Duisburg, 3.2.2010
Sprachliche Kompetenzen in der frühen Kindheit
Prof. Dr. Rosemarie Tracy
Unser Programm heute
Mehrsprachigkeit zwischenVerklärung und Verteufelung
Was man über Sprache und Spracherwerb wissen sollte
Konsequenzen für die Praxis
Was wir auf unserer Bildungsreise nicht brauchen: Mythen, Ideologie, Unsinn
• Mehrsprachigkeit = Ausnahmezustand
• Überzogene Erwartungen
• Sprachmischung = Verwirrung, Identitätsverlust
• Kindliche Mehrsprachigkeit = Überforderung, Risiko
• Doppelmoral und Defizitfixierung
Mehrsprachigkeit bedeutet ...NICHT perfekt gedoppelten Wortschatz,
ausgewogene Ausdrucksfähigkeit etc.
SONDERN VIELMEHR• Zugang zu mehr als einem „symbolischen Markt“
• erweitertes stilistisches Repertoire
• arbeitsteiliger Einsatz der Sprachen
• Natürliche Konkurrenz und damit eine positive Herausforderung für das Gehirn ! (Bialystok et al. 2004)
Koexistenz und Kooperation im Kopf: Mixing / Code-switching
Toni, 82 J., Deutschamerikanerin, 63 Jahre nach Emigration
Dann hat sei Frau zu mir g’sagt, why are you leaving us now? Da sog i, because I would like to laugh once in a while, und
dann hat s’g’sagt, well I’m here too an’ich leb noch, hots’ g’moant. Na hab ich
g’sagt, well, gee …
Wie früh können Kinder mehrsprachige Ressourcen einsetzen?
Hannah (2;9) beim Rollenspiel
I’m trying again, oh geht’s nicht, nowtry again, oh geht auch nicht, I’ve to put his arms down, ... and Mama isgoing to drive. Mami Mami can nowdrive, it’s not very hard, warum ist das nicht da? Oh I’m trying it all again, oh I can’t do it, uh uh I can’t do it.
-- dazu später mehr --
Sprache ist komplexerfordert mehr als kommunikative Fähigkeiten.
„Konstruiert“ werden viele Teilsysteme: Lautinventar, melodische Eigenschaften, Wortschatz, grammatische Regeln, Gebrauchsregeln, ....
die sich jedes Kind wie ein Detektiv erschließen muss.
Beispiel für Konstruktionsleistungen von Kindern:
L1 2;4 ich mach ein Champilzion
L2 5;0 der fotokameriert ihn
Was können wir nach erfolgreichem
Spracherwerb?
Wir verstehen und produzieren Sätze, die wir noch nie gehört haben,
d.h., der Spracherwerb besteht nicht aus dem Memorieren von Satzlisten.
Wir erkennen Mehrdeutigkeit
1. Er hat den Löffel abgeben.
2. El Greco malte den Kardinal ohne Brille.
3. Alte Männer und Frauen gingen von Bord.
4. Alle Kinder sitzen auf einem Pferd.
Was leistet eigentlich eine Grammatik ? − ein Selbstversuch −
1. Der gloke Baler frohlte die morsigen Tenden auf.
2. Der Baler ist glok. Tenden sind morsig.
3. Baler haben Tenden schon immer aufgefrohlt.
4. Frohlen Baler nur Tenden auf?
5. Morsige Tenden werden aufgefrohlt
6. Eigentlich haben Tenden nichts gegen die Frohlerei, und ungloke Baler wären auch okay.
Sprachfähigkeit: ein „robustes“ Geschenk unserer Gene
• Dreijährige sind SprachexpertInnen
• Egal, welche Sprache: ähnliche Phasen
• ohne explizite Unterweisung oder Korrektur
• unabhängig von der Intelligenz
• unabhängig von der Modalität (Laut oder Gebärde)
Was Kinder wann können
Stimme der Mutter erkennen
Geburt 6
Monate
Lallen
12
Monate
Erste Wörter
18
Monate
Wortver-bindungen
Sätze, denen Kinder im „Input“ begegnen
(a) Peter machte die Tür gestern auf.(b) Gestern machte Peter die Tür auf.(c) Was hat Peter aufgemacht?(d) Machte Peter die Türe auf?(e) Die Türe wollte Peter aufmachen.(f) Ich möchte, dass P. die Tür aufmacht.(g) Ob P. die Tür aufmachen kann?
Architektur deutscher Sätze
LINKS ........................RECHTS
Peter machte die Tür aufWas wollte Peter aufmachen?
dass Peter die Tür aufmacht
SATZKLAMMER
Wichtige syntaktische Meilensteine
1. Tür aufMama auch Tür aufmachen
2. Mama macht Tür auf
3. wenn Mama (die)Tür aufmacht
SATZKLAMMER
Auf dem Weg: Kinder reparieren „Mängel“ des Systems
(d.h. Unregelmäßigkeiten, Ausnahmen)
1. der ist gegeht, geschwimmt
2. ich musse einkaufen, ich bine krankder willt reingehn, wir willen spielen
Clevere Zwischenlösungen
1. 3;4 Auf Warum-Frage:ənənə des so laut is Platzhalter
2. 4;7 Warum heisst ein Parkplatz Parkplatz?wegen’s zum Parken is Entlehnung
3. 3;0 das darf man if man will Bilinguale Entl.
Mehrsprachigkeit von Geburt an:
SPRACHERWERB im DOPPELPACK
Der doppelte Erstspracherwerb
• Im Prinzip: no problem !
• Altersgemäße Entwicklung
• Manchmal ist eine Sprache dominant, schneller, „stärker“, wird lieber gesprochen etc.
• Frühe Sprachentrennung
• Partnerabhängige Sprachwahl im Alter 2-3
• Eigene Überlegungen zur Sprachwahl der Umwelt
• Vorübergehende Mischphasen
Kostprobe
1. 2;3 Mama hat das fix it2. 2;4 Ich hab gemade you much better3. 2;6 Ich cover michself up4. 2;9 Kannst du move a bit? 5. 3;0 Aber I want some more balloons
Grund zur Beunruhigung? Nein!
Frühe metasprachliche Kompetenzen Hannah 2;7
Hannah Ich hab ein Zug gebaut in Kita.
Mutter: And did they say ‘clever Hannah?’
Hannah: Nein, ‘brave Hannah’, ’cause it’s German.
Wie steht es mit dem frühen Zweitspracherwerb (3-5) ?
wie Erwerb bei Erwachsenen?wie bei Sprachstörungen ?wie beim Erstspracherwerb?
Studie 2003-2005 Zweitspracherwerb in der Kindheit, unter besonderer Berücksichtigung der Migration (mit E. Kaltenbacher)
L2-Erwerb bei Erwachsenen
1. Ich habe gelern Französisch drei Jahr(Müller 1998)
2. Ich müssen hier immer so machen.
3. Heute Johann hat ein Buch gekauft.(Hawkins 2001)
Dann er schlaft noch (Dimroth 2002)
Naive Erwartung:
Deutschförderung = Sache der Eltern
1. Erw., mehrere Jahre KontaktzeitMontag isch gehen Arbeit immer
2. Kind 3;5, L1= Russisch, 5 Monate Kontaktzeit
Die Stiefel hascht du geangeltWarum hast du des?In de Gruppe hab ich dies gespiel
Wer könnte wem etwas beibringen?
Fallbeispiel 1: AHA 3,5 L1= Arabisch
Nach etwa einem Kitamonat:
• Einwortäußerungen
• ein Hund, ein Maus, ein Pusten (=Ballon)
• hier essen, unten essen, Nutella essen, ein Vogel fliegen
• ich auch Auto
AHA
Hab nich Angst habe 3;8 Diese Elefant geh Disko geht 4;0
Ich hab kein Platz mehrKeine Platz mehr hab ich hierDie Junge will Prinzessin holen
⇑.............................⇑SATZKLAMMER
Ergebnisse L2-Studie Thoma & Tracy 2009, Tracy & Thoma 2009
wie L2 bei Ewachsenen??
NEIN!
Bei frühem Beginn (3-4)
wie gestörter Erwerb? NEIN !
wie L1 ??für syntaktische Meilensteine
JA !!(vgl. Rothweiler 2006, 2007)
Typische Problembereiche bei Schulbeginn
• Lücken im Alltagswortschatz
• Genus: der Kind, die Junge
• Kasus: sie gibt ihn ein Nuss
• Präpositionen: der geht Ø Hause
• Pluralbildung (die Äpfeln, die Apfel)
• Unregelmässige Formen (fallt, willt)
Aber kann dies überraschen ???Kaum !
Wörtern, Details und irregulären Formen muss man mindestens einmal begegnet sein, und man muss Unterschiede hören können.
Vorläufiges Fazit Menschen sind eigentlich sehr gute Sprachlerner. Warum also sprachliche Lücken und Förderbedarf?
Unwahrscheinlich: Sprachentwicklungsstörung (SSES, Prävalenz 3-8%)
Unwahrscheinlich: Fehlende Sprachbegabung
Unwahrscheinlich (bei Kleinkindern): Fehlende Motivation
Naheliegend: Ungünstige Erwerbsbedingungen(qualitativ, quantitativ, Beginn, Dauer, Intensität etc.)
Probleme der Sprachstandseinschätzung
Überschätzungweil Lerner Problembereiche gut umgehen können,
Unterschätzungaufgrund mangelnder kommunikativer Aktivität/Schüchternheit
Differenzierung von typischem und gestörtem Erwerb (SSES)
Wissenschaftlich fundierte und faire Verfahren?
FÖRDERliche Bedingungen
• frühe Erwerbsgelegenheit (mit Beginn Kita)• regelmäßiges, durchaus komplexes
Sprachangebot, variations- und kontrastreich • authentische Kommunikation in
alltagsrelevanten Situationen• kleine (gemischte) Gruppen, mit
gemeinsamem Aufmerksamkeitsfokus• Vertrauen der Eltern• ein „starkes Team“, Coaching
Best Practice-Beispiel: „Sprache macht stark!“
seit 2007 Ludwigshafen, seit 2008 Mannheim, Stuttgart
3 Säulen: • Kleingruppenförderung
(3x 1 Std. pro Woche, 53 Gruppen, 204 Kinder)
• Förderung im Alltag• Eltern-Kind-Gruppen
(17 wöchentliche Gruppen, 160 Eltern)
Merkmale• Thematische Vernetzung• Intensive Qualifizierung (Teams!)• Coaching
Vergleichsstudie 2009mit unspezifisch geförderten Kinden
Es gibt keine schnelle oder kostenneutrale Lösung,
keine Diagnostik light
... keine Lösung ohne Weiterqualifikationpädagogischer Fachkräfte und LehrerInnen
... keine Lösung ohne Verbesserung derBetreuungsrelation in Kitas und Schulen,
denn Spracherwerb funktioniert nicht telepathisch!
Anregungen für die Praxis
Tracy (2008). Wie Kinder Sprachen lernen und wie man sie dabei unterstützen kann. Tübingen: Francke.
Tracy & Lemke (Hrsg.) (2009). Sprache macht stark. Berlin: Cornelsen.