Von der Gastarbeiteranwerbung zum Migrationsland
–
Aufgaben und Chancen der Bürgergesellschaft
Prof. Dr. Franz Hamburger
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Migration: Strukturdaten
Quelle: Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration: Daten – Fakten – Trends.
Strukturdaten der ausländischen Bevölkerung 2004, Abbildung 13, S. 17.
Die ausländische Bevölkerung geht im Wesentlichen immer noch auf die
Arbeitszuwanderung zurück. Bis Anfang der 1970er Jahre war die Anwerbung von
Arbeitskräften der Motor der Migration. Mit jedem Ansteigen der Konjunktur waren
dann weitere Zuwanderungen verbunden. Erst Anfang der 1990er Jahre hat die
Kumulation mehrerer Faktoren (Arbeitskräftebedarf, Flucht aus Bürgerkriegen,
Familienzusammenführung, Migration innerhalb der Europäischen Union) eine
Zunahme der ausländischen Wohnbevölkerung bewirkt. Wenn solche besonderen
Faktoren nicht wirksam werden, bleiben die ausländische Bevölkerung und die
Ausländerquote relativ konstant.
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MIGRATION: STRUKTURDATEN
• 7,3 Mio. Ausländer in Deutschland (8,9%)
• 10,9 Mio. Migranten (Herkunft und/oder Staatsangehörigkeit) (13,1%)
• 17,4 Mio. mit Migrationshintergrund (haushaltsbezogen) (21,1%)
• 1955-1973 14 Mio. Zuwanderung
• 1950-2002 4,4 Mio. Aussiedler
• 1954-1999 54 Mio. Zu- und Fortzüge
• 20% bis 1972 eingewandert
• 30% nach 1973
• 50% nach 1990
Quelle: Silke Volkhardt: Lebenslagen von Migrantenfamilien in Deutschland. In: Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Lebenslagen von Familien und Kinder; Überschuldung privater Haushalte.
Expertisen zur Erarbeitung des Zweiten Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung (= Materialien zur
Familienpolitik Nr. 19/2004).
Wenn man das Wanderungsvolumen insgesamt erfassen will, dann muss man alle
Migranten (Deutsche, Ausländer, Aussiedler) betrachten und auch diejenigen, die
von ihnen unmittelbar abstammen („mit Migrationshintergrund“). Dabei zeigt sich,
dass die Ausländer ein Teil der Migranten und diese wiederum nur ein Teil der
Personen mit Migrationshintergrund insgesamt sind. Diese Bevölkerungsgruppe
macht dann, wie sich in den Haushaltsbefragungen des Sozio-ökonomischen Panels
zeigt, ein Fünftel der Wohnbevölkerung insgesamt aus.
In der genuinen „Gastarbeiterphase“ von 1955 bis 1973 sind insgesamt 14 Millionen
Menschen zugewandert; weil gleichzeitig 11 Millionen wieder abgewandert sind,
ergibt sich für diesen Zeitraum ein positiver Saldo von drei Millionen.
Betrachtet man das Wanderungsgeschehen insgesamt, dann konstatiert man für 45
Jahre ein Fluktuationsvolumen von 54 Millionen Wanderungsbewegungen. Diese
Zahl bringt am besten die „Unruhe“ zum Ausdruck, die für moderne Gesellschaften
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typisch ist. Berücksichtigt man zusätzlich die regionale Mobilität innerhalb
Deutschlands, dann wird der objektive Hintergrund für die sensible Wahrnehmung
von Migration und „Unruhe“ sichtbar.
Die Permanenz der Migration wird auch daran sichtbar, dass von den heute in
Deutschland lebenden Ausländern immerhin die Hälfte erst nach 1990 eingewandert
ist. Wir haben also zwei Tendenzen gleichzeitig zu verzeichnen:
Sesshaftwerden von Migranten (Einwanderung, Integration) und anhaltende
Migration (Zuwanderung, Remigration, Weiterwanderung/Transmigration).
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Migration: Zuzüge
Quelle: Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration: Migrationsgeschehen 2004,
S. 5.
Die Zuzüge (von Deutschen und Ausländern) bringen zum Ausdruck, dass die
Bundesrepublik Deutschland aus der ganzen Welt Zuwanderung erhält, an dieser
Zuwanderung interessiert ist und sie durch Aktivitäten im eigenen Interesse in Gang
hält.
