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Mt 5,38–48 Andreas Janke

Handelt wie Gott. Gepredigte Auslegung von Mt 5,38–48

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Mt5,38–48Andreas Janke

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Universitat HamburgFachbereich Evangelische Theologie

Institute fur Neues Testament und fur Praktische Theologie

Sedanstaße 19, D-20146 Hamburg

Handelt wie GottGepredigte Auslegung von Mt 5,38–48

Stud. theol. Andreas Janke

Markt 6, D-37581 Bad Gandersheim

Email: [email protected]

Exegetisches und homiletisches Seminar zur Bergpredigt

Prof. Dr. Wolfgang Grunberg

Prof. Dr. Jens Schroter

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Die hier vorliegende Schrift entstand als exegetische Hauptseminararbeit undGroßer homiletischer Entwurf zum

”Exegetischen und homiletischen Seminar zur

Bergpredigt“, das die Professoren Dr. Wolfgang Grunberg (PT) und Dr. Jens Schroter(NT) im Sommersemester 2000 am Fachbereich Evangelische Theologie der Univer-sitat Hamburg anboten. Abgegeben habe ich die ursprungliche Schrift am 1. August2002.

Abgesehen vom Titelblatt und wenigen Korrekturen habe ich an der Arbeit nurdas Layout verandert, um die Blattzahl einschl. Einband von 168 Blatt/Seiten aufdas postgangigere Maß von 66 Blatt/112 Seiten zu verringern.

Bad Gandersheim, Oktober 2002

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Inhaltsverzeichnis

1. Predigt 1

2. Hermeneutik 3

2.1. Der Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

2.2. Der texttheoretische Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42.3. Konsequenzen aus dem texttheoretischen Ansatz . . . . . . . . . . . . 7

3. Exegese 9

3.1. Meine exegetische Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

3.2. Textkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

3.3. Ubersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113.4. Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

3.4.1. Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

3.4.2. Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

3.4.3. Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143.4.4. Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

3.5. Sprachlich-Syntaktische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

3.5.1. Mt 5,38-42 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163.5.1.1. Wortartenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

3.5.1.2. Verbanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

3.5.1.3. Nomenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

3.5.1.4. Satzanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183.5.1.5. Sprachliche Auffalligkeiten . . . . . . . . . . . . . . . 20

3.5.2. Mt 5,43-48 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

3.5.2.1. Wortartenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

3.5.2.2. Verbanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213.5.2.3. Nomenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

3.5.2.4. Satzanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

3.5.2.5. Sprachliche Auffalligkeiten . . . . . . . . . . . . . . . 263.6. Semantische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

3.6.1. Mt 5,38-42 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

3.6.1.1. Wortsemantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

3.6.1.2. Textsemantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393.6.1.3. Grammatische Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . 40

3.6.2. Mt 5,43-48 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

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Inhaltsverzeichnis

3.6.2.1. Wortsemantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423.6.2.2. Textsemantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573.6.2.3. Grammatische Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . 59

3.7. Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633.7.1. Mt 5,38-42 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

3.7.1.1. Handlungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643.7.1.2. Sprechaktanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

3.7.2. Mt 5, 43-48 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683.7.2.1. Handlungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683.7.2.2. Sprechaktanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

3.8. Intertextualitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703.8.1. Mt 5,38-42 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713.8.2. Mt 5,43-48 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

3.9. Pragmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743.9.1. Mt 5,38-42 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753.9.2. Mt 5,43-48 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

4. Systematik 79

4.1. Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 794.1.1. Der Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

4.1.1.1. Im evangelisch-lutherischen Verstandnis . . . . . . . . 804.1.1.2. Im Matthausevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

4.1.2. Die Erlosung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 834.1.3. Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

4.2. Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

5. Homiletik 87

5.1. Die Zielgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 875.2. Die Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

5.2.1. Die Predigtmoglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885.2.2. Verarbeitung des Predigttextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 895.2.3. Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 905.2.4. Predigtaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935.2.5. Korrigierende Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

A. Zusammenfassung der Exegese I

B. Phrasenschema Mt 5,1–6,18 III

C. Literaturverzeichnis V

Matthaus 5,38–48 XI

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1. Predigt

I. Eure Gerechtigkeit soll besser sein, als die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten!Schriftgelehrte bohren Ihren Verstand in die Schrift. Sie verstehen die Schriftgenau. Sie verstehen den Wortlaut bis ins Detail. Sie verstehen, wie man einenWortlaut umsetzen soll. Doch Eure Gerechtigkeit soll besser sein, damit Ihr dasReich Gottes erkennen konnt.

II. Ihr habt schon vier Beispiele fur diese bessere Gerechtigkeit gehort: Ihr solltnicht toten, nicht einmal in Eurem Denken. Stattdessen sollt Ihr Euch mit je-dem versohnen, bevor Ihr mit Gott redet, wenn Ihr in Euch Hass und Abnei-gung findet. Weder sollt Ihr die Ehe anderer gefahrden, noch sollt Ihr Eure Eheauflosen. Stattdessen sollt Ihr die Ehe unter allen Umstanden schutzen. Ihr solltnicht schworen, denn Ihr habt keine Macht, Euren Worten mehr Gewicht zuverleihen. Stattdessen sollt Ihr jederzeit aufrichtig sein und

”Ja“ meinen, wenn

Ihr”Ja“ sagt, und

”Nein“ sagen, wenn Ihr

”Nein“ meint. Denn auch Gott meint

”Ja“, wenn er

”Ja“ sagt und

”Nein“, wenn er

”Nein“ sagt.

III. Zwei weitere Beispiele will Euch jetzt noch geben:

IV. Ihr wisst: Ein Grundzug menschlicher Gerechtigkeit ist, dass Gleiches mit Glei-chem vergolten wird. Daran hat sich seit Jahrtausenden nichts geandert.

V. Ich sage Euch dazu: Selbst vom Verbrecher gilt:”Gott schuf den Menschen nach

seinem Bilde.“ Das sollt Ihr in jedem Menschen sehen und ihn behandeln, wieGott sein Ebenbild behandelt.

VI. Wenn Ihr also Opfer eines Verbrechens werdet, vergeltet dem Verbrecher nichtGleiches mit Gleichem. Gott zahlt Euch nicht mehr mit gleicher Munze heim,selbst wenn Ihr Euch gegen Ihn wendet. Mit welchem Recht wollt Ihr dann einemVerbrecher mit gleicher Munze heimzahlen?

VII. Wenn Ihr aufs Ubelste beleidigt werdet, lasst es ruhig uber Euch ergehen oh-ne selbst zu beleidigen. Pobelt Gott etwa zuruck, wenn Ihr ihn anpobelt? Mitwelchem Recht wollt Ihr auf eine Beleidigung beleidigend reagieren?

VIII. Und wenn Ihr vor Gericht gezogen werdet, gebt dem Klager mehr als er fordert.Selbst wenn er Eure Unterwasche pfanden lassen wollte, gebt ihm Eure ganzeKleidung. Denn denkt daran: Selbst wenn Ihr Gott anklagt, bekommt Ihr vonIhm mehr als Ihr fordern konnt. Mit welchem Recht wollt Ihr jemanden, derEuch anklagt, anders behandeln, als Gott Euch behandelt?

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1. Predigt

IX. Wenn Euch jemand um etwas bittet, gebt es ihm, denn Gott gibt Euch auch,wenn Ihr ihn bittet. Und wendet Euch nicht ab, wenn jemand Geld von Euchleihen will, sondern seid freizugig. Erwartet nicht, dass Ihr es zuruckerhaltet,schon gar nicht mit Zinsen, oder fordert Gott von Euch zuruck, was er Euchgibt? Nimmt er etwa Zinsen fur seine Gaben? Mit welchem Recht wolltet Ihr soetwas tun.

X. Ihr wisst: Menschen nehmen gerne die in ihre Gemeinschaft auf, die ihnen na-hestehen, aber sie verabscheuen ihre Gegner. Daran hat sich seit Jahrtausendennichts geandert.

XI. Ich sage Euch dazu: Selbst von Eurem Gegner gilt:”Gott schuf den Menschen

nach seinem Bilde.“ Das sollt Ihr in jedem Menschen sehen und ihn behandeln,wie Gott sein Ebenbild behandelt.

XII. Nehmt alle Menschen in Eure Gemeinschaft auf, selbst Eure Gegner. Denn Gottmacht keinen Unterschied zwischen seinen Ebenbildern. Er empfangt sie allegerne in seinem Hause. Mit welchem Recht wollt Ihr jemanden verabscheuen,den Gott aufnimmt?

XIII. Legt meine Worte nicht auf die Goldwaage. Uberlegt nicht, welches Wort wasgenau bedeutet und welche Falle dann wie zu behandeln sind. Das ist die Ge-rechtigkeit der Schriftgelehrten. Ich weiß, dass Euch diese Gerechtigkeit naheliegt.

XIV. Eure Gerechtigkeit soll besser sein. Eure Gerechtigkeit soll die Gerechtigkeit sein,die kein jemals von Gott geschaffenes Gesetz ubertreten kann. Eure Gerechtigkeitsoll die Gerechtigkeit sein, die diese Gesetze geschaffen hat. Eure Gerechtigkeitsoll die Gerechtigkeit Gottes sein.

XV. Gottes Gerechtigkeit fur Gott, menschliche Gerechtigkeit fur Menschen, nichtwahr? Menschen sollen sich aus der Gerechtigkeit Gottes heraushalten; das istGottes Spielfeld, oder? Es stimmt, wenn ein Mensch ein Mensch bleiben will.Aber ein Mensch mit menschlicher Gerechtigkeit kann nur die menschliche Weltverstehen und erkennen. Euer Urteil soll jedoch so sein, wie das Urteil Gottes,damit Ihr Euch zu Kindern Gottes entwickeln werdet. Dann konnt Ihr das ReichGottes erkennen und hineintreten.

XVI. Meine Beispiele geben Euch eine erste Orientierung. Ware es nicht moglich ansZiel zu kommen, ich hatte Euch dies alles nicht gesagt. Aber von Euch ist uber-liefert:

”Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde.“ Ihr werdet ganz sicher

vollkommen sein, so wie Gott vollkommen ist.

XVII. Damit Ihr Euch auf dem Weg nicht verzettelt, soll Euch das alte, uberlieferteGebet begleiten:

XVIII. Vaterunser: . . .

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2. Hermeneutik

Die gesamte, vorliegende Arbeit ist Frucht eines exegetisch-homiletischen Hauptsemi-nars zur Bergpredigt. Sie ist quasi das provozierte Resultat des Versuchs der Profes-soren Dr. Wolfgang Grunberg (Praktische Theologie) und Dr. Jens Schroter (NeuesTestament), beide Universitat Hamburg, Exegese und Homiletik wieder aufeinanderzu beziehen.

Die wesentliche Aufgabe des Seminars war es, die Verknupfung zwischen den bei-den theologischen Disziplinen Exegese und Homiletik zu schaffen. Dabei wurde vonSeiten der Exegese starkes Gewicht auf die asthetische Interpretation von Textengelegt, auf Seiten der Homiletik wurde nach der asthetischen Umsetzung der Inter-pretation in die Predigt gesucht, bzw. die Predigt konnte als integraler Bestandteilder Exegese gedacht werden. Dazu mussten sich beide Disziplinen weit aus dem Fens-ter lehnen. Wahrend des ersten Seminarteils war es im exegetischen Bereich notig,zuallererst eine texttheoretische Grundlage fur die asthetische Interpretation zu erar-beiten. Im Gegenzug musste die Homiletik mehr dazu gebracht werden, die Ergebnisseder Exegese nicht als nebensachlich abzutun, sondern aufzunehmen. Weiterhin ist esinnerhalb der Homiletik notwendig, eine texttheoretische Grundlage fur ihr ansonstenweithin emotionales, spontanes und manchmal kunstlerisches Vorgehen zu schaffen.Den homiletischen Fragestellungen war der zweite Teil des Seminars gewidmet. DieZusammenfuhrung beider Disziplinen sollte m.E. im dritten Teil des Seminars statt-finden, in dem Predigten erarbeitet und zum kleinen Teil gehalten und besprochenwurden.

Das exegetisch-homiletische Projekt Dr. Grunbergs und Dr. Schroters erfordertkonsequenter Weise eine Arbeit, die Exegese und Homiletik vollwertig miteinanderkombiniert und aufeinander bezieht.

2.1. Der Ausgangspunkt

Homiletik und Exegese haben sich schon vor vielen Jahrzenten auseinandergelebt undsind gerade im Umgang mit biblischen Texten sehr unterschiedliche Wege gegangen.Betrieb die Exegese in erster Linie Textarchaologie und war immer auf der Suchenach den ursprunglichen Texten,1 fragte die Homiletik eher nach der aktualisierenden

1Zum Einwand”In sum, historical criticism (interpreted rather one-sidedly and unfairly, because

it was seldom merely historical in interest as now often alleged) is given only a preliminary rolein interpretation.“ [13, S. 2] ist zu sagen, dass das Interesse der historisch-kritischen Exegetentatsachlich nicht nur die Konstruktion historischer (Pseudo-) Fakten ist und sie in methodisch-theoretischen Ausarbeitungen immer wieder betonen, Sinn der Texte den Texten entsprechendherausarbeiten zu wollen. Jedoch besagt ihr Interesse nicht, dass ihm ihre Arbeitweise entspricht.

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2. Hermeneutik

Umsetzung eines biblischen Textes in seiner vorliegenden Fassung. Weder hatte diehistorisch-kritische Exegese die Predigt als Endpunkt ihrer Arbeit im Blick, nochkonnte oder wollte die Homiletik die Ergebnisse der Exegese in Anspruch nehmen.

Texttheoretisch liegt der historisch-kritischen Exegese die Idee zu Grunde, mit demursprunglichen Text auch seinen Sinn zu erhalten oder zumindest seinen Stellenwertherauszuarbeiten. Der Sinn eines Textes liegt im Text selbst, so dass die Bedeutungleserunabhhangig eindeutig erhoben werden kann. Die Homiletik scheint dagegen keinklares, texttheoretisches Bild zu haben.

Das exegetische System der Suche nach den Ursprungen des Textes gehort zurgenossenen Elementarausbildung aller Seminarteilnehmer. Es hat (noch) eine deutli-che Vormachtstellung. Durch die Erkenntnis, dass die Ursprunge erstens kaum mehraufdeckbar sind, sie zweitens auch nicht dem Sinn eines Textes gleichgesetzt wer-den konnen und dass drittens die historische Arbeit durch die historische Fantasiedes Exegeten pradestiniert ist, gerat dieses exegetische System samt seinen Ergeb-nissen zunehmend unter Druck. Dadurch wird die selbstverstandlich angenommeneVormachtstellung der historisch-kritischen Exegese erschuttert. Dessen ungeachtet istdie historische Kritik nach wie vor das System, das zumindest an den evangelisch-theologischen Fakultaten Deutschlands vorwiegend gelehrt und in Examina abgepruftwird.

2.2. Der texttheoretische Ansatz

Im Seminar wurde der Annahme der historischen Kritik, ein Text entwickle einen ein-deutigen Sinn, indem er methodisch korrekt auf seine historischen Vorstufen zuruck-gefuhrt wird, ein anderes Textverstandnis entgegengestellt, das auch ein anderes ex-egetisches System erfordert.

Ein Text an sich ist sinnlos. Erst der Leser entwickelt in Wechselwirkung mit demText eine Welt, worin er Erfahrungen und Erkenntnisse sammeln kann, die uber diealltaglichen Erfahrungen hinaus gehen.2 Der Text ist von seinem Autor und bis zueinem gewissen Grad auch von der Zeit emanzipiert.3 Der Leser ist aber nicht frei,

Sie verhalten sich wie Menschen, die einen Nagel mit einem Spaten in die Wand schlagen oder ihrenGarten mit einem Hammer umgraben. Sie setzen fur ihr Interesse unpassendes Werkzeug ein. Eskann deshalb auch in fast allen historisch-kritischen Kommentaren beobachtet werden, dass ihrehistorische Arbeit nicht zum Sinn sondern zu (Pseudo-) Fakten fuhrt, Sinnbeschreibungen dagegenfast durchweg auf Basis unvermittelter Behauptungen oder doch noch eingesetzter, literarischeroder asthetischer Methoden stehen.

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”Ein Text ist zu interpretieren als ein Entwurf von Welt, die ich bewohnen kann, um eine meinerwesenhaften Moglichkeiten darin zu entwerfen.“ [40, S. 32].

3Vgl. Ricoeur:”Zunachst macht die Schrift den Text gegenuber der Intention des Autors autonom.

Was der Text bedeutet fallt nicht mehr mit dem zusammen, was der Autor sagen wollte. [. . . ]“[40, S. 28f].

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2.2. Der texttheoretische Ansatz

dem Text irgendeine Bedeutung beizumessen.4 Erstens reizt der Text mit dem, was erbietet, den Leser zum Verstehen; er enthalt jedoch nur eine eingrenzbare Spannbreitean Reizen.5 Zweitens ist der Leser aufgrund seines begrenzten Erfahrungshorizontsnicht in der Lage, alle vom Text moglicherweise angeregten Bedeutungen zu erken-nen. Kulturelle, soziale und psychologische Unterschiede, zu denen letztendlich auchdie durch fortlaufende Zeit bedingten Unterschiede zahlen, fuhren zu einer Vielzahlrealisierbarer Bedeutungen. Da ein Leser aber in seiner Kultur, seinem sozialen Um-feld und seiner psychologischen Verfassung verhaftet ist, kann er nur die ihm aktuellmoglichen Bedeutungen erfassen.6

Der wirklich ursprungliche Leser eines Textes ist eine Vorstellung im Kopf des Au-tors.7 Um diesen urpsrunglichen Leser von den Menschen zu trennen, die zuerst denText gelesen haben, schlage ich die begriffliche Unterscheidung zwischen zeitgenossi-sche Leser und ursprunglichem Leser vor. Ursprungliche Leser konnen wir nur vonTexten sein, die wir selbst schreiben. Alle anderen Leser, selbst die zeitgenossischen,konnen in eine Reihe verschiedener Kulturen und Subkulturen zerfallen. Werden schonallein dadurch eine Vielzahl unterschiedlicher Interpretationen eines Textes moglich,so produzieren auch innerhalb kulturell homogener Gruppen die Leser je fur sich ihrenureigenen Textsinn. Es ist unmoglich zu sagen, der zeitgenossische Leser uberhauptverstehe Dies oder Das. Ein Exeget kann sich den zeitgenossischen Lesern historischerTexte nur durch seine historische Fantasie nahern, indem er aus sich heraus, an vor-handenen Quellen orientiert, zeitgenossische, kulturell unterschiedliche Lesergruppenkonstruiert. Die Frage nach den zeitgenossischen Lesern dient in erster Linie dazu,mogliche, sprachliche Codes eines historischen Textes zu erfassen.

Wie die Wechselwirkung zwischen Text und Leser funktioniert, ist schwer zu fassen.Ich schlage als Arbeitsthese vor, dass Textverstandnis auf Analogieschlussen basiert.Ein Leser verstunde dann die Textwelt, weil er in der Lage ist, in seiner Welt, die eraus seinen Erfahrungen ableitet, Analogien zur Textwelt zu finden.8 Das kann insofernauch theoretisch gerechtfertigt sein, als Menschen auf immer wieder gleiche Lebens-

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”Es [Sich-Verstehen vor dem Text] heißt nicht, dem Text die eigene begrenzte Fahigkeit des Ver-stehens aufzuzwingen, sondern sich dem Text auszusetzen und von ihm ein erweitertes Selbst zugewinnen, einen Existenzentwurf als wirklich angeeignete Entsprechung des Weltentwurfs.“ [40,S. 33].

5Vgl. Iser:”Gleichzeitig aber ist der Text selbst eine ‘Rezeptionsvorgabe’ und damit ein Wirkungs-

potential, dessen Strukturen Verarbeitungen in Gang setzen und bis zu einem gewissen Gradekontrollieren.“ [26, S. I].

6Vgl. Iser:”Diese [Sinnbildungsprozesse des Textes/ Aktualisierungsmoglichkeiten] sind im je kon-

kreten Falle durch die individuellen Dispositionen des Lesers und den von ihm geteilten sozio-kulturellen Code bedingt.“ [26, S.VI].

7Nicht mit dem im Text manifestierten, impliziten Leser zu verwechseln. Das Bild im Kopf desAutors muss sich nicht vollstandig in die Textstrategie des impliziten Lesers umsetzen. Es ist nichteinmal sicher zu sagen, ob jeder Autor eine Strategie einsetzt, die seinem Leserbild entspricht.Schon im Bereich von Ironie und Zynismus mag ein Autor bewusst einen anderen, impliziten Leserals seinen ursprunglichen Leser niederschreiben. Das heißt wiederum, dass mit Hilfe des implizitenLesers nicht in den Kopf des Autors geschaut werden kann.

8Eine ahnliche Voraussetzung schafft sich Iser wohl mit dem Begriff”Sinnkonstanz“:

”Die basale

Erwartung von Sinnkonstanz bildet die Voraussetzung fur die Verarbeitung der Ereignishaftigkeitdes literarischen Textes.“ [26, S.VI].

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2. Hermeneutik

fragen nur eine begrenzte Vielfalt an Antworten und Strategien entwickeln konnen,solange der Mensch nicht grundsatzlich verandert wird. Technische Differenzen be-deuten keine grundsatzliche Veranderung des Menschen. Ihm stehen allenfalls andereMittel zur Verfugung, um in einer gleichen Situation zu einem gleichen Ergebnis zukommen.9 Im Ubrigen sind Analogieschlussverfahren im Rahmen der Grammatik na-hezu selbstverstandlich. In dem Moment, in dem wir eine Grammatik irgendeinerSprache, die nicht Latein ist, mit lateinischen Begriffen beschreiben, verstehen wirihre Grammatik durch die Analogie zur lateinischen Grammatik. Wer immer eineSprache grammatisch so begriffen hat, tragt Analogieschlusse bei seiner elementarenGrundlage, der Ubersetzung, in sein Verstandnis ein.

Text verstehe ich vorerst als aufgeschriebene Sprache, obwohl mir durchaus be-wusst ist, dass der Begriff Text mit Recht wesentlich weiter gefasst werden kann.Eine Diskussion daruber zu fuhren lohnt sich aber hier nicht, weil ich geschriebenesWort auslege.

Es gibt m.M. nach eine Reihe von Texten, die so in einer Wechselwirkung mit einerGemeinschaft stehen, dass sie von einer Gemeinschaft zur Identifikation geschaffenbzw. zusammengestellt werden und dann derselben Gemeinschaft fortan zur Identifi-kation dienen. Solche Texte konnen nur auf breiter Basis der Gemeinschaft geandertwerden. Zu ihnen gehoren u.a. Gesetze, kanonisierte Glaubenszeugnisse, und z.T.festgeschriebene Auslegungen. Ein Abweichen von solchen Texten indiziert ggf. einenAustritt aus der Gemeinschaft dieses Textes, zumindest werden aber dadurch Fragenprovoziert, ob man noch innerhalb der Gemeinschaft stehe. Unberuhrt davon bleibtdas verschiedenartige Verstandnis der Texte. Drei Beispiele seien hier genannt: DieGesetze eines Staates definieren diesen Staat und bestimmen damit die Gemeinschaft,fur die diese Gesetze gelten. Teilweise werden noch Untergruppen innerhalb dieserGemeinschaft geschaffen, indem nicht alle Gesetze gleichermaßen fur alle ihre Glie-der gelten. Zu denken ist hierbei z.B. an die Auslandergesetzgebung. Im religiosenKontext seien nur die verschiedenen christlichen Gruppen exemplarisch angefuhrt.Als Grundidentifikation von Christen ist der Bezug auf eine Bibel mit Altem undNeuen Testament zu nennen. Die erste Binnendifferenzierung setzt bei der Wahl dermaßgebenden Sprache ein sowie bei der Wahl der Bestandteile der Uberlieferungund ihrer Anordnung. Als weitere Unterscheidungspunkte treten gesetzte Auslegun-gen oder Texte hinzu. Aus der Kategorie der zusatzlichen, festgesetzten Texte sei-en die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche angefuhrt, welche dieUntergruppe evangelisch-lutherische Christen innerhalb der Gemeinschaft aller Chris-ten identifizieren. Zuletzt sei auf die Entstehung des Kanons verwiesen. Zumindestein wichtiger Faktor in diesem Prozess war der Identifikationszwang fur Christen inAbgrenzung von Haresien. Besonderen Druck ubte hier Marcion aus, der seinerseitsbereits einen Kanon geschaffen hatte und damit erfolgreich eine marcionitische Ge-meinschaft fundamentieren konnte.

9Es ist gleichgultig, ob sich Menschen mit Schwertern zerhacken oder mit Kugeln durchsieben. IhrGrundkonflikt ist identisch und das Ergebnis auch.

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2.3. Konsequenzen aus dem texttheoretischen Ansatz

2.3. Konsequenzen aus dem texttheoretischen Ansatz

Wenn ein Text weder seine Autoritat noch seinen Sinn vom Autor bezieht, dann be-kommt die Bibel selbst dann keinen Punkt mehr Sinn oder Geltung, wenn Gott ihrAutor ware. Wollte man die Inspiration retten, so musste man sagen, dass der Leseroder Ausleger inspiriert sein musse. Auf meiner texttheoretischen Basis kann nur derAutor selbst seinen Text exakt so verstehen, wie er ihn meint, aber auch nur zu derZeit, in der er den Text verfasst. Sein Verstandnis ist von seiner Lebenswirklichkeitabhangig. Meinte man also, Gott hatte die Bibel geschrieben, und wollte man sieso verstehen, wie er sie gemeint hat, dann musste man selbst Gott sein, und zwar invollem Umfang. Es wird kaum anders, wenn man die Texte genau so verstehen wollte,wie ihre menschlichen Autoren sie meinten. Zum Beispiel das Matthausevangelium sozu verstehen, wie Matthaus es meinte, setzte voraus, ausschließlich und unbeeinflusst,korperlich und geistig Matthaus zum Zeitpunkt der Abfassung des Evangeliums zusein. Ein solcher, anachronisitscher Exeget wurde spatestens beim nachsten Versuch,eine befahrene Straße zu uberqueren, aus der Welt der Lebenden gestoßen. Aber selbstwenn er auch nur ein wenig uberleben sollte – nicht zu lange, damit nicht etwa dieaktuelle Welt seinen anachronistischen Zustand verzerre – konnte er uns nur Sinnvermitteln, der wie z.B. das Matthausevangelium selbst, aus einer anderen Kulturstammt. Transponierte so ein Exeget den Text in unsere Kultur, musste er mindes-tens mit ihrer Sprache vertraut sein. Dann jedoch ware er nicht mehr unbeeinflusstder Autor des historischen Textes und konnte ihn deshalb nicht mehr unverzerrt ver-stehen. Es ist deshalb theoretisch unmoglich, einen Text ernsthaft von seinem Autorher zu erfassen, schon gar nicht, wenn es sich um einen historischen Text handelt.

Der Autor oder die Autoren der Heiligen Schrift verleihen ihr weder Bedeutung,noch Sinn noch Heiligkeit. Dennoch gilt sie mir als kaum veranderbares Dokumentder Kirche, weil die Bibel ihr Identitat und Grundlage gibt. Die Bibel zu andern istgleich einer Veranderung der Kirche, fuhrt unausweichlich in eine andere Glaubens-gemeinschaft.

Mein Ansatz kann weiterhin die Frage wieder akut machen, welche Sprache maßge-bend ist, ob die Reihenfolge der Schriften im Kanon relevant ist und welche Texte imKanon stehen. Reihenfolge und Bestandteile des Kanons markieren mindestens christ-liche Untergruppen. Bei der Wahl der Sprache muss ich aus technischen Grundenetwas lockerer sein. Sprache zeichnet schon innerhalb gleicher christlicher Stromun-gen Subkulturen aus, seien es Christen gleicher Konfession in verschiedenen Landern,seien es verschiedene Generationen nominell gleicher Sprache, sei es der Unterschiedzwischen Theologe und Laie.

Aus der legitimierten Vielfalt der Auslegungen zu einem Text resultiert das Pro-blem, welche Interpretationen im Rahmen des Moglichen liegen und welche daruberhinaus gehen. Das Seminars, aus dem heraus diese Arbeit entstanden ist, konntehierfur keine Kriterien erarbeiten, obwohl die Frage immer und immer wieder ver-handelt wurde. Meine These zum Problem, zwischen moglichen und unmoglichen In-terpretationen von Texten zu scheiden, ist: Sobald eine Interpretation auf dem Marktist, ist sie eine mogliche Interpretation. Ware sie unmoglich, gabe es sie nicht. Es kann

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2. Hermeneutik

also nicht darum gehen, Kriterien zur Aussonderung von Interpretationen zu finden,sondern hochstens darum, Kriterien zu ihrer Klassifizierung zu entwickeln.10

Die texttheoretische Basis erwartet, dass ein Leser mit seinem Text Sinn entwickelt.Deshalb muss sie auch davon ausgehen, dass der Leser etwas mit seinem Text machenwird. Spricht er mit seinem Text zu anderen Menschen, dann stellt er Theologie inden Raum. Aus diesem Grunde ist es vorprogrammiert, dass sich der sprechende Lesermit der Systematik auseinanderzusetzen haben wird. Das kann aber bedeuten, dass ermoglicherweise mit den bislang festgelegten Glaubensgrundsatzen seiner Konfessionoder sogar den allgemein gultigen, außerbiblischen, christlichen Glaubensgrundsatzenin Konflikt gerat – zu denken ware z.B. an die Glaubensbekenntnisse –. Mein Text-verstandnis mit ihm entsprechenden Methoden hat also das Potential, nicht nur mitder Homiletik zu kommunizieren, sondern auch mit der Systematik zu diskutieren.Die theoretische Bedeutung dieser Diskussion fur die Praxis und die Lehrgebaudeheutiger Kirchen haben wir im Seminar nur gestriffen, aber nicht vertieft. Tatsachlichsehe ich die Moglichkeit, alle theologischen Disziplinen von der Exegese her ineinan-der zu arbeiten und vor das Problem zu kommen, rechtfertigen zu mussen, ob wiralthergebrachte Glaubensgrundsatze zu revidieren haben oder ob wir den Status Quohalten konnen. Das ist jedoch ein gewaltiges Projekt. Ich werde in dieser Arbeit keinkomplettes, theologischer Lehrgebaude vorlegen, zumal das auch die Zielsetzung desSeminars uberstiege. Die Diskussion mit der Systematik beschranke ich daher auf dasNotwendige.

Diese Arbeit unterliegt den gleichen Bedingungen wie ihr Untersuchungsgegen-stand. Meine

”selektive Vereindeutigung“ der

”Mehrdeutigkeit des Textes“ [26, S.VI]

wird dadurch zuruckgenommen, dass ich sie schriftlich fixiere und anderen Menschenzum Lesen ubergebe. Erst Sie werden aus diesen Zeilen Sinn aufbauen und ich vermagSie darin nur grob zu beeinflussen. Was Sie daraus machen, wird in erster Linie Ihreeigene Welt und Ihre eigene Geschichte sein.

