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Page 1: Venedig in Not? mose hilft!

vom 17.09.2011

Um ihrer einzigartige Lagunezu erhalten, arbeiten die Venezianerinzwischen mit Hochdruck an einerSchutzbarriere.

Lange Zeit wegen seiner giganti-schen Größe, Kosten und befürchte-ten Umweltschäden umstritten, hof-fen die Bewohner der Lagune nun,dass „Mose“ sie vor den Fluten derAdria retten wird. Was nach der bibli-schen Geschichte des Propheten Mo-ses klingt, der das rote Meer teilte, umdas jüdische Volk sicher aus Ägyptenzu führen, steht in Venedig für „Mo-dulo Sperimentale Elettromeccani-co“. Insgesamt arbeiten etwa 3600Menschen fast rund um die Uhr andem mobilen Damm. Techniker se-hen darin das „größte Projekt moder-ner Wasseringenieurskunst“ – unddas nicht nur wegen der veranschlag-ten Kosten von rund 4,6 MilliardenEuro.

Ein guter Teil davon wird an der Ha-feneinfahrt des Lido verbaut. Nachgut 20 Minuten Fahrt mit dem Was-sertaxi blickt Elena Zambardi auf Bau-kräne und Bagger. Sie zieht sich einegelbe Warnweste über und verteiltSchutzhelme. Ihr Chauffeur legt füreinen Moment sein Handy beiseite,nimmt Zambardi an der Hand undhilft ihr aus dem wankenden Boot.Maschinenlärm mischt sich mit dem Klang branden-der Wellen. Vom Meer weht ein heißer Wind her-über, der den Staub auf dem Weg zu einer Aussichts-plattform kräftig aufwirbelt.

In einem Becken viele Meter weit unter dieserPlattform wächst das Herzstück des Hochwasser-schutzes. Dort liegen gewaltige Stahlbetonquaderaufgereiht: jeder von der Größe eines mehrstöckigenHauses mit Platz für 200 Menschen. Bald werden dieFundamente des Dammes mit Spezialkränen und perGPS-Navigation millimetergenau im Meer versenkt.„Nur einen Steinwurf entfernt“, sagt Zambardi undzeigt auf die Hafeneinfahrt.

–Die Lagune von Venedigist voller Schätze.–

Etwa 800 Meter war die noch bis vor einigerZeit breit. Inzwischen teilt eine künstlich geschaffeneInsel die Einfahrt in zwei Teile, um den Wellen weni-ger Angriffsfläche zu bieten. Elena Zambardi geht ei-nige Schritte weiter und bleibt dann vor einer Schau-tafel stehen. Das Schutzsystemwirkt auf den ersten Blick ganz ein-fach: Es ist eine Kette aus Barriere-toren, die von einem Ufer der Ha-feneinfahrt bis zum anderenreicht.

Auf den Quadern installierendie Ingenieure ab kommendemJahr insgesamt 78 dieser Tore.Über Scharniere sind die bis zu 28Meter hohen, fünf Meter dickenund 20 Meter breiten Metall-schleusen mit den Fundamentenverbunden.

Fast das ganze Jahr über sollendie im Inneren hohlen Schleusen-tore mit Wasser gefüllt am Meeres-boden liegen und weder den fürdas Ökosystem wichtigen Wasser-austausch noch den für Wirtschaftund Tourismus wichtigen Schiffs-verkehr zwischen Lagune undAdria behindern. Naht aber eine

Flutwelle, pressen die Ingenieure Druckluft ins Inne-re der Schleusen, um das Wasser zu verdrängen, dassie am Meeresgrund hält.

Während das Wasser entweicht, steigen dieSchleusentore auf, bis sie über die Wasseroberflächeherausragen und die Lagune abschotten. „Nach etwafünf bis sechs Stunden ebben die Fluten normalerwei-se ab“, sagt Zambardi. „Dann werden die Schleusenwieder mit Wasser gefüllt und sinken in ihren Sitz amMeeresgrund zurück.“

Die Mose-Mitarbeiterin rückt ihren Helm zurecht,wischt sich den Schweiß von der Stirn und lächelt tap-fer in der Mittagshitze. „Wenn alles nach Plan läuft,wird das System in etwa drei Jahren einsatzfähig sein– dann wird Mose Venedig das Überleben sichern.“Zehntausende Einwohner der Lagune könnten dannruhiger schlafen und mehr als 20 Millionen Touristenauch künftig Jahr für Jahr in Venedig das Weltkulturer-be bestaunen, was den lokalen Geschäftsleuten wie-derum jährlich 1,5 Milliarden Euro Einnahmen ein-bringt. Was der italienische Staat zur Aufgabe „natio-naler Dringlichkeit“ erklärt hat, dient also auch dazu,mit der meistbesuchten Stadt Europas eine echteGoldgrube zu sichern.

Schon heute ist das Mose-Projekt zu zwei Dritteln fertig-gestellt. „Die Schleusen sind da-bei nur der auffälligste Teil“,sagt Zambardi. Inzwischen ha-ben die Venezianer auch 45 Ki-lometer Strand- und Dünen-landschaften sowie 14 Quadrat-kilometer Moor- und Wattflä-chen renaturiert. Das dient ne-ben dem Hochwasserschutzauch der Tierwelt: Denn dortfinden Enten, Reiher, Stelzen-läufer und Austernfischer ihreBrutplätze.

Um den Erhalt der reichenUnterwasserwelt kümmernsich im Auftrag des Mose-Kon-sortiums zahlreiche Subunter-nehmen wie etwa C.A.M Idro-grafica, eine Firma, die sich aufdas Kartographieren der Lagu-ne, das Heben archäologischer

Funde und den Schutz der Fischbestände spezialisierthat.

Omar Salmasi (37) ist einer der Forscher im C.A.M-Team. Mit seiner großen Sonnenbrille, dem weit ge-öffneten Hemd, kurzen Hosen und ausgefranstenSportschuhen sieht der gelernte Unterwasserarchäo-loge heute zwar eher so aus, als sei er an einem freienTag auf dem Weg zum Lido-Strand. Aber das täuscht.

Mit seinem Team fährt Salmasi gleich hinaus aufSee. Aktuell sind sie dabei aber nicht auf der Suche

nach antiken Schiffswracks, sondern versenken ei-gens für den Fischnachwuchs entwickelte Betonqua-der. Ganz rau fühlt sich deren graue Oberfläche an.„Das ist die ideale Kinderstube für Fische“, sagt Sal-masi und sein Kollege, der Biologe Eugenio Beccor-nia, ergänzt: „Sie wirken unscheinbar, aber darin ste-cken sechs Jahre Forschungsarbeit – Material undGröße der Quader sind jetzt perfekt.“

Ihr Schiff, die „Ecostar Venezia“, ist randvoll ge-packt mit den Blöcken. Für heute steht im Auftrags-buch: 60 Stück auf einer Fläche von 20 Quadratme-tern abzusetzen. Was nach einem leichten Sommer-job klingt, ist wegen der heftigen Strömungen vor derKüste eine schwere Aufgabe, die vier Männer einenganzen Tag lang beschäftigen wird. „Wir dürfen dieQuader ja nicht einfach so ins Meer werfen – sie sol-len zentimetergenau auf den Grund gesetzt wer-den“, sagt Salmasi. Gelingt das, so habe der Fisch-laich gute Chancen, sich zu entwickeln.

Am späten Nachmittag, als alle Blöcke versenktsind, zieht sich Omar Salmasi einen Neoprenanzugüber. Er hat das schon Tausende Male gemacht undimmer noch freut er sich auf das, was ihn in der Tiefeerwartet. Heute soll er dabei nur einige Fotos ma-chen, Beweise der geleisteten Arbeit. Die Kollegenschauen zu, als er vom Schiffrand drei Meter ins tür-kisblaue Meer springt, das Wasser spritzt und gur-gelt. „Die Tierwelt da unten ist ein großer Schatz,den wir schützen müssen“, sagt Salmasi später bei ei-ner Tasse Kaffee in der Kajüte. Aber so richtig insSchwärmen kommt der Archäologe erst, als er überseine eigentliche Leidenschaft spricht: die Suchenach kostbaren Kulturgütern.

Die Lagune von Venedig ist voller Schätze – undmit Mose ist zum ersten Mal auch Geld herangespültworden, um diese zu heben. Zahlreiche Schiffs-wracks haben sie schon gefunden, darunter die „Ga-

lea di Boccalama“, eine Galeere ausdem 14. Jahrhundert, das einzigenoch erhaltene Stück weltweit. „Eineechte Sensation war das“, ruft Salma-si, der als Student dabei war, als siedas Wrack bargen und als erstmals einForscherteam Gelegenheit hatte, ei-ne solche Galeere wissenschaftlich zuuntersuchen.

Inzwischen haben die Archäologenein halbes Dutzend Schiffswracks ausverschiedenen Zeitepochen ent-deckt, mit Amphoren an Bord, Kera-miken, Baumaterialien, Münzen,Zinntellern, Lanzen und Kanonen.„Die Ladungen geben uns ganz neueErkenntnisse über die Handelskon-takte der alten Venezianer“, sagtChefarchäologe Marco D’Agostinoam Abend im Palazzo Morosini, demSitz des Mose-Konsortiums am Cam-po Santo Stefano in Venedig.

Der Professor kommt gerade zu-rück von einer Ausgrabungsstättehinter dem Lazzareto Nuovo. Was siedort in letzter Zeit aus dem Wasser ge-holt haben, macht ihn ganz eupho-risch. „Vielleicht müssen wir die Ge-schichte Venedigs umschreiben“,sagt er, lacht und klatscht in die Hän-de. Der Professor meint es durchausernst. Bislang sind viele Historiker da-von ausgegangen, dass die Venezia-

ner zu Herrschaftszeiten Karls des Großen um 810 ei-ne Siedlung am „rivus altus“, dem hohen Ufer, grün-deten, aus der später Venedig erwuchs. „Wir habenjetzt aber römische Straßendämme entdeckt“, verrätD’Agostino. In den Dämmen lagern Amphoren, die2000 Jahre alt sind.

Ob die Funde für die ganz große Sensation reichen,werde sich in den kommenden Monaten zeigen,meint der Archäologe. Und ob all die anderen Schätzevom Meeresboden einmal den Weg in ein Museum

finden, sei auch noch völlig offen. „Bislang gibt es lei-der keine Pläne“, sagt D’Agostino zum Abschied. Dasvorherrschende Urteil sei, dass Venedig so etwasnicht auch noch brauche, um Touristen anzuziehen.

Omar Salmasi hofft, dass eines Tages all die Kost-barkeiten, die sie in der Lagune gefunden haben,doch den Besuchern Venedigs präsentiert werden.„Diese Kulturgüter geben uns doch auch ganz neueEinblicke in unsere Geschichte“, sagt der Archäologean Bord eines Wasserbusses, der langsam am Markus-platz vorüberfährt.

Dort drüben trinken die Touristen inzwischenAperol Spritz, auf dem Canal Grande verzücken Gon-dolieri ihre Gäste mit ihren Liedern und die Abend-sonne taucht die ganze Szenerie in ein dunstig matt-goldenes Licht. Salmasi betrachtet das alles wie einzauberhaftes Theaterstück. Er sieht froh aus und mor-gen früh schon, zur besten Cappuccino-Zeit, wird erauf dem Weg zur Arbeit die nächste Vorstellung be-kommen.

Für das süße Leben auf der Piazza San Marcohat Elena Zambardi keinen Blick übrig.Nicht jetzt. Weder für die Besucher der Kaf-feehausterrassen, die im prallen Sonnen-

licht ihren Cappuccino genießen, noch für die Kin-der, die hinter auffliegenden Tauben herjagen, undauch nicht für die Touristen in Shorts und Bermudas,die sich gegenseitig fotografieren vor dem Dogenpa-last, dem Campanile oder dem geflügelten Löwen aufder Säule am Canal Grande. Dabei hat Zambardidurchaus etwas übrig für den lebendigen Zauber aufVenedigs berühmtestem Platz, und sie hofft, dass ernoch sehr lange wirken wird. Die kleine, zierlicheFrau arbeitet als Sprecherin für das „Consorzio Vene-zia Nuova“, das mächtigste Unternehmen der ganzenGegend, das im Auftrag des Staats versucht, die 550Quadratkilometer große Lagune mit ihren mehr als50 Inseln dauerhaft zu schützen vor den Hochwasser-fluten, die vor allem im Herbst und Winter die Be-wohner Venedigs immer heftiger bedrohen.

Elena Zambardi sitzt im Bauch ihres Dienstbootes,das in den Wellen schaukelnd langsam am Markus-platz vorbeifährt. Ihr Ziel ist eine staubige Kraterland-schaft wenige Kilometer entfernt, in der Hunderte Ar-beiter an der Zukunft Venedigs werkeln. Aber nochgeht es im dichten Verkehr von Touristengondeln,Handelsschiffen und Wasserbussen nur gemächlichvoran.

Zambardi holt ein Faltblatt aus ihrer Tasche, aufdessen Titelbild zwei Touristen zu sehen sind, die auf

Immer öfter wird Venedig überflutet. Ein Damm, benannt nach dem biblischen Propheten, soll die Lagunenstadt retten / Von Marcel Burkhardt und Mara Zatti

Mose hilf!dem Markusplatz oberschenkeltief durch grüne Was-sermassen waten. Die Frau auf dem Foto hält die Hän-de wie zum Gebet und verzieht ängstlich das Gesicht,der Mann versucht ein verkniffenes Lächeln. Für sol-che Bilder braucht es in Venedig nicht viel. Dennsteigt das Wasser um 80 Zentimeter über Normalnull,laufen die flachsten Stellen der Stadt schon voll.

Elena Zambardi blickt über den Rand ihrerSonnenbrille, schlägt eine Seite um und tipptmit dem Zeigefinger auf einen großen rotenBalken. „Das haben wir immer vor Augen“,sagt sie und ihre Stimme klingt ernst. Es istein in Zahlen und Diagramme gefasstesAlarmzeichen. Die Hochwasserstatistik zeigt,dass immer häufiger deutlich mehr Wasser indie Lagune schwappt, als sie aufnehmenkann.

Die Lagune ist wie ein Waschtrog, in denvon der einen Seite ohnehin schon reichlichWasser hereinströmt, das Flüsse aus den Ber-gen bringen. Auf der anderen Seite gibt esdrei Zugänge zum Meer – Lido, Malamoccound Chioggia. Durch sie dringen die Adriaflu-ten in die Lagune – täglich werden circa 400Millionen Kubikmeter Wasser zwischen La-gune und Meer ausgetauscht. Das ist normal.

Eine Sorgenfalte zeigt sich auf ZambardisStirn allerdings, wenn sie auf diese Zahlenblickt: Allein in den vergangenen zehn Jahrenist die kritische Hochwassermarke von 1,10

Meter über Normalnull mehr als 60 Mal überschrit-ten worden. Zum Vergleich: Zwischen 1900 und1910 geschah das nur zwei Mal. Seit 1900 ist derMeeresspiegel in der Adria aber um rund zwölf Zenti-meter angestiegen, während Venedig im nahezu glei-chen Zeitraum um 23 Zentimeter tiefer in denschlammigen Grund eingesunken ist.

Zambardis Finger rückt nun etwas weiter nachrechts. Eine weitere Zahlenkolonne, die nichts Gutesdokumentiert: Fünf der zehn stärksten Fluten aus denvergangenen 110 Jahren haben Venedig zwischen2002 und 2010 heimgesucht. Und auch die Zahl „ge-wöhnlicher“ Hochwasser hat stark zugenommen –wandelte sich der Markusplatz vor etwa 80 Jahren

fünf bis siebenmal in eine große Pfütze, so ge-schieht das inzwischen pro Saison etwa 50Mal.

„Für uns sind Hochwasser in den Winter-monaten an sich nichts Ungewöhnliches,dann wird die Stadt durchgespült, ohne dassgroßer Schaden entsteht“, sagt Zambardi,„aber die heftigen Sturmfluten machen unsSorgen“. Ein Hochwasser wie an Heiligabendvor einem Jahr, als 1,44 Meter über Normaldie Erdgeschosse vieler Häuser flutete, Plätzein Seen verwandelte und das öffentliche Le-ben fast völlig lahmlegte.

Und nicht nur das. „Bei einer Sturmflutmuss auch der Bootsverkehr eingestellt wer-den“, sagt Elena Zambardi. Weder Händlernoch Taxis, weder Polizei noch Feuerwehr,weder Krankentransporte noch die Müllab-fuhr kommen auf ihren Booten unter den Brü-ckenbögen hindurch. Die Lebensadern derStadt, die etwa 180 Kanäle, sind dann unpas-sierbar – ein Notstand, der auf Dauer nichttragbar ist.Erklärt Mose: Elena Zambardi F O T O S : A F P / B U R K H A R D T

Der Urlaub fällt ins Wasser: Ein Venedig-Tourist flüchtet vor der Flut. F O T O S : A F P / M A R C E L B U R K H A R D T ( 2 )

Archäololge Omar Salmasi

Basis am Meeresgrund: eines der Betonfundamente für die mobilen Dämme

Die Adria holtsich Venedig:der überfluteteMarkusplatz

I N F O

V O N 2 0 1 5 A N I M T R O C K E N E N ?

Ein mobiles Sperrwerk „Modulo SperimentaleElettromeccanico“, kurz Mose, soll ab 2015 Venedigvor dem zerstörerischen Hochwasser – „acquaalta“ – schützen. Der Name passt. Wie der ProphetMoses der Bibel nach das Rote Meer teilte, sosoll der italienische Mose das Meer vor Venedigteilen. Wenn die Adria überschwappt, erhebensich stählernen Fluttore vom Meeresgrund. Sieleiten das Wasser um und Venedigs pittoreskeAltstand bliebe trocken. Das Sperrwerk soll knappfünf Milliarden Euro kosten. BZ

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