Die Zuwanderung aus der EU ist das Ergebnis des Willens zu einem geeinten
Europa. Die Zuwanderung der Aussiedler ist das Ergebnis eines nationalen
politischen Willens. Die Zuwanderung von Arbeitskräften aus Polen und anderen
Ländern ist dem Bedarf des Arbeitsmarktes an fertig ausgebildeten bzw. flexibel
einsetzbaren Arbeitskräften geschuldet. Auch die Zuwanderung von Studierenden ist
praktisch erwünscht und dient der Festigung der globalen ökonomischen Position
Deutschlands. Familienzusammenführung macht dann nur noch einen geringfügigen
Anteil an der Zuwanderung aus. Insbesondere die Zunahme der
Migrationsverflechtung mit nicht-europäischen Ländern charakterisiert gegenwärtige
und zukünftige Trends.
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Migration: Fortzüge
Quelle: Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration: Migrationsgeschehen, 2004,
S. 6.
Die Abbildung der Fortzüge weist eine weitgehend übereinstimmende Struktur mit
der Abbildung der Zuzüge auf. Man kann deshalb von intensiver
Migrationsverflechtung sprechen, wobei sich mittelfristig stabile Austauschstrukturen
herausgebildet haben. Es wird deutlich, dass
- Migration ein Geschehen innerhalb der EU ist und nach der Erweiterung 2004 auf
25 Mitgliedstaaten noch stärker geworden ist,
- die Gastarbeiterperiode nachhaltig wirkt und Austauschprozesse anhalten
(Türkei, Ex-Jugoslawien),
- der Arbeitskräfteaustausch mit den Nachbarländern wichtig bleibt und
- die ganze Welt als Migrationsfeld eröffnet ist.
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Migration: Zu- und Abwanderung
16,6%562 794649 2492000
16,7%555 638673 8731999
17,0%638 955605 5001998
17,0%637 066615 2981997
17,3%559 064707 9541996
19,0%567 441792 7011995
20,0%621 417 773 9291994
24,6%710 240986 8721993
FluktuationsquoteAbwanderungZuwanderungJahr
Quelle: Statistisches Bundesamt, verschiedene Jahrgänge; Beauftragte der Bundesregierung für Migration,
Flüchtlinge und Integration: Migrationsbericht, Januar 2004.
In der Übersicht ist nur die Wanderung von Ausländern erfasst und die
Fluktuationsrate wird als Anteil der Migrationsbewegungen an der ausländischen
Wohnbevölkerung berechnet. Es zeigt sich, dass Deutschland weiterhin ein
„unruhiges“ Migrationsland ist, in dem ein Sechstel der ausländischen Bevölkerung
jährlich migriert. Bis in die 1990er Jahre hinein lag die jährliche Fluktuationsrate bei
einem Viertel und ist für die 1970er bis 1990er Jahre vor allem auffällig hoch im
Vergleich zum westeuropäischen Ausland gewesen (vgl. F. Hamburger: Auf dem
Weg zur Wanderungsgesellschaft – Migrationsprozeß und politische Reaktion in der
Bundesrepublik Deutschland. In Deutsch lernen 14 (1989) Heft 1, S. 3 – 33).
Die Gründe für diese Dynamik sind vielfältig; besonders relevant ist das Anhalten
einer Migrationspolitik als Arbeitsmarktpolitik, aber auch die starke Rückführung von
Bürgerkriegsflüchtlingen.
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Migration: Strukturdaten
Quelle: Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration: Migrationsgeschehen 2004,
S. 12
Wenn man die typischen Gruppen der Zuwanderer zusammenfasst und in Relation
zu dem Umfang der Zuwanderung der jeweiligen Gruppe darstellt, dann zeigen sich
die realistischen Bedingungen für die Handlungsspielräume von Migrationspolitik.
- Ein erheblicher Teil der Zuwanderung ist ökonomisch erforderlich und gewünscht
(Saisonarbeitnehmer, Werkvertragsarbeitnehmer, IT-Fachkräfte).
- Ein erheblicher Teil ist politisch begründet und wird von einem demokratischen
Konsens getragen, gegen den teilweise nur rechtsextremistische Parteien
Stimmung machen (Rückkehr Deutscher, jüdische Zuwanderer, Spätaussiedler,
EU-Binnenmigration, Studierende).
- Ein verbleibender Teil ist durch die Verfassung und relevante Grundwerte
geschützt (Familiennachzug, Asyl), wobei insbesondere die besonders häufig
politisch missbrauchte Zuwanderung von Asylsuchenden von Monat zu Monat
kleiner wird.
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- Mehrere Formen der Migration sind sowohl ökonomisch als auch politisch und
normativ legitimiert (Studierende, EU-Migration, Rückkehr Deutscher) und stehen
deshalb nicht zur Disposition.
Angesichts dieser Umstände ist es besonders verwerflich, wenn extreme politische
Parteien versuchen, „mit Ausländern“ bzw. genauer: mit der Mobilisierung von
migrantenfeindlichen Ressentiments Politik zu machen.
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Migration: Strukturdaten
Quelle: Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration: Migrationsgeschehen 2004,
S. 20.
Die Abbildung greift einen Ausschnitt der Arbeitskräftemigration heraus und bildet
seine Dynamik ab. Die „Anwerbung“ und Zuwanderung von Saisonarbeitskräften ist
von den Arbeitgebern durchgesetzt worden, um Arbeitskräftebedarfe möglichst
flexibel und kurzfristig regulieren zu können. Gleichzeitig ist die Regulierung von
Arbeitskräftemobilität ein Instrument des Krisenmanagements, um an Bruchlinien des
Wohlstands und der Arbeitslöhne die illegale Migration eingrenzen zu können. Denn
die tatsächliche Möglichkeit und Aussicht, legal oder illegal Arbeit zu finden, ist der
zentrale Motor für Migration in Europa. Wenn die Grenzen für Kapital, Waren,
Dienstleistungen und Menschen, die „raus“ gehen, offen gehalten werden sollen,
dann können sie prinzipiell nicht für Zuwanderung abgeschlossen werden. Diesen
Umstand unterschlägt die Agitation der Rechten gegen Migration, ebenso den
Umstand, dass Zuwanderung ökonomisch in erheblichem Umfang erwünscht ist.
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Migration: Strukturdaten
Quelle: Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration: Daten – Fakten – Trends.
Strukturdaten der ausländischen Bevölkerung 2004, S. 8.
Eheschließungen zwischen Migranten und Nichtmigranten sind ein relevanter
Indikator für Integration. Die PISA-Studien zeigen auch, dass Kinder aus „Mischehen“
deutlich besser abschneiden im Bildungssystem als Kinder aus „reinen“
Migrantenfamilien. Dabei ist bei den Eheschließungen zu beachten, dass in den
letzten 40 Jahren deren Dynamik sehr eng mit der Entwicklung der Migration und der
ausländischen Wohnbevölkerung verbunden war. Mischehen ergeben sich zunächst
aus der bloßen Gelegenheit dazu. Das zeigt sich auch daran, dass lange Zeit eher
ausländische Männer deutsche Frauen heirateten – solange vor allem Männer
zugewandert sind. In den 1990er Jahren kommt die Heiratsmigration stärker in Gang:
deutsche Männer heiraten Frauen aus dem Ausland, aber auch die anderen Formen
von Mischehen nehmen stärker zu als die Anteile der ausländischen
Wohnbevölkerung. Dies lässt sich als faktischer Integrationsprozess interpretieren.
Wenn man wahrnimmt und fördert, wie die Menschen im Alltag miteinander umgehen
und im Laufe der Zeit ihren Umgang miteinander pflegen, dann ergibt sich ein ganz
anderes Bild als im Lichte von Agitation und dramatisierenden Mediendarstellungen.
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Mit einem guten Sechstel ist der Anteil der Eheschließungen, an denen Ausländer
beteiligt sind, in den Jahren nach 2000 allerdings nicht mehr gestiegen, was auch als
Stagnation von Integration interpretierbar ist. Die Dramatisierung der Diskussion,
deren Hintergrund die Massenarbeitslosigkeit darstellen dürfte, schlägt sich auch im
Gang der Integration nieder.
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Migration: Diskriminierungserfahrungen
Quelle: Zentrum für Türkeistudien. Hahn/Sauer 2004, S. 551.
Der Integrationsprozess wird von vielen Faktoren (auf der Seite der Migranten und
der Nichtmigranten) beeinflusst. Eine Dimension sind Diskriminierungen und
Diskriminierungserfahrungen. Die Interpretation, dass in den letzten Jahren eher eine
Verschlechterung des Integrationsklimas eingetreten ist, wird durch die
Diskriminierungserfahrungen von Türken in Deutschland belegt. Insbesondere bei
der Arbeits- und Wohnungssuche sowie am Arbeitsplatz werden Diskriminierungen
erlebt. Dass dies auch beim Umgang mit Behörden der Fall ist, muss hellhörig
machen und Reaktionen motivieren. Andere staatliche Instanzen (Polizei, Gericht)
können da Vorbild sein. Wenn die Güter der Gesellschaft (insbesondere Arbeit und
günstiger Wohnraum) knapp werden, dann setzen ethnozentrisch fundierte
Verdrängungsmechanismen ein, die das Leben für die Migranten schwerer machen.
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Türkische Migranten in Deutschland
Quelle: Konrad-Adenauer-Stiftung (Arbeitspapier Nr. 53/2001), S. 5.
Bei der Befragung von Türken in Deutschland und türkischstämmigen Deutschen
zeigt sich, dass es zwischen diesen beiden Gruppen immer Unterschiede gibt in
einer erwartbaren Tendenz, dass sich nämlich die Eingebürgerten sehr deutlich mit
Deutschland identifizieren; aber auch die Hälfte der Türken in Deutschland fühlt sich
mit ihrem Aufenthaltsland verbunden. Dabei ist erstaunlich, dass sich diese
Verbundenheit nicht in konzentrischen Kreisen aufbaut, d. h. dass man sich zunächst
mit dem konkreten Umfeld vor Ort identifiziert und dann seine Identifikation auf
größere Einheiten ausdehnt.
Die hohe Identifikation der Eingebürgerten mit Deutschland und der Rückgang der
Verbundenheit mit der früheren Zugehörigkeit kann Ursache und Folge der
Einbürgerungsentscheidung sein. Es kommt also darauf an, Bedingungen zu
schaffen, die diese Entscheidungsprozesse stabilisieren.
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Türkische Migranten in Deutschland
Quelle: Konrad-Adenauer-Stiftung (Arbeitspapier Nr. 53/2001), S. 6.
Die KAS wollte die Verbundenheit der Türken mit Deutschland genauer testen und
prüfen. Und das Ergebnis ist erstaunlich: die Hälfe von Ihnen meinen, dass die
Türken in Deutschland zur Verteidigung Deutschlands im Falle eines Angriffs – durch
ein „muslimisches“ Land, wie auf Grund einer ideologischen Unterstellung bewusst
gefragt wurde – beitragen sollten. die KAS resümiert: „Ungeachtet der Tatsache nach
wie vor bestehender enger Bindung an ihr Herkunftsland betrachtet etwa die Hälfte
der befragten türkischstämmigen Bevölkerung Deutschland offenbar als Heimat, für
die sie sich einzusetzen bereit sind. Etwa ein Viertel steht Deutschland indifferent
gegenüber und ein knappes weiteres Viertel hat nur vergleichsweise schwache
Bindungen an Deutschland“ (S. 6).
Wenn man analytisch tiefer geht und den schlichten Dualismus überwindet (als ob
die Menschen sich nur mit dem einen und gleichzeitig nicht mit dem anderen
identifizieren könnten und nicht zu mehrfachen Loyalitäten in der Lage wären), dann
kann man noch deutlicher integrative Prozesse trotz widriger Umstände
herausarbeiten. Allerdings sind diese Prozesse auch fragil und brauchen politische
und wirtschaftliche Stabilisatoren.
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Türkische Migranten in Deutschland
Quelle: Konrad-Adenauer-Stiftung (Arbeitspapier Nr. 53/2001), S. 7.
Das Kapital für einen stetigen und positiven Integrationsprozess liegt in der
Gesellschaftsordnung Deutschlands als eines demokratischen und sozialen
Rechtsstaats. Mehr als 80 % der befragten Türken betrachten diese Ordnung als
gerecht oder zumindest teilweise gerecht. Die deutsche Bevölkerung dagegen
betrachtet die eigene Gesellschaftsordnung dagegen weitaus kritischer; fast die
Hälfte sieht sie als „ungerecht“ an.
Salopp und klischeehaft formuliert: Die Türken wissen, was sie an Deutschland
haben, aber es kommt darauf an, dass auch die Deutschen wissen, was sie an den
Türken haben – denn deren Diskriminierungserfahrungen stören die Identifikation mit
Deutschland.
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Türkische Migranten in Deutschland
Quelle: Konrad-Adenauer-Stiftung (Arbeitspapier Nr. 53/2001), S. 13.
13 % der türkischstämmigen Bevölkerung geben an, ihr Leben vollständig nach der
Religion zu gestalten, 30 % „überwiegend“. Was immer das im Einzelnen heißt, so
gibt es recht eindeutige Tendenzen: Der Säkularisierungsprozess ist stark und bei
den Eingebürgerten weit fortgeschritten. Wenn man die Befragungsergebnisse
hinzunimmt, dass 80 % mit der Demokratie in Deutschland zufrieden sind (auch hier
deutlich mehr als bei den Deutschen) und 90 % sich mit der Demokratie
identifizieren, dann gibt es ein klares Bild, das mit den Schreckbildern der Medien
und der Alarmierungstheoretiker nichts gemein hat. So stellt dann die Studie der KAS
auch fest:
„Hinweise auf islamistische Tendenzen oder antidemokratische Tendenzen liefert die
Befragung nicht. Im Gegenteil dominiert unter den Befragten ein überaus positives
Bild der deutschen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Hierbei ist allerdings
zu berücksichtigen, dass sich kleine radikale Gruppen nicht durch Umfragen erfassen
lassen. Dies gilt übrigens auch für Befragungen unter der deutschen Bevölkerung.
Für Deutschland geben die objektiven Daten zur Mitgliedschaft von Ausländern in
extremistischen Gruppen wenig her:
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Nach dem Verfassungsschutzbericht 2000 sind von den in Deutschland lebenden
Ausländern weniger als ein Prozent Mitglied in einer extremistischen Organisation,
wobei nicht davon auszugehen ist, dass diese Mitglieder alle gewaltbereit sind“ (S.
16).
Auch wenn deutlich ist, dass die Umfrage der KAS nicht uneingeschränkt als
repräsentativ gelten darf, so beansprucht sie doch, „für den allergrößten Teil der
türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland ein zuverlässiges Stimmungsbild“ (S.
2) widerzuspiegeln. Die Befragung wurde auch (offensichtlich) vor dem 11. 9. 2001
durchgeführt. Zwischenzeitlich möglicherweise eingetretene Verschlechterungen im
Stimmungsbild über Integration lassen sich also gut interpretieren als exogene (von
außen eingeführte) Bedingungen, die einen „inneren“ Prozess der Integration
aufhalten. Dabei dürften insbesondere die Interpretation des Terrorismus, die
strategische Verkündigung eines Konflikts der Kulturen, also die permanente
Kommunikation über Unterschiede und Gefahren zu einer Veränderung der
öffentlichen Meinung geführt haben. Und was die Menschen als real vermuten, ist
real in seinen Konsequenzen. Es ist dieser Mechanismus, der einer vernünftigen
Integrationspolitik zu schaffen macht.
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16
Freiwilliges Engagement in Deutschland
Quelle: Kurz-Zusammenfassung des 2. Freiwilligensurvey 2004, hrg. Vom Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend.
Das zweite Thema des einführenden Referats ist das bürgerschaftliche Engagement
der Migranten in Deutschland. Wie im Freiwilligensurvey, der 1999 und 2004 vom
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend veranlasst wurde, wird
eine „weite“ Begrifflichkeit von freiwilligem (bürgerschaftlichem) Engagement und
Ehrenamt verwendet, damit umfassend die auf andere Personen bezogenen
unterstützenden oder anders sozial motivierten Tätigkeiten der Bürger erfasst werden
können. Das Gesamtergebnis des Surveys bildet den Interpretationsrahmen für die
folgenden Einzelergebnisse aus verschiedenen Studien. Es zeigt sich, dass ein
Drittel der Bevölkerung – zwischen 1999 und 2004 mit leicht steigender Tendenz –
freiwillig engagiert ist und ein weiteres Drittel sich an solchen Aktivitäten beteiligt oder
davon profitiert (Vereinsleben beispielsweise).
19
17
19%
16%
44%
21%
sind nicht-organisiert
Quelle: Dirk Hahn/Martina Sauer: Das Zusammenleben von Deutschen und Türken – Entwicklung einer
Parallelgesellschaft? In: WSI-Mitteilungen 10/2004, S. 547 – 554, hier S. 550 (erweiterte Abbildung).
Für die Migranten gibt es keine repräsentativen Daten, aber einige gute
Bereichsstudien. Die Befragungen des Zentrums für Türkeistudien zeigen in den
letzten Jahren ansteigende Vereinsmitgliedschaften, wobei deutsche und türkische
Vereine profitieren. Nur 44 % der Türken sind nicht organisiert, also nicht Mitglied in
einem Verein. 21 % sind in türkischen, 16 % in deutschen und 19 % in deutschen
und türkischen Organisationen tätig. Die religiösen Organisationen werden dabei von
16 % - mit leicht zurückgehender Tendenz zwischen 2001 und 2003 – nachgefragt.
Das dürfte in deutlichem Gegensatz zu den öffentlichen Bildern über Türken in
Deutschland stehen; dass doppelt so viele in deutschen Sportvereinen und in den
Gewerkschaften Mitglied sind, wird kaum oder gar nicht wahrgenommen.
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18
Migrantenselbstorganisationen
Quelle: Faruk Sen/Hayrettin Aydin: Bestandsaufnahme der Potentiale und Strukturen von Selbstorganisationen
von Migrantinnen und Migranten türkischer, kurdischer, bosnischer und maghrebinischer Herkunft in Nordrhein-
Westfalen. In: Ministerium für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-
Westfalen (Hrsg.): Selbstorganisationen von Migrantinnen und Migranten in NRW. Wissenschaftliche
Bestandsaufnahme. Düsseldorf 1999, S. 75 – 127, hier S. 103.
Die Migranten organisieren sich in Deutschland und sie engagieren sich dabei für
sich, ihre Landsleute und die Integration in Deutschland zunehmend mit den
Einwanderungsschüben in Deutschland und zugleich mit der Ausdifferenzierung der
Lebenslagen von Migranten. Auch die ausländerpolitischen Entwicklungen haben
Einfluss und kritische Phasen schlagen sich, neben Wachstumsphasen, auf die
Dynamik der Selbstorganisationen nieder. Die Ausdifferenzierung der Lebenslagen
macht sich beispielsweise an der Gründung von Unternehmervereinigungen fest.
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19
Migrantenselbstorganisationen
Quelle: Dietrich Thränhardt/Renate Dieregsweiler: Bestandaufnahme der Potentiale und Strukturen von
Selbstorganisationen von Migrantinnen und Migranten mit Ausnahme der Selbstorganisationen türkischer,
kurdischer, bosnischer und maghrebinischer Herkunft in Nordrhein-Westfalen. In: MASSKS-NRW, S. 11 – 73, hier
S. 44.
Das Schaubild zeigt den Anteil der einzelnen Tätigkeiten von Migranten-
organisationen an der Zahl der gesamten Nennungen. Damit gibt es einen guten
Überblick über das Tätigkeitsprofil ausländischer Organisationen. Wenn man
betrachtet, welche Tätigkeiten von den einzelnen Vereinen benannt werden, dann
zeigt sich, dass 90 % aller Vereine „Kultur“ und 86 % „Begegnung“ benennen. Im
gehobenen Mittelfeld finden sich:
- Integration (67 %)
- Beratung (62 %)
- Bildung (59 %)
- Betreuung (52 %)
Die sozialkulturellen Bedürfnisse der Migranten werden in den Organisationen in
erster Linie aufgegriffen, dann kommen die Aufgaben, die mit dem Leben im fremden
Land in spezifischer Weise verbunden sind.
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Tätigkeitsfelder von Migrantenselbstorganisationen
SelbsthilfeFamilie
NachbarschaftFreundschaft
Verwandtschaft
Vereine,Selbst-
organisationen
Treffpunkte derWohlfahrtsverbände
& Kommunen;InitiativenAusländerbeiräte
PolitikParteien
GewerkschaftenKirchen
Bürgerschaftliches Engagement
Ehrenamt
Integrative Vernetzung
Quelle: Eigene Darstellung.
Wenn man die Tätigkeitsfelder von Migrantenselbstorganisationen kategorial nach
den Formen des Engagements ordnet, lassen sich die Typisierungen vornehmen:
- Kollektive Selbsthilfeaktivitäten beziehen sich eher auf den sozialen Nahraum von
Familien und kleinen Gemeinschaften. Diese sind im Migrationsprozess
besonders wichtig, weil sie die zusätzlichen (emotionalen, sozialen, praktischen)
Ressourcen bereithalten, die man zur Bewältigung der durch Migration
hervorgerufenen Anforderungen benötigt.
- Die Bürgerrolle wird aktiv ausgestaltet in den Vereinen und Selbstorganisationen,
indem dort Verantwortung übernommen wird.
- Spezifische Formen des Engagements bieten die Initiativen, die von den
Beratungsstellen der Wohlfahrtsverbände, von Kommunen und Projekten
angegangen sind und – in der Regel – gemischtnationale Kontakte organisieren.
Hier ist die soziale Vernetzung explizit auf Integrationsstrukturen hin ausgelegt.
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- Das „klassische“ Ehrenamt kommt dann in formelleren Organisationsformen zum
Zuge, in denen die Migranten ebenfalls zahlreich vertreten sind. Hier gibt es aber
deutliche Unterschiede, je nachdem, welche Gelegenheitsstrukturen von
„Unterstützungspersonen“ bereitgestellt werden.
Die Systematisierung zeigt, dass bei Einheimischen und Migranten dieselben
Strukturen des Engagements ausgeprägt sind.
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21
Selbst-organisation
Schutz-funktion
Personale Selbst-Verwirklichung durch
Partizipation
Interessens-Vertretung
(z.B. Elternverein)
Brückenfunktion(von zwei Seiten)
Dienstleistungs-Funktion
(Beratung, Zielgruppen-Angebote)
Pflege der Herkunftskultur
(Freizeit)
Sozialisation(Hilfe für Familien)
„Identitätsstützende“Funktion
(Stabilisierung bei Diskriminierung)
„kommunikative“ Seite „instrumentelle“ Seite
Migrantenselbstorganisationen
Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage der empirischen Studien.
Betrachtet man die Tätigkeiten unter dem Gesichtspunkt, welche Funktionen sie für
die aktiv Tätigen und für die Adressaten dieser Tätigkeiten haben, lassen sich
„kommunikative“ (also auf die Entwicklung des Menschlichen bezogene) und
„instrumentelle“ (zweckmäßige und der Selbstbehauptung dienende) Aspekte
unterscheiden. Dazwischen siedle ich die Aufgabe, insbesondere für
Neuankömmlinge Schutz zu bieten, und die Aufgabe der Selbstrealisierung sowohl in
menschlichen Beziehungen als auch in den Systemen der Gesellschaft an. Diese
ganz auf das Individuum bezogenen Funktionen verbinden die beiden Bereiche.
Die Migrantenorganisationen erweisen sich – in dieser analytischen Perspektive – als
moderne Organisationen und verdeutlichen den Umstand, dass sich Migranten und
Einheimische im Hinblick auf die sozialen Organisationsformen weitgehend gleich
geworden sind.
Die Organisationen des bürgerschaftlichen Engagements sind ein Teil (der
wichtigste) der Selbstorganisation, die in der Migrationstheorie als Koloniebildung
moderner: als „Binnenintegration“ (Elwert) bezeichnet wurde. Die Analyse der
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Binnenintegration zeigt insgesamt ihre Unentbehrlichkeit für die soziale Integration
des Individuums und für die Integration der „Kolonie“ in die Gesellschaft
(„Brückenfunktion“). Gegenüber den früheren Formen der Kolonienbildung sind die
heutigen Formen angemessen als „Selbstorganisation“ bezeichnet. Sie
modernisieren sich, weil sie an dem Wandel der Gesellschaft und ihrer
Kommunikation (Medien, Öffentlichkeit, Bildungssystem, Massenkonsum) teilhaben
und durch moderne Verkehrs- und Kommunikationssysteme an weiteren
Migrationsprozessen („Transmigration“) partizipieren.
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Vernetzung derSelbstorganisationen
Kontakte zur anderen deutschen
Organisationen38%
Kontakte zur Kommunal-Verwaltung
70%
Einrichtungen desLandes NRW
14%
Andere Selbstorganisationen
54%
Parteien im Heimatland7,8%
Kontakte zur deutschenParteien 33%
Zusammenarbeit20%
Migrantenselbstorganisationen: Kooperationsstrukturen
Quelle: Faruk Sen/Hayrettin Aydin: Bestandsaufnahme der Potentiale und Strukturen von Selbstorganisationen
von Migrantinnen und Migranten türkischer, kurdischer, bosnischer und maghrebinischer Herkunft in Nordrhein-
Westfalen. In: Ministerium für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-
Westfalen (Hrsg.): Selbstorganisationen von Migrantinnen und Migranten in NRW. Wissenschaftliche
Bestandsaufnahme. Düsseldorf 1999, S. 109 – 113.
Die Migrantenselbstorganisationen sind intensiv mit ihrer Umwelt vernetzt. Ihre
Kontakte und Kooperationen sind ausdifferenziert und vielfältig. Als besonders
wichtig erweist sich die Kommunalverwaltung, der für Förderung oder Blockierung
dieser Art von bürgerschaftlichem Engagement eine besondere Rolle zukommt.
Danach sind die Kontakte zu gleichartigen Organisationsformen wichtig. Bedeutsam
ist hier im Hinblick auf verbreitete Ängste auch das Ergebnis, dass die Kontakte zu
Parteien im Heimatland schwach ausgeprägt sind. Angesichts kontinuierlicher
Rückwanderungsprozesse könnten solche Kooperationen – in funktionaler
Betrachtungsweise - sogar intensiver gepflegt werden.
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23
Günstige
•Offenheit der kommunalenSpitzenpersonen
•Anerkennung in dengemeindlichen Prozeduren
•Eigene Offenheit
•Ausdauer
•Sichtbarkeit
•Öffentlichkeit
Entfaltung des freiwilligen Engagements
Ungünstige
•Muslime unter Generalverdacht
•Fehleinschätzungen der integrativen Potenziale
•Fehlende Anerkennung
•Der Platz im Hinterhof
•Unzureichende Qualifikation der Ehrenamtlichen
•Fehlende Ausbildung für Imame in Deutschland
Bedingungen
Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage von: Eva Stauf: Migrantenorganisationen in Rheinland-Pfalz:
Potenziale, Partnerschaften und Probleme. Herausgegeben von der InPact-Projektgruppe. Mainz 2004.
Für die Entfaltung von Engagement lassen sich sowohl auf der Seite der Migranten
selbst wie auch in ihrer Umwelt förderliche und ungünstige Bedingungen
identifizieren. Die Migranten müssen selbst offen sein, Initiative ergreifen und sollen
sich nicht schnell entmutigen lassen. Auch benötigen sie Qualifikationen für das
Ehrenamt.
In der Aufnahmegesellschaft ist der kommunale Rahmen von ausschlaggebender
Bedeutung. Die Vorbildfunktion der Bürgermeister, ihre Offenheit und
Integrationsfähigkeit ist maßgebend und besonders wirksam. Auch ist es wichtig,
dass Organisationen sich sichtbar machen und in der Öffentlichkeit wahrgenommen
und positiv dargestellt werden. Bei der Inpact-Studie wurden die aktuellen allgemein-
politischen und gesellschaftlichen Tendenzen als besonders hinderlich bezeichnet.
Dass Muslime heute häufig als gefährlich betrachtet werden und unter einen
Generalverdacht der Terrorismusnähe gestellt werden, ist eine schwere Belastung.
Auch die Fehleinschätzung der integrativen Potentiale von Selbstorganisationen
durch die politisch Verantwortlichen wirkt sich ungünstig aus, weil die Kontakte und
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Kooperationen zu ihnen dem Aufbau der Organisationen Legitimation verschaffen
und den Zugang zu Ressourcen sichern.
Die Fehleinschätzung bewirkt also die Blockierung von integrativen
Gelegenheitsstrukturen.
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InPact-Studie Rheinland-Pfalz: Pfade der Integration
Integration des
Individuums
Integration der
Gemeinschaft
Kontakte undKooperationenkommunaler
Akteure
Anerkennungdes Einzelnen
Integration durchBildungsförderung
Vorbereitung &Ermöglichung von
Partizipation
Kontakte zuSchulen
Projekte in einemNetzwerk vonKooperation
Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage der InPact-Studie.
Soziale Prozesse stabilisieren oder destabilisieren sich in Kreisläufen. Mit dem
Schwergewicht auf Bildung lässt sich das im Falle von Migrantenorganisationen
ebenfalls als Kreislauf wechselseitiger Einflüsse beschreiben.
Die Integration eines jeden Individuums in modernen Gesellschaften ist mit der
Integration der für es wichtigen Gemeinschaften in die Gesellschaft verknüpft. Die
Integration ist wiederum eng mit Anerkennung verbunden und diese läuft im
Einwanderungsland wesentlich über den Erwerb von Bildungszertifikaten ab.
Individuelle und kooperative Partizipation bezieht sich auf die kommunalen Akteure.
Die Organisationen der Migranten (z. B. Elternvereine) stabilisieren durch
Beziehungen zum Bildungssystem den Bildungserfolg und sind gleichzeitig in das
Netzwerk der Migrantenorganisationen eingebunden.
Es ist bei dieser Betrachtung weniger wichtig, an welchem Punkt man beginnt, als
vielmehr, dass man die systemischen Verstärkungen und Rückkopplungen erkennt.
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Reflexives und verantwortungsbewusstes politisches Handeln, insbesondere auf
kommunaler Ebene, erweist sich als besonders wichtig.
25
Zusammenfassung Engagement
1. Hohes Niveau der Aktivität, hohes Niveau der Integration der Individuen
“organisierte Gesellschaft“
2. Migranten werden ähnlich!
3. Selbsthilfe / Fremdhilfe - Freiwilligkeit / Ehrenamt: Viele Formen, viele Funktionen; Ansehen und Zufriedenheit
4. Mehrstufigkeit von Integration für alle:Individuum – Gemeinschaften – Gesellschaft
5. Mehrstufigkeit der MotiveSelbst – überschaubare Solidarität – Gesellschaft / allg. Aufgaben
6. Die Vorbildfunktion der verantwortlichen Personen
31
26
Quelle: Allgemeine Zeitung, Mainz, 17. 04. 2004.
An diesem Text wird besonders drastisch deutlich, was verantwortungsloses
politisches Handeln ist. Terror und Migration werden bewusst in einen engen
Zusammenhang gebracht, um das eigene politische Süppchen kochen zu können.
Dieses Handeln stärkt Vorurteile, schürt Ängste und blockiert Integration. Das
Medium transportiert dabei nicht das Handeln, sondern seine Zuspitzung.
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Quelle: iaf Informationen, Heft 4/2001. Die Alternative zur Agitation ist unauffällig, selbstlos und langfristig wirksam. Sie ist
weit verbreitet, nimmt ganz verschiedene Formen an und fördert auch die
persönliche Zufriedenheit mit einem ausgefüllten Leben.
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