10Aber selbst Klassifizierungen sind nicht wertfrei – und es ware zu fragen, ob Wertfreiheit uber-haupt erstrebenswert ist –. Wenn Kriterien zur Einordnung von Auslegungen an der Universitatentwickelt werden, fallen sie selbstverstandlich so aus, dass universitar-wissenschaftliche Interpre-tationen einem hoheren Qualitatsniveau zugehoren. Alles andere ware beruflicher Selbstmord.

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3. Exegese

Wenn ein Text als vom Autor emanzipierte, selbstandige Welt verstanden wird, worinder Leser Erfahrungen und Erkenntnisse sammeln kann, die uber die alltaglichen Er-fahrungen hinaus gehen, wenn der Sinn eines Textes in der Wechselwirkung zwischenLeser und Text entsteht und wenn Texte daruber hinaus auch zu einem gewissen Gradvon der Zeit emanzipiert sind, dann bedarf es exegetischer Methoden, die nach derWechselwirkung zwischen Text und Leser fragen. Es bedarf also Methoden, welche dieWahrnehmung und die Wahrnehmungsmoglichkeiten eines Lesers untersuchen. Dassind asthetische Methoden. Historische Fragestellungen treten dann in erster Liniedort auf, wo es den sprachlichen Code eines historischen Textes zu ubersetzen gilt,um ihn verstehen zu konnen. Dabei wirkt freilich die historische Fantasie des Exege-ten auf der Basis seiner Biographie und seiner aktuellen Lebensumstande genauso,wie bei allen historischen Untersuchungen.

Aus dem historisch-kritischen Methodenwerk nutze ich die Textkritik, um denText zu bestimmen, uber den ich schreiben will. Ansonsten setze ich die erprobten,linguistischen Methoden

”Sprachlich-Syntaktische Analyse“,

”Semantische Analyse“

und”Pragmatik“ ein, wie es Egger vorschlagt [15]. Ich erganze um die Analyse der

”Intertextualitat“ und der

”Handlungsanalyse“. Allen Methoden ist gemein, dass sie

den Text in seiner Endgestalt zum Ausgangspunkt haben. Mit diesen Werkzeugenkann man im Text allerdings erst einmal nur beobachten, welche Mittel er zur Sinn-steuerung einsetzt. Interpretieren muss sie jeder Exeget fur sich allein.1 Sie eignensich trotzdem sehr gut dazu herauszuarbeiten, aufgrund welches Reizangebots manwelchen Sinn im Text produziert.

Da die Sinnfindung nach wie vor vom Exegeten abhangig ist, bleibe ich in denUntersuchungen dieser Arbeit prasent. Weiterhin mache ich mich transparent, indemich

”Meine exegetische Situation“ meinen Lesern zur Verfugung stelle.2

Da kaum ein Teilnehmer des Seminars auch nur annahernd mit asthetischen Me-thoden vertraut war, bekam das Seminar im Versuch ihrer Anwendung hochst expe-

1Bei Egger fehlen z.B. konsequenter Weise Hinweise darauf, wie die Ergebnisse der linguistischenArbeitsschritte interpretiert werden konnen [15].

2Ich bin gegenuber Ricoeurs Arbeitsvorschlag pessimistisch:”Man kann Hermeneutik und Ideologie-

kritik nicht mehr einander entgegensetzen; die Ideologiekritik ist der notwendige Umweg, den dasSich-Verstehen machen muß, wenn es sich durch die Sache des Textes, nicht durch die Vorurteiledes Lesers bestimmen lassen will.“ [40, S. 34]. Die Ideologien und Vorurteile konstituieren denLeser. Sie zu kritisieren und sich von ihnen zu entfremden bedeutete, nicht mehr in der Lage zusein, den Text zu verstehen. Meiner Meinung nach kann es weder um Kritik noch um Entfrem-dung gehen, sondern nur darum, die Moglichkeiten des Verstehens fur sich und fur die Leser derInterpretation transparent zu machen, um mogliche Weichen fur andere Interpretationswege zukennzeichnen.

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3. Exegese

rimentellen Charakter, vorausgesetzt man ließ sich darauf ein und beharrte nicht aufdem alten, eingeubten exegetischen System. Auch diese Arbeit ist ein Experiment, zuwelchen Ergebnissen das veranderte Textverstandnis mit ihm entsprechenden Metho-den fuhren kann.

3.1. Meine exegetische Situation

Im Grunde wirkt mein gesamtes Leben auf diese Arbeit ein. Da ich aber keine Bio-graphie schreiben will, habe ich Schlaglichter ausgewahlt, die ich in Bezug auf dievorliegende Arbeit fur besonders relevant halte.

”Alter schutzt vor Dummheit nicht!“ und

”Traue keinem Lehrer, bevor du dich

nicht selbst uberzeugt hast, dass er Recht haben konnte!“ sind zwei Leitsatze, die michschon seit vielen Jahren begleiten. Der erste Satz verursacht eine gewisse respektlo-se Haltung alten Traditionen und, im Speziellen, theologischen Großen gegenuber.Der zweite Satz lasst mich grundsatzlich misstrauisch gegenuber Lehrmeinungen undBuchern sein. Deshalb pflege ich mir erst ein eigenes Bild zu machen, bevor ich michauf eine Diskussion mit ihnen einlasse. Ich bin durchaus bereit, eine unubliche Mei-nung zu vertreten, wenn sie sich mir als die verstandlichste erweist.

Studieren bedeutet fur mich, nicht nur mein Wissen zu erweitern, sondern auchWissen zu schaffen. Wer Wissen schaffen mochte, muss auch in Ecken gucken, in diesonst niemand schaut. Wer nur auf den bekannten Straßen geht, kann einen neuenReisefuhrer schreiben und ihn zu all den anderen Reisefuhrern uber den gleichen Wegins Regal stellen. Ich habe eher einen Hang dazu, nicht (nur) die bekannten Pfadeabzuschreiten. Deshalb war es mir bislang immer ein Anliegen, einen echten, vielleichtsogar veroffentlichbaren Diskussionsbeitrag zu dem theologischen Thema, mit dem ichbeschaftigt war, abzuliefern. Genauso verhalt es sich auch bei dieser Arbeit.

Ich schreibe diese Arbeit auch als Vater, der seine Aufgaben als Erzieher sehr ernstnimmt. Seit nunmehr drei Jahren ubernehme ich den großten Teil der Erziehungmeines Sohns. Die Auslegung wird zeigen, dass es nicht belanglos ist, dass ich alsaktiver Vater schreibe.

Selbstverstandlich ist es fur mich relevant, in Deutschland deutschsprachig aufge-wachsen zu sein.3 Es hat sicherlich auch Bedeutung, dass ich evangelisch-lutherischerChrist bin.

3Wenn man sich in Deutschland dazu bekennt, Deutscher zu sein, muss man sich immer gegen denVerdacht wehren, rechtsradikal zu sein. Ein Erbe unserer Vorfahren. Ich habe erst im Ausland,insbesondere in Japan, gelernt, dass ich Deutscher bin, indem vieles was mir selbstverstandlichwar, sich nur fur einen Menschen, der in Deutschland aufwuchs, als selbstverstandlich erwies.Wenn ich also sage, dass ich Deutscher bin, meine ich das nicht als Qualifikation gegenuber an-deren Menschen in der Welt, sondern als kulturelle Grobeinordnung, die Verstehensmoglichkeitenbedingt.

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3.2. Textkritik

3.2. Textkritik

Am Anfang stand ein Text. Der wurde immer weiter abgeschrieben und dabei ver-andert. Konnte man den ursprunglichen Text rekonstruieren, dann . . . . Was dann?Hatten wir dann den absolut maßgebenden Text? Die ultimative Grundlage fur jedeAuslegung? Die Wahrheit? Selbst wenn wir den Urtext in den Handen hielten, wurdenwir hochstens erkennen, dass dies der alteste, gefundene Text ware, aber nicht, dasses sich um den Urtext handelte.

Im Laufe der Jahrhunderte haben eine Reihe von Textvarianten gewirkt. Deshalbist es unabdingbar, sich vor der eigentlichen Textauslegung darauf zu einigen, uberwelchen Text aus dem Strom der Uberlieferungen man spricht. Dies ist die eigentlichwichtige Aufgabe der Textkritik.

Ich folge aus drei Grunden dem vorgegebenen Text des Novum Testamentum Grae-ce [1].

Erstens ist das Institut fur Neutestamentliche Textforschung in Munster [INTF] mitqualifiziertem Personal besetzt, das sich tagein, tagaus mit dem Vergleich von neutes-tamentlichen Texten und der Suche nach dem ursprunglichen Wortlaut beschaftigt.Die Mitarbeiter des INTF sind mir sowohl beim Zugriff auf die Quellen als auch inder Erfahrung bei ihrem Vergleich uberlegen. Deshalb bringe ich ihnen vorerst so vielVertrauen entgegen, dass ich nicht mit ihren Ergebnissen streiten muss. Das ist abersicherlich kein schlagendes Argument.

Zweitens hat sich der Text des Novum Testamentum Graeces, berechtigt oder nicht,faktisch zum Standardtext unserer Zeit entwickelt. Im Strom der Uberlieferungenist er ein neuer Text, der sich zur internationalen Kommunikationsbasis entwickeltund damit gruppenidentifizierende Funktion erhalten hat. Es mussten schon sehrzwingende Grunde auf breiter, wissenschaftlicher Basis vorliegen, um gegen den Textdes Novum Testamentum Graeces zu lesen.

Drittens sind die Zeugen fur die gebotene Lesart immer sehr viel starker als furdie alternativen Lesarten. Es liegen keine zwingenden Grunde vor, einen anderen alsden im Novum Testamentum Graece gebotenen Text zu lesen. Hingewiesen sei jedochauf eine Textunsicherheit in Mt 5,39. Das sou nach siagìna kann nicht eindeutig alsursprungliche Lesart dargestellt werden. Immerhin steht auf der Seite des gebotenenTextes der Codex Vaticanus (03). Außerdem entstunde kein elementarer Bedeutungs-unterschied, wenn das sou wegfiele, so dass auch hier kein wirklich zwingender Grundvorliegt, anders als das Novum Testamentum Graece zu lesen. Im Lichte asthetischerBetrachtung kann es naturlich durchaus einen Unterschied machen, ob ein Personal-pronomen steht, oder nicht.

3.3. Ubersetzung

38Ihr habt gehort, dass gesagt wurde:”Ein Auge fur ein Auge“ und

”ein Zahn fur

einen Zahn“.

39Ich sage euch dazu: Stellt euch nicht dem Verbrecher entgegen. Sondern wer auch

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3. Exegese

immer dir auf die rechte Wange eindrischt, dem halte auch die andere hin. 40Und dem,der dich vor Gericht ziehen und der deine Unterwasche nehmen will, dem uberlassauch deine Uberkleidung. 41Und wer auch immer dich zu einer Meile Tragedienstzwingen wird, mit dem mach dich zwei auf den Weg. 42Dem, der von dir fordert,zahle! Und wende dich nicht ab von dem, der sich von dir Geld leihen will!43Ihr habt gehort, dass gesagt wurde:

”Du wirst deinen Nahestehenden wertschatzen“

und”du wirst deinen Gegner verabscheuen.“

44Ich sage euch dazu: Schatzt eure Gegner wert und betet fur die, die euch jagen,45damit ihr Sohne eures Vaters im Himmel werdet! Denn er lasst seine Sonne uberVerbrecher und Ehrenmanner aufgehen. Und er lasst es uber Rechtschaffene undUnrechtschaffene regnen. 46Denn wenn ihr die wertschatzt, die euch wertschatzen,welchen Lohn habt ihr? Tun nicht auch die Steuerpachter dasselbe? 47Und wennihr nur eure Bruder gern habt, was tut ihr Außergewohnliches? Tun nicht auch dieHeiden dasselbe? 48Gewiß, ihr werdet vollkommen sein, wie euer himmlischer Vatervollkommen ist!

3.4. Kontext

Matthaus 5,38-48 ist nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Matthausevangelium. Wirddas Evangelium kontinuierlich gelesen, hat der Leser im Text bereits Erfahrungengesammelt. Sie beeinflussen sein fortschreitendes Verstehen des Textes. Deshalb gebeich einen groben Uberblick uber die vorausgegangenen Ereignisse.

Anschließend untersuche ich, in welchem direkten BedeutungszusammenhangMt 5,38-48 steht. Ich ordne den Text ein, um bewusst zu machen, welcher Sinnhori-zont auf die Perikope einwirkt. Dabei bediene ich mich moglichst formaler Kriterien,weil diese am leichtesten von anderen Menschen wiederzuentdecken sind. Grundsatz-lich nehme ich an, dass hervortretende, formale Zeichen absichtlich gesetzt sind unddas sie beim Lesen Wirkung entfalten, selbst wenn sie nur unbewusst wahrgenommenwerden.

Die Perikope Mt 5,38-48 ist als Thema der Arbeit vorgegeben. Um meine Arbeitdaruber hinaus nicht ins Uferlose zu treiben, grenze ich die Rander meiner Textstellegegen ihre Umgebung ab.

Fur einen ersten Eindruck und um die Perikope griffiger zu machen, gliedere ichsie in Binnenabschnitte und zeige deren Struktur auf.

3.4.1. Vorgeschichte

Von Mt 1,1 bis Mt 4,16 geht es vor allem darum, Jesu Autoritat zu fundamentieren.Dies geschieht mehrstufig.

In Mt 1,1-17 wird Jesus scheinbar geradlinig uber den mannlichen Familienzweigbis auf Abraham und damit auf den Ursprung der Israeliten zuruckgefuhrt. Sofern ersich seiner Abstammung wurdig erweist, gehort er zu ihren Großten und besitzt perse die Autoritat dieser Familie.

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3.4. Kontext

Die Szenen Mt 1,18-3,12 sind immer mit einem Schriftwort verknupft. Damit wirdJesu Geburt, die Deklaration zum Konig der Juden – ohne dass er dabei ware oder seinAmt offiziell antrate – die Flucht nach Agypten, der Kindermord, die Ruckkehr ausAgypten und die Wirksamkeit Johannes des Taufers an die Heilige Schrift gekoppelt.Das dient letztendlich dazu, Jesus durch die Schrift zu legitimieren.

Ab Mt 3,13 verleiht Gott selbst Jesus Autoritat, indem er ihn nach der Taufe durchJohannes zu seinem Sohn ausruft.

In Mt 4,1-10 muss Jesus aus eigener Kraft beweisen, dass er verdient, Sohn Gottesgenannt zu werden, indem er uber den Teufel die Oberhand behalt. Der Erweis gelingtihm, so dass ihm anschließend als Zeichen, dass er endgultig Hausrecht bei Gott hat,die Engel zu Dienern werden.

Bis zu diesem Zeitpunkt sind nur Jesu Eltern, zumindest Joseph, Johannes derTaufer, der Teufel, die Engel, Gott und die Leser eingeweiht. Im Text weiß aber nochkein weiterer Mensch Bescheid. Das verandert sich nach der Verhaftung Johannes desTaufers in Mt 4,12. Zuerst einmal verlegt Jesus seinen Wohnort, was eigentlich wiedernur als Schrifterweis gedacht ist. Es ist der vorerst letzte.

Mit Mt 4,17 tritt er in die Offentlichkeit. Dort lesen wir die erste Andeutung JesuPredigt. In Mt 4,18-22 verschafft er sich seine ersten vier menschlichen Mitarbeiter:Simon, Andreas, Jakobus und Johannes. Damit wird die Sphare der Textmenschen4

weiter betreten. In Mt 4,23-25 macht er seine erste Predigtreise mit Heilungen durchGalilaa. Die Predigt wird wieder nicht genau ausgefuhrt. Im Text hat er nun seinenDurchbruch geschafft und ist landauf landab unter den Menschen bekannt. An diesemPunkt setzt die Lehre auf dem Berg ein. Jesus entfaltet seine Lehre, nur nicht wie einLehrer oder Prophet, sondern wie Gott selbst. Das korrespondiert zu den vorherigenNotizen, insbesondere zur Aufnahme in Gottes Haushalt. Nur kennen die Textmen-schen diese Vorgeschichte nicht, sondern mussen sie erst langsam in Erfahrung bringenund verstehen.

3.4.2. Einordnung

Die Perikope Mt 5,38-48 ist nicht selbstandig, sondern dem Kontext der Lehre aufdem Berg, Mt 5-7, der in Mt 5,1-2 eingefuhrt wird, untergeordnet. Wir befinden unsimmer noch in der gleichen Szene, die einer Vorlesung gleicht: Der Dozent Jesus stehtvor einer versammelten Zuhorerschaft und (be)lehrt sie.

Die Lehre auf dem Berg ist in mehrere Binnenabschnitte eingeteilt, die zumindestbis einschließlich Mt 6,18 formal durch Wiederholungen von Phrasen erkennbar sind.5

Zwischen diesen Abschnitten von Phrasenwiederholungen steht regelmaßig jeweils einText, der aus diesem Schema fallt: Mt 5,11-12.17-20 ; 6,1.

Matthaus 5,17-20 nahert sich jedoch dem genannten Schema stark an. In Mt 5,18heißt es:

”�m�n g�r lègw ÍmØn “. Nahezu identisch beginnt Mt 5,20:

”lègw g�r ÍmØn

4Textmenschen seien die Menschen im Text. Bisweilen werden sie auch als Akteure bezeichnet. DieserAusdruck ist mir jedoch zu dynamisch. Textmensch halte ich fur den neutraleren Ausdruck.

5Siehe dazu B auf Seite III.

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3. Exegese. . .“. Den Anknupfungspunkt fur das g�r sehe ich jeweils in Mt 5,17, so dass derZusammenhalt des Textabschnitts Mt 5,17-20 gegeben ist.

Der Abschnitt Mt 5,21-48 zeichnet sich durch die Phrase”�koÔsate íti ârrèjh. . . âg° dà lègw ÍmØn . . .“ mit einer Abwandlung in Mt 5,31

”ârrèjh dè . . . âg° dàlègw ÍmØn . . .“ aus.

Durch die Kombination von lègw und ÍmØn besteht formal ein assoziativer Zu-sammenhang zwischen Mt 5,17-20 und Mt 5,21-48. Eine weitere, noch gewichtigereVerbindung besteht darin, dass in beiden Texten das Ich des Sprechers in den Vor-dergrund tritt. Zwar geht die gesamte Rede auf dem Berg von diesem Ich aus, aberes benennt sich außerhalb Mt 5,17-48 nie selbst. In den beiden genannten Abschnit-ten tritt jedoch die 1. Person Singular zutage. Wenn zwei Abschnitte auf diese Weiseaufeinander bezogen sind, sollten sie trotz der Unterschiede gemeinsam betrachtetwerden. Deshalb gehe ich von einer Zusammengehorigkeit von Mt 5,17-48 aus.

Die Perikope Mt 5,38-48 ist dem dritten Phrasenzyklus Mt 5,21-48 untergeordnet,der mit Mt 5,17-20 verbunden ist.

3.4.3. Abgrenzung

Sowohl in Mt 5,38-39 als auch in Mt 5,43-44 steht jeweils die Wendung”�koÔsateíti ârrèjh . . . âg° dà lègw ÍmØn . . .“. Diese Phrase markiert jeweils den Beginn eines

neuen Unterabschnitts innerhalb des dritten Phrasenzyklus. Weil sie zweimal steht,ist von zwei Unterabschnitten auszugehen: Mt 5,38-42 und Mt 5,43-48.

Nach V. 48 kommt bereits Mt 6,1, der ein eigenstandiger Teil außerhalb der Phrasen-wiederholungen ist. Jedoch verbindet er sich locker mit dem nachsten PhrasenzyklusMt 6,2-18. Deshalb ist Mt 6,1 eher dorthin zu rechnen. Das bedeutet wiederum, dassmit Mt 5,48 der letzte Unterabschnitt des dritten Phrasenzyklus endet. In Mt 5,38-48liegen also die letzten beiden Unterabschnitte des dritten Zyklus vor.

3.4.4. Gliederung

Die Unterabschnitte Mt 5,38-42 und Mt 5,43-48 konnen in sich noch weiter unterglie-dert werden. Zur Feingliederung greife ich spater folgenden Analyseschritten voraus.Eingeruckte Verse beziehen sich jeweils auf die um eins weniger eingeruckte Stufe.Verse auf gleicher Stufe sind einander gleichgeordnet.

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3.5. Sprachlich-Syntaktische Analyse

Mt 5,38-426

38 : �koÔsate íti ârrèjh : Unpersonliches Gebot aus AT.39a : âg° dà lègw ÍmØn : Unpersonliches Verbot in offener Situa-

tion.39b : ísti se : Personliches Gebot in konkreter Situa-

tion mit Ubersteigerung.40 : å tèlwn : Personliches Gebot in konkreter Situa-

tion mit Ubersteigerung.41 : ísti se : Personliches Gebot in konkreter Situa-

tion mit Ubersteigerung.42a : å aÊtÀn : Personliches Gebot in offener Situation.42b : å tèlwn : Personliches Verbot in konkreter Situa-

tion.

Mt 5,43-4843 : �koÔsate íti ârrèjh : Personliches Gebot aus AT mit Lehrer-

weiterung in offener Situation.44 : âg° dà lègw ÍmØn : 2 personliche Gebote.45a : ípw : Zielbestimmung (Finalsatz).45b : íti : Begrundung 1 (Kausalsatz).46-47 : â�n : Begrundung 2 (4 Fragen);indirekte,

personliche Gebote.48 : eÊm� : Verheißung (Indikativ Futur) oder abso-

lutes Gebot (Ind. Fut. als absoluter Im-perativ).

An dieser Gliederung ist bereits erkennbar, dass sich Mt 5,38-42 und Mt 5,43-48abgesehen von der Phrase

”�koÔsate íti ârrèjh . . . âg° dà lègw ÍmØn . . .“ deutlich

unterscheiden. Deshalb werde ich beide Texte in der folgenden Analyse getrennt von-einander behandeln.

3.5. Sprachlich-Syntaktische Analyse

Mit der sprachlich-syntaktischen Analyse untersuche ich die Gestalt des Textes. Ichstelle sie in funf Schritten dar: Zuerst halte ich fest, welche Wortarten uberhauptvorkommen, dann wende ich mich den i.d.R. sinntragenden Wortarten Verben undNomen zu und beschreibe anschließend die Satzstruktur des Textes. Sofern noch Be-sonderheiten auffallen, stelle ich sie in einem weiteren Abschnitt dar. Die Artikelerwahne ich nicht. Die Interpretation dieser Gestalt erfolgt weitest gehend in dersemantischen Analyse.

Wie diese Vorankundigung erahnen lasst, konfrontiere ich meine Leser in diesemAbschnitt mit Statistiken. Sie bilden das notwendige Fundament der weiteren Ana-lysen, insbesondere der semantischen Analyse.

6Unter anderer Interpretation des V. 42 kann er auch auf gleicher Ebene mit V. 38 verstandenwerden.

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3. Exegese

3.5.1. Mt 5,38-42

3.5.1.1. Wortartenanalyse

Wortart : AnzahlPronomen : 15Verben : 14Substantive : 12Konjunktionen : 9Adverben : 5Adjektive : 3

Die Adverbien verteilen sich auf zweimal m , Bestandteile verneinter Imperative, zwei-mal ka� und einmal �ll�. Sie haben also sprachstrukturierende Funktionen.7

3.5.1.2. Verbanalyse

Finite Verben

Es liegen zehn finite Verben vor.

Numerus Person Aspekt Diathese1. 2. 3. Pras Aor Fut Akt Med Pass

Indikative: 5Sg. 1 3 2 1 1 3 1Pl. 1 1 1

Imperative: 4

Sg. 4 1 3 4

Konjunktiv: 1

Sg. 1 1 1

Im Plural steht nur das zur einleitenden Phrase gehorende �koÔsate. In dieser Formist es ihr regelmaßiger Bestandteil.8

Wichtig ist, dass der verneinte Konjunktiv im Aorist m� �postraf¬ (V. 42) und derverneinte Infinitiv m� �ntist¨nai (V. 39) funktional verneinte Imperative sind. Deshalbist es richtiger, von insgesamt sechs Imperativen zu sprechen.

Infinite Verben

Es liegen insgesamt sieben infinite Verben vor.

7Adverbien konnten auch eine ausmalende Funktion haben.8 Mt 5,31-32 ist formal keine selbstandige Antithese, sondern bildet mit Mt 5,27-30 eine Doppelthese.

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3.5. Sprachlich-Syntaktische Analyse

Numerus Aspekt Diathese Kasus GenusPras Aor Akt Med Pass Akk Dat m f n

Infinitive: 44 2 1 1

Substantivierte Partizipien: 3

Sg. 3 3 1 2 3

Wie ich schon unter den finiten Verben schrieb, hat m� �ntist¨nai (V. 39) die Funk-tion eines verneinten Imperativs.

Die drei substantivierten Partizipien fuhre ich hier nur der Vollstandigkeit halbermit auf. Eigentlich gehoren sie jedoch zu den Substantiven. Sie stammen einmal von�itèw und zweimal von (â)jèlw.

3.5.1.3. Nomenanalyse

Im Rahmen der Nomenanalyse halte ich mich an die Reihenfolge der Vorkommen dereinzelnen nominalen Wortarten, wie ich es in der Wortartenanalyse dargestellt habe.

Pronomen

Insgesamt liegen 15 Pronomen vor.

Numerus Kasus Genus Person ATNom Akk Gen Dat m f m/f n 1. 2. 3.

Personalpronomina: 12

Sg. 1 3 4 3 3 8 1 7 3Pl. 1 1 1

Indefinite Relativpronomina: 2

Sg. 2 2�llo : 1

Sg. 1 1

Drei Beobachtungen sind auffallig: Erstens gibt es nur einen Plural unter allenPronomen. Es handelt sich um das ÍmØn aus der einleitenden Phrase âg° dà lègw ÍmØn.

Aus der gleichen Phrase kommt die zweite Besonderheit: âg¸. Es handelt sich umden eher selten gebrauchten Nominativ der 1. Person der Personalpronomen. Dadurchwird die 1. Person betont und ein starkes Textsignal ausgesendet. Innerhalb der Berg-lehre wird diese Form nur in Mt 5,22-44 als fester Bestandteil der einleitenden Phrasegebraucht. Sie steht damit immer an exponierter Stelle im Anfang jeder

”Antithese“.

Im Ubrigen wird âg¸ auch ansonsten im Matthausevangelium wie in den synoptischenEvangelien uberhaupt eher sparsam eingesetzt.

Drittens ist die Dopplung des indefiniten Relativpronomens ísti bemerkenswert,weil es sich jeweils um die gleiche Form im Nominativ handelt. Innerhalb Mt 5,38-43sind das zusammen mit âg¸ die einzigen Nominative.

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3. Exegese

Substantive

Insgesamt liegen zwolf Substantive vor.

Numerus Kasus Genus Aspekt Diathese ATNom Akk Gen Dat m f n Pras Akt

Regulare Substantive: 9

Sg. 6 2 1 6 1 2 4

Substantivierte Partizipien: 3

Sg. 1 2 3 3 3

Vier der Substantive stehen im Zitat aus dem Alten Testament. Dadurch bekom-men sie eine Doppelfunktion: Einerseits liest sie der Leser im Matthausevangelium, sodass sie darin Wirkung entfalten. Andererseits gehoren sie auch zum alttestamentli-chen Textkorpus außerhalb des Matthausevangeliums, in dem sie je eigene Wirkungenerzielen. Es liegt also quasi eine Textkreuzung vor.

Die beiden Genitive sind jeweils von einem �nt� abhangig, so dass sie keine absolutenGenitive bilden.

In der Tabelle oben habe ich ponhrÄ zu den Maskulina gezahlt. Die Form ist jedochzweideutig: Es kann sich auch um ein Neutrum handeln. Meine Entscheidung zumMaskulinum hangt von noch folgenden Analyseschritten ab.

Besonders auffallig ist die Dopplung von drei Substantiven: ædoÔ , æfjalmì undå jèlwn. Die ersten beiden gehoren jeweils zum Zitat aus dem Alten Testament undstehen gleich nach der einleitenden Phrase in V. 38. <O jèlwn ist das substantiviertePartizip von (â)jèlw. Es steht in den Versen 40 und 42.

Adjektive

Insgesamt liegen drei Adjektive vor.

Numerus Kasus Genus ATNom Akk Gen Dat m f n

Numerale: 2Sg. 1 1

Dual 1 ? ? ?

Ortsangabe: 1

Sg. 1 1

Bei der Ortsangabe handelt es sich um dex�o , rechts (V. 39).

3.5.1.4. Satzanalyse

Konjunktionen

Insgesamt liegen neun Konjunktionen vor.

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3.5. Sprachlich-Syntaktische Analyse

Konjunktion Funktion : Anzahl

Positive: 7ka� Gleichrangige Beiordnung : 5dè Thematische Weiterfuhrung : 1íti íti-recitativum: Verweis auf anderen Text : 1

Adversative: 2�nt� Substitution : 2

Die gleichrangige Beiordnung uberwiegt bei weitem die Konjunktionen, die Satzeoder Satzteile aufeinander beziehen. Dadurch sind in Mt 5,38-42 viele Textelementesyntaktisch nicht aufeinader bezogen, sondern parallel zueinander. Das zeigt, dass derText in sich syntaktisch locker gearbeitet ist.Dè und das íti-recitativum sind feste Bestandteile der einleitenden Phrase �koÔsateíti ârrèjh . . . âg° dà lègw ÍmØn.9Adverbien

Drei der funf Adverbien strukturieren Satze.

Adverb Funktion : Anzahl

Positive: 2ka� Satzerweiterung durch erweiterte Handlung : 2

Adversative: 1�ll� Substitution einer Handlung durch eine andere Handlung : 1

Struktur

Matthaus 5,38-42 beginnt mit der mehrfach genannten Wendung �koÔsate íti ârrèjh.Sie bezieht sich nicht auf etwas gerade Gesagtes, sondern leitet das Zitat æfjalmän�ntÈ æfjalmoÜ kaÈ ædìnta �ntÈ ædìnto 10 ein. Dies hat zur Folge, dass die Perikopekeine syntaktische Verbindung zum vorherigen Text hat und somit isoliert beginnt.

Die beiden durch ka� verbundenen Zitatteile sind gleichrangige Nominalsatze wiesie im hebraischen Alten Testament und auch in seiner griechischen Ubersetzung, derSeptuaginta, haufig sind. Beide Nominalsatze sind funktional Imperativsatze. DasZitat wird formal thematisch in V. 39a mit dem dè weitergefuhrt.

Da es sich syntaktisch immer noch um ein Thema handelt, substituiert �ll� abV. 39b die vom AT vorgegebene Handlungsweise æfjalmän �ntÈ æfjalmoÜ kaÈ ædìnta�ntÈ ædìnto . Die Substitution ist jedoch logisch von der Weiterfuhrung des Themasabhangig.

Das Zitat wird durch drei Textblocke substituiert, die einander durch ka� gleichge-ordnet sind: V. 39b, V. 40 und V. 41. Alle drei Blocke enden auf einen Imperativsatzmit finitem Imperativ.

In V. 40 hangen vom substantivierten Partizip tÄ jèlonti zwei Infinitivkonstruk-tionen ab, die einander mit ka� gleichgeordnet sind.

9Siehe Fußnote 8 auf Seite 16.10LXX [39]: Ex 21,24 ; Lev 24,20 ;Dtn 19,21: æfjalmän �ntÈ æfjalmoÜ, ædìnta �ntÈ ædìnto – ein Auge

fur ein Auge, ein Zahn fur einen Zahn.

19

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3. Exegese

Ohne syntaktische Anbindung folgt V. 42. Er gliedert sich in zwei Imperativsatzemit finitem Imperativ, wobei der erste positiv und der zweite verneint ist. BeideImperativsatze sind einander durch ka� gleichgeordnet. Da ein syntaktisches Signalfehlt, kann zumindest auf dieser Ebene nicht klar entschieden werden, in welchemVerhaltnis V. 42 zu Mt 5,38-41 steht.

Assoziative Verknupfungen

Das alttestamentlich Zitat æfjalmän �ntÈ æfjalmoÜ kaÈ ædìnta �ntÈ ædìnto enthaltweder einen Nominativ noch ein Verb, so dass kein Handlungstrager im Satz vorliegt.Auch die Weiterfuhrung V. 39a enthalt keinen Nominativ, aber ein infinites Verb,namlich einen Infinitv. Dadurch liegt in V. 39a ebenfalls kein Handlungstrager vor.Weiterhin sind die beiden Nominalsatze in V. 38 funktional Imperative. Genauso liegtin V. 39a kein direkter Imperativ vor, aber der verneinte Infinitiv ubernimmt dieFunktion eines verneinten Imperativs. Damit bilden das alttestamentliche Zitat undseine syntaktische Weiterfuhrung in V. 39a eine assoziative Einheit.

In V. 39b und V. 40 wird die vorgegebene Situation jeweils durch ein adverbialeska� erweitert. Beide Satzerweiterungen sind identisch konstruiert: 2. Pers. Sg. Imp.Aor. + aÎtÄ ka� + Akk.

Vers 39b und V. 41 beginnen jeweils mit ísti se + 3. Pers. Sg. Ind. Beide Versehaben einen Nominativ und ein finites Verb im Indikativ. Deshalb liegen einfache Aus-sagesatze vor. An beiden hangt jeweils ein grammatisch angebundener Imperativsatz.Da es sich bei dem Nominativ der Aussagesatze jeweils um das gleiche, indefinite Re-lativpronomen ísti handelt, bleibt der Handlungstrager trotz Nominativ und finitemVerb jeweils unklar.

In V. 40 und V. 42b sind von einer Form des substantivierten Partizips å jèlwn Infi-nitive im Aorist abhangig. Im Rahmen der Infinitivkonstruktionen stellt das substan-tivierte Partizip jeweils den Handlungstrager fur die in den Infinitiven ausgedruckteHandlung. Die Konstruktionen bilden jeweils die Ausgangssituation fur den folgendenImperativ.

Es ist auch bemerkenswert, dass die einzigen beiden verneinten Imperative dieReaktion auf das alttestamentliche Zitat in V. 39a eroffnen und in V. 42b abschließen.

Wie die vorausgegangenen Absatze zeigen, ist Mt 5,38-42 assoziativ dicht gewoben.Dieses Ergebnis widerspricht den syntaktischen Signalen des Textes, die ihn eherlocker gearbeitet erscheinen lassen.

3.5.1.5. Sprachliche Auffalligkeiten

Die hohe Zahl der Personalpronomen, die innerhalb Mt 5,38-42 keinen Bezugspunkthaben, setzt eine Vorgeschichte voraus und bindet den Textblock in seinen Kontextein.

Die Konzentration der 2. Person Singular in der Perikope ist auffallig hoch.

Ebenso augenfallig ist die hohe Konzentration der Imperative.

20

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3.5. Sprachlich-Syntaktische Analyse

3.5.2. Mt 5,43-48

3.5.2.1. Wortartenanalyse

Wortart : AnzahlVerben : 18Substantive : 18Pronomen : 14/16 11

Konjunktionen : 13Adverben : 6Adjektive : 4

Die Adverben haben bis auf eines sprachstrukturierende Funktionen. Nur mìnonschmuckt die Handlung aus.

3.5.2.2. Verbanalyse

Finite Verben

Es liegen 18 finite Verben vor.

Numerus Person Aspekt Diathese AT1. 2. 3. Pras Aor Fut Akt Med Pass

Indikative: 14Sg. 1 2 4 4 1 2 6 1 1+1Pl. 5 2 4 1 2 6 1

Imperative: 2

Pl. 2 2 2

Konjunktive: 2

Pl. 2 2 1 1

Die beiden Futura im Singular stammen aus Zitaten. Das erste Zitat �gap sei tän plhs�on sou12 stammt aus der Septuaginta (Lev 19,18). Das zweite ist zwar nichtbiblisch, aber dem Septuagintazitat formal exakt nachgebildet. Fur �gap sei undmis sei folgt daraus ein grammatisches Problem: Die Septuaginta ubersetzt die he-braische Praformativkonjugation einheitlich mit Futur. In vielen Fallen lasst sichjedoch grammatisch nicht sicher entscheiden, ob mit der Praformativkonjugation einIndikativ Futur, oder ein Imperativ gemeint ist, weil sehr oft Formgleichheit vorliegt.Deshalb stellt sich fur die beiden Worte die Frage, ob sie imperativisch oder futurischgemeint sind. Stilistisch sind die beiden Zitate außermatthaisch von der Septuaginta

11Fur das Problem der Pronomenzahlung siehe die Nomenanalyse auf Seite 23.12LXX [39]: Lev 19,18: �gap sei tän plhs�on sou ± seautìn – Du wirst deinen Nahestehenden

wertschatzen wie dich selbst.

21

Page 28: Handelt wie Gott. Gepredigte Auslegung von Mt 5,38–48

3. Exegese

gepragt, werden vom Leser jedoch im Fluß des Matthausevangeliums wahrgenommen.Es liegt also wieder eine Textkreuzung vor.>Asp�shsje (V. 47) und êsesje (V. 48) sind zwar grammatisch Media, werden je-doch aktivisch gebraucht, so dass sie funktional eigentlich zum Aktiv zahlen. Danngibt es neben den Aktivformen nur noch ein Passiv: ârrèjh (V. 43). Es ist regelmaßigerBestandteil der einleitenden Phrase �koÔsate íti ârrèjh.

Das Prasens tritt erst ab V. 44 auf.

Infinite Verben

Es liegen insgesamt zwei infinite Verben vor.

Numerus Aspekt Diathese Kasus GenusPras Aor Fut Akt Med Pass Akk Gen m f n

Substantivierte Partizipien: 2

Pl. 2 2 1 1 2

Ich erwahne die beiden substantivierten Partizipien hier der Vollstandigkeit halber.Eigentlich gehoren sie jedoch zu den Substantiven. Sie stammen von den Verben di¸kw(V. 44) und �gap�w (V. 46).

3.5.2.3. Nomenanalyse

Substantive

Insgesamt liegen 18 Substantive vor.

Numerus Kasus Genus Aspekt Diathese ATNom Akk Gen Dat m Pras Akt

Substantive: 16Sg. 1 4 1 6 1+1Pl. 3 6 1 10

Substantivierte Partizipien: 2

Pl. 1 1 2 2 2

Augenfallig sind die Dopplungen von pat r, Vater, und âqjrì , Gegner. Dabeisteht pat r ausschließlich im Singular. >Eqjrì ist im Zitat Singular aber im Folge-text Plural.

Pronomen

Insgesamt liegen 16 Pronomen vor.

22

Page 29: Handelt wie Gott. Gepredigte Auslegung von Mt 5,38–48

3.5. Sprachlich-Syntaktische Analyse

Numerus Kasus Genus Person ATNom Akk Gen Dat m f m/f n 1. 2. 3.

Personalpronomina: 12

Sg. 1 3 1 3 1 2 1 1+1Pl. 1 2 4 1 8 8aÎtì : 2

Sg. 2 2

Interrogativpronomen: 2

Sg. 2 1 1

Zu âg¸ siehe die Erlauterung zu Mt 5,38-42 auf Seite 17.Der zweite Nominativ ist auch ein Nominativ der Personalpronomen: ÍmeØ . Abge-

sehen davon, dass schon allein durch die Form die 2. Person Plural betont wird, stehtÍmeØ im letzten Vers der Perikope und damit an exponierter Stelle.Die beiden Interrogativpronomina sind beachtenswert, weil sie naturgemaß Satze

strukturieren.Die beiden aÎtì in den V. 46.47 sind keine echten Pronomen, weil sie substantiviert

sind. Sie ersetzen keine Nomen, sondern jeweils einen Satz, bzw. eine Handlung. AÎtì kommt zweimal in gleicher Form vor.

Adjektive

Insgesamt liegen vier Adjektive vor.

Numerus Kasus Genus ATNom Akk Gen Dat m f n

Sg. 2 1 2 1Pl. 1 1

Die vier Adjektive verteilen sich 1:3 auf die letzten beiden Verse der Perikope. Ingenau der gleichen Verteilung stehen sie im Akkusativ (V. 47) und Nominativ (V. 48).Tèleio kommt zweimal vor. In V. 48 ist es jeweils einmal im Singular und einmalim Plural. Unter den sowieso schon raren Adjektiven kommt also auch noch eins anhervorgehobener Stelle doppelt vor.

3.5.2.4. Satzanalyse

Konjunktionen

Insgesamt liegen 13 Konjunktionen vor.

23

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3. Exegese

Konjunktion Funktion : Anzahlka� Gleichrangige Beiordnung : 6íti, g�r Kausalkonjunktion : 2â�n Konditionalkonjunktion : 2ípw Finalkonjunktion : 1dè Thematische Weiterfuhrung : 1íti íti-recitativum: Verweis auf anderen Text : 1

Die gleichwertige Aneinanderreihung von Satzen und Satzteilen ist sehr stark.Trotzdem deuten die anderen Konjunktionen neben den Beiordnungen darauf hin,dass der Text dicht gewoben ist.

Adverbien

Funf der sechs Adverbien strukturieren Satze.

Adverb Funktion : Anzahl

Positive: 3ka� Satzerweiterung durch erweiterte Handlung : 2± Vergleich : 1

Negative: 2oÎq� Negation : 2

Die beiden oÎq� und ka� verbinden sich jeweils zu einer negativ formulierten Einlei-tung einer rhetorischen Frage, welche sich auf die ihr jeweils vorausgehende Handlungbezieht.

Struktur

Wie bereits gesagt, beginnen die Abschnitte der sogenannten Antithesen i.d.R. mit�koÔsate íti ârrèjh, so auch Mt 5,43-48. Genau wie in Mt 5,38 wird auch in Mt 5,43damit ein alttestamentliches Zitat eingeleitet: �gap sei tän plhs�on sou13. Deshalbgibt es keine syntaktische Verbindung zum vorausgehenden Abschnitt Mt 5,38-42.Daraus folgt einerseits, dass mit Mt 5,43 eine selbstandige, neue

”Antithese“ beginnt,

andererseits dass mit Mt 5,42 der vorausgegangene”Antithese“ wirklich abschließt.

Dieses Ergebnis unterstreicht noch einmal die vorgenommene Trennung zwischen denbeiden in dieser Arbeit untersuchten Textabschnitten.

Dem alttestamentlichen Zitat ist ein weiteres Zitat beigeordnet, das jedoch nichtunmittelbar aus dem Alten Testament stammt, zumindest nicht aus der Septuaginta.Da es dem alttestamentlichen Zitat jedoch durch ka� beigeordnet ist, bezieht sich dieZitateinleitung auch darauf. Es muss also aufgrund der Syntax auch ein Zitat sein.

Beide Zitate werden mit dè thematisch weitergefuhrt. Die Fortfuhrung der Zitatehat ebenfalls zwei mit ka� gleichgeordnete Glieder.

Auf die Weiterfuhrung nimmt ein Finalsatz mit ípw Bezug.

Nach dem Finalsatz kommt ein mit íti gebildeter Kausalsatz, der in sich zweigleichrangige, mit ka� verbundene Glieder hat. Worauf sich dieser Kausalsatz jedoch

13Siehe Fußnote 12 auf Seite 21.

24

Page 31: Handelt wie Gott. Gepredigte Auslegung von Mt 5,38–48

3.5. Sprachlich-Syntaktische Analyse

bezieht, ist schwer zu sagen. Wegen der Position im Text lage es nahe, ihn auf denFinalsatz zu beziehen. Es konnte sich stattdessen auch um einen Satz auf der Ebenedes Finalsatzes handeln. Der Bezug ware dann die Weiterfuhrung der beiden Zitate.Erst die Untersuchung, was der Kausalsatz bedeutet, kann diese Frage klaren.

Es folgt eine weitere auf g�r basierende Begrundungsstruktur mit ebenso unklaremBezug. Der Reihenfolge wegen konnte man sie auf den vorhergehenden Kausalsatzbeziehen. Wiederum besteht aber auch die Moglichkeit, dass sie auf der Ebene desFinalsatzes liegt und sich somit auch auf die beiden weitergefuhrten Zitate bezieht.

Die zweite Begrundungsstruktur besteht in sich aus zwei gleichgeordneten Konditio-nalsatzen (â�n). Beide hangen jeweils von einer nachgestellten Frage ab und mundenin eine rhetorische Frage. Dadurch steht in der gesamten Begrundungsstruktur nichteine Aussage. Aussagen werden allenfalls rhetorisch nahegelegt.

Mit V. 48 folgt syntaktisch vollig ungebunden der Abschluss von Mt 5,43-48 undder Antithesen uberhaupt.

Die Analyse der Struktur kann trotz der gebotenen Konjunktionen die Frage nichtentscheiden, ob sich an die Weiterfuhrung der Zitate ein Finalsatz und zwei Kausal-konstruktionen gleichgeordnet anschließen, oder ob sich die Teile Final-, Kausalsatzund Kausalkonstruktion in absteigender Reihenfolge auf das jeweils hohere Glied be-ziehen.

Assoziative Verknupfungen>Agap�w sorgt in Mt 5,43-47 fur eine Reihe assoziativer Verbindungen: Es steht sowohlin den eingefuhrten Zitaten als auch in deren Weiterfuhrung als erstes Wort. Weiterhinsteht es zweimal in V. 46 und wird mit dem ahnlichen �sp�zomai noch einmal inV. 47 aufgenommen. Es liegt nahe, die �gap�w-Teile in einem engen Zusammenhangzueinander zu sehen.

Neben der Verbindung durch �gap�w assoziert auch die Satzstruktur der Zitateund ihrer Weiterfuhrung, das beides eine unlosbare Einheit bildet:

V. 43 2. Pers. Sg. Ind. Fut. + Akk. + Pers.pronomen 2. Sg.und 2. Pers. Sg. Ind. Fut. + Akk. + Pers.pronomen 2. Sg.

V. 44 2. Pers. Pl. Imp. Pras. + Akk. + Pers.pronomen 2. Pl.und 2. Pers. Pl. Imp. Pras. + Akk. + Pers.pronomen 2. Pl.

Ich hatte schon in der Verbanalyse darauf hingewiesen, dass in der Septuaginta ein Fu-tur in Abhangigkeit vom hebraischen Sprachgebrauch ein Imperativ sein kann. Hier istes zumindest moglich, dass die Septuaginta an dieser Stelle imperativisch verstandenwurde. Wenn das so ist, dann ist die Satzstruktur von Zitat und Weiterfuhrung nichtnur ahnlich, sondern bis auf den Wechsel des Numerus identisch. Daraus folgte imUbrigen auch, dass Matthaus nicht den hebraisierenden Sprachgebrauch ubernahme,sondern statt des Hebraismus echte Imperative bevorzugen wurde.

Der Zusammenhang der �gap�w-Teile macht es wahrscheinlich, dass zumindest derzweite Begrundungsblock Mt 5,46-47 auf gleicher Stufe mit dem Finalsatz V. 45a steht

25

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3. Exegese

und sich auf die weitergefuhrten Zitate in V. 44 bezieht: V. 44 �gap�te toÌ âqjroÌ ÍmÀn . . .V. 46 â�n g�r �gap shte toÌ �gapÀnta Ím� , t�na misjän êqete? . . . 14Die jeweils erste Frage in V. 46 und V. 47 beginnt mit einem Interrogativpronomen

im Akk. Das Verb ist jeweils ein Indikativ Prasens. Von diesen Fragen hangen diebeiden Konditionalsatze ab. Die Fragen sind nicht identisch gebildet, aber doch soahnlich, dass ihre Parallelitat unubersehbar ist.

Die zweite Frage im Begrundungsblock V. 46-47 ist jeweils identisch formuliert.Lediglich das Substantiv wird ausgetauscht: oÎqÈ kaÈ oÉ . . . tä aÎtä poioÜsin.Poièw erregt ebenfalls Aufmerksamkeit, weil es dreimal in den Versen 46 und 47vorkommt. Zu den beiden bereits genannten Parallelstellen kommt noch aus V. 47bpoieØte hinzu.

Die Konditionalsatze V. 46 und V. 47 sind zwar einander gleichgeordnet, aber siebilden eine assoziative Einheit.

Vers 48 ist ein in sich geschlossener Vergleich. Er beginnt mit einer Form voneÊm� und endet mit einer Form von eÊm�. Zwischen diesen beiden Verben steht zwei-mal tèleio . Es ist der Vergleichspunkt im Vers. Trotzdem halten pat r, oÎr�nio und die beiden Formen von ÍmeØ , einen assoziativen Kontakt zum vorangehendenTextabschnitt. Insbesondere pat r und oÎr�nio verweisen nach V. 45. Vers 45 gibtgrammatisch einen anzustrebenden Zielpunkt vor, V. 48 stellt grammatisch eher einenStatus dar.

Neben den syntaktischen Verknupfungen ist Mt 5,43-48 auch reich an assoziativenVerbindungen. Deshalb entsprechen sich das syntaktische und das assoziative Bild.Lediglich V. 48 durchbricht dieses Ergebnis, denn er ist zwar syntaktisch vollig unge-bunden, hat aber auch einige assoziative Anker in Mt 5,43-47. Die letzte

”Antithese“

wirkt sehr komplex.

3.5.2.5. Sprachliche Auffalligkeiten

Das Wort �gap�w kommt in Mt 5,43-48 gehauft vor, namlich viermal. Davon sind dreifinite Verben und ein substantiviertes Partizip. Bedenkt man, dass es im gesamtenMatthausevangelium �gap�w nur achtmal gibt, verdient die Konzentration in einerPerikope um so mehr Aufmerksamkeit. Bei den weiteren vier Vorkommen in Matthaushandelt es sich zweimal um das Zitat von Lev 19,18 in der Septuaginta: Mt 19,19 undMt 22,39.15 Innerhalb der Berglehre steht das Wort nur noch in Mt 6,24, jedoch in derForm �gap sei16. In Mt 22,37 liegt die gleiche Form wie in Mt 5,43 vor: �gap sei 17.Die auffallig hohe Konzentration von �gap�w in Mt 5,43-48 verscharft sich weiter,wenn man sieht, dass das Nomen �g�ph nur in Mt 24,12 und das Adjektiv �gaphtì nur dreimal in Matthaus vorkommen, namlich in Mt 3,17 ; 12,18 ; 17,5.

14V. 44: Schatzt eure Gegner wert . . . V. 46 Denn wenn ihr die wertschatzt, die euch wertschatzen,welchen Lohn habt ihr? . . .

15Vgl. Fußnote 12 auf Seite 21: In Mt 19,19 ; 22,39 wird jeweils der gesamte Text wiedergegeben.163. Sg. Ind. Fut. Akt.172. Sg. Ind. Fut. Akt.

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Page 33: Handelt wie Gott. Gepredigte Auslegung von Mt 5,38–48

3.6. Semantische Analyse

Weiterhin ist der Wechsel zwischen V. 43 und V. 44 vom Singular zum Pluralauffallig. Der Plural wird dann in der Perikope weitestgehend beibehalten.

3.6. Semantische Analyse

Habe ich in”3.5 Sprachlich-Syntakitische Analyse“ vor allem die Zeichengestalt un-

tersucht, beschaftige ich mich in diesem Schritt mit der Bedeutung der Zeichen. Dazugehe ich in drei Schritten vor: In der

”Wortsemantik“ frage ich hauptsachlich nach

den Bedeutungen einzelner Worter, unter der”Textsemantik“ suche ich nach Bedeu-

tungen, die den Text z.B. durch Sinnlinien pragen und zuletzt beschaftige ich michin der

”Grammatischen Semantik“ mit dem Sinn der grammatischen Phanomene des

Textes. Ich bleibe bei der getrennten Untersuchung der Textstellen Mt 5,38-42 undMt 5,42-48, um die besondere Bedeutung der einzelnen Textabschnitte zu verfolgen.

Insbesondere in der Wortsemantik bin ich gefordert, die Bedeutungen altgriechi-scher Worte zu erklaren. Das Problem ist, dass wir keine Informationen daruber ha-ben, wer das Matthausevangelium wann wo geschrieben hat. Deshalb ist es nichtmoglich, eine spezifische Art und Weise der griechischen Sprachkodierung fur dasMatthausevangelium vorauszusetzen.18 Selbst wenn ich der Hypothese folgte, dassdas Evangelium irgendwo in der romischen Provinz Syrien [31, S. 73ff.][43, S. 238] inder Zeit zwischen 70 und 110 n.Chr. entstanden sei19, ware ich nur einen kleinenSchritt weiter. Erstens ist es gut moglich, das sich das Griechisch innerhalb der Pro-vinz Syrien von Region zu Region unterschieden hat. Zweitens ist der Zeitkorridorvon 40 Jahren so groß, dass darin auch innerhalb einer Region Sprachverschiebungenmoglich sind. Selbst wenn Ort und Datum der Entstehung bekannt waren, muss-ten aus genau dem gleichen Ort, aus der gleichen Zeit und aus der sozialen GruppeMatthai reichlich andere Quellen zuganglich sein, um ernsthafte Untersuchungen vor-nehmen zu konnen. Von all dem wissen wir aber nichts – und selbst wenn wir mehr

18Im ersten Moment mochte man Conzelmann-Lindemann Recht geben, wenn sie schreiben:”Um

den griechischen Text wirklich verstehen zu konnen, bedarf es einer sorgfaltigen Analyse derkonkreten kulturellen, politischen und sozialen Lebensformen jener Zeit, aus der der Text stammt.Und fur die Bestimmung des Sinns eines einzelnen Begriffs bedarf es ebensosehr einer sorgfaltigenBeachtung des jeweiligen Kontextes wie einer lexikalischen Einordnung.“ [12, S. 6] Die Problemein der Praxis liegen jedoch auf der Hand: Erstens ist die Quellenlage so dunn, dass es nur noch mitviel Fantasie moglich ist, die

”kulturellen, politischen und sozialen Lebensformen“ zu konstruieren.

Zweitens konnen wir Mangels Quellen gar nicht ausmachen, was”konkret“ bedeutet. Wir mussen

froh sein, wenn trotz sorgfaltigster Arbeit die Quellenlage allgemeine Aussagen und Einordnungenzulasst.

19

”Mt setzt Mk voraus und ist jedenfalls nach 70, d.h. nach der Zerstorung Jerusalems entstanden;[. . . ]. Andererseits muß das Evangelium auf jeden Fall vor 110 (Ignatius) entstanden sein, [. . . ]“[12, S. 331] –

”Matthaus setzt die Zerstorung Jerusalems voraus ([. . . ]), der terminus ad quem

ergibt sich aus der Kenntnis des Evangeliums durch Ignatius (um 110. n.Chr.). Das Evangeliumdurfte somit um 90 n.Chr. abgefaßt worden sein.“ [43, S. 238] – Luz halt der Datierung entgegen,dass auch Ignatius zeitlich nicht sicher zu fassen ist. Er schlagt vor, davon auszugehen, dass dasMatthausevangelium spatestens 115 n.Chr. in Smyrna bekannt war, halt aber eine Abfassungszeitvon etwa 80 n.Chr. fur wahrscheinlich [31, S. 76]. Als fruhsten Entstehungszeitpunkt benennt aucher die Zerstorung Jerusalems [31, S. 75f.]

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3. Exegese

wussten, hatten wir auch nur Fakten, die an sich genauso sinnlos wie ein Text sind–. Wir mussen uns damit begnugen, unspezifisch das Griechisch der groben Zeit desNeuen Testaments auf die Sprachentschlusselung anzusetzen, ohne Gewahr, dass dasMatthausevangelium auch wirklich diesem Sprachgebrauch immer folgt. Das ist zwarsehr ungenau, aber der einzige Weg, den griechischen Zeichen uberhaupt einen Sinnzuzuordnen.

Die schlechte Quellenlage ignorierend behauptet man gerne, Matthaus habe als Ju-denchrist fur eine judenchristliche Gemeinde geschrieben.20 Unsere einzige Quelle furdiese Behauptung ist das Matthausevangelium und es wird auf jeden Fall diese Be-hauptung unterstutzen, wenn es sein Ausleger dazu gebrauchen mochte, wie es ebensodas Gegenteil stutzen wird, wenn sein Ausleger das Gegenteil beweisen mochte21. Furjudische Gemeinden der relevanten Zeit in der Diaspora belegen uns wenige Inschriftenund Vermerke bei Josephus, dass es im Dunstkreis der (Diaspora-) Synagoge immerauch nicht-judische Gottesfurchtige gegeben hat, die den Gottesdienst besuchten unddie sich an die judischen Gesetze hielten – in Rom waren sie sogar z.T. judischerals die Juden selbst. Weiterhin wissen wir aus der Apostelgeschichte, dass die ersteMission in den Synagogen stattfand. Mission traf also von Anfang an auf Heiden undJuden, auf jeden Fall, seit sie judisches Kerngebiet verlassen hat. Wir vermogen nichtmehr abzuschatzen, welche Gruppen wie stark auf diese Mission reagierten. Vermut-lich mussen wir schon fur die fruhste Zeit von christlichen Mischgemeinden ausgehen,zumindest auf dem Territorium des Diasporajudentums. Die Differenzierung in juden-und heidenchristliche Gemeinde ist zumindest fur die Zeit der Evangelienbildung nurschwer zu verteidigen. Fur Matthaus als Autor – fur den, der das relevant findet – folgtweiterhin, dass er sowohl geborener Jude wie judisch gebildeter Gottesfurchtiger ausder Nahe der Synagoge, also eigentlich ein Heide, sein kann. Je mehr man Syrien oderein anderes, judisches Diasporagebiet als Entstehungsort voraussetzen mochte, destooffener wird die Frage nach Heide oder Jude und nach heiden- oder judenchristlicherZielgruppe.22

Auf jeden Fall durfen wir nicht dem Fehler verfallen, den impliziten Leser des Mat-thausevangeliums mit seinem zeitgenossischen Leser zu identifizieren. Deshalb konnenwir auch aus dem Matthausevangelium allein keine Zielgemeinde konstruieren. Jedein der Literatur derzeit vorfindliche Konstruktion basiert einzig auf dem Wollen undder Fantasie der Autoren. Darum konnen wir auch uber die Konstruktion der Zielge-meinde den sprachlichen Code des Matthausevangeliums nicht weiter spezifizieren.

Jede Arbeit mit der Ursprache des Matthausevangeliums bleibt deshalb auf einemvagen Niveau. Zur Sprachdekodierung kann nur das Griechisch aus dem griechischsprechenden Großraum etwa im ersten Jahrhundert angesetzt werden. Daruber hinaus

20Unter anderen:”Das Matthausevangelium stammt m.E. aus einer judenchristlichen Gemeinde und

von einem judenchrisltichen Verfasser.“ [31, S. 62] –”a) Mt gilt gewohnlich als ein Dokument

judenchristlicher Theologie.“ und”Er [Matthaus] ist aber – wie Paulus – geborener Jude und in

diesem formalen Sinn naturlich Judenchrist.“ [12, S. 332.333].21

”Die Verwerfung Israels ist fur die matthaische Gemeinde schon langst Realitat ([. . . ]) und dieHeidenmission selbstverstandliche Praxis([. . . ]).“ [43, S. 239].

22Uber das judische Kerngebiet kann ich derzeit keine Aussagen treffen.

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3.6. Semantische Analyse

kann die Sprache Matthai vom semitischen Sprachgebrauch beeinflusst sein. Trotz-dem kann man die (theologisch) schwer verdaulichen Stellen nicht einfach aus einersemitischen Sprache heraus erklaren.

Als Quelle fur Wortuntersuchungen ziehe ich immer auch das Matthausevangeliumsowie das Alte Testament heran, soweit sprachliche Zusammenhange naheliegen. Aus-fuhrlicher außere ich mich dazu in der Einleitung zur Intertextualitat 3.8 auf Seite 70.

3.6.1. Mt 5,38-42

3.6.1.1. Wortsemantik>HkoÔsate íti ârrèjh (V. 38 parallel V. 43) stellt zwei Seiten einer Kommunikationdar. Die Angesprochenen haben gehort, was gesagt wurde. Horen geht hier uber dasrein akustische Wahrnehmen hinaus in Richtung Wissen. Der Satz

”ihr wisst, dass

gesagt wurde“, ist kaum verschieden von”ihr habt gehort, dass gesagt wurde“. Horen

ist lediglich ein wenig offener als Wissen fur die Moglichkeit, nicht zu verstehen.Die passive Form von �goreÔw halt offen, wer gesagt hat. Daher ergeben sich dreiMoglichkeiten, in welche Sinnrichtung dieses Sagen gehen kann. Erstens konnte essich um ein Passiv des Gottlichen handeln, so dass Gott derjenige ware, der gespro-chen hat. Dann wiese der Satz auf ein Offenbarungsgeschehen hin. Wenn der Urheberdes Sprechens eine Gruppe von Lehrern ware, dann ginge das Sagen in RichtungLehren. Zuletzt konnte auch irgendeine unbestimmte Allgemeinheit Ausgangspunktdes Gesagten sein. Das deutete dann in Richtung Vorurteil, Gerucht oder ein vor-handenes Allgemeinwissen. Das Sagen mit der Sinnrichtung Offenbarung hat fur sich,dass æfjalmän �ntÈ æfjalmoÜ und ædìnta �ntÈ ædontì aus Ex 21,24, Lev 24,20 oderDtn 19,21 zitiert wird. An den ersten beiden Stellen wird der Rechtssatz als Offen-barung Gottes dargestellt, und an der dritten ist das mindestens mitgedacht. Dadas Zitat aus der Tora kommt, konnte es auch beim Lehren und Lernen23 der To-ra laut werden. Als Rechtsbasis ist ein solcher Satz sicher auch der Allgemeinheitdes Volkes bekannt. Nach biblischer Darstellung ist der Grundstein die gesprocheneOffenbarung Gottes. Die konnte sowohl von Toralehrern als auch von der Allgemein-heit der Israeliten horbar wiederholt werden. Auch die ubrigen �koÔsate íti ârrèjh(V. 21.27.33.43)24 lassen die Frage nach dem Sprecher unbeantwortet, weil immer diegleiche Struktur vorliegt, d.h. es wird entweder direkt ein von Gott laut Tora offen-bartes Gesetz zitiert oder zumindest daran angelehnte Spruche wiedergegeben. Indem�koÔsate íti ârrèjh frei schwebt, bleibt offen, woher der Horer am Berg und der Leserdes Matthausevangeliums das Zitat kennen. Nicht zur Frage steht, ob der Horer oderLeser diesen Satz uberhaupt kennt. Sowohl �koÔsate als auch ârrèjh steht namlichim Aorist und vermittelt damit, dass es sich um ein Faktum handelt.

23Dabei nehme ich an, dass beim Lernen die Tora laut gelesen oder ggf. vorgelesen wurde. Ebensoware Lernen durch Rezitation und (Streit-) Gesprach denkbar.

24Von der Konstruktion her ist V. 31 eine Fortfuhrung von Mt 5,27-30. Trotzdem lehnt sich auch dasScheiden an das im Sinne der Tora offenbarte Gesetz an und bietet auf diese Weise fur ârrèjh dèdas gleiche Bedeutungsspektrum wie die anderen Stellen an.

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3. Exegese>Eg° dà lègw ÍmØn (V. 39 parallel V. 44): Der Nominativ des Personalpronomensist immer eine Betonung der Person. Hier wird der Sprecher, Jesus, durch das Ichunterstrichen und hervorgehoben. Kommt der adversative Charakter nicht durch dasdè, so entsteht er doch durch die vom âg¸ in den Boden gerammte Eiche: Ich! 25

Diese Bedeutungsrichtung ist die auffalligste und baut eine Konfrontation zwischenJesus und dem von Gott offenbarten

”Ein Auge fur ein Auge und ein Zahn fur einen

Zahn!“ auf. Im Ausblick auf die von Matthaus erzahlte Geschichte Jesu ist das einBaustein an seinem Tod. Jedoch kann dieses massive Ich auch so verstanden werden,dass jemand spricht, der per se normgebende Gewalt hat. Das ist so zu verstehen:Ich sage euch, wie ihr die Offenbarung Gottes zu verstehen habt, und neben meinerMeinung hat keine andere Bestand. Matthaus 5,17-19 legt nahe, dass das Ich eherder Ausdruck der autorisierten, normgebenden Auslegungsgewalt ist. Es besteht dannkein Gegensatz zwischen Gottes Offenbarung und Jesus, sondern eine Auslegung voneinem Ausleger, der in sich das Recht tragt zu sagen, wie die einzig wahre Auslegungaussieht. Das dè signalisiert lediglich den thematischen Bezug zum vorhergehenden,in diesem Falle also zum alttestamentlichen Zitat. Zumindest im Griechischen stelltdè kein Problem dar, weil es keine Konfrontation zwischen Jesus und der OffenbarungGottes provoziert. Um diese Konfrontation in der Deutschen Ubersetzung abzufangenund um Mt5,17-19 ernst zu nehmen, ubersetze ich dè nicht mit dem ublichen aber.Aber wird m.E. nur noch adversativ verstanden. Eine thematische Weiterfuhrung istmit diesem Wort kaum moglich. Stattdessen greife ich auf dazu zuruck. In diesemFalle eignet es sich namlich gut, um zu verdeutlichen, dass Jesus den alttestamentli-chen Spruch weiterfuhrt, bzw. auslegt. Das lègw hat hier einen Hang zur Lehre. Esist kein belangloses Sagen, sondern ein Sprechen mit Autoritat uber einen autorisier-ten (Gesetzes-)Text. Deshalb fordert es dazu auf, den Kommentar zu verinnerlichen.Weitgreifend kann lègw so auf ârrèjh bezogen werden, dass sich die ursprunglicheOffenbarung des Gesetzes wiederholt. Wenn das mitgehort wird, eroffnet sich dasProblem, wer der Sprecher, Jesus, eigentlich ist. Wer hat die Befugnis zu offenbaren,und zwar nicht so wie es Propheten tun, also nicht mit einem

”Hort her, Gott sagt“

sondern mit einem massiven Ich? Vorlaufig bietet der Text keine Antwort, sondernnur die Frage. Jedoch ist das Ich in der Tora, das sprechend die Gesetze offenbart,Gott.

Mit m� �ntist¨nai tÄ ponhrÄ (Mt 5,39b) lasst Matthaus Jesus das Zitat aus der Torawiederholen. Diese Aussage ist erst einmal nicht personengebunden, da das Verb einInfinitiv ist. Nur weil ÍmØn direkt vor diesem Satz steht und damit die Horer am Bergals Adressaten markiert, kann er auf sie als Empfanger bezogen werden. >Anj�sthmimit folgendem Dativ ist intransitiv und bedeutet sich entgegenstellen, sich widerset-zen und ahnliches [33, �nj�sthmi]. Es ist zumindest im NT ein seltenes Wort. Matthausund Lukas haben es je einmal an verschiedenen Stellen, weitere zwolfmal steht es inden Briefen. Verneint bekommt hier der Infinitiv die Bedeutung des negierten Impe-rativs. Es handelt sich also um ein Verbot: Stellt [Euch] nicht entgegen! Der folgende

25Siehe zum adversativen Charakter des Nominativs der 1. und 2. Person des Personalpronomenseine altgriechische Grammatik, z.B. Bornemann-Risch [7, § 64.1].

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3.6. Semantische Analyse

Dativ tÄ ponhrÄ ist grammatisch zweideutig: Es handelt sich um das substantivierteAdjektiv ponhrì im Maskulinum oder Neutrum. Mit dem Neutrum ware das Ubel,die bose Sache, die schlechte Handlung, das Verbrechen bezeichnet. Im Maskulinumware es der Missetater, der Verbrecher oder der Bose im Sinne der Teufel. [33, po-nhrì ] [21, S. 561] Dass die mannliche Form gemeint ist, folgt aus dem allgemeinen,maskulinen Relativpronomen ísti , das auf tÄ ponhrÄ Bezug nimmt.26 Missetater alsUbersetzung schließe ich aus, weil dieses Wort eher lacherlich klingt und kaum denErnst der Sache trifft. Bleibt die Wahl zwischen Verbrecher und Teufel. Matthausbenutzt ponhrì doppelt so oft wie Lukas und 13mal haufiger als Markus, namlich26mal. Da Matthaus im Groben doppelt so lang wie Markus ist und etwa den Umfangdes Lukasevangeliums hat, die Wortstatistik aber deutlich von diesen Verhaltnissenabweicht, darf von einem matthaischen Lieblingswort gesprochen werden. Aus den 26Vorkommen interessieren hier die maskulinen, substantivierten Formen. Das sind funfsichere Maskulina inkl. Mt 5,39.27 In Mt 5,37 ; 6,13 ; 13,38 herrscht das Problem desGenus, mannlich oder neutral, ohne das es dort eine grammatische Entscheidungshilfewie in Mt 5,39 gibt. Der Analyse zu Mt 5,45 vorgreifend ist trotzdem eindeutig fest-zustellen, dass es sich dort um Menschen handelt. Inhaltlich legt das der Plural nahe.Da ich es fur wahrscheinlich halte, dass der Bose nur im Singular28 daherkommt,sehe ich im Plural Menschen, Verbrecher. Vor allem steht es aber in einer Reihe mitden �gajoØ , dika�oi und �d�koi , bei denen kein Zweifel besteht, dass es sich dabeium Menschen handelt. Ich kann kaum behaupten, dass ein Wort aus einer so eng ge-wobenen Reihe ausschere und sich nicht auf Menschen sondern auf außermenschlicheKrafte beziehe. In Mt 13,49 und Mt 22,10 sind m.E. auch jeweils Menschen gemeint.Beide Male steht der Plural. Weiterhin werden in Mt 13,49 die ponhro� im Vorfelddes Weltuntergangs von den Boten aussortiert und verbrannt, eine Szene, die nur inBezug auf Menschen Sinn ergibt. Jedoch ist eine inhaltliche Argumentation wenigschlagkraftig, hangt sie doch ganz von meinem, bzw. uberhaupt vom Verstandnis desAuslegers ab. In Mt 22,10 kommt zum Plural hinzu, dass in dem Gleichnis ein KonigGaste, Menschen, zur Hochzeit seines Sohnes einladt. Da sie aber nicht kommen,schickt er seine Diener aus, andere Gaste, Menschen, zur Feier zu bitten. Es kommenu.a. die ponhro�, so dass es sich dabei um Menschen handeln muss. Im Ubrigen stehenan dieser Stelle die ponhro� wieder mit den �gajoØ zusammen. Mt 5,45 ; 13,49 ; 22,10ist gemeinsam, dass å ponhrì im Plural steht und es auch ansonsten Anhaltspunk-te gibt, die dahinter Menschen erscheinen lassen.29 Inhaltlich ist die Zuordnung inMt 5,39 und Mt 13,19 nicht so eindeutig. Zum einen ist der Singular zu lesen, zumanderen gibt es keine unanfechtbare, inhaltliche Entscheidungshilfe zum Verbrecher

26Gegen Harder [21, S. 561f]. Der grammatischen Argumentation wird dort inhaltlich widersprochen.Inhaltliche Argumente wiegen jedoch nicht so schwer wie grammatische. Wie ich noch unterder Textsemantik zu Mt 5,38-42 zeigen werde, stutzen zudem inhaltliche Argumente eher meineAuffassung als Maskulinum.

27Mt 5,39.45 ; 13,19.49 ; 22,10.28Analog zum einen Gott gehe ich von dem einen Bosen aus, aber das mag nicht unbedingt die

einzige Denkart sein.29Ebenso Harder [21, S. 558].

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3. Exegese

oder zum Bosen hin. Fur Mt 13,19 ist fur mich der Bose wahrscheinlich. Verbrechervermogen zwar viel Schaden anzurichten, aber sie konnen nicht direkt das Wort uberdas Reich aus einem Menschen stehlen. Freilich konnte uber einen indirekten Weg einRaub gedacht werden: Wenn ein Verbrecher mit seinen schlechten Taten Vorbild furjemanden ist, in dem das Wort uber das Reich nicht fest ankert, dann konnte sichdieser jemand zu Verbrechen verleiten lassen. Tut er das aber, so hat er das Wortwieder verloren. Mir scheint dieser Gedankengang jedoch zu gewunden. Naheliegenderist es m.E., dass der Bose die Worte des Reichs direkt aus dem Menschen stiehlt.30

Nimmt man fur Mt 5,37 an, dass es sich um das Maskulinum handele,31 dann bliebedort nur die Sinnrichtung der Bose. Denn es ist nicht vorstellbar, wie man die Worteuber

”Ja, ja, nein, nein!“ hinaus von einem Verbrecher in den Mund gelegt bekommen

konnte. Das Vaterunser bietet in Mt 6,13 keinen Anhaltspunkt, ob å ponhrì mann-lich oder neutral zu verstehen ist. Ware es maskulin, so bedeutete die Bitte entwederdie Erlosung von dem Bosen oder vom Verbrecher. In der Befreiung von dem Bosenware die Beseitigung des Bosen uberhaupt inbegriffen, weil der Verursacher des Bosenbeseitigt ware [21, S. 561]. Der Bezug auf den Menschen als Verbrecher passt dage-gen nur schwer ins Gebet. Es ware zwar denkbar, dass die Bitte so an die vorherigeangeschlossen ist, dass wir nicht zu Verbrechern werden, indem wir in Versuchunggeraten, oder dass um Erlosung aus zwei Formen des Unrechts gebeten wird: aus derVersuchung und aus dem Verbrecher sein. Aber dafur musste man schon etwas krummdenken.32 Im Vaterunser scheint es um die Wirkung der gottlichen Dimension auf diemenschliche zu gehen. Es passte ins Bild, wenn dann auch um die Befreiung von Got-tes Gegenspieler, dem Bosen, gebeten wurde. Als Neutrum aufgefasst, ginge es in derBitte um die Befreiung von den bosen Sachen allgemein. So verstanden nimmt sichdiese Auffassung letztendlich kaum etwas mit der maskulinen im Sinne des Bosen.Die Frage kann nicht entschieden werden.33 Mt 13,38 bleibt ebenso offen, weil sowohleine Gegenuberstellung der

”Konigsreichler“ mit den Verbrechern als auch mit denen

des Bosen als auch mit denen der bosen Sache denkbar ist.34

Der Befund zeigt, dass in Matthaus der Plural von å ponhrì immer Menschen

30Vgl. Harder [21, S. 559]. Ich hege Bedenken an der dortigen, einwandfreien Zuordnung zum Teufel,wenn ich auch letztendlich der gleichen Meinung bin. Insbesondere sind die Parallelstellen Mk4,15(Satan); Lk 8,12 (Teufel) kein Beleg fur das matthaische Verstandnis. Allenfalls konnen sie imNachhinein, d.h. wenn fur Matthaus bereits die Bedeutung in eine Richtung entschieden ist, dieseEntscheidung unterstutzen.

31Harder ordnet einfach dem Neutrum zu [21, S. 561]. Dagegen eroffnet sowohl die Zuordnung zumNeutrum als auch zum Maskulinum Wege zum Verstehen, ohne dass einem der Vorzug gegebenwerden muss.

32Harder erwahnt diese Moglichkeit nicht einmal [21, S. 560f.].33Gegen Harder, wo eine Zuordnung zum Neutrum vorgenommen wird [21, S. 561].34Im Hebraischen bezeichnet

”Sohne von etwas“ die Zugehorigkeit zu etwas. Steht dieser Ausdruck

hinter dem Griechisch in Mt 13,38, dann waren das einerseits die des Konigreichs, und andererseitsdie, die zur Gruppe der Verbrecher gehoren. Ebensogut konnten aber auch die gemeint sein, diesich zur bosen Sache zusammengetan haben, also die der bosen Sache, oder die, die zur Gruppeum den Bosen herum gehoren. Von einer echten Sohnschaft auszugehen ist deshalb schwierig, weildann fur die Konigsherrschaft die Frage aufkommt, wie sie Sohne kriegen kann – obwohl sich dastheologisch sicherlich hinbiegen ließe. Siehe auch Harder [21, S. 559f.].

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3.6. Semantische Analyse

meint. Im Singular ist wahrscheinlich zweimal der Bose gemeint, mit dem Vorbehalt,dass alle Formen maskulin sind. Zweimal lasst sich keine wasserdichte Entscheidungtreffen, weder uber das Genus noch uber die Bedeutungsrichtung des moglichen Mas-kulinums. Fur Mt 5,39 lasst sich auf dieser Basis keine sichere Entscheidung treffen.Deshalb kann ich der eindeutigen grammatischen Argumentation nur eine schwacheinhaltliche an die Seite stellen: Ich vermag mir nicht vorzustellen, dass Matthaus wirk-lich mit der Autoritat Jesu den Widerstand gegen den Bosen unterbinden will.35 Furmich ist es naheliegender, dass zwischenmenschliche Aktionen im Blick des Textesstehen. Deshalb vermute ich auch inhaltlich hinter tÄ ponhrÄ einen Menschen, alsoden Verbrecher. Das Verbot untersagt also, sich dem Verbrecher entgegenzustellen.

Die Untersuchung des toÜ ponhroÜ weist auch noch auf ein anderes, theologischinteressantes Feld hin: Wenn sich zumindest im Singular nicht klar voneinander tren-nen lasst, ob es sich um einen verbrecherischen Menschen oder um den Bosen oderz.T. um das Bose handelt, bleiben die drei immer miteinander verwoben, nur dassmanchmal eine Komponente starker als die anderen zutage tritt.>All’ ísti se ûap�zei eÊ t�n dexi�n siagìna sou, strèyon aÎtÄ kaÈ t�n �llhn(Mt 5,39) eroffnet die erste Moglichkeit zu handeln, wenn man dem Verbrecher nichtmehr widersteht. Die Tat ist ûap�zein. Ursprunglich bedeutete dieses Wort, mit demStock schlagen oder peitschen [33, ûap�zw]. Im spaten Griechisch und so auch imNeuen Testament habe sich die Bedeutung auf ohrfeigen spezialisiert [33, ûap�zw].Zumindest der neutestamentliche Befund gibt aber kaum etwas her, wie das Wortgemeint ist, weil es als Verb nur in Mt 5,39 und Mt 26,67 vorkommt. Die Verteilungdes Substantivs auf Mk 14,65 ; Joh 18,22 ; 19,3 sagt auch nicht viel mehr aus, schongar nichts, um den Sinn bei Matthaus festzuziehen. Fur die Bedeutung des Verbsbleibt nur die zweite Matthausstelle. Weder die Grammatik noch die Syntax tragenzur Klarung viel bei. Deshalb erschließe ich die Bedeutung uber den Inhalt. Jesuswird in Mt 26,67 nach der Verhandlung vorm Hohen Rat bespuckt und zusammen-geschlagen. Eines der

”schlagkraftigen“ Worte ist ûap�zw. Es steht mit kolaf�zw im

direkten Vergleich. Kolaf�zw ist eine neutestamentliche Ableitung von kol�ptw undheißt ohrfeigen oder mit Fausten schlagen [33, kolaf�zw]. Entweder handelt es sich inMt 26,67 um eine Tautologie:

”Dann spuckten sie ihm ins Gesicht, und ohrfeigten ihn,

andere ohrfeigten ihn, und sie sagten:. . .“ Oder es sind bewußt zwei unterschiedlicheArten des Schlagens gemeint:

”Dann spuckten sie ihm ins Gesicht, und sie schlugen

ihn mit Fausten, andere schlugen mit Stocken, und sie sagten. . .“ In Anbetracht desTodesurteils durch den Hohen Rat,36 das gerade erst in Mt 26,66 ergangen war, scheintmir die erste Variante zu zahm zu sein. Außerdem sehe ich keine Notwendigkeit derSinnverdopplung, zumal dadurch nicht einmal eine Verstarkung des Geschriebenen er-reicht wurde. Deshalb tendiere ich dazu, dass zwei Arten des Schlagens gemeint seinmussten. Also lase ich in Mt 26,67 ûap�zw gerne als mit einem Stock schlagen. Obwohles mir widerstrebt, Sinn ruckwarts lesend zu erschließen, bin ich hier der Meinung,

35Ebenso Harder [21, S. 561f.].36Ich bewege mich in der Welt des Matthausevangeliums. In ihr ist es belanglos, dass der Hohe Rat

wahrscheinlich gar nicht die Kompetenz hatte, Todesurteile zu verhangen.

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3. Exegese

dass es in Mt 5,39 genauso zu verstehen ist. Denn es ist nicht zu begrunden, wieso einso seltenes Wort in zwei verschiedenen Bedeutungen im gleichen Buch benutzt wer-den sollte. Die lukanische Parallelstelle (Lk 6,29) bietet tÔptw anstatt ûap�zw. TÔptwmeint insbesondere Schlagen mit Waffengebrauch [33, tÔptw], auch mit Stocken undPeitschen. Das kann zwar kein alleiniges Argument fur das Verstandnis sein, dassûap�zw mit einem Stock schlagen bedeuten muss, unterstutzt aber trotzdem meineEntscheidung, in diese Richtung zu lesen. Damit wende ich mich gegen den wahr-scheinlich ublicheren Sprachgebrauch, ohrfeigen zu verstehen. Darin grenze ich michauch gegen die uberwiegende Mehrheit der Exegeten ab, die ohrfeigen liest und ausdem sozio-kulturellen Hintergrund des Ostmittelmeerraums schließt, es musse sich da-bei um die hochste Form der Beleidung handeln.37 Im Deutschen gebe ich ûap�zw mit(ein-)dreschen wieder. Dieses Wort beinhaltet eine ahnliche Zweideutigkeit: Sofernman sich an die Wurzeln des Wortes erinnert, ist klar, dass mit einem Dreschflegel,oder allgemein mit einer Stangenwaffe geschlagen wird. Da der technische Fortschrittden Dreschflegel vergessen lasst, bleibt mehr und mehr die Bedeutung des Schlagensubrig, allerdings in einer blutigen Prugelei.

In Mt 5,39b wird auf die rechte Wange, dexi� siag¸n, eingedroschen. Die rechte Seiteist die gute Seite, die Seite des Glucks, die Seite der Weisheit [19, S. 37ff]. Sie ist auchdie Seite der Macht Gottes [19, ebd.]. Sie ist nicht die Seite des Reichtums [19, ebd.]!Daneben hat dexi� selbstverstandlich auch die Bedeutung der reinen Ortsangabe.Wenn jedoch in einem Text Adjektive, uberhaupt Ausmalungen, selten vorkommen,dann werden die vorhandenen Adjektive dadurch verstarkt. Welche Notwendigkeitsteht dahinter, dass sie gesetzt sind? Eigentlich machte es keinen Unterschied in derSache, ob nun die rechte Wange, oder uberhaupt eine Wange zerschlagen wird. Warenur an die Seitenangabe gedacht, so ware das Adjektiv uberflussig. Um auszudrucken,dass man sich beide Seiten bearbeiten lassen soll, hatte es auch gereicht,

”die eine

und die andere Wange“ zu schreiben. Bedeutung gewinnt es erst, wenn man liest,dass auf die von Gott angelachelte Wange eingedroschen wird. Im Ubrigen liegt die-ses Verstandnis auch in den kurz vorhergehenden Versen Mt 5,29 und Mt 5,30 nahe,in denen Jesus die Horer am Berg dazu auffordert, das rechte Auge auszureißen unddie rechte Hand abzuschlagen, wenn sie zur Sunde verfuhren.38 Innerhalb von zehnVersen verbindet Matthaus menschliche Gliedmaße, eigentlich den Menschen selbst,dreimal mit der gottlichen Dimension. Dreimal lasst Matthaus die gottliche Seite desMenschen misshandeln. Ubrigens assoziiert die rechte gottliche Seite des Menschen dieschopfungstheologische Voraussetzung des Menschen als Ebenbild Gottes. In V. 39b

37Vergleiche u.a.:”A backhanded blow to the right cheek did not imply shattered teeth (‘tooth

for tooth’ was a seperate statement); it was an insult, the severest public affront to a person’sdignity([. . . ]).“ [27, S. 197] – Die Argumentation eiert freilich. Erstens hangt sie vom Inhalt ab,wie ihn sich der Exeget zurecht legt, zweitens ist Zahn fur Zahn ja gerade kein Statement Jesu,sondern die alttestamentliche Vorgabe, auf die Matthaus ihn antworten lasst. V. 39 ware danndie direkte Antwort auf ein Zahn fur einen Zahn und unterstriche deshalb sogar, dass ûap�zw mitherausgeschlagenen Zahnen zu tun hat. –

”Eine Ohrfeige (V39b) galt als Ausdruck des Hasses

und der Beleidingung; im Vordergrund steht der Schimpf und nicht der Schmerz.“ [31, S. 292].38In Mt 18,8.9 geht es ohne rechts. Deshalb ist in Mt 5,29.30 rechts mit Sicherheit nicht zufallig

gesetzt. Es muss dann eine besondere Bedeutung haben.

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3.6. Semantische Analyse

ist die siag¸n betroffen. Eigentlich handelt es sich dabei um den Kiefer [33, siag¸n].Im Deutschen unterscheiden wir aber nicht zwischen einem rechten und einem linkenKiefer, sondern zwischen Ober- und Unterkiefer. Die Seitenangabe zwingt formlichdazu, anstatt Kiefer Wange zu sagen. Kiefer betont starker als Wange, dass durchausZahne betroffen waren, wenn man mit einem Stock darauf einschluge. Nichtsdesto-trotz kann sich jeder vorstellen, dass Zahne aus dem Mund geschlagen werden, wennauf eine Wange eingedroschen wird. Meine Ubersetzung ist insofern also nicht ganzprazise, fangt aber das Bild vollstandig ein. Nachdem ich der rechten Wange eineZugehorigkeit zu Gott zugesprochen habe, muss ich auch noch einmal auf die andereWange eingehen. Zuerst einmal soll man sie dem Schlager aktiv hinhalten39. DiesesWort kann nicht umgedeutet werden. Es ist wirklich der Befehl, dem Schlager aktivdie andere Wange hinzuhalten. Damit ist aber eine Handlung auferlegt, die Menschennicht tun. Es ist quasi die Aufforderung, unmenschlich zu handeln, etwas außerhalbmenschlicher Spielregeln zu tun. Wer sich darauf einließe, liefe Gefahr, als Ergeb-nis ein rundum und vollstandig zerschlagenes Gesicht zu erhalten; eine schmerzhafteForm der Ganzheit. Die andere Seite ist die linke Seite. Links hat wie rechts auch eineBeibedeutung: Links sitzt die Torheit und der Reichtum – Reichtum hat offensichtlichnichts mit Gluck zu tun [19, S. 37]. Links ist auch die Seite der Schuld und der Ver-urteilung in Endzeitvorstellungen [19, S. 38]. Diese Handlung wird zu einem Akt desTrotzes:40

”Du wagst es, meine Gottlichkeit zu schlagen? Du wurdest es wagen, Gott

zu schlagen? Komm her, ich bin stark genug, Dir auch noch die Welt der Menschenzu bieten! Sie ist ohne Gott nichts. Du kannst sie auch noch zertrummern.“KaÈ tÄ jèlont� soi krij¨nai kaÈ tän qitÀn� sou labeØn, �fe aÎtÄ kaÈ tä Ém�tion(Mt 5,40) eroffnet die zweite Moglichkeit zu handeln, wenn man dem Verbrecher nichtmehr widersteht. <O jèlwn ist jemand, der etwas tun will. Der Entschluss ist bereitsgefallen, etwas zu unternehmen, aber er ist noch nicht durchgefuhrt. Der Beschlussenthalt zwei Ziele: erstens den des krij¨nai und zweitens den des labeØn. Die Passiv-konstruktion kr�nomai mit dem Dativ einer Person ist etwas sperrig fur die deutscheSprache. Gemeint ist, dass jemand gerichtet wird. Die Spannbreite reicht dabei vomProzess der Urteilsfindung bis hin zur Verurteilung. Ich meine, dass hier durchausmit einer Verurteilung gerechnet wird, denn ansonsten wollte man wohl kaum einenProzess eroffnen. Mit lamb�nw wird das Ziel genauer bestimmt: nehmen, in diesemFall hier spezieller wegnehmen, und zwar tän qitÀna. <O qit¸n lasst sich erklaren, abernicht ubersetzen, zumindest nicht ins Deutsch des Jahres 2002. Das Problem liegt ineiner anderen Art, sich zu kleiden und Kleidung zu kategorisieren. Wir haben ein drei-schichtiges Bekleidungssystem, aber keine Sammelbegriffe fur die einzelnen Schichten.Die unterste Schicht besteht aus Unterwasche und Socken, Strumpfe, Strumpfhosen,usw. Die mittlere Schicht kann man in Oberbekleidung und Hosen oder Rocke auf-

39Strèfw, hier 2. Pers. Sg. Imp. Aor. Akt.: strèyon.40Ahnlich bei Keener:

”Even in a society obsessed with honor and shame ([. . . ]), a disciple must be

so secure in his or her status before God that he or she can dispense with human honor. Such aperson need not avenge lost honor because this person seeks God’s honor rather than his or herown (5:16; 6:1-18). If their lives forfeit when they begin to follow Jesus (16:24-27), they have nohonor of their own to lose.“ [27, S. 198].

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3. Exegese

teilen, wenn es sich nicht gerade um Kleider handelt. Die oberste Schicht zerfallt inJacken, Mantel, usw. Teilweise werden sie aber auch mit zur Oberbekleidung gerech-net. Schuhe stehen etwas abseits dieses Bezeichnungssystems, weil wir an den Fußenhochstens zweischichtig bekleidet sind. Dem steht das zweischichte Bekleidungsmo-dell des Textes gegenuber. Die Unterwasche, Socken usw. entfallen dabei. Fur unseremittlere Schicht gibt es dort den Sammelbegriff qit¸n. Darin sind aber auch nochFußbekleidung und Rustungen enthalten. Korperpanzerung fallt fur uns schon garnicht mehr unter Kleidung. Uber dem qitÀni wird bei Bedarf das Ém�tion getragen.Am ehesten nahert sich unser Mantel an diese Kleidungskategorie, erfasst sie abernicht vollstandig. Sie enthalt namlich auch die Decke und uberhaupt Tuch. Insbeson-dere Mantel und Decke konnen eins gewesen sein [31, S. 293]. Wir wurden dagegeneine Decke nicht zur Kleidung rechnen und einen Mantel nur im außersten Notfallals Decke gebrauchen. Altere Ubersetzungen konnen den qitÀna noch mit Rock wie-dergeben. Heute steht dieser Weg nicht mehr offen, denn inzwischen erinnert sichkaum noch jemand daran, dass mehr als das Bekleidungsstuck fur Frauen gemeintsein kann. Dies liegt daran, dass ein Rock als Gewand vielleicht um 1900 noch ge-tragen wurde, 2002 aber seit mehreren Jahrzehnten außer Gebrauch ist – eine Ideedieses Kleidungsstucks uberdauert bis heute lediglich in den archaischen Gewandernder Richter und Pastoren, die jedoch nicht den

”Alltagsrock“ prasentieren. Rock pro-

voziert heute schlicht eine falsche Vorstellung. Wegen fehlender Oberbegriffe konnenwir auch nicht eine einzelne unserer Bekleidungsschichten heranziehen. Ich verfremdemangels passender Ausdrucke den Text in der Ubersetzung, indem ich qitÀna mitUnterwasche und Ém�tion mit Uberkleidung – einem Kunstwort – wiedergebe. Damitversuche ich zumindest das Ergebnis des Textes einzufangen, denn am Ende stehtman sowohl in der griechischen Vorlage als auch in meiner Ubersetzung nackt da.Andere Ubersetzungen mit Rock und Mantel leisten das nicht, denn dann hatte manselbst beim Verlust der beiden immer noch Jacken, Unterwasche, Socken, Schuhe,Pullover, Hosen, usw. Meiner Ubersetzung fehlt trotzdem noch die Decke als Bedeu-tungshorizont des Ém�tiou, und ich sehe auch keine Moglichkeit, ihn einzutragen, ohnedass die Ubertragung grotesk wird. Der Widerstand gegen den Verbrecher wird da-durch gebrochen, dass die Horer am Berg aktiv nicht nur die vom Klager eingeforderteKleidung uberlassen sollen, sondern auch noch ihren Ém�tion. Dafur steht der Impe-rativ �fe . >Af�hmi ist ein buntes Wort.41 Es schillert in allen Nuancen, welche dieZusammensetzung aus �pì, weg von, und Ñhmi, konkret und ubertragen in Bewegungsetzen, produzieren kann. In Matthaus decken die Facetten verlassen und vergeben diemeisten Vorkommen des Wortes ab, wobei vergeben außer im SchalksknechtgleichnisMt 18,23-34 immer mit Sunde zusammensteht. Daneben ist nur noch die Sinnrich-tung gestatten, erlauben von bemerkbarer Große. In Mt 5,40 scheint aber keine derdrei Hauptlinien des Matthaus zu greifen. Vielmehr muss wohl von einem uberlassen,hingeben, preisgeben die Rede sein. Das zeigt m.E. nur die Handlung als solche oh-ne tiefere Beibedeutungen. Zumindest habe ich keine zugkraftigen Argumente, einenNebensinn stark zu machen.

41Siehe zum Bedeutungsspektrum u.a. Menge-Guthling [33, �f�hmi].36

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3.6. Semantische AnalyseKaÈ ísti se �ggareÔsei m�lion én, Õpage met’ aÎtoÜ dÔo (Mt 5,41) eroffnet die dritteMoglichkeit zu handeln, wenn man dem Verbrecher nicht mehr widersteht. >AggareÔwist das Verb zum �ggaro , der eine Spezialform des �ggelo darstellt. Grundsatz-lich ist ein �ggaro entweder ein Eilbote oder ein Bote, der irgendwie fur die Re-gierung arbeitet.

”Jemanden zum Botendienst fur die Regierung zwingen“, wird mit�ggareÔw ausgedruckt.42 Daruber hinaus kann es auch requirieren uberhaupt meinen

[33, �ggareÔw], also fur den Gebrauch durch das Militar zuganglich machen. Nunist aber �ggareÔw ein spezifisch neutestamentliches Wort, kommt im NT jedoch nurdreimal vor: Mt 5,41 und Mt 27,32 parallel Mk 15,21. Dieser Befund macht es schwer,den Sinn des Ausdrucks sicher zu ermitteln. In Mt 27,32 und Mk 15,21 kann mannicht sagen, dass Simon aus Cyrene zum Botendienst herangezogen wurde, zumin-dest ware die Vorstellung lacherlich, dass er mit Jesu Kreuz als Botschaft beladenloszieht. Es ist besser zu verstehen, wenn Simon vom Militar kurzfristig requiriertwurde, damit er Jesu Kreuz schleppt. Auch in Mt 5,41 passt der Botendienst nichtreibungslos. Zwar geht es um Wegstrecken, und Botendienste bestehen in der Regeldarin, das Nachrichten und Kleingut uber Wegstrecken transportiert werden, aber esist untypisch, dass Boten von ihren

”Auftraggebern“ begleitet werden, wie in Mt 5,41.

Der”Auftraggeber“ brauchte dann keinen Boten, da er selbst zu dem Ort geht, zu

dem er den Boten schickt. Die anderen beiden Stellen beleuchten mir Mt 5,41: Es gehtwohl auch hier um einen Tragedienst fur’s Militar. Nun steht aber nicht

”Militar“ im

Text sondern ísti , wer auch immer. Die Frage ist deshalb, ob die Betonung mehrauf dem Verb oder mehr auf dem verallgemeinernden Relativpronomen liegt – es istwieder auf den ponhrìn Mt 5,39 bezogen –. Ich glaube, dass das Verb vor der verall-gemeinernden Wirkung uberwiegt. Mit dem Wer-Auch-Immer sind dann nicht Hinzund Kunz gemeint, sondern mindestens Soldaten, Angehorige und hohere Bediens-tete der Regierung, denn nur die haben uberhaupt die Moglichkeit zu �ggareÔein.43Im Ubrigen steht das Verb im Futur. Das heißt, es wird damit gerechnet, dass derdargestellte Fall eintritt.44TÄ aÊtoÜnt� se dì , kaÈ tän jèlonta �pä soÜ dan�sasjai m� �postraf¬ (Mt 5,42)schließt die Perikope Mt 5,38-42. In welchem Verhaltnis V. 42 zum Rest der Perikopesteht, hangt besonders vom ersten Teil, tÄ aÊtoÜnt� se dì , ab. Da sowohl å aÊtÀn alsauch d�dwmi eine Reihe Bedeutungen haben kann, ist die Klarung nicht ganz einfach.Dagegen ist die zweite Halfte, tän jèlonta �pä soÜ dan�sasjai m� �postraf¬ , klar:dane�zomai meint eindeutig sich Geld leihen [33, dane�zomai]. >Apostrèfomai bedeutetsich abwenden [33, �postrèfomai]. Als negierter Imperativ, wende dich nicht ab, in

42Vgl. [33, �ggareÔw].43Luz dehnt die Moglichkeit auf beliebige Privatleute aus [31, S. 293]. Ob allerdings seine Belege,

gegeben in seiner Fußnote 22 [31, S. 293], auf den matthaischen Sachverhalt anwendbar sind, istzumindest ungewiss. In Mt 5,41 wertet er damit das Wer-Auch-Immer hoher als das Verb.

44Keeners soziologische Untersuchung macht den Fall ebenfalls wahrscheinlich:”Because tax revenues

did not cover all the Roman army’s needs, soldiers could requisition what they required ([. . . ])and legally demand local inhabitants to provide forced labor (27:32). Throughout the durationof Roman rule soldiers were known to sometimes abuse this privilege, often annoying the senatas well as local residents ([. . . ]); later rabbis told of Romans forcing Jews to carry burdens on theSabbath during Hadrian’s opression ([. . . ]).“ [27, S. 199].

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3. Exegese

Bezug auf einen Menschen bekommt es den Beiklang, dass dem Menschen sein Wunscherfullt werden soll.

”Wende dich nicht ab von dem, der sich von dir Geld leihen will!“

sagt also: Gib dem Geld, der sich von dir Geld leihen will! Auf diese indirekte Weisekommt m� �postraf¬ der Bedeutung von �fe in V. 40 nahe. Beide Versteile V. 42.a.bsind mit und verbunden und stehen damit auf der gleichen Stufe. Wenn man das The-ma Geld im Ohr behalt, dann kann der erste Versteil entschlusselt werden, obwohlauf diese Weise das Pferd von hinten aufgezaumt wird. Der aÊtÀn ist entweder derBittende oder der Fordernde [33, aÊtèw]. Ublicherweise wird von uns der Bittende ver-standen. Das hat seinen guten Grund darin, dass in Matthaus dieser Sinn besondersstark vertreten ist: Mt 6,8 ; 7,7.8.9.10.11 ; 18,19 ; 20,20.22 ; 21,22 ; 27,58. Dem stehennur zwei Stellen gegenuber, in denen fordern gemeint sein konnte: Mt 14,7 ; 27,20.Mit sieben Funden ist das Wort in der Berglehre hoch konzentriert, und sechsmalbedeutet es davon mit ziemlicher Sicherheit bitten. In Mt 6,8 richtet es sich namlichan Gott, so dass ein Fordern schwer zu halten ware. In Mt 7,7-10 lauft das zwischen-menschliche Bitten in einer pollÄ m�llon-Konstruktion45 auf das Bitten bei Gott inMt 7,11 hinaus. Nur wer in Mt 7,11 bereit ist, von Gott zu fordern, kann es auch inMt 7,7-10 von Menschen. Was fur die Berglehre im Ganzen deutlich ist, sollte auchim Speziellen fur Mt 5,42 gelten. Liest man aber der Bittende, so verliert der Versseinen Bezug zu Mt 5,38-41, denn es wurde ohne irgendein grammatisches Signal einneues Thema, Bitten, eingefuhrt, und mit dem kurzen Imperativ dì gleich wiederabgeschlossen. Da fragt man sich doch, was soll das? Nun ist aber aÊtèw an dieserStelle vom spater uberwiegenden Verstandnis vollig unbelastet, weil es in Mt 5,42das erste Mal im Matthausevangelium steht. Ich setze als Experiment einmal derFordernde ein: Dem, der von dir fordert, gib! Dass dieses Verstandnis grammatischmoglich ist, zeigt z.B. Lk 12,48. Forderungen implizieren ein Recht – und wenn esdas Recht des Starkeren ist – auf etwas,46 egal, ob ihnen nachgekommen wird, odernicht. Der Fordernde muss ein Defizit auf der Seite dessen, von dem gefordert wird,annehmen. Dieses Defizit kann z.B. aus einer fehlenden Vergutung oder einer nichterfullten Pflicht bestehen. Auf das Fordern wird der Imperativ dì erwidert. D�dwmi istein vielfaltiges Wort. Grundsatzlich meint es geben. Es entwickelt nahezu das gleicheBedeutungsspektrum wie �f�hmi aus V. 40: geben, vergeben, ubergeben, gestatten, usw.[33, d�dwmi]. Abweichend kann es aber noch (be-)zahlen, weihen oder opfern meinen.Wenn man an bezahlen denkt, kann man stark machen, dass in V. 42 eine Zahlungim Geldverkehr gefordert werde [47, S. 191]. Der folgende Halbvers, in dem es auchum das Geld geht, unterstutzt dieses Verstandnis. Verfolgt man das Zitat aus V. 38in die Septuaginta, findet man dort d�dwmi im Rahmen der Schadensersatzleistung.47

Ich lasse mich deshalb zwar auf die Bedeutung (be-)zahlen ein, aber trotzdem mussklar bleiben, dass V. 42a immer zwei Situationen abdeckt:

”Bezahle, was von dir ge-

fordert wird!“ und”Gib, was von dir gefordert wird!“ Meiner Meinung nach ist hier

aber uberhaupt nicht daran gedacht, dass ein Bettler, ein Armer oder irgendwer mal

45Um-Wieviel-Mehr-Konstruktion.46Vgl. Stahlin [47, S. 191.192,5-15].47Siehe Untersuchung zur Intertextualitat in Mt 5,38-42 auf Seite 71.

38

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3.6. Semantische Analyse

eben so Forderungen stellt.48 Er hat kein Recht dazu. Den Themenkreis Bettler undAlmosen behandelt erst Mt 6,1-4.

3.6.1.2. Textsemantik

Das Thema fur Mt 5,38-42 wird von æfjalmän �ntÈ æfjalmoÜ kaÈ ædìnta �ntÈ ædìnto eroffnet. Bezeichnenderweise fehlt die Einbettung des Zitats in den Kontext, dendas AT bietet. Indem die spezielle Situation ausgeblendet wird, gewinnt das Zitateinen allgemeinen Charakter. Es steht dadurch Pars pro toto fur die Gesetzgebung,in der Taten vergolten werden. Das vorgegebene Thema des Textabschnitts ist al-so die ausgleichende Gerechtigkeit. Auf die rechte Wange eindreschen (V. 39b), vorGericht die

”Unterwasche“ wegklagen (V. 40), dem Fordernden bezahlen und Geld

verleihen (V. 42) reihen sich muhelos in dieses Thema ein. Das erste Beispiel, dieKorperverletzung, hat den engsten Bezug zum Zitat und weist direkt auf das dortangesprochene Vergeltungsgesetz hin. Das zweite deutet auf einen Pfandungsprozesshin, d.h. es wird eine nicht erfullte Schuld ausgeglichen. Das drittte, den Forderndenauszuzahlen kann auf zwei Arten mit dem Thema zusammenhangen. Aus dem alttes-tamentlichen Kontext kann gemeint sein, dass man ein auferlegtes Bußgeld bezahlensoll. Es dient als Ersatztilgung, anstatt am eigenen Leib verstummelt zu werden, dasLeben zu verlieren oder den eigenen Viehbestand um die Zahl der Tiere, die beimKlager zu Schaden gekommen sind, dezimiert zu bekommen. V. 42a und V. 42b zu-sammen weisen auch auf ein Geldleihsystem hin: Einerseits soll ein Schuldner seineRuckstande ausgleichen, andererseits soll man bei Bedarf leihen. Einer Verschuldungsteht damit immer ein Schuldausgleich gegenuber. Zu einem Trage- oder Botendienstgezwungen zu werden (V. 41) ist schwer im Kontext der ausgleichenden Gerechtigkeitunterzubringen. Vielleicht soll die Pflicht gegenuber dem Staat, und hier insbeson-dere auch gegenuber der romischen Besatzungsmacht, abgegolten werden. Das setztaber voraus, dass man dem Staat, bzw. der Besatzungsmacht gegenuber uberhauptetwas schuldig ist. Moglicherweise ist auch gar nicht daran gedacht, dass eine Pflichtabgegolten werden soll, sondern der Vers ist eher am Verbrecher aufgehangt. Vers 39afuhrt den Verbrecher ein, dem man nicht widerstehen soll. Von dort aus werden dieV. 39b.40.41 bestimmt: In der zweiten Satzhalfte wird immer die Aufgabe des Wi-derstands gegen die Situation der ersten Satzhalfte befohlen. Wenn nun der zweiteTeilsatz jeweils im Muster des allgemeinen Befehls bleibt, sollte auch der erste darinbleiben. Also musste in der Situationsvorgabe jeweils ein Verbrecher handeln. Beidem, der auf die Wange eindrischt, ist das noch naheliegend. Es leuchtet jedoch nichtohne weiteres ein, dass ein Glaubiger, der vor Gericht sein Recht einklagt, als Ver-brecher beschrieben wird, denn er hat ein Recht auf Ruckerstattung. Entweder gehtes hier um jemanden, der unrechtmaßig Klage erheben will, oder ihr Gegenstand,die Tageswasche, wird als unzulassig empfunden. Immerhin gehort Kleidung zu denGrundbedurfnissen des Menschen. Dass jemand, der zum Trage- oder Botendienstzwingt, als Verbrecher empfunden wird, leuchtet dagegen wieder ein, um so mehr,wenn es sich um Besatzer handelt, die das tun.

48Gegen Keener:”One must surrender one’s possesions to whoever requests them (5:42).“ [27, S. 201].

39

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3. Exegese

Es geht im Text um elementare Streitgegenstande. Zum einen ist der Korper be-troffen, vertreten durch Augen, Ohren und Wange. Zum anderen wird die Gotteben-bildlichkeit des Menschen, sein hervorgehobener Status in der Schopfung, eingefuhrtdurch die gottbeschienene, die rechte Seite, verachtet und mißhandelt. Zum drit-ten besteht Gefahr fur Lebensnotwendiges, dargestellt an Kleidung und Decke. ZumVierten geht es ums Geld. Dies mag zwar nicht unbedingt zu den elementaren Din-gen des Lebens gezahlt werden, trotzdem gilt:

”Bei Geld hort die Freundschaft auf.“

Selbst wenn materieller Reichtum nicht als wichtig erachtet wird, kann man nichtum die Beobachtung herum, dass Menschen daruber intensiv und ausgiebig streitenkonnen. Zudem muss in Betracht gezogen werden, dass es durchaus moglich war, invollstandige Abhangigkeit von einem Glaubiger zu geraten, wenn man die Schuldennicht zuruckzahlen konnte – faktisch hat sich daran bis heute nicht viel geandert, nurhaben sich die Formen verschoben. Im Endpunkt der Geldthematik kann es deshalbdoch wieder um die Lebensbasis in Form von Freiheit gehen. In der Sache themati-siert dies auch V. 41, indem der Zwang zur Boten- und Tragearbeit den Verlust derSelbstbestimmung deutlich macht. V. 40 lasst zudem erahnen, dass durchaus Lebens-notwendiges Gegenstand eines Schuldnerprozesses werden konnte. Es geht also umdie Bedrohung der elementaren Lebensaustattung und nicht um Kleinkram: Korper,Gottebenbildlichkeit, materiell Lebensnotwendiges und Freiheit.

Der rechtlichen Seite des Textes steht eine zuwendende gegenuber. Sie hat drei Fa-cetten: 1. strèfw, m� �postrèfw, 2. �f�hmi, d�dwmi, 3. Íp�gw. Alle drei sind Ausdruckder Widerstandslosigkeit, m� �ntist¨nai.

Eine letzte Sinnlinie ist nicht nur fur diese Perikope von Bedeutung, sondern ziehtsich durch die gesamten

”Antithesen“ inkl. des Vortextes Mt 5,17-20. Sie ist am besten

mit dem Stichwort Offenbarung beschrieben. Die”Antithesen“ sind ein Offenbarungs-

geschehen. Sie gehen von der Offenbarung des Gesetzes durch Gott aus, die sich imReden Gottes und Horen des Menschen ereignete. Auf sie antwortet der matthaischeJesus, indem er sagt (lègw). Lègw ist in der Septuaginta das Wort, mit dem die Of-fenbarungen Gottes beginnen. Die Doppelkonstruktion des Hebraischen, Gott sagtesagend,49 die ins griechische AT ubernommen wurde, bringt mehr Nachdruck. In denAntithesen wird der gleiche Effekt durch den Einsatz des âg¸ erzielt.

3.6.1.3. Grammatische Semantik

Der Anfang der Antithesen, �koÔsate íti ârrèjh, schafft mit seinen Aoristen Fakten.Da der Aorist im Grunde keine zeitliche Funktion hat, gilt darin Gesagtes abseits derZeitleiste: Es ist halt so. Das Passiv gibt keine Auskunft daruber, wer gesagt hat, legtjedoch Gott als Urheber des Sagens nahe, weil es sich dabei um die alttestamentlicheGesetzesoffenbarung handelt.

”Auge fur Auge, Zahn fur Zahn“ enthalt weder Ver-

ben noch Personalpronomen, noch irgendwelche Personen, noch irgendwelche Anbin-dungen an irgendeine Situation. Dadurch bekommt es eine unumstoßliche Festigkeit.Das alttestamentliche Zitat bildet mit seiner durch dè gekennzeichneten Weiterfuhu-

49Das Hebraische nachahmend wird in der Septuaginta âl�lhsen . . . lègwn gesagt.

40

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3.6. Semantische Analyse

rung in V. 39a eine assoziative Einheit.50 Die Weiterfuhrung hat keine Anbindungan Zeit, Situation und Menschen; sie hat wie das alttestamentliche Zitat quasi ewigeGultigkeit.51 Auf diese Weise wird deutlich, dass die alttestamentliche Vorgabe volligungebrochen fortgesetzt wird. Die Weiterfuhrung des Zitats wird jedoch mit demverstarkten Prasens âg° lègw eingeleitet. Die alttestamentliche Gesetzesoffenbarungwiederholt sich vor den Ohren der Textmenschen zu Fußen Jesu am Berg. Durch dieganzen genannten Signale entsteht abermals der Eindruck, dass die Lehre in RichtungOffenbarung durchbrochen wird. Dabei soll die Offenbarung nach all den genanntenTextsignalen keinen anderen Inhalt als die ursprungliche Gesetzesoffenbarung haben.Matthaus 5,17-19 wird so vollkommen bestatigt.

Die Satzanalyse zu Mt 5,38-42 auf Seite 18f. hat gezeigt, dass an die assoziative Ein-heit aus Zitat und Weiterfuhrung mit sondern drei Ersatzhandlungen angeschlossenwerden. Die Ersatzhandlungen substituieren dabei die im Zitat vorgegebene Handlungin logischer Abhangigkeit von seiner Weiterfuhrung. Da die wiederholte Offenbarungdas gleiche sagen will, wie die uneingeschrankt gultige, alte Offenbarung, widerspre-chen die Ersatzhandlungen der alten nicht, sondern erfullen sie. Trotzdem ist es notig,sie mit einem sondern einzuleiten. Das legt nahe, das sie der alten Offenbarung aufwortlich verstandener Ebene widersprechen. Ich kann die Spannung zwischen erfullenund widersprechen nur so auflosen, dass es sich um verschiedene Ebenen handelt: Aufwortlicher Ebene widersprechen sie sich, auf logischer Ebene, oder auf der Ebene derBedeutung meinen sie das gleiche.

Die V. 39b.40.41 werden mit ka�. voneinander getrennt. Das fuhrt dazu, dass dieso zusammengestellten Satze als jeweils eigene Einheit verstanden werden mussen.52

Zudem stehen sie in keiner direkten Abhangigkeit zueinander. Das zeigt sich auch anden jeweils behandelten Situationen, die ebenfalls keinen direkten Bezug zueinanderhaben.53 Deshalb sind die Ersatzhandlungen alle gleichwertig zu verstehen. Sie habenjedoch einen Bezugspunkt, sodass sie wie drei Konkretisierungen der gleichen Antwortwirken. Meiner Meinung nach zeigen sie drei Aktualisierungsmoglichkeiten von V. 39aund somit auch des alttestamentlichen Zitats.

Vers 42 wird mit keiner Konjunktion eingeleitet. Dadurch ist der Vers als ei-genstandig markiert. Er bleibt aber im Muster, dass einer Situation ein Gebot, bzw.ein Verbot zugeordnet wird, so wie es vorher auch schon geschehen ist. Außerdembleibt er in der großen Thematik des Ausgleichens. Das Phanomen verursacht Schluck-auf beim Lesen. Es bewirkt, dass V. 42 nicht mehr in der Und-Reihe steht, es findetein Bruch statt. Abgesehen davon, dass der Vers dadurch besonders betont wird, sollm.E. die Verbindung zum Verbrecher aus V. 39 zuruckgenommen werden: Weder der

50Siehe dazu auf Seite 20.51Ahnlich Luz:

”Matthaus formuliert die einleitende Antithese V38f–39a und faßt so die beispielhaften

Forderungen in seinem ≫leistet dem Bosen keinen Widerstand≪ zusammen. Die Zusammenfassungbedeutet eine Vergrundsatzlichung. [. . . ] a) Matthaus meint keine Einengung des Geltungsbereichsder Forderungen.“ [31, S. 296].

52Siehe auf Seite 18.53Selbstverstandlich ordnen sie sich trotzdem dem ubergeordneten Thema der vergeltenden Gesetz-

gebung unter.

41

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3. Exegese

Fordernde noch der, der sich Geld leihen will, sind kriminell oder bose. Auf der in-haltlichen Ebene druckt sich das darin aus, dass der Situation keine ubersteigerndeHandlung gegenubergestellt wird.54 Die Betonung des V. 42 signalisiert ein besonderswichtiges Thema. Das Geldleihsystem bedarf offensichtlich einer Ordnung – und werwurde das heute abstreiten wollen?

Die einleitenden Szenen der Ersatzhandlungen stehen im Prasens, außer in V. 41, indem das Futur benutzt wird. Personen sind gerade dabei zu handeln. Zu den Horernam Berg wird jeweils eine personliche Verbindung hergestellt, indem die 2. Pers. Sg.des Personalpronomens benutzt wird. Niemand kann sich in der allgemeinen Masseeines Plurals verstecken. Auf diese Weise entstehen Szenen, die situationsgebundensind. Da sie sich alle auf die von Zeit und Raum freigesagte Offenbarung Jesu be-ziehen, tritt ihre Enge und Gebundenheit noch starker zu Tage. Es handelt sich imZusammenspiel mit der matthaisch-jesuanischen Offenbarung um Verdeutlichungen,aber nicht um eine ausgeschopfte Handlungsliste. Varianten der Situationen sind ge-nauso moglich wie ganz neue Situationen, solange sie zum Themenkreis vergeltendenRechts gehoren,55 denn darauf geht der Jesus auf dem Berg ein. Wenn auch die Szenenvariabel sind, die Antwort ist es nicht. Die Imperative stehen, mit einer Außnahmeim Aorist der 2. Pers. Sg. Jede Szene wird mit einem Befehl abgeschlossen. Wegenihres Aspektes und der Person treffen sie jeden einzelnen Textmenschen am Berg un-ausweichlich und verbindlich. Eine Szene reißt aus der Konstruktion aus; der Zwangzum Tragedienst (V. 41), auf den mit einem Imperativ im Prasens geantwortet wird.Vers 41 unterscheidet sich sowohl in der einleitenden Szene, in der Futur statt Prasenssteht, als auch im folgenden Imperativ, der Prasens statt Aorist ist. Das Futur ist dieeinzige echte Zeit des Griechischen. Es wird damit gerechnet, dass der Fall eintritt.Der Imperativ Prasens legt die Handlungsanweisung nicht ganz so unumstoßlich fest,wie es ein Imperativ im Aorist tate. Die grammatische Abweichung ist im Einklangmit der Feststellung, dass sich die inhaltliche Problematik nicht ganz leicht in daseigentliche Thema der ausgleichenden Gesetzgebung einreiht. Es handelt sich wohlum eine sensible Situation, in der zwar deutliche Worte gewahlt werden, aber dietrotzdem hochstens deutliche Empfehlungen vertragt.

3.6.2. Mt 5,43-48

3.6.2.1. Wortsemantik

Im Rahmen der Wortsemantik zu Mt 5,38-42 stellte ich die Untersuchung zu �koÔsateíti ârrèjh auf Seite 29 dar und âg° dà lègw ÍmØn auf Seite 29.

Die Perikope wird in V. 43 inhaltlich mit �gap sei tän plhs�on sou kaÈ mis sei tän âqjrìn sou eroffnet. Schon das erste Wort, �gap�w, muss geklart werden. Sein

54Luz bemerkt zu Mt 5,42:”Die Mahnung zum Geben und Ausleihen V42 ist viel allgemeiner und laßt

in ihrer matthaischen Formulierung die fur V39b-41 charakteristische Uberspanntheit vermissen.“[31, S. 296].

55Ahnlich Luz:”Insofern wollen diese Gebote zwar befolgt werden, aber nicht einfach wortlich, son-

dern so, daß in neuen Situationen das, was sie fordern, in Freiheit, aber in ahnlicher Radikalitatimmer wieder neu zu ≫erfinden≪ ist.“ [31, S. 295].

42

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3.6. Semantische Analyse

großtes Problem ist, dass es in den meisten deutschen Ubersetzungen mit lieben wie-dergegeben wird. Diese Ubersetzung ist selbst Theologen so in Fleisch und Blut uber-gegangen, dass sie gar nicht mehr nach der Bedeutung des Wortes fragen. Lieben istnach derzeitigem Sprachgebrauch m.E. vor allem auf die Beziehung von Lebenspart-nern und den engsten Familienkreis begrenzt, wenn es sich auf Menschen bezieht.Dabei scheint das Wort schon im familiaren Kontext oft nicht angebracht zu sein.Es meint immer eine starke, emotionale Beziehung bis ins Korperliche hinein. UnsereZeit macht schon deshalb gerne einen Bogen um dieses Wort, weil derzeit Bindungenwenig gefragt sind, und man sehr vorsichtig ist, wenn es doch zu einer kommt. DieBedeutungsmoglichkeiten von �gap�w gehen im griechischen Ursprung in eine ganzandere Richtung: Es meint keine tiefe emotionale Beziehung. Der korperliche Aspektist gar nicht enthalten. Eher druckt es Achtung, Wertschatzung, Hoflichkeit und Zu-friedenheit aus.56 Leider ist es so, dass die Septuaginta das griechische Wort verzerrt,indem sie damit einheitlich das hebraische Lieben wiedergibt [48, S. 39]. Deshalb reichtes dann von der puren Lust bis hin zur Hochachtung Gottes. Es reicht von der Liebezwischen Ehepartnern bis zur Liebe Gottes zu Israel [48, S. 38f]. Lediglich die kul-tische Liebe bleibt ausgeschlossen [48, S. 38]. Da die Einleitung �koÔsate íti ârrèjhvoraussetzt, dass die Septuaginta den Textmenschen bekannt ist, bedeutet dies fur�gap�w, dass zu seinem eigentlichen Sinn der gesamte hebraische Bedeutungshorizontder Liebe geoffnet wird, den ein Hellene ohne entsprechende Vorkenntnisse jedoch garnicht verstehen konnte. Deshalb kann nicht von der allgemein griechischen Bedeutungauf die spezielle Bedeutung bei Matthaus geschlossen werden. Die erotische Beibe-deutung ist m.E. im Matthausevangelium fur das Verb �gap�w ausgeschlossen, dennsie passt an keiner der weiteren matthaischen Fundorte: Mt 6,24 ; 19,19 ; 22,37.39. InMt 6,24 muss eine tiefe Bindung mitgedacht sein, denn ansonsten ware es sehr wohlmoglich, zwei Herren zu dienen. Lieben ginge jedoch meiner Meinung nach zu weit.Stattdessen glaube ich, dass das Wort dort in Richtung Loyalitat gemeint ist, die auchauf einer starken Bindung beruht. Mt 19,19 hat den gleichen Bezug in die Septuagintawie Mt 5,43, jedoch wird vollstandig zitiert. Das Zitat steht nicht isoliert, sondern ineiner Reihe mit Geboten aus dem Dekalog. Lieben passt in diese Umgebung nichthinein, insbesondere weil direkt davor gesagt wird, dass die Eltern gefurchtet werdensollen. Wenn schon die Eltern nicht geliebt werden, warum dann irgendein Naheste-hender, zu dem potentiell eine weniger tiefe Beziehung besteht. Lediglich der Zusatz

”wie dich selbst“ konnte lieben berechtigen. Ich halte es aber fur passender, hoch-

achten oder wertschatzen zu verstehen, weil das vom Ton her in die Gesetzesreihungund besonders zu dem Gebot gehort, die Eltern zu ehren. Vorzugsweise sollte diegleiche Bedeutung auch in Mt 22,39 gelten, da dort auch das �gap sei . . . seautìnaus Lev 19,18 ungekurzt steht. Dem stunde auch nichts im Weg, wenn nicht Mt 22,37ware. Dort scheint hochachten oder wertschatzen nicht fullig genug, es fehlt an Tie-fe. Der Vers spricht von einer vollkommenen Hingabe an Gott, mit Fuhlen, Lebenund Denken. Falls uberhaupt in Matthaus, dann konnte hier lieben gelesen werden.Dass hochachten oder wertschatzen nicht richtig zu sein scheinen, liegt daran, dass es

56Vgl. Stauffer [48, S. 36f].

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3. Exegese

emotional kuhle Worte sind. Das steht vom Empfinden her gegen eine vollkommeneBeziehung. Erst in dem Moment, in dem hochachten als hoher als alles andere achtenund wertschatzen als mehr Wert als allem anderen beimessen verstanden wird, kanndiese Sinnrichtung fur Mt 22,37 angenommen werden: Wenn Gott im Fuhlen, Lebenund Denken die hochste Position einnimmt, dann geht das alles von ihm aus. Dar-in ubersteigt es die Bedeutung des Liebens. Denn lieben signalisiert zwar eine tiefe,emotionale Beziehung zu Gott, das heißt z.B. ein Leben ohne Gott ware gar nichtdenkbar, aber es sagt nicht, dass das Leben in allen Dimensionen von Gott ausgeht.Auf ein Leben aus Gott muss aber Mt 22,37 hinauswollen, wenn dies das hochsteGebot sein soll. Deshalb halte ich hochachten und wertschatzen in ihrer zugespitz-ten Form fur das sinnvollste Verstandnis in Mt 22,37. >Agap�w in Mt 22,39 hat danneine leicht schwachere Nuance als in Mt 22,37, gehort aber immer noch in die glei-che Bedeutungsrichtung. Weiterhin ist mit plhs�on nicht nur der engste Familienkreisoder ein Lebenspartner gemeint, sondern alle Nahestehenden.57 Derzeit sagte wohlniemand unter allgemeinen Bedingungen im allgemeinen Sprachgebrauch, dass er ei-ne tiefe emotionale Beziehung zu allen Nahestehenden habe. Auch aufgrund diesesGedankens halte ich es fur ungeschickt, �gap�w mit lieben wiederzugeben. Das inMatthaus uberwiegende Verstandnis, wertschatzen, setze ich nun auch in Mt 5,43-48an – zumal es auch in der Septuaginta passte.<O plhs�on kommt innerhalb der synoptischen Evangelien fast immer in der gleichenWortkombination vor, namlich als Zitat von Lev 19,18. In Mt 5,43 fehlt das Ende ± seautìn. In Lk 10,27 treten noch die Worte der Gottesliebe, bzw. der Gottesvereh-rung vor den plhs�on. Im folgenden lukanischen Abschnitt Lk 10,29-37 wird das Wortplhs�on naher erlautert und befindet sich damit in Abhangigkeit von Lk 10,27. DieseErlauterung gilt in erster Linie nur innerhalb des lukanischen Denkraums. Jedochzeigt der Bedarf nach einer Erklarung, dass die Bedeutung des Wortes selbst zu einerZeit, als es noch benutzt wurde, nicht klar umrissen war. Zumindest innerhalb desMatthaus legen die Parallelen nahe, gleich zu verstehen und damit gleich zu uberset-zen. Ich habe mich fur der Nahestehende entschieden, weil damit sowohl der religiosals auch der politisch Nahestehende, sowohl der Nachbar als auch der Verwandteoder Freund gemeint sein kann. Der Nachste hatte zwar eine ahnliche Bedeutungs-spannweite, aber da dieses Wort als Substantiv fast immer nur im christlich-religiosenKontext auftaucht, kann es sich kaum aus dem religiosen Bedeutungshorizont losen.Die geographische Eingrenzung des Wortes auf Nachbar scheint mir in Anbetracht desentgegengesetzten, ungeographischen Wortes Feind nicht angesagt zu sein. Mitmenschbezeichnet alle Menschen, mit denen man zu tun hat. Insofern konnen auch solcheMenschen darunter fallen, die man unter Feind fassen konnte. Damit verschwammedie Gegenuberstellung in Mt 5,43 von plhs�on und âqjrì . Mitburger ware als Uber-setzung in Mt 5,43 ebenfalls gut vorstellbar, jedoch ergabe dieses Verstandnis m.E.in Mt 19,19 und Mt 22,39 ein schiefes Bild und erinnerte dort zu sehr an volkischenKlungel, weil bislang noch immer das Verstandnis stark ist, dass der Mitburger derMensch mit der gleichen Staatsangehorigkeit ist, der in die gleichen Steuerkassen

57Siehe folgende Untersuchung zu plhs�on.44

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3.6. Semantische Analyse

zahlt. Da ich nicht glaube, dass dieses Verstandnis Mt 19,19 und Mt 22,39 zugrundeliegt, schließe ich es ruckwirkend auch fur Mt 5,43 aus. Fur Mt 5,43 ware die Be-deutungsrichtung Kamerad, Freund gleichfalls geeignet, aber entfallt im Nachhineinaufgrund von Mt 19,19 ; 22,39. Dort mußte man namlich annehmen, dass es sich umein Pladoyer fur wahre Freundschaft handele, das an Kameraden, Freunde gerichtetist, wenn man diese Bedeutungsrichtung annehmen wollte. Der Horizont der Aussagenscheint mir aber daruber weit hinauszusteigen. Der Nahestehende bleibt also meineWahl fur tän plhs�on.

Ihm steht der âqjrì gegenuber. Gemeint ist m.E. die ganze Spannbreite des Wortesvon Feind bis Gegner. Feind ist in unserer Sprache in erster Linie ein Wort ausdem Kriegsvokabular. Jedoch ist wohl nicht nur an den Kriegsfeind gedacht. DasKontrastwort ist plhs�on (Nahestehender). Da die Bedeutung von plhs�on ziemlichweit ist, mußte auch âqjrì eine entsprechende Weite zum Ausdruck bringen. Gegnerist zwar allgemeiner als Feind, aber nicht stark genug, d.h. es klingt zu harmlos. DerBedeutungshorizont Feind konnte zu schnell unter den Tisch fallen, obwohl ein Feinddurchaus ein Gegner ist. Da keine der beiden Ubersetzungsalternativen optimal ist,entscheide ich mich fur das allgemeinere Wort Gegner.

Der âqjrì unterliegt dem miseØn. Mit dem Wort konnen drei Bedeutungsrichtungenrealisiert werden: 1. hassen, verabscheuen, verschmahen; 2. vernachlassigen; 3. nichtwollen [33, misèw]. Die erste Linie tragt die Hauptbedeutung. In Matthaus ließe sichnur in 6,24 uber die Bedeutung vernachlassigen sprechen, alle anderen Stellen weisenm.E. auf hassen, verabscheuen hin.

Matthaus lasst Jesus darauf �gap�te toÌ âqjroÌ ÍmÀn kaÈ proseÔqesje Ípàr tÀndiwkìntwn Ím� (V. 44) antworten. ProseÔqomai heißt eindeutig beten, flehen, erflehenund ein in diese Richtung gehendes Bitten. Di¸kw lasst aus der Grundbedeutung

”in

schnelle Bewegung versetzen; zur Eile antreiben“ die Nuancen 1. jagen, treiben, . . . ;2. verfolgen, . . . ; 3. erstreben, . . . und 4. gerichtlich verfolgen, anklagen,. . . erwach-sen [33, di¸kw]. Meiner Meinung nach ist wegen der inhaltlichen Stimmigkeit eine derbeiden ersten Richtungen anzuwenden. Sie nehmen sich nicht viel in der Bedeutung.Verfolgen schließt erst einmal nicht ein, dass bei Erfolg der Tod wartet. Jagen hinge-gen endet i.d.R. damit, dass die Beute erlegt wird. Im Text kommt mit verfolgen mehrdie soziale Spannung des ersten Jahrhunderts zwischen Juden, Heiden einerseits undChristen andererseits in den Blick. In der Zeit hat die starkere judische, bzw. heid-nische Gruppe die schwachere christliche gemobbt. Geht man mehr auf jagen, wirddie staatlich organisierte Hatz betont, die aber zumindest im ersten Jahrhundert nurlokal begrenzt und oft eine Antwort auf die sozialen Spannungen war.58 Da mir jagenaktiver und scharfer als verfolgen erscheint, nehme ich jagen. Dadurch wird der An-spruch der Anleitung zu beten deutlicher. Nichtsdestotrotz konnte gleichwertig auchverfolgen verstanden werden.VOpw gènhsje uÉoÈ toÜ paträ ÍmÀn toÜ ân oÎranoØ (V. 45) begrundet, ípw , dieAnleitung aus V. 44 in einem ersten Schritt. G�gnomai, werden, entstehen, bezeich-net eine Veranderung. Es ist kein statisches Wort wie sein und sollte auch nicht als

58Zur Frage um die aufkommenden Verfolgungen im 1. Jh. s. Hauschild [22, §3, S. 118-121].

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3. Exegese

solches in die Ubersetzung eingehen, weil dadurch der Sinn von einem Vorgang zu ei-nem Zustand verschoben wird. Hier hatte eine solche Verdrehung massive theologischeKonsequenzen im Menschenbild. Dass dieser Unterschied in der Ubersetzung nivelliertwird, liegt in der Ubertragung des Futurs ins Deutsche begrundet, das den Unterschiedzwischen dem kunftigen Werden und dem kunftigen Status nicht sauber unterscheidenkann. UÉì ist vom Griechischen her betrachtet klar als Sohn zu verstehen. Sowohlim griechischen als auch im israelitischen Denkraum ist der Sohn Teil einer mehrereGenerationen umfassenden Großfamilie,59 die vom Vater geleitet wird. Ein Sohn alsIndividuum kann nicht gedacht werden. Er ware asozial.60 Darin unterscheidet er sichdeutlich von einem Sohn im heutigen Deutschland, weil die engen Familienbezuge oftschon vor der Heirat aufgebrochen werden. Es ist ublich, das Elternhaus zu verlassen,sobald es finanziell moglich ist, u.U. sogar noch fruher. Zwar hat sich Sohn als einzigeBezeichnung eines mannlichen Nachkommens erhalten, aber die soziale Implikationhat sich stark verandert. Es nicht moglich, das Wort durch ein anderes zu ersetzen,in dem die soziale Dimension ubermittelt wurde. Deshalb wird eine Ubersetzung andieser Stelle immer erklarungsbedurftig sein. Der anzunehmende semitische Einflusserweitert die Bedeutung des Sohnes, indem er auch als Zuweisungssignal zu einerGruppe verstanden werden kann.61 Der Vollstandigkeit halber zeige ich, welche Kon-sequenz die zweite Richtung hatte: Zur Gruppe Euer-Gott-im-Himmel zu gehoren!Der Satz ware die Anleitung, zu Eurem-Gott-im-Himmel zu werden oder, weniger ra-dikal, sich zu einem Teil dieses Gottes zu entwickeln! Das ist ein theologisch riskantesManover. Es wird hochstens durch das Personalpronomen ÍmeØ aufgehalten, weil dasdie Gleichen sind, die mit dieser Anleitung angesprochen werden. Zu seinem eigenenGott-im-Himmel zu werden ist m.E. etwas schwierig. Wohlgemerkt sind das von au-ßen an den Text herangetragene Grunde, einem solchen Verstandnis nicht zu folgen.Ich bleibe lieber beim Sohn im Sinne des Verwandschaftsverhaltnisses. Grundsatzlichist wegen der offiziellen Gleichberechtigung der Frauen in Deutschland zu uberlegen,ob nicht besser mit Kind ubersetzt werden musste. Denn im Gegensatz zur Entste-hungszeit des Textes haben Sohne und Tochter hier und heute zumindest offiziell diegleichen Rechte, Pflichten und Lebensmoglichkeiten, so dass z.B. eine Eingrenzung aufSohne etwa wegen daraus folgenden gesetzlichen und sozialen Privilegien und Aufga-ben keinen Sinn mehr macht. Anders gesagt, was damals nur Sohnen moglich war, istheute Sohnen und Tochtern moglich – und in umgekehrter Richtung konnen heutigeSohne auch Lebensbereiche damaliger Tochter erfullen. Dass ich trotzdem den Sohnin der Ubersetzung – nicht so in meiner Predigt – behalte, dient einzig und allein demWiedererkennungseffekt in verschiedenen Texten. Ich mochte, dass Sohn uberall alsSohn erkannt werden kann, ohne dass es zu Komplikationen an den Stellen kommt, andenen tatsachlich nur Sohn die Ubersetzung der Wahl ist. Passend zu den

”Kindern“

gibt es auch den Vater. Pat r hat noch mehr Klang als heute Vater. Sicherlich wurde

59Vgl. Malina [32] und Guder-Stegemann [20, S. 119.121f-123]. Perlitt:”Das Vaterhaus meint immer

die Gemeinschaft derer, die wirklich zusammenleben.“,”Ein Vaterhaus, [. . . ], vereint also eine

Mehrzahl von Menschen gemeinsamen Blutes und verschiedener Generationen.“ [36].60Vgl. Perlitt [36, u.a. S. 59]. Vgl. Lk 15,11-32.61Grundsatzlich ist auch diese Bedeutungsrichtung nur eine Ableitung aus dem eigentlichen Sohn.

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3.6. Semantische Analyse

damit u.a. auch die innige Familienzughorigkeit signalisiert – auch wenn es damalsbestimmt nicht weniger

”schlechte“ Vater als heute gab –. Daruber hinaus schwingt

aber noch Oberhaupt, Hauschef u.A. mit. Von dieser Sorte Vater lesen wir noch inWerken Anfang letzten Jahrhunderts. Je nach Familienhaus kann im Hintergrund desVaters noch immer der Patriach gesehen werden oder eben nur noch der Miterzeuger,zu dem man eine mehr oder weniger positive emotionale Bindung hat. Der pat r desgriechischen Texts ist auf jeden Fall mehr als nur der liebe (oder fiese) Papa in einerindividualisierten Ein-Kind-Familie; er ist auch der Chef in seinem Hause, in dem vie-le Generationen, Abstammungen und Bedienstete leben und von seinem Wohlwollenabhangig sind. Der israelitische

”>Vater< ist der Natur der Sache nach ein Beziehungs-

wort.“ [36, S. 51]. Darin unterscheidet er sich vom einfachen Erzeuger [36, S. 51]. Er istdas Bindeglied zwischen den Vorfahren und den Nachkommen.62 Er leitet die kleinsteEinheit des israelitischen Volks [36, S. 54ff]. Ahnlich der Volksweisheit

”Der Apfel fallt

nicht weit vom Stamm“ druckt sich im Vater aus, wie sein Haus ist.63 Daraus wirdabgeleitet, dass Schuld wie Lohn auf seine ganze Familie ubertragen wird,64 teilweisesogar bis auf die Vorfahren.65 Die Griechen sind darin skeptischer. Zwar gilt auch beiihnen, dass unter einem schlechten Vater meistens ein schlechter Sohn reift und damitmeistens eine schlechte Familie lebt, aber umgekehrt folgt aus einem guten Vater nochlange kein guter Sohn. Uberhaupt hat die Art des Vaters noch nicht zwingend etwasuber die Art des Sohnes zu sagen [17, S. 109]. Zugegebener Maßen kennt auch das AlteTestament den Zusammenbruch der Gleichung guter Vater, gute Familie und schlech-ter Vater, schlechte Familie. Er druckt sich z.B. im Priester Eli und seinen Sohnenaus.66 Aber der durchgangige Konsens ist, dass sich im Vater zeigt, wie die Vorfahrenwaren und wie die Nachkommen sein werden. Die Naherbestimmung toÜ ân oÎranoØ lost den Vater aus der Vorstellung des leiblichen Vaters heraus. Gemeint ist Gott,aber Gott als Vater. Diese Darstellung ist fur den israelitischen Denkraum unublich[8, S. 137] [36, S. 98]. Wo das Alte Testament Gott und Vater zusammenbringt, sprichtes entweder von Adoption, von Adoption die Erwahlung bedeutet oder in Vergleichen,d.h. Gott ist wie ein Vater [36, S. 99ff]. Niemals wird leibliche Nachkommenschaft inErwagung gezogen – im Ubrigen auch hier nicht, denn man wird ja erst (Futur!) zumSohn Gottes. Darin unterscheidet sich die torabasierte Religion von ihrer religiosenUmwelt, in der Gotter als Vater fur andere Gotter, aber auch fur Heroen und furdie Menschheit uberhaupt durchaus ublich waren [8, S. 136f] [36, S. 98]. Jedoch mussman in Mt 5,45 besonders auf die Bewegungsrichtung der Sprache achten: Nicht Gottwird zum Vater des Menschen, sondern der Mensch wird zum Sohn des Gott-Vaters.Gott ist schon Vater, wenn auch nicht der leibliche. Diese Gegebenheit wirft einenassoziativen Anker in die Schopfungsgeschichte, die Gott als Schopfer thematisiert,anders ausgedruckt, Gott als Vater der Schopfung.

Ich zeige die Implikationen der Vater–Sohn Beziehung auf, weil es schon von An-

62[36, S. 51]. Ahnlich im griechischen Denken [17, S. 105.115].63Vgl. Perlitt [36, S. 58].64Vgl. Perlitt [36, S. 58.71ff].65Vgl. Wurthwein [53, S. 714].661. Sam. 2,11-36.

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fang an bei diesem Text unterschiedliche Moglichkeiten des Verstehens gegeben habendurfte, je nachdem, ob ein Hellene, ein Romer oder ein Jude ihn horte oder laß. Dasheißt an einem zentralen Punkt – Gott als Vater ist im NT ein immer wiederkehrendesThema – kann die Auslegung in verschiedene Richtungen gegangen sein – und gehtsie immer noch. Denn jeder Mensch macht nach wie vor seine ganz eigene Vater–KindErfahrung und wirft sie bei diesem Text unwillkurlich in die Waagschale. Genau andieser Stelle wird es bedeutsam, dass ich den Text als Vater auslege, der in der Erzie-hung gefordert ist und sich standig der Frage gegenubersieht, welche Wechselwirkunges zwischen dem Vater, seinem heranwachsenden Sohn und der Gesellschaft, in dersie leben, gibt.67

Der Plural der Himmel geht auf den hebraischen Duale-Tantum zuruck. Die Be-deutung des hebraischen Duals ist nicht endgultig geklart. Es konnte sich um denNiederschlag der Beobachtung handeln, dass sich der Himmel im Wasser oder aufLuftschichten spiegelt und es scheinbar zwei gibt. Genauso konnte es die Mehrdeu-tigkeit von Himmel reprasentieren, wie wir sie auch aus dem Deutschen kennen: dernaturliche Himmel und der Himmel als Ort Gottes. In beiden Fallen genugt der deut-sche Singular: Himmel. Denn weder benotigen wir einen Plural zur Bezeichnung desnaturlichen Himmels, noch benotigen wir den Plural zur Darstellung eines außerwelt-lichen und eines innerweltlichen Himmels. Vielmehr forderte die Pluralbildung einMissverstandnis, das sich in der Frage außert, wieviele Himmel es denn gabe undwelche Funktionen sie hatten. Im Deutschen entstunde das Bild einer Art Himmels-hierachie oder himmlischer Aufgabenteilung. Diese Schwierigkeit wurde aber schonim Ubergang vom Hebraischen zum Griechischen angelegt, bei dem bereits der Dualauf der Strecke blieb. Schon die Septuaginta bietet damit diese Interpretationsunsi-cherheit, die auch wieder im Matthausevangelium auftaucht – bezeichnender Weisebevorzugt

”der Grieche“ Lukas den Singular. Der Himmel, weltlich oder gottlich, war

zudem ein unzuganglicher Ort. Das heißt, die Nahe, die durch Vater aufgebaut wird,schwindet durch die Distanz des Himmels, in dem er sich befindet.VOti tän ¡lion aÎtoÜ �natèllei âpÈ ponhroÌ kaÈ �gajoÌ kaÈ brèqei âpÈ dika�ou kaÈ �d�kou (V. 45). Die Sonne, ¡lio , ist in den Israel umgebenenden Kulturen mitder gottlichen Welt verknupft. In der Regel wird sie positiv bewertet. Israel sprichtihr gottliche Eigenstandigkeit und Symbolik ab. Stattdessen ist sie ein Teil GottesSchopfung. Das schlagt auch hier durch, indem die Sonne ihm, d.h. Gott gehort.Trotzdem wird sie normalerweise auch im israelischen Denkraum positiv bewertet,was z.B. in der Licht-Schatten Metaphorik deutlich wird, zu der sie gehort. DieseMetaphorik wirkt auch in Matthaus. Als Beispiel sei Mt 4,16 genannt. Dort steht dasgleiche Verb, �natèllw, aber anstatt seiner Sonne wird

”Licht“ gesagt. Licht, bzw. in

verbaler Form leuchten, und Sonne werden z.B. in Mt 13,(36-)43 aufeinander bezogenund als wunschenswert dargestellt. Die Verteilung von Licht auf die gunstige undSchatten auf die ungunstige Seite wird ganz klar. Moglicherweise gibt es auch einen

67Ich sehe uns als die sozialen und geistigen Erben unserer Vorfahren und unsere Kinder als unseresozialen und geistigen Nachfahren. Wir sind, wozu uns die Generationen vor uns gemacht habenund unsere Kinder werden sein, wozu wir sie machen.

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3.6. Semantische Analyse

Zusammenhang zwischen Licht, Sonne und Jesus. Das muss ich aber nicht fur Mt 5,45stark machen. Wenn in Mt 5,45 seine Sonne aufgeht, ist das ein positives Ereignis. Esbetrifft sowohl die Verbrecher, als auch die Ehrenmanner. Zu dem Plural der Verbre-cher habe ich bereits bei der Wortuntersuchung zu Mt 5,38-42 auf Seite 31 festgestellt,dass es sich dabei um Menschen handeln muss. Der Singular ist jedoch nicht unwi-derruflich auf den Menschen zu beziehen. Durch seine Unscharfe verschwimmen dieGrenzen zwischen dem Verbrecher, dem Bosen (= Teufel) und dem Bosen (= die boseTat uberhaupt). Ein ahnlicher Befund stellt sich auch bei å �gajì , der Gute, ein:Aus judischer Sicht kann sich der maskuline Plural nur auf Menschen beziehen, dennes gibt schlicht nicht mehrere Gotter, auf die der Plural bezogen werden konnte. ImNeutrum besteht die Moglichkeit, den Bezug zur Tora, zur erfahrenen Heilsgeschichteoder zum zukunftigen Heil zu sehen [18, S. 13-14]. Die Tora ist das Gute und gut ist,wer die Tora erfullt. Letztendlich geht aber alles Gute auf den einen einzigen Gutenzuruck, auf Gott. Er ist auch der einzige, von dem man wirklich sagen kann, er seigut [18, S. 15].68 Aus hellenistischer Sicht kann niemand irdisches mit profanen Mit-tel zum Guten werden [18, S. 12]. Gut bezieht sich auf Gotter oder auf vergottlichteMenschen.69 Im alteren Griechentum ist der Begriff nicht so religios aufgeladen. Darinbezeichnet er das, was fur den Menschen gut ist und ihn gluckselig macht [18, S. 10ff].Das kann z.B. eine hervorragende Erziehung sein, ein tugendhaftes Leben oder auchmaterieller Reichtum.70 In Mt 5,45 sind Menschen gemeint. Trotzdem muss im Hin-terkopf behalten werden, dass gut immer auch mit der religiosen Sphare in Kontaktsteht, so wie es auch bei den Verbrechern ist. Ich habe mich fur die Ubersetzung Eh-renmanner entschieden. Sie bringt so wenig wie Verbrecher die religiose Dimensionins Spiel, aber eignet sich hervorragend zur Verdeutlichung des Gegensatzpaares po-nhroÔ � �gajoÔ . Da die religiose Schwingung in den Pluralen nur im Hintergrundaktiv ist, stort es auch nicht, dass die Ubersetzung sie nicht verwirklichen kann.

Der zweite, gleichrangige Teil der íti-Konstruktion beginnt mit brèqei. Die ur-sprungliche Bedeutung dieses Wortes ist befeuchten. Daraus habe sich im spaten undchristlichen Griechisch regnen lassen mit âp� entwickelt. In der 3. Pers. Sg. Ind. Pras.Akt. konne es die unpersonliche Bedeutung es regnet annehmen. Weiterhin konne esubertragen uberschutten oder uberstromen meinen.71 Da der erste Teil der íti-Kon-struktion mit einem Naturphanomen beginnt und der zweite Teil sehr ahnlich gebautist, nehme ich auch hier ein solches an. Es ist also entweder regnen lassen oder esregnet gemeint. Wiederum folgere ich aus der ahnlichen Konstruktion der beiden Tei-le, dass das Regnen etwas mit Gott zu tun haben sollte, so wie auch die Sonne Gottgehort. Zudem stellte sich die Frage, welche Uberzeugungskraft die profane Festel-lung haben konnte, dass es auf Gerechte und Ungerechte regnet, wenn dieser Regennicht von Gott ausginge. Auch wenn die Sinnrichtung es regnet hier anwendbar ware,entscheide ich mich fur regnen lassen, um klar zu machen, dass m.M. nach Gott hierUrheber des Phanomens ist. Weiterhin glaube ich, dass ein negativer Beiklang daran

68Vgl. Mt 19,17 parr.69Vgl. Grundmann [18, S. 12].70Vgl. Grundmann [18, S. 10ff].71Zu allen Bedeutungen s. [33, brèqw].

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3. Exegese

haftet – dies ist gar nicht selbstverstandlich, denn in trockenen oder heißen Gebietenkonnte Regen durchaus als Segen erfahren werden,72 anders als in Deutschland, woRegen ein lastiger Dauerzustand sein kann. Matthaus selbst bietet fur diese Annahmezumindest auf Basis des Wortbestands keinen Anhalt; es kommt nur in Mt 5,45 vor.In Lukas 7,38 und 7,44 wird es in Zusammenhang mit Tranen benutzt, wird also ne-gativ bestimmt. Noch massiver geschieht dies in Lk 17,29: Dort bezieht sich brèxw aufFeuer und Schwefel, die Sodom und Gomorra vernichteten. Die Lukasstellen konnenjedoch nur den Verdacht, es handle sich um ein ungunstiges Wort, verstarken. AusLukas lasst sich aber nicht zwangslaufig die matthaische Sinnrichtung ableiten. Dieíti-Konstruktion selbst bietet ein starkeres Indiz dafur, dass meine Vermutung be-rechtigt ist: Der erste Abschnitt verteilt positive und negative Begriffe der Reihenfolgenach auf Sonne (+), Verbrecher (-) und Ehrenmanner (+). Im zweiten Abschnitt istmindestens am Ende klar, dass die Verteilung umgedreht wird: Gerechte (+) undUngerechte (-). Wenn der zweite Teil eine komplette Inversion des ersten ist, musstees lauten: regnen lassen (-), Gerechte (+), Ungerechte (-). Zudem kame dann regnenlassen als Gegenbegriff zur aufgehenden Sonne zum Tragen, nicht nur im Bereich derNaturphanomene.

Das Wortpaar d�kaio � �diko ist sowohl im griechischen als auch judischen Den-ken haufig [45, S. 186,25.187,34-35], nicht so bei Matthaus.73 Er verwendet es nur inMt 5,45, obwohl d�kaio an insgesamt 17 Stellen steht – damit am haufigsten in allenvier Evangelien –. Daran wird ersteinmal klar, dass Matthaus kein großes Interesse an�diko hat. Ebensowenig legt er auf die Gegenuberstellung Wert. Grundsatzlich be-zeichnet d�kaio , wenn es sich auf Personen bezieht, den der Recht tut.74 Genau darinunterscheidet sich die inhaltliche Fullung zwischen Juden und Hellenen. Wenn ein Ju-de Recht tut, dann halt er die Tora und ist damit Gott gefallig [45, S. 187ff]. Wenn einHellene Recht tut, dann halt er sich an die Gesetze seiner Polis, er ist sitt- oder er isttugendhaft, oft sogar alles drei [45, S. 184f]. Nur in der philosophischen Ausarbeitungentsteht der Spezialsinn, dass Recht Wiedervergeltung sei, oder dass einem jeden zu-gemessen werde,

”was ihm gebuhrt“ [45, S. 186, g]. Unser Verstandnis geht eher dem

hellenistischen nach, schon allein weil das Christentum lange genug dafur gesorgthat, dass gerecht und Torahalten auseinandergedacht werden. Je nachdem, ob derLeser starker von Seiten der Synagoge oder von hellenistischer Seite beeinflusst war,ergaben sich verschiedene Verstandnisrichtungen. Entsprechendes gilt vom Gegenpol�diko .

”Der �diko ist der Verletzer des Rechts im weitesten Sinne.“ [44, S. 150]. Aus

judischer Sicht ist das derjenige, der sich nicht an die Tora halt und damit gegen Gottund folglich auch gegen seine Mitmenschen lebt. Es ist diejenige Haltung, welche die

72Keener geht z.B. auf diesem Weg:”Jewish sages saw rain as one of God’s universial signs of

beneficence. [Fußnote 126:] Jewisch sages saw God’s gift of rain as one of his ultimate acts ofpower and beneficence [. . . ].“ [27, S. 204].

73Gegen die allgemeine Aussage von Schrenk [45, S. 191,28-30]. Markus und Lukas setzen das Wort-paar gar nicht, obwohl Lukas immerhin viermal �diko bietet (bei elfmal d�kaio ). Markus hat�diko gar nicht und nur zweimal d�kaio . Auch ein Blick ins Johannesevangelium bessert denBefund nicht auf, denn es bietet nahezu das gleiche Zahlenverhaltnis wie Markus: 0-3.

74Vgl. Schrenk [45, S. 184,16].

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3.6. Semantische Analyse

vielen Strafen Gottes auf Israel im Ganzen und einzelne Familien im Speziellen lautunseren Uberlieferungen herunterbeschworen habe. Aus hellenistischer Sicht ist der�diko derjenige, der Gesetze ubertritt, gegen die Tugenden und gegen die Sitten lebt.In unserem Sprachgebrauch ist gerecht, bzw. ungerecht eine Bezeichnung dafur, ob ineiner Situation, in der Menschen beurteilt werden, angemessen vergolten wird, odernicht – wie im Griechischen kann sich auch dass deutsche gerecht auf Sachen beziehen;diese Richtung spielt aber fur den hier behandelten Text keine Rolle. Im deutschenSprachgebrauch besitzt ein gerechter Mensch die Fahigkeit, i.d.R. angemessen uberMenschen zu urteilen. Mit dem Untergang des Tugendideals ist auch der Tugendzweigdes Gerechten abgestorben. Sittlichkeit ist nahe daran, lacherlich zu sein. Zudem istdas Wort im multikulturellen und postmodernen Kontext weitgehend relativiert wor-den. Da Sittlichkeit nur durch die Allgemeinheit definiert wird, kann sie weder indi-viduell noch kleingruppenabhangig sein. Es gibt demnach keine relative Sittlichkeit,so dass das Wort faktisch bedeutungslos geworden ist. Auch dieser Zweig der Gerech-tigkeit ist verodet.75 Recht und Gerechtigkeit haben in unserem Verstandnis nichtunbedingt etwas miteinander zu tun.76 Dahinter steht die tiefgreifende Erfahrung,dass ein guter Jurist Gesetze immer zu seinen Gunsten, bzw. zu denen seines Man-danten gebrauchen kann. Insbesondere in einem Rechtsstreit kommt es sehr daraufan, welcher Jurist sich besser auskennt und sich besser verkaufen kann. Es ist egal,ob damit eine angemessene Beurteilung von Menschen, bzw. der Sache um die ge-stritten wird, bewirkt wird oder nicht. Damit hat sich unsere Auffassung von gerechtgegenuber der hellenistischen erheblich verengt und die judische ganz aus dem Blickverloren. Das angemessenere Wort ist rechtschaffen. Zum einen gehort es wie gerechtin die Recht-Wortgruppe. Es entfernt sich demnach nicht allzuweit vom Original. Zumanderen tragt es viele der Bedeutungen, die dem Wort gerecht verlorengegangen sind.Ein rechtschaffener Mensch ist ein Mensch, der ehrlich, anstandig oder redlich ist [52,1recht-, Recht-]. Damit kommt das Wort dem Tugendhaften oder Sittlichen sehr nahe.Zudem implizieren die Bedeutungsrichtungen, dass sich so ein Mensch auch an dievorhandenen Gesetze halten wird. Der hellenistische Bedeutungshorizont ist also fastumfangen. Nicht jedoch kommt die judische Konnotation ins Spiel, was auch hier ander christlich gepragten Kultur liegt.77 Der Gegenbegriff ist im Deutschen nicht ganzeinfach. Eigentlich steht dem Rechtschaffenen, der Kriminelle und Lugner gegenuber.Ich halte es aber fur besser, die Lautahnlichkeit des Gegensatzpaares aus dem Grie-chischen ins Deutsche zu tragen. Zudem kame kriminell, lugnerisch dem Verbrecherdes ersten Teils zu nahe, obwohl die Worte der beiden Teile selbstverstandlich nichtzufallig sehr ahnliche Bedeutungen haben. Ich bilde das kunstliche Wort unrechtschaf-fen und hoffe, dass es verstanden wird.

75Gegen Duden [52, gerecht 2]. Auffalligerweise fuhrt der Duden zu dieser Sinnrichtung in den Satz-beispielen nur den Gebrauch der angemessenen Beurteilung an. Damit wird die Sinnentleerungdes sittlichen Verstandnisses indirekt zugegeben.

76Gegen Duden [52, gerecht 1].77Selbstverstandlich bleibt die Argumentation nur im christlich deutschen Raum bestehen. Sobald

die Texte von Christen aus anderen Weltteilen oder von Muslimen oder Juden gelesen werden,wird meine Argumentation hinfallig und musste neu aufgerollt werden.

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3. Exegese

Vers 46: >E�n g�r �gap shte toÌ �gapÀnta Ím� , t�na misjän êqete? oÎqÈ kaÈ oÉtelÀnai tä aÎtä poioÜsin?Vers 47: KaÈ â�n �sp�shsje toÌ �delfoÌ ÍmÀn mìnon, t� perissän poieØte? oÎqÈ kaÈoÉ âjnikoÈ tä aÎtä poioÜsin?<O misjì ist ein matthaisches Wort. Im Gegensatz zu den anderen Evangelien kommtes unverhaltnismaßig oft vor.78 Deshalb vermute ich, dass sich darin ein AnliegenMatthai ausdruckt, ein Kern der Theologie des Buches. Zudem steht es nur im Mun-de Jesu. Das Wort hat zwei Kristallisationszentren: Die Berglehre und die Aussen-dungsrede Jesu an seine Junger Mt 10. Außerhalb dieser Punkte liegt nur Mt 20,8 imGleichnis von den Arbeitern im Weinberg. Das ist auch die einzige Stelle, in der dasWort als (Arbeits-) Lohn greifbar wird, zumindest auf der Bildebene. Es ist ein Denar.Was ein Denar auf der bezeichneten Ebene, also im Reiche Gottes, entsprache, bleibtunklar, aber darauf will das Gleichnis ja auch nicht hinaus. Wichtig ist, dass derirdische Lohn des Bildes voraussetzt, dass es einen außerweltlichen Lohn im Himmel-reich gibt. Ansonsten steht Lohn immer einsam, d.h. es wird niemals klar, was dennfur ein Lohn erwartet werden oder verloren gehen kann. Das erste Mal in Matthaustritt Lohn in den Ubergangsversen nach den Seligpreisungen Mt 5,11-12 in V. 12 auf.Der Lohn wird in den Himmel versetzt, d.h. es handelt sich um nichts Irdisches odergar Greifbares. Ebenso wird in Mt 6,1 der Lohn aus der Welt genommen, denn esist dort der Lohn beim Vater im Himmel, also bei Gott. Er steht in unmittelbarerVerbindung zur ausgeubten Gerechtigkeit. Direkt daran schließt sich der Phrasenzy-klus Mt 6,2-18 an, der u.a. durch �pèqousin tän misjän �utÀn bestimmt wird. Nachder Vorgabe von Mt 6,1 bleibt nichts anderes ubrig, als auch dort im Hinterkopf zubehalten, dass der Lohn nicht irdisch sein sollte. Aber wer mit seiner Gerechtigkeitin der Offentlichkeit posiert, der empfangt den entsprechenden, offentlich-irdischenLohn,79 d.h. es bleibt kein Lohn im Himmel ubrig.80 Im Rahmen der Aussendungs-rede wird uber die Beschaffenheit des Lohns soviel deutlich, dass es sich um eine1:1 ausgleichende Sache handelt, aber nichts uber die weitere Beschaffenheit. Zusam-menfassend ist der Lohn etwas nicht naher Bestimmbares bei Gott, das durch dasHandeln des Menschen auf der Erde festgelegt wird. Solange es nicht abgesprochenwird, ist es wenigstens positiv, wie Mt 5,12 vermuten lasst. Im Ubrigen unterscheidetsich dieser Gebrauch sowohl vom griechischen als auch vom israelitischen Denken.Normalerweise meint misjì Arbeitslohn. Wenn es uber diese Alltagsbedeutung hin-aus gebraucht wird, was von hellenistischer Seite ungern geschieht [38, S. 700], dannist ein Lohn gemeint, der auf Erden ausgezahlt wird. Die Griechen gehen dabei davonaus, dass ihre irdischen Handlungen unmittelbar auf sie zuruckwirken, Gotter seienbei der Lohnvergabe nicht beteiligt [38, S. 700] [53, S. 707ff]. Die Israeliten erwartenGott als Lohnstelle, d.h. als Vergelter [53, S. 710ff]. Beide Denkraume kennen auchden negativen Lohn, namlich die Strafe. Der Lohngedanke des Matthaus scheint mirschwer verdaulich zu sein; fur mich ist das auf jeden Fall so, moglicherweise auch

78Mt: 10mal – Mk: 1mal – Lk: 3mal – Joh: 1mal.79In der Grundbedeutung

”das empfangen haben, worauf man Anspruch hat“ [33, �pèqw].

80Vgl. Preisker [38, S. 703].

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3.6. Semantische Analyse

schon fur die zeitgenossischen Leser. <O tel¸nh ist Staatspachter. Genauer ist er einePerson,

”welche die Ausubung staatlicher Besteuerungs- u Abgabenrechte dem Staat

abkauft ([. . . ]) u die Abgaben von den Schuldnern eintreibt.“ [35, S. 91]. Damit ist einSystem beschrieben, in dem der Staat seine Steuern nicht direkt von eigenen Beam-ten eintreiben ließ, sondern dies an Privatpersonen oder Gesellschaften abtrat. Dabeisind grundsatzlich zwei Vorgehensweisen belegt: Die Pacht wurde alljahrlich verstei-gert und die Summe der Versteigerung entsprach dann der Steuer, die an den Staatabzufuhren war, oder die Pacht wurde vom Staat nach seinen Bedurfnissen festge-setzt, so dass bedarfsorientierte, feste Steuereinnahmen gewahrleistet waren. In beidenFallen konnten sich nur die Superreichen die Pacht leisten, es sei denn es fanden sichviele Pachter zu einer Gesellschaft zusammen und stellten gemeinsam das notwendigeKapital bereit. Dem Pachter stand einerseits ein hoher Profit in Aussicht, weil er dieeinzutreibenden Abgaben i.d.R., zum Teil aber durch gesetzliche Rahmenbestimmun-gen begrenzt, selbst festlegen konnte [35, S. 89ff]. Er konnte also mehr einnehmen, alser an Pacht abzufuhren hatte. Andererseits standen ihm hohe Strafen bevor, wenn eres nicht schaffte, die Pacht aufzubringen, z.T. bis hin zum Verlust der Burgerrechte.Ebenso konnten hohe Geldbußen auferlegt werden, wenn er nachweislich auf ungesetz-liche Weise oder im ungesetzlichen Maß Abgaben eintrieb.81 Folglich musste sich einPachter oder eine Pachtgesellschaft gegen solche Verluste und Strafen versichern. Dasgeschah ebenfalls durch hohere Einnahmen, als die Pacht es erfordert hatte. Zudemmussten mancherorts noch Burgen zufriedengestellt werden. Burgen dienten dazu, dieZahlungsunfahigkeit eines Staatspachters auszugleichen, so dass der Staat auf jedenFall seine Steuern bekam. Dafur wollten sie aber teilweise auch eine Risikoabfin-dung haben. Dementsprechend musste der Pachter die Einnahmen so gestalten, dasser auch seine Burgen zufriedenstellen konnte. Die tatsachlichen Einnahmen und dieabzufuhrende Pacht klafften dementsprechend weit auseinander, nicht zuletzt auchdeswegen, weil einige Pachter wirklich weit mehr als notwendig einnahmen.82 WoZolle gepachtet wurden, waren die Pachter den Handlern eine besondere Last. Selbstim romischen Gesamtstaat kamen sie alle Nase lang an Zollstationen vorbei, denn dieRomer hatten die bereits vorgefundene Einnahmestruktur der eroberten Gebiete nichtgeandert, so dass es fur die Handler keinen Unterschied machte, ob sie nun zwischenverschiedenen Staaten oder innerhalb des romischen Staatsgebildes Handel trieben.83

Dem Geschriebenen folgend nimmt es nicht Wunder, dass die Staatspachter allerortsauf einer Stufe mit Dieben und Raubern angesehen wurden, nur hatten sie die Geset-ze auf ihrer Seite, bzw. die wenigsten Menschen wussten, wie eigentlich die Gesetzewirklich beschaffen waren und was bereits Betrug war.84 Aus judischer Sicht lebenStaatspachter als Diebe und Rauber gegen die Gebote Gottes. Fur manche Schulenfolgt daraus, dass sie – und mit ihnen ihre ganze Familie – unrein sind. Es musstediskutiert werden, inwiefern solche Unreinheit ansteckend ist und ob sie schon durch

81Zu den moglichen Strafen s. Michel [35, S. 90f].82Vgl. Michel [35, S. 99f].83Vgl. Michel [35, S. 99].84Vgl. Michel [35, S. 100].

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3. Exegese

einen einfachen Besuch ubertragen werden konnte.85 Durch die Parallelstellung zuden Volkern in V. 47 wird auch in V. 46 die negative Beurteilung der Staatspachterdeutlich. Es sind jeweils Menschen, die sich außerhalb der Gebote Gottes bewegenund damit grundsatzlich keine Mitglieder Israels sind. Fur den israelitischen Steu-erpachter grenzt so eine Feststellung an eine Verurteilung vor Gott. Zudem mussbedacht werden, dass die Steuern nicht fur Israel erhoben wurden, sondern in romi-sche Staatskassen flossen. Die Staatspachter unterstutzten mit ihrem Tun zu allemUbel also auch noch die Fremdherrschaft. Deshalb konnten sie auch noch als Verraterempfunden worden sein. Mt 5,46 bezieht sich nicht auf einen bestimmten Pachter,sondern auf die gesamte Gruppe. Da sehr verschiedene Staatseinnahmen gepachtetwerden konnten, ist die Verkurzung auf Zollner falsch. Ich gebe sie mit Steuerpachterwieder. Erstens erhoffe ich mir, dass das Bild des rechtschaffenen Zollbeamten an derdeutschen Grenze nicht aufkommt – Vielgereisten oder auch manchen Auslandernmag durchaus auch die passendere Vorstellung des korrupten Zollbeamten vor dieAugen gerufen werden; ich glaube nur nicht, dass dies die ubliche Assoziation ist –.Zweitens ist Steuerpachter kein ubliches Wort, so dass hoffentlich die Frage angeregtwird, was das fur ein Mensch ist .

Der Parallelvers V. 47 hangt am Verb �sp�zomai. Seine Grundbedeutung ist umar-men [51, S. 495]. Daraus entwickelt es ahnliche Bedeutungen wie �gap�w, allerdingsdeutlich emotionaler: zartlich sein, gern haben; (be-)grußen, willkommen heißen, be-suchen, verabschieden; hochachten, wertschatzen [33, �sp�zomai]. Zartlich sein undgern haben leiten sich direkt aus der Art, bzw. der intimen Nahe der Handlung ab.Erotik ist darin durchaus enthalten. Der Bedeutungskreis um die Begrußung herumgeht wohl darauf zuruck, dass zu einer richtigen Begrußung die Umarmung gehort(e).Hochachten und wertschatzen haben ihrerseits die Wurzeln in der Begrußung, denn dieReihenfolge der Gruße druckt eine soziale Hierarchie aus; der Niedrigere begrußt denHoheren zuerst. In welche Richtung das Wort geht, hangt also in starkem Maße davonab, auf wen es sich bezieht, an welche zwischenmenschliche Situation gedacht ist. InV. 47 sind die Bruder, �delfo�, das Ziel. Wer wiederum mit den Brudern gemeintist, hangt davon ab, an welchen Vater gedacht ist. Das heißt es konnen die leiblichenBruder sein, wenn der leibliche Vater gemeint ist, oder die Bruder im Haushalt Got-tes, wenn Gott der Vater ist. Mt 5,43-48 gibt fur beide Deutungen Anhaltspunkte:Einerseits ist von Gott als Vater die Rede, deren Sohne die Angesprochen werdensollen. Alle Sohne Gottes waren dann Bruder, selbst wenn sie nicht blutsverwandtsind. Andererseits setzen die Fragen des V. 47 indirekt die Bruder der Angesproche-nen mit den Brudern der Volker auf eine Stufe. Da aber die Bruder bei den Volkernnichts mit Gott, der Tora oder den Juden zu tun haben, kann fur sie auch nichtangenommen werden, dass eine Gottessohnschaft in Betracht kommt. Es muss sichim nahen Kontext des V. 47 um konkrete Blutsbruder handeln, die aber im Gesamt-zusammenhang von Mt 5,43-48 die Bruder unter Gott durchscheinen lassen. Da alsodirekt verwandte Bruder gemeint sind, verstehe ich �sp�zomai in Richtung gern ha-ben. Die Beziehung unter Geschwistern entspreche namlich dem heutigen Empfinden

85Vgl. Michel [35, S. 101ff].

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3.6. Semantische Analyse

zwischen Eheleuten [20, S. 119] – zumindest solange man Gewalt in der Ehe, Schei-dungen allerorts und die Funktionalisierung der Ehe außer Acht lasst.86 Dieses gernhaben kann sich dann durchaus auch durch gegenseitige Besuche ausdrucken. Hoch-achten scheint mir der Bindung unter Geschwistern nicht gerecht zu werden. Daskame eher gegenuber dem Vater und anderen ehrbaren Personen wie z.B. den Rabbi-nen in Frage. Bleiben in der Reihe des Verses nur noch die âjniko�. Zuerst einmal istes ein seltenes Wort des spaten und neutestamentlichen Griechisch. Im Neuen Tes-tament kommt es viermal vor, ein weiteres Mal als Adverb. Schon drei der Fundorteliegen im Matthausevangelium: Mt 5,47 ; 6,7 ; 18,7. Zwei davon befinden sich also wie-derum in der Untereinheit

”Berglehre“. Die Befunddecke ist arg dunn. Es meint so

etwas wie volkstumlich, volkisch, auslandisch, national [42, S. 369] [33, âjnikì ]. ImSpeziellen bedeutet es dann heidnisch, was jedoch nur eine Sonderform des Fremden,Auslandischen ist. In der Richtung volkstumlich, volkisch muss es sich nicht auf einanderes Volk beziehen, sondern kann durchaus das eigene im Blick haben. Ahnlichwie bei êjno kann inklusive oder exklusive gedacht werden, so dass eben auch dieBedeutung auslandisch im exklusiven Denken entstehen kann. Weiterhin gibt es inAnlehnung an êjno die Bedeutungsweite von einer neutralen Feststellung bis hin zurBezeichnung des Barbars, bzw. des Heiden. Die erste Frage des V. 47 impliziert, dasseine außerordentliche Handlung erwartet wird, die aber nicht geschieht. Das weist diezweite Frage auf, in der die âjniko� stehen. Sie sind der Gegenbegriff zur außergewohn-lichen Handlung. Das kann aber immer noch zweierlei bedeuten: Erstens handeln sienicht so, wie die Erwahlten, sprich die Israeliten, handeln. Dann ist der Gegensatzzwischen Israeliten und allen anderen Volkern gemeint, der sowohl im AT als auchim NT gut belegt ist. Vers 47 wiese darauf hin, dass aus diesem Status besondereHandlungen zu erwarten waren. Zweitens kann auch ein Gegensatz zwischen Volks-glauben und Glauben der Verstandigen gemeint sein. Allerdings kann ich das kauman Texten nachweisen. Außerdem farbt der parallelgeschaltete Steuerpachter durchseine negativen Konnotationen auch die âjniko� negativ ein.87 Zwar mag man demVolksglauben vorwerfen, einfach und nicht ausreichend durchdacht zu sein, aber ichglaube nicht, dass das ausreicht, ihn in den Bereich der Sunde und des Verfluchtseinszu stellen. Wenn das gemeint ware, stellte sich mir die Frage, warum Matthaus dieHorer am Berg, eine Volksmenge, Jesus dann nicht gleich dort hat lynchen lassen. Ichglaube, dass die Auslandischen im Gegensatz zu den Israeliten gemeint sind. Jedochbirgt dieses Wort gerade in Ruckblick auf die deutsche Geschichte Gefahren. Nutzteich es, provozierte ich die Vorstellung, man sei etwas besseres als ein Auslander. Daswiederum kann, wie wir inzwischen wissen, fatale Folgen im Wortsinn haben. Au-ßerdem identifizieren wir in Deutschland nicht mehr eine religiose Gruppe mit einerVolksgruppe – zumindest weitestgehend, obwohl es zugegebener Maßen immer wieder

86Aber wer kennt nicht auch die Gewalt unter Geschwistern? Insofern mag selbst im negativen dieParallele bestehen bleiben.

87Dies ist freilich z.T. eine Ringargumentation, denn ich habe aus den Volkern fur die Steuerpachtergeschlossen, dass sie außerhalb der Volksgrenzen, mindestens aber abseits eines Lebens unterder Tora verortet werden. Nichtsdestotrotz bergen die Pachter schon in sich die ungunstigenVorstellungen.

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3. Exegese

Ausreißer gibt. Deshalb bleibe ich letztendlich bei der klassischen Ubersetzung Hei-den. Selbstverstandlich haftet auch an diesem Wort die Erinnerung an grauenvolleGemetzel. Aber die Postmoderne hat ihm seine Scharfe genommen. Indem religioseVorstellungen dem personlichen Geschmack anheim gestellt wurden, folgt aus derQualifizierung Heide nicht mehr, dass er abzuschlachten und auszurotten sei. EinHeide wird in Deutschland nur noch in wenigen christlichen Gemeinden – fur diejudischen und islamischen kann ich hier nicht sprechen – als Bedrohung empfunden.Damit hat sich das Wort auf ein gesundes Maß abgekuhlt, so dass es eine technischeUnterscheidung zwischen den drei monotheistischen Religionen Judentum, Christen-tum und Islam zu den anderen Religionen auszudrucken vermag. Problematisch istweiterhin, dass darunter in christlichen Gemeinden oftmals Nicht-Christen verstan-den werden. Richtigerweise mussten aber Nicht-An-Dem-Einzigen-Gott-Haftende, al-so Nicht-Juden, Nicht-Christen und letztlich auch Nicht-Muslime darunter begriffenwerden.^Esesje oÞn ÍmeØ tèleioi ± å pat�r ÍmÀn å oÎr�nio tèleiì âstin (V. 48). EÊm�,sein, ist im Gegensatz zu g�gnomai in V. 45 ein statisches Wort. Es bezeichnet einenZustand, keinen Verlauf, kein Entstehen. Im Deutschen kann der Unterschied im Fu-tur nicht ausgedruckt werden. Tèleio ist wieder einmal ein matthaisches Wort. Inkeinem anderen Evangelium steht es. Magere dreimal nutzt Matthaus es, davon zwei-mal in Mt 5,48 einmal in 19,21. In Mt 5,48 ist es einmal auf Gott bezogen und ineine Gleichung zum Menschen gesetzt. In Mt 19,21 ist es ebenfalls als menschlichesAttribut gedacht. Matthaus scheut sich nicht, an einen vollkommenen Menschen zudenken. Grundsatzlich geht das Wort in drei Richtungen: vollzahlig, ausgewachsenund makellos.88 In der Gleichung wird kaum gemeint sein, dass Gott vollzahlig oderausgewachsen ist. Es bleibt makellos; noch schoner und treffender ist vollkommen.Ich meine, dass Matthaus ganz bewusst eine nahere Definition weglasst. Man wirdnicht vollkommen in dieser oder jener Eigenschaft, sondern ganz

”schlicht“ und doch

gleichzeitig so atemberaubend vollkommen wie Gott! In der Welt Matthai treffen wirauf eine menschliche Moglichkeit, die unsere Theologie nicht zulaßt. Mindestens Theo-logen weichen dem Druck dieses Satzes gerne aus, indem sie eine andere Bedeutungin das Wort fullen. Dabei wird aber i.d.R. ubersehen, dass es sich um eine Gleichunghandelt. Wer auf der einen Seite in die Vollkommheit einen neuen Sinn einfullt, mussdarauf achten, dass er auch auf der anderen Seite der Gleichung passt.89

88Vgl. [33, tèleio ].89Lohse z.B. befullt den Begriff mit einer Mischung seiner Beobachtungen an der fruh-christlichen

Auslegung in der Didache, am AT, an Qumran und der lukanischen Parallelstelle [Lk 6,36]:”Das

’Mehr‘, das den Gehorsam der Junger Jesu im Unterschied zu den Pharisaern und Schriftgelehrten,aber auch zu Zollnern und Heiden (5,46f.) auszeichnet, liegt daher nicht in einer ihrem Umfangnach gesteigerten Gesetzlichkeit, sondern wird in der den ganzen Menschen erfassenden Hingabean den barmherzigen Gott erfullt, die ihre Kraft aus seiner erfahrenen Gute gewinnt. Wer indieser Weise vollkommen ist, wird Eingang in die kunftige Gottesherrschaft finden.“ [30, S. 140]Grundsatzlich ist es notwendig, einen Blick in das geistige Umfeld zu werfen, um die Bedeutungeines Wortes einer fremden Kultur zu ermitteln. Aber was geschieht hier? Aus dem AT nimmtsich Lohse die Hinwendung mit ganzem Herzen an Gott. Aus Lukas greift er sich den barmherzigen

Gott, denn”barmherzig“ ist wohl das urspunglichere Wort in der Uberlieferung. Der Hinweis auf

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3.6. Semantische Analyse

3.6.2.2. Textsemantik

Mt 5,43-48 durchzieht der Gegensatz von Freund und Feind, wie schon Mt 5,43 mar-kiert. Die

”Freunde“ finden ihren Ausdruck im Nahestehenden, im Ehrenmann, im

Rechtschaffenen und in den Familienmitgliedern Vater, Sohn, Bruder. Die Familie istdabei als in sich geschlossene Sinneinheit noch einmal naher zu betrachten. Vorherbestimme ich aber noch die Gegenseite, die

”Feinde“. Es sind der Gegener, sogar

besonders betont durch Wiederholung, der Jagende, der Verbrecher, der Unrecht-schaffene, der Steuerpachter und der Heide. Die beiden Gruppen halten sich auf derEbene der Substantive die Waage. Sie stehen zwischenmenschlich in Beziehung. DieVerben, die das ausdrucken, zerschlagen das Gleichgewicht der Substantive. Mit vier-mal wertschatzen, eines davon als substantiviertes Partizip und einmal gern habenuberollt die Gruppe der positiven Beziehungen das eine verabscheuen der negativenGruppe. Dazu erhalt das positive Verhalten noch Unterstutzung vom Beten fur je-manden, das menschliche Interaktion indirekt darstellt. Ich spreche jeder Linie nochje ein Wort zu, das die Beziehung zwischen Gott und Mensch signalisiert: die Sonneaufgehen lassen, als Bild dafur, dass Gott Menschen Gutes tut und regnen lassen alsAusdruck dafur, dass Gott Menschen Schlechtes tut. Das Verhaltnis 7:2 im Kontrastzur jeweils gleichen Anzahl der Freunde und Feinde legt Nachdruck auf den Inhaltdes Textabschnitts, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen positiv zu gestaltensind, egal zu welcher der beiden Substantiv-Gruppen der andere gehort.

Aus einmal entstehen und dreimal machen formt sich die Gruppe”Handlungen“.

Sie findet ihren Gegenpol in den”Zustanden“, im doppelten Sein und einfachen Ha-

ben. Dass dreimal ausdrucklich vom Machen gesprochen wird, setzt ein Ausrufezei-chen: Handeln ist wichtig, Handeln ist ein zentrales Element des Textes. Erst ganzzum Schluß des Textabschnitts wird gleich Doppelt vom Zustand gesprochen. Aufdiese Weise macht der Text mit einem recht simplen Mittel klar, dass vor dem Seindas Tun steht. Oder anders gesagt: Wer nicht tut, der nicht ist.

Ein letztes unubersehbares Element des Textes ist die Linie des”Besonderen“:

einmal besonders, zweimal vollkommen. Auffallend ist die Konzentration des Voll-kommenen im letzten Vers, in dem auch der Zustand, das Sein, gehauft vorkommt.Wie ich oben sagte, bedarf die Familie noch einmal der naheren Betrachtung. Zuersteinmal ist auffallig, dass nur die mannlichen Mitglieder des engeren Familienkreiseserwahnt werden: Vater, Sohn, Bruder. Weder Frauen noch entfernte Verwandte sind

die nicht-ubersteigerte Gesetzlickeit ist zur Abgrenzung gegen die Didache und Qumran notwenig.Dann stunde nach Lohses Fullung in Mt 5,48: Gewiss, ihr werdet euch Kraft der erfahrenen Gute

mit ganzem Herzen dem barmherzigen Gott hingeben, wie sich euer himmlischer Vater Kraft der

erfahrenen Gute mit ganzem Herzen dem barmherzigen Gott hingibt! Aha!?Keener z.B. versucht, dem Druck auszuweichen, indem er Lukas’ barmherzig und Matthai voll-

kommen auf ein beiden gemeinsames, aramaisches Ursprungswort, das Jesus benutzt habe, zuruck-bezieht [27, S. 205]. Jedoch liegt uns erstens keine Originalrede Jesu in Aramaisch vor, so dassKeeners Weg im Ungewissen verlauft, zweitens spricht in Mt 5 nicht wirklich Jesus, sondern wennuberhaupt, dann in erster Linie Matthaus, und drittens hat sich Matthaus, selbst wenn er Jesusaus dem Aramaischen ins Griechische ubersetzt haben sollte, und selbst wenn Lukas und Mattha-us das gleiche Wort zugrunde lage, fur tèleio und eben nicht fur oÊkt�rwn entschieden, so dasswir nach wie vor mit vollkommen konfrontiert werden.

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3. Exegese

genannt. Sie finden allenfalls im Rahmen der Nahestehenden Eingang, jedoch umfasstdiese Gruppe noch viel mehr Menschen und auch andere soziale Kreise als die Familie.Familien im Mittelmeerraum des 1. Jahrhunderts waren i.d.R. patrilokal. Das heißt,dass Frauen im Zuge der Heirat zu ihren Mannern wechselten, die in der raumlicherNahe ihres Vaterhauses wohnen blieben [37, S. 24] [20, S. 121.123]. Auf diese Weiseentstanden lokale Verbande, die oft auch eine Produktionseinheit bildeten. Ein Hand-werk wurde nicht von einem einzelnen, sondern von einem ganzen Familienverbandausgeubt [20, S. 120]. Wahrend also die Manner vor Ort in ihrem Beruf blieben, konn-te es den Frauen passieren, dass sie aufgrund der Heirat ganz neue Aufgaben in einemanderen Produktionszweig bekamen. Dabei wurden hereingeheiratete Frauen nie ganzin den neuen Familienverband aufgenommen,90 sondern sie bewegten sich immer amRand, von dem sie jederzeit heruntergestoßen werden konnten. Das findet z.B. darinseinen Ausdruck, dass griechische Ehefrauen gegenuber ihrem Mann nicht erbberech-tigt waren, Schwestern gegenuber Brudern dagegen sehr wohl [37, S. 20]. Dass dieManner in der Nahe des Vaterhauses blieben, indiziert bereits, dass Familien aus-schließlich uber die mannliche Linie fortgesetzt wurden [20, S. 118], und zwar nichtnur namentlich. Der alteste Sohn ubernahm zur Zeit die Leitung des gesamten Famili-enverbandes von seinem Vater. Sohne garantierten dem Vater den Fortbestand seinerFamilie, was als hochst anstrebsam bewertet wurde. Insofern war es wichtig, dass dieSohne miteinander Frieden hielten, denn ansonsten Stand der Fortbestand auf demSpiel. Umgekehrt galt es als hochstes Ungluck, wenn Bruder aufeinander losgingen,vielleicht sogar einander toteten. Trotzdem konnten Sohne aus dem Familienverbandausgeschlossen werden, wenn sie massiv seine Ehre verletzten – im Ubrigen konnte esFrauen ebenso ergehen, allerdings war die Sanktionsschwelle viel niedriger. Um dieFamilienehre aufrecht zu erhalten, musste ein Sohn den standigen Erweis erbringen,dass er seines Vaters wurdig ist.91 Ein Sohn musste also zeigen, dass er mindestens daskonnte, wozu sein Vater in der Lage war. Im Binnenbereich bedeutet das, vom Vaterals Sohn anerkannt zu werden. Die Anerkennung war also nicht einfach schon durchdie leibliche Abstammung gegeben, sondern musste auch noch durch entsprechendesHandeln erarbeitet werden – diese Vorstellung galt im Hellenismus zwar als Idealbild,wurde aber stark unter Druck gesetzt. Ohne Anerkennung durch den Vater drohteebenfalls der Ausschluss oder die Abwertung in der Familie, quasi als Bastard imGeiste oder im Handeln. Damit wurde dann schon nahezu der Schlafplatz unter derBrucke aufgeschlossen, es sei denn

”Mann“ hatte das Potential zu einem erfolgreichen

Einzelganger gegen die gesamte Gesellschaft. Frauen galten als potentielles Ehrrisikofur die gesamte Familie. Sie konnten in einem sowohl die Ehre ihres Vaterhauses alsauch die ihres Ehemannes in den Dreck ziehen [20, S. 127.132.134]. Sie hatten keineeigene Ehre, sondern waren gleichsam ein ausgelagerter Teil des Ehemannes und ihresVaterhauses. Benahmen sie sich nicht

”angemessen“, konnte deshalb der Ruf von Va-

ter und Mann geschadigt werden. War deren Ruf erst einmal angeschlagen, hatte dassowohl soziale als auch, zumindest in Israel, religiose Konsequenzen. Im Letzten wirkt

90[37, S. 21], [20, S. 119. Vgl. S. 122 . 123ff].91Vgl. Gadamer [17, S. 107].

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3.6. Semantische Analyse

die Gleichung schlechter Vater, schlechte Familie, und ruft nach der Strafe Gottes.Folglich versuchten Manner, diese ausgelagerte Ehre zu kontrollieren, so dass eine Frauteilweise schlicht weggesperrt oder einfach entlassen wurde. Bruder neigten dazu, dieAußenverteidigung zu ubernehmen. Das heißt, sie machten eher Angreifer von außenfur ein unehrenhaftes Verhalten ihrer Schwester durch eine ungenehmigte Mann–FrauBeziehung verantwortlich und suchten u.U. bei ihm Rache [20, S. 125]. In Mt 5,43-48werden die menschlichen Familienbeziehungen auf Gott ubertragen. Gott steht dabeian der Spitze seiner Familie, leitet sie jedoch von dem schon physisch unzuganglichenHimmel aus. Er ist ein unbeeinflussbarer, un(an)greifbarer Vater. Der Text setzt vo-raus, dass man im Hause Gottes wohnen will und auch soll. Deshalb wird auch nichtvon Tochtern oder Schwestern gesprochen, denn deren Aufenthalt im Hause Gottesware nur begrenzt, bis sie in ein anderes Haus wechselten. Zudem hatten sie zwardie Aufgabe, Gott keine Schande zu machen, aber sie stunden nicht wie die Sohne indem Zwang, erweisen zu mussen, dass sie ihres Vaters, Gottes, wert sind. Darauf willaber meines Erachtens die Logik des Sprechens von der Familie Gottes hinaus: Tutdas was Gott tut, damit ihr erstens die Ehre der gottlichen Familie nach außen hinbegrundet und ihr zweitens von Gott als berechtigte Bewohner seines Hauses aner-kannt werdet. Wo das nicht getan wird, droht der Ausschluss aus dem Reich Gottes,bzw. man wird gar nicht erst aufgenommen. Der unter den Menschen Verstoßene lan-det als Obdachloser auf der Straße. Analog dazu bleibt man dann da, wo

”Heulen und

Zahneknirschen sein“92 wird. In den Sohnen druckt sich weiterhin aus, dass das HausGottes nicht verlassen werden soll und dass es sich in die Menschen fortpflanzt. DasFamiliendenken begrundet in Mt 5,43-48, wieso Menschen so vollkommen wie Gottsein konnen und sollen, und warum die Kinder Gottes gegenuber anderen Menschenetwas Besonderes sein mussten.

3.6.2.3. Grammatische Semantik

Die Satzanalyse zu Mt 5,43-48 auf Seite 23ff. ergab u.a., dass die Final- und Kausal-konjunktionen auf einen verknupften Text hinweisen. Unklar blieb, worauf sich dieBegrundungen jeweils beziehen. In den sprachlichen Auffalligkeiten wies ich daraufhin, dass der erste Teil des V. 46 sich direkt auf Jesu Handlungsanweisung bezieheund somit auf gleicher Stufe mit dem ersten Finalsatz stehe. Im Folgenden versucheich, die bislang unklaren Beziehungen aufzuhellen.

Auf dass Gebot Jesu, die Gegner wertzuschatzen und fur die Jager zu beten folgtder Finalsatz:

”Damit ihr Sohne eures Vaters im Himmel werdet!“ Eine solche Fi-

nalkonstruktion suggeriert den Textmenschen am Berg, dass sie dies wollen. Andersausgedruckt, hat die von Jesus vorgegebene Handlungsweise das erstrebenswerte Ziel,ins Reich Gottes einzuziehen. Damit wird die Voraussetzung fur die nachsten beidenKausalkonstruktionen geschaffen. Der auf den Finalsatz folgende Kausalsatz beziehtsich wie der Finalsatz auf das Gebot Jesu. Es macht namlich keinen Sinn zu sagen,

92Zurcher Bibel [28]: Mt 8,12 ; 13,42.50 ; 22,13 ; 24,51 ; 23,50 ; Lk 13,28. Damit wird der Bereich außer-halb des Hauses, bzw. des Konigsreichs Gottes bezeichnet.

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dass man ins Reich Gottes einziehen solle, weil Gott Guten und Schlechten gleicher-maßen Gutes und Schlechtes zukommen lasse. Sinnvoller ist es anzunehmen, dass dasbegrundet, wieso man Gegener wertschatzen und fur Jager beten solle. Weil Gottkeine Unterschiede mache, solle man selbst auch keinen Unterschied zwischen denMenschen machen, also Freund wie Feind gleichermaßen Gutes zukommen lassen –die negative Moglichkeit, beiden gleichermaßen Schlechtes zu tun, wird wohl fur denMenschen bewußt ausgespart –. Jedoch folgt aus einem Handeln Gottes keineswegsselbstverstandlich, was Menschen zu tun haben. Erst, wenn gesagt ist, dass man sichseines Vaters wurdig erweisen muss, um als Sohn in seinem Hause aufgenommen zuwerden, greift eine solche Begrundung. Der erste Kausalsatz muss folglich nach demFinalsatz stehen, damit er uberhaupt Logik gewinnt, auch wenn er ein ubergeordnetesVerhalten untermauert. Die begrundende Fragekette V. 46.47 hangt ihrerseits logischvom vorausgehenden, o.g. Kausalsatz ab. Wenn Gott keine Unterschiede zwischen denMenschen macht, und dem Textmenschen am Berg gesagt wird, dass er sich Gotteswurdig erweisen muss, um in sein Reich zu kommen, dann stellt sich zwangslaufigdie Frage, was denn geschahe, wenn man nicht so wie Gott, sondern so wie unterMenschen ublich handelte. Die Frage wird nur implizit in einer weiteren Frage beant-wortet: Man bleibt im Menschlichen haften, man ist nicht anders als Steuerpachterund Heiden. Unter Berucksichtung dieser Logikkette vom Finalsatz uber den erstenKausalsatz begrundet die Fragenkette ihrerseits, wieso man den Gegner wertschatzenund fur den Jager beten solle. Wahrend also der Finalsatz und die beiden Kausal-konstruktionen alle auf gleicher Textebene stehen, d.h. alle den gleichen Satz in V. 44begrunden, sind sie logisch vom jeweils vorangegangenen abhangig. Die Spannungzwischen Grammatik und Inhalt signalisiert diese doppelte Linie.

Matthaus 5,48 tragt keine grammatischen Signale, dass er zu Mt 5,43-47 gehort.Genau wie Mt 5,42 ist er beim Lesen ein Stolperstein. So erregt er erste Aufmerksam-keit. Dann bekommt er durch die verstarkende Partikel oÞn Nachdruck. <UmeØ legtnoch eins oben drauf, denn der Nominativ der ersten und zweiten Person des Perso-nalpronomens ist immer eine Betonung. Durch sein erstes und letztes Wort, jeweilseine Form von eÊm� wird der Vers in sich abgekapselt. Vollkommen ist auch doppelt.Dann ist V. 48 auch noch der Endpunkt des gesamten Ihr-Habt-Gehort-Dass-Gesagt-Wurde-Zyklusses. Der Satz ist gleichsam in roten Kapitalchen, unterstrichen und mitdrei Ausrufezeichen geschrieben. Inhaltlich ist er zwar auch an den Zwang zum Gleich-tun wie Gott gebunden, aber die grammatische Konstruktion lost den Vers ab. Ichvermute, dass er nicht nur die letzte These beschließt, sondern als Ende und Ziel desgesamten Zyklusses gedacht ist.

Eine Korrespondenz zwischen Grammatik und Inhalt findet sich in ÍmeØ . Inhaltlichwird das Verhalten gegenuber Freund und Feind, und die Aussicht auf einen Platz inGottes Haushalt durch die Familienstruktur mit Gott als Vater begrundet. Familienließen aber kein Individuum zu. Es ist nicht moglich, im Rahmen der Familie jedemeinzelnen individuelle Aufgaben aufzuerlegen. Wo von Familien gesprochen wurde, damusste eben auch vom Plural der Mitglieder geredet werden. Deshalb unterscheidetsich Mt 5,43-48 mit seinem Plural vom intensiv ansprechenden, individuellen Singularin Mt 5,38-42. Auffallig ist die ganz deutliche Anrede der Gemeinschaft im letzten

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Vers durch den Nominativ. Dort gibt es kein Ausweichen, sondern man wird mitallen anderen, potentiellen Familienmitgliedern dingfest gemacht.

Die Aspekte und das Futur benotigen ebenfalls Aufmerksamkeit. Das Futur wirdan vier Stellen gebraucht, namlich zweimal in der Einleitung des Themas, V. 43 undjeweils einmal im Finalsatz V. 45 und im Schlusssatz V. 48. Im ersten Vers wird zuerstdie Septuaginta zitiert. Davon sprachlich abhangig durfte das Futur des Scheinzitatsgebildet sein. Beides ist ubrigens 2. Pers. Sg. Die Septuaginta ubernimmt die he-braische Praformativkonjugation (PK) einheitlich mit Futur ins Griechische.93 Es istm.E. kein Zufall, dass Futur und Imperativ im Hebraischen i.d.R. untrennbar sind.Der Zukunft haftet quasi etwas Gebietendes an, und ein Imperativ kann die Zukunftgestalten. Es wird aber auch deutlich, dass ein hebraischer Imperativ sowenig festge-legt ist wie die Zukunft. Das Griechische, wie auch das Deutsche, unterscheiden sehrgenau, was Futur und was Befehl ist, obwohl beide in Sonderfallen die Moglichkeithaben, ein Futur fur einen absoluten Befehl zu setzen. Das Hebraische greift fur die-sen Fall auf die Afformativkonjugation zuruck. So wird ein Befehl als unumstoßlicheTatsache dargestellt, quasi als bereits geschehene Zukunft. In V. 43 kann wegen derindirekten Abhangigkeit vom hebraischen Aspektgebrauch gleichermaßen Futur oderImperativ Prasens fur die deutsche Ubersetzung unterstutzt werden. Ich belasse dasFutur, um den Originalton nachzuahmen, ohne jedoch dazu gezwungen zu sein. Aberweder in V. 45 noch in V. 48 ist das Futur von der Septuaginta, und deshalb auchnicht vom hebraischen Aspektgebrauch abhangig. Matthaus hat es jeweils aus freienStucken gesetzt. Da er sehr wohl Imperative bilden kann, glaube ich, dass die Futurabewusste Signale sind. Befehle konnen ausgefuhrt werden oder nicht, die Zukunft wirdjedoch geschehen. Imperative und imperativische Ersatzkonstruktionen sind daher imDeutschen unangemessen. Ich sage dies in Hinblick darauf, dass insbesondere das letz-te Futur gerne imperativisch wiedergegeben wird. Unabhangig davon, ob es sich inV. 45 und V. 48 um absolute Befehle handelt, oder um echte Futura, ist im Deut-schen nur die Wiedergabe als Futur angemessen. Es hat in diesem Fall die gleichenFunktionen wie im Griechischen. Verstanden als absolute Befehle ware damit unaus-weichlich bestimmt, dass sich die Textmenschen am Berg zu Sohnen Gottes entwickelnund vollendet wie er sein mussen. Ein absoluter Befehl macht Widerrede entwederunmoglich, oder es gibt sehr starke Sanktionen um ihn durchzusetzen, wenn ihmnicht umgehend Folge geleistet wird. Hier lage eine Friss-Vogel-Oder-Stirb-Sanktionvor: Wer nicht in die Familie Gottes eintritt und ihm gleich wird, der schließt sichselbst unwiderruflich aus dem Reich Gottes aus. Wenn die Futura V. 45 und V. 48 je-doch jeweils als Futura verstanden werden, dann klingen die Verse wie Verheißungen.Der Abschnitt Mt 5,43-48 zeigte dann den direkten Weg zur Erfullung der Verheißungauf. Aber selbst bei menschlichem Versagen bliebe Gott immer noch die Moglichkeit,sie auf anderem Wege zu verwirklichen.

Theologisch weniger brisant sind die Aoriste und Prasentia. Zwei der vier Aoristestehen wieder als Feststellungen in der Eingangsphrase, die den Zyklus signalisiert:

”Ihr habt gehort, dass gesagt wurde“. Die beiden anderen gehoren in die V. 46 und

93Siehe auf Seite 21.

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47. Auch dort markieren sie jeweils ein typisches, zeitunabhangiges Verhalten: Es isteinfach so, dass Menschen die Wertschatzenden wertschatzen und die Bruder gernhaben94. Die hohe Anzahl der Prasensformen vermittelt zunachst den Eindruck, dassin der Perikope sehr viel gerade im Gange ist. Sie beschaftigt sich wenig mit Fak-ten und wenig mit der Zukunft, sondern mit aktuellem Geschehen. Interessant istdas Prasens des Partizips die Jagenden, weil es auf eine jederzeit erfahrbare Wirk-lichkeit hindeutet.95 Von den Textmenschen am Berg wird angenommen, dass sieverfolgt werden. Genau in dieser prasenten Situation sollen sie fur die Jager beten.Auffalligerweise wird nicht ein unabhangiger Imperativ Aorist gebraucht, sondern einImperativ Prasens. Er ist an die konkrete Situation gebunden und nur in ihr wirk-sam. Zudem soll es genau zu dem Zeitpunkt des Horens geschehen: Betet jetzt furdie, die euch jagen! Daraus lasst sich ohne weiteres keine Aufforderung zu einem all-gemeinen Verhalten gegenuber militarischer oder sozialer Gewalt ableiten. Ahnlich,aber nicht identisch sieht es bei der Aufforderung, die Gegner wertzuschatzen aus: Dakeine konkrete sondern eine allgemeine Situation vorliegt, es wird schlicht von Geg-nern gesprochen, ist der prasentische Imperativ nicht so situationsgebunden. Erhaltenbleibt der aktive Vollzug des Befehls: Schatzt eure Gegner jetzt wert! Dabei ist jedemTextmenschen am Berg unterstellt, dass er Gegener hat, denn ansonsten konnte keinBefehl der auf augenblicklichen Vollzug aus ist, gegeben werden. Darin unterscheidetsich die Antwort Jesu in der Art deutlich von seiner Antwort in Mt 5,39. Dort wurdeeine allgemeine, zeit- und situationslose Handlungsanweisung ausgegeben. Aber eswar auch nicht damit zu rechnen, dass die Textmenschen aktuell mit einem Verbre-cher konfrontiert sind. In Mt 5,44 liegen dagegen offensichtlich aktuelle Situationenvor, auf die eine sofortige, andauernde Reaktion geboten ist. Bis auf drei gehen auchdie anderen Prasentia auf den jeweils konkreten Handlungsvollzug der Textmenschenam Berg ein. Im Text werden sie auf diese Weise unmittelbar angesprochen. DasPrasens hat hier also in etwa die Funktion, welche die 2. Sg. des Personalpronomensin Mt 5,38-42 hatte. Die drei verbleibenden drucken Handlungen Gottes, bzw. seinSein aus. Damit bricht Gott in die Sphare der Menschen ein. Er ist nicht irgendwoabstrakt. Sein Handeln ist nicht zeit- und situationslos erhaben uber die Menschen,und letzten Endes den Menschen dann auch egal. Er wirkt fur die Textmenschenam Berg hier und genau jetzt. Ebenso ist er genau im Moment des Ausspruchs voll-kommen, vor allem aber ist er. So wird den Horern die Chance genommen, Gott zuumgehen und in die entfernte, abstrakte Schaltzentrale der Welt wegzudenken.

94Selbst da, wo sich Geschwister nicht leiden konnen, besteht hoffentlich das Idealbild, dass sie sichgern haben sollten.

95Wenn man Textarchaologie betreiben wollte, hatte man hier einen Ansatzpunkt zu sagen, dass diesePerikope erst ab ca. der Mitte des ersten Jahrhunderts entstanden sein konne, denn vorher seidie allgemeine, prasentische Erfahrung des Gejagt werdens gar nicht vorhanden. Dazu muss manvoraussetzen, dass erst Christen verfolgt wurden und die Israeliten in ihrem Land ein ruhigesLeben fuhren konnten. Nahme man jedoch an, es hatte immer wieder einmal ernste Konfliktezwischen Juden und der romischen Besatzungsmacht oder den Poleis, in denen sie lebten, gegeben,dann brache eine solche Argumentation zusammen.

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3.7. Handlungen

3.7. Handlungen

Die Untersuchung der Handlungen verteile ich auf die Untersuchung der physischenHandlung und der sprachlichen Handlung. Dazu muss ich davon ausgehen, dass auchmit Sprache gehandelt wird, bzw. dass durch Sprache physische Handlungen veran-lasst werden.

Handlung bedarf der Handelnden. Diese sind bereits von der Einleitung der Ber-glehre vorgegeben: Jesus, seine Junger und die Menschenmenge96. Da sich an dieserKonstellation wahrend der Berglehre nichts andert, sind sie in allen Texten innerhalbder Berglehre vorauszusetzen.

Die grundsatzliche Handlungssituation ist ebenfalls von der Einleitung Mt 5,1-2 hervorgegeben: Jesus sitzt auf einem Berg und lehrt, indem er spricht – das muss deshalbdazu gesagt werden, weil ja auch andere padagogische Konzepte, insbesondere heu-te, denkbar waren. Seine Junger sind an ihn herangetreten; was die Menschenmengemacht, wird nicht erwahnt. Diese Basissituation wird erst in Mt 7,28-8,1 wieder auf-gelost, indem erstens die Menschenmenge erstaunt reagiert und zweitens Jesus denBerg verlasst, gefolgt von der Menschenmenge. Die grundlegende Handlung zwischenden drei genannten Gruppen ist also hochst statisch, ein von nichts unterbrochenerMonolog, der von Jesus ausgeht. Was die Menschenmenge macht ist bis zum Endehin nicht erwahnenswert, lediglich die Junger durfen noch an Jesus herantreten, bevorauch die Handlungssignale von ihnen ausbleiben. Damit ist das Gefalle klar: Jesus,und nur Jesus und niemand anderes als Jesus hat etwas zu sagen. Wie die Jungeroder gar die Menschenmenge darauf reagieren, welche Anfragen sie haben, welcheKritik laut wird, ist vollkommen egal, absolut nicht erwahnenswert. Dies wird auchim Anschluss der Rede nicht nachgeholt. Auf diese Weise erhalt sie uneingeschrankte,weil vollkommen unangefochtene Gultigkeit, wie sie eigentlich nur einer OffenbarungGottes gebuhrt. Was sich in der Art des Sprechens fur die gesamte Berglehre zeigt,fangt in Mt 7,29 die Reaktion der Zuhorer am Berg ein: Sie erstaunten,

”denn er lehrte

sie wie einer, der Gewalt hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten.“ [28] Des Weiterenscheint eine andachtige Stille zu herrschen, was jedoch bei einer aus allen Teilen desLandes zusammengekommen Menschenmenge immerhin unwahrscheinlich ist.

Wenn uber drei Kapitel hinweg monologisiert wird, dann ist zumindest von derSprechaktanalyse zu erwarten, dass sie Auskunft uber die Art des Monologs gibt.Die Wirkung im Großen habe ich bereits genannt, im Detail ist zu erwarten, dassdie Untersuchung verdeutlicht, was in den einzelnen Textabschnitten des Monologsgeschieht. Ich betrachte nur die Perikopen Mt 5,38-42.43-48 unter dieser Lupe.

Wichtig ist die Relation des Gesagten zur Tat. Das einzige, was von der Zuhorer-schaft am Berg folgt, ist das Erstaunen. Gleich darauf kommen Jesu Wunder undder Fortgang seiner Geschichte. Keine Reaktion, keine Notiz das irgendetwas von denTextmenschen am Berg aus der Rede umgesetzt worden ware. Die Rechnung bleibtoffen.

96Wohlgemerkt Menschenmenge, nicht Pharisaer- oder Schriftgelehrtenmenge. Die Menschenmengeist unbestimmt, nicht auf einen irgendwie gearteten geistlichen Stand eingegrenzt.

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3. Exegese

Fur eine Handlung ist auch der Ort bedeutend, an dem gehandelt wird. Jesus sitztauf dem Berg, wo er mit der Autoritat Gottes offenbart. Der bestimmte Artikel fuhrtin die Irre, denn wir wissen nichts weiter von dem Berg, und es gibt jede Menge davonin Galilaa, wo sich Jesus nach Mt 4,23ff. gerade befand. Trotzdem setzt Matthaus denbestimmten Artikel, als gabe es nur einen Berg, der gemeint sein konnte. Ein Schalk,wer da nicht an den Sinai und die Sinaioffenbarung denkt. Die Parallelitat zwischenden beiden Ereignissen geht soweit ins Detail, dass in einer Reihe der Antithesen dieSinaioffenbarung neu mitgeteilt wird, und das wohlgemerkt mit einer Stimme, dieGott gebuhrt!

3.7.1. Mt 5,38-42

Die Personen des Textes sind zuerst einmal Jesus und seine Zuhorer. Letztere taucheninnerhalb der Perikope wieder im direkt angesprochenen

”Du“ auf. Dazu kommen die

Verbrecher, der Fordernde und der Geld-Leihen-Wollende. Im Rahmen der Phrasen-einleitung ist noch der unbekannte Sprecher, der das alttestamentliche Zitat vorlegt– letztendlich ist es freilich Gott, von dem das Gebot stammt.

3.7.1.1. Handlungsanalyse

Im alttestamentlichen Zitat”Ein Auge fur ein Auge und einen Zahn fur einen Zahn“

gibt es keine direkt Handelnden. Dennoch ist klar, dass indirekt durchaus Personentatig sind, namlich ein Beschadigter/ Klager gegen einen Beschadiger/ Angeklagten.Das Zitat bezieht sich auf eine Gegebenheit, in der jemand bereits auf irgendeineWeise verletzt wurde oder anders zu Schaden gekommen ist, so dass ein Ausgleicheingefordert werden kann.

Dem steht gegenuber, dass dem Verbrecher nicht widerstanden werden soll. Hand-lung und Person sind Teil des Sprechakts des matthaischen Jesu, also so wenig kon-kret wie Klager und Angeklagter im alttestamentlichen Zitat. Der Ansatzpunkt desSprechakts liegt in der logischen Reihenfolge der Ereignisse vor dem einleitendenalttestamentlichen Gesetz. Das heißt, es ist noch niemand zu Schaden gekommen.Folglich kann auch noch niemand einen Ausgleichsanspruch geltend machen. Wennich spitzfindig bin, dann zeigt die Handlungsanlyse auf dieser Ebene, dass die Ant-wort Jesu keine Antwort auf die alttestamentliche Offenbarung ist. Deshalb kann siejene auch nicht außer Kraft setzen, relativieren oder sonstwie ankratzen. Trotzdembezieht Matthaus die jesuanische Offenbarung auf die gottliche. Es muss also einenZusammenhang geben, aber die Verhaltnisbestimmung zwischen beiden Offenbarun-gen ist schwierig [31, vgl. S. 297]. Ich gehe davon aus, dass der Bezugspunkt nicht diekonkrete Handlung ist, sondern der Sinn, der in der alttestamentlichen Offenbarungliegt.97 Dafur spricht erstens, dass ich oben uberhaupt erst die Situation des Gesetzes

97S. F. Williams Jr. kommt uber die Annahme, dass es sich bei Mt 5,43-48 um ein Gedicht handle zueinem ahnlichen Schluss: ”The purpose of the poetry, then, is not to establish a new law – [. . . ]– but to point through the law to the very intention of God.”[50, S. 389] Williams setzt dabeistillschweigend voraus, dass die Absicht des alttestamentlichen Gesetzes die Absicht Gottes sei,

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3.7. Handlungen

eintragen musste. Eigentlich ist aber das Zitat davon frei, so dass signalisiert wird,dass es nicht auf die Handlung als solche ankommt. Wenn der Sinn des Gesetzesware, das Verbrechen durch Abschreckung im Vorfeld abzufangen und somit abzu-schaffen, gabe es einen Vergleichspunkt zum Gebot Jesu. Falls man namlich nach ihmhandelte, wurde die Kategorie des Verbrechens geloscht. Das heißt, das Jesus einenWeg aufzeigte, wie man sich des Verbrechens entledigen kann. Genau darauf zieltauch das alttestamentliche Gesetz. Dieser Gedanke ware eine Weiterentwicklung vonDtn 19,15ff. Diese Logik ist zugegebener Maßen abenteuerlich, aber in sich stimmig:Kannst du den Verbrecher nicht ausrotten, sage einfach, dass er kein Verbrecher ist;rechtfertige ihn. Da das alttestamentliche Gesetz gar nicht auf seine Anwendung hinangelegt sei, gibt es auch kein Problem damit, dass es nicht mehr konkret angewandtwerden kann, wenn es per definitionem keine Verbrecher mehr gibt.98

Die Verse 39b-42 bleiben im vorgelegten Schema der Einleitung V. 38-39a: Einerkonkreten Handlung steht immer ein Sprechakt gegenuber. Daraus folgt, dass dererste Teil der Ersatzhandlungen jeweils im Denken des alttestamentlichen Zitats ver-ankert ist, wahrend der zweite Teil, der Sprechakt, auf Jesu Gebot zielt. Damit wirdwiederum der logische Zusammenhalt der Verse miteinander gewahrleistet.

In Vers 39b und V. 41 ist jeweils der Wer-Auch-Immer Handlungstrager. In V. 39bubt er massive, physische Gewalt aus. In V. 41 droht der Staat seine Gewalt einzu-setzen. Dazwischen, in V. 40, hat jemand den Willen gefasst, die rechtliche Gewalt zuentfesseln. Betroffen ist jeweils der Textmensch am Berg, und zwar ganz personlich,wie die 2. Pers. Sg. zeigt. In allen drei Fallen ist aber noch kein Schaden entstanden,oder besser, er ist gerade dabei zu entstehen. Daher kommt an keinem Punkt dieausgleichende Gerechtigkeit zum Zug. Die Situation liegt in der Reihenfolge der Er-eignisse jeweils vor der Anwendbarkeit rechtlicher Mittel. Im Ansatzpunkt stimmensie dadurch mit dem Gebot Jesu uberein, signalisieren aber durch konkret vorliegendeHandlungen, dass es sich um Beispiele handeln muss.99 Dieses Ergebnis verbindet sichmit dem der

”Grammatischen Semantik“.

Wenn die jeweils anschließenden Sprechakte Wirkung zeigten, dann handelten dieBetroffen, also die Textmenschen am Berg, so dass sie sich nicht nur nicht wehren,sondern den Verbrecher aktiv in seiner Tatigkeit unterstutzten. Indem die Opfer nichtnur passiv bleiben, sondern sogar aktiv mehr geben als in der Situation notig ware,heißen sie das Vorgehen des Verbrechers gut. Der Verbrecher hat also ein Recht zu tun,was er tut, er verdient darin sogar noch Verstarkung. Wenn er aber ein Recht dazuhat, dann kann er kein Verbrecher mehr sein, denn als solcher hatte er ja Unrecht.

dass also die altestamentlichen Gesetze wirklich von Gott offenbart worden sein mussten. WilliamsAnnahme, es handele sich bei Mt 5,43-48 um ein Gedicht, ist m.E. nicht nur auf jene Perikopeeinzugrenzen, wenn er Recht hat, sondern mindestens auf die ganzen Antithesen auszudehnen.Jedoch stehen sie nicht im Blick seiner Untersuchung.

98Man kann also sagen, dass selbst diese Antithese noch das Gesetz erfullt [31, Antwort auf LuzFrage S. 297].

99Luz kommt zu einem ahnlichen Ergebnis:”Deutlich ist auch, daß Jesu Forderungen mehr wollen,

als sie konkret verlangen: Die drei Beispiele verdeutlichen ≫brennpunktartig≪, was Jesus fur einenviel weiteren Bereich des Lebens meint. Sie sind gleichsam verdichtete Bilder fur ein Verhalten,das es in allen Bereichen des Lebens zu entdecken und zu verwirklichen gilt.“ [31, S. 295].

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3. Exegese

Es ist m.E. wichtig im Auge zu behalten, dass die Zuhorer am Berg jeweils ganzpersonlich die Opfer sind. Die Logik spricht nicht von einem Verhalten, wenn einVerbrecher auf andere losgeht!

Vers 42 ist etwas anders gebaut. Der Betroffene ist weiterhin jeder einzelne Text-mensch am Berg. Fordern in V. 42a ist zudem auch eine Form, mit der Gewalt aus-geubt wird, wobei sie auf dem Ubergang zur verbalen Gewalt, also zum Sprechaktsteht. Der Unterschied in V. 42a liegt in der Situation. In ihr konnte die ausgleichen-de Gesetzgebung tatsachlich greifen. Denn wenn jemand den Ausgleich von Schuldeneinfordert, dann liegen i.d.R. auch Schulden vor. In V. 42b ist ebenfalls die Situationeine andere, denn es wird keine Gewalt ausgeubt. Wer Geld leihen will, kann keineGewalt ausuben – ansonsten musste man von stehlen, erpressen oder rauben spre-chen. Vielmehr dreht sich das Machtverhaltnis um. Die Angesprochenen am Berg sindnun in der Situation der Starkeren. Wenn ich davon ausgehe, dass die Sprechakte ihrGegenstuck in der Durchfuhrung der Anleitung finden, dann zeigt sich auch darin,dass anders gehandelt wird als in V. 39b-41: Die Handlungen fullen nur genau dasaus, was gefordert, bzw. erbeten wird; es gibt keine Ubersteigerung. Womoglich han-delt es sich dabei um einen Schutzmechanismus im Rahmen des Geldleihens: Wurdeeine Ubersteigerung gefordert, so konnte der Fordernde auf satte Zinsen hoffen, derLeihen-Wollende geriete dagegen in die Falle, mehr zu bekommen als er sich leistenkann. Das System geriete folglich aus dem Gleichgewicht. Daraus ein Verbot der Zin-sen zu schließen, geht m.E. etwas zu weit, aber der Schuldner scheint zumindest nichtin die Pflicht genommen zu sein, mehr zu zahlen als notwendig. Auf diesem anderenWeg der Interpretation wird wieder deutlich, dass es sich bei den Urhebern der Situa-tion wirklich nicht um Verbrecher handelt. Es ist namlich nicht notig, ihr Verhaltenzu legitimieren und sie somit aus dem Kontext des Verbrechens zu nehmen. Vielmehrscheint ihr Verhalten von sich aus gerechtfertigt zu sein.

Ich habe bislang dargestellt, was passierte, wenn jemand die Sprechakte in Tatenumsetzte. Jedoch gibt es innerhalb des Matthaus keinen Hinweis darauf, dass irgend-jemand sie verwirklicht hat. Das ist ein Textsignal, das einerseits Jesus machtloserscheinen lasst und andererseits verdeutlicht, dass die Textmenschen am Berg nichtverstanden haben.

3.7.1.2. Sprechaktanalyse

Da die gesamte Perikope ein Ausschnitt aus einer Rede ist, unterliegt sie als GanzesSprechakten. Eroffnet wird sie, wie die anderen

”Antithesen“ auch, mit einem Re-

prasentativ.100 Es ist dem Reprasentativ zu eigen, dass die Aussage wahr oder falschsein kann, aber dass der Sprecher, Jesus, in diesem Augenblick davon aussgeht, dasssie wahr ist.

Darauf regnen acht Direktive auf die Textmenschen herab. Direktive haben zumZiel, den Angesprochenen zu einer Handlung zu bringen, die der Sprecher wunscht[24, S. 47.50f]. Eine weitere Unterteilung hangt von der Moglichkeit des Sprechers ab,seinen Wunsch durchzusetzen und ob er Nutzen daraus zieht.

100Zur Kategorisierung der Sprechakte siehe Hindelang [24, Kap. 4].

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3.7. Handlungen

Sechs der Direktive richtet Jesus direkt an jeden einzelnen seiner Zuhorer am Berg.Jedoch scheint er keine Druckmittel zu haben, sie dazu zu zwingen, ihm Folge zu leis-ten. Weder kann er sich auf ein Gesetz berufen, das ihm die notige Durchsetzungskraftgabe, noch hat er anders geartete Mittel zur Hand, seine Horer zum Gehorsam zuzwingen. Das zeigt sich letztlich auch darin, dass es im weiteren Verlauf des Matthaus-evangeliums keinen Vermerk gibt, dass irgendjemand den Anweisungen der Berglehreim Ganzen oder Mt 5,38-42 im Speziellen gefolgt sei. Die Direktive sind also nicht bin-dend [24, S. 56-59]. Vielmehr handelt es sich um Anleitungen. Das sind nicht-bindendeDirektive, in denen der Sprecher dem Empfanger Instruktionen gibt, sich in einer Si-tuation richtig zu verhalten, ohne selbst einen Nutzen daraus zu ziehen [24, S. 60]. Inden Beispielen Mt 5,39b.40.41.42a.42b ist dies offensichtlich. Die Situationen werdenvorgegeben, das Direktiv ist ein Imperativ – eine Durchsetzungsmoglichkeit gibt eswie gesagt nicht –. Es zeigt, wie sich jeder einzelne Horer in dieser Situation richtigverhalten soll – dass die Situationen wechseln konnen, solange sie im Thema der aus-gleichenden Gesetzgebung bleiben wird dadurch nicht zuruckgenommen –. Nur daserste Direktiv, die Offenbarung Jesu, entbehrt auf den ersten Blick einer Situation,in der es zum richtigen Verhalten leiten will. Es gibt sie aber, namlich in Mt 5,17-20,genauer in Mt 5,18-20: Mit der Formel �m�n g�r lègw ÍmØn deklariert Jesus, dass dasGesetz bis zum Weltuntergang unantastbar sei und welche Auswirkung ein richtigesoder falsches Verhalten in Bezug dazu habe: Es geht um nichts Geringeres als um dieStellung im Himmelreich und uberhaupt um den Einlass dort hinein. Mt 5,38-42 klartdie Frage, wie man sich im Bereich der ausgleichenden Gesetzgebung so verhalt, dassman ins Reich der Himmel kommt, bzw. eine gute Stellung darin erhalt. Auch dieandere Voraussetzung fur eine Anleitung, dass namlich der Sprecher keinen Nutzendaraus ziehe, ist erfullt. Denn nirgendwo wird berichtet, dass Jesus einen Nutzen auseinem moglