, *–* open lumen).

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DiskussionVertebralisdissektionen sind Ursachen für das Auf-treten von Hirnstamminfarkten, besonders bei jungen Patienten. Dissektionen der A. carotis interna und A. vertebralis sind für 20% der Schlaganfälle bei jungen Patienten gegenüber 2,5% bei älteren Patienten verant-wortlich.

In dieser Studie wird ein junger Mann vorgestellt, der bei einem isolierten Trauma der oberen Extremi-tät mit Oberarmfraktur und Plexus-brachialis-Zerrung eine asymptomatische Dissektion der A. vertebralis ipsilateral erlitt, die als Zufallsbefund in der Kernspin-tomographie diagnostiziert wurde.

Dissektionen der A. vertebralis können asymp-tomatisch verlaufen oder auch schwere neurologische Komplikationen bis hin zum Tode nach sich ziehen. Als mögliche Therapieform wird neben einer evtl. erforder-lichen Infarkttherapie die Gabe von Marcumar® oder Thrombozytenaggregationshemmern genauso disku-tiert wie eine abwartende nichtmedikamentöse Thera-pie [11, 14].

Kernspintomographisch finden sich häufig eine mu-rale Signalhypertensität exzentrisch zum Lumen, aber auch irreguläre Stenosierungen und selten auch Aneu-rysmabildungen [3, 15, 18] (s. Abbildungen 1 bis 6).

Die A.-vertebralis-Dissektion ist eine seltene, aber schwerwiegende Begleitverletzung, die bei schwerem Trauma der oberen Extremität, der Halswirbelsäule [17], aber auch insbesondere bei eindeutig nachgewie-senen Verletzungen mit passender neurologischer Kli-nik diagnostisch ausgeschlossen werden sollte.

Prabhakar et al. [16] konnten zeigen, dass derartige Verletzungen auch nach indirekten Minimaltraumen auftreten. Sie berichten über drei Patienten, die Verte-bralisdissektionen nach Stürzen, Tanzen oder Sitzen im Zahnarztstuhl erlitten.

Die Kernspintomographie ist die diagnostische Methode der Wahl, da sie zusätzlich eine Beurteilung hinsichtlich begleitender Plexusläsionen erlaubt sowie die Schwere der Lumeneinengung der Vertebralisdis-sektion zeigt.

Die Doppler- oder Duplexsonographie ist als Erst-untersuchung zwar sinnvoll [2], erfordert aber erhebli-che Übung seitens des Untersuchers, und eine Verte-bralisdissektion lässt sich oftmals nicht sicher ausschlie-ßen.

Gerade bei unklarem Unfallmechanismus ist immer an eine Kombination von Verletzungen zu denken, und trotz eindeutiger Verletzungen, die die klinische Sym-

ptomatik erklären, müssen weitere Verletzungsmuster ausgeschlossen werden.

Frühzeitige Diagnose und Therapie sind für das Outcome der Patienten von großer Bedeutung.

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11. Masuhr KF, Neumann M. Neurologie. Stuttgart: Hippokrates, 1996.12. McCrory P. Vertebral artery dissection causing stroke in sport. J Clin

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Korrespondenzanschrift Dr. Bernd Illerhaus Neurochirurgische Universitätsklinik Bochum Knappschaftskrankenhaus Bochum-Langendreer In der Schornau 23–25 44892 Bochum-Langendreer Deutschland Telefon (+49/234) 299-0, Fax -3609 E-Mail: [email protected]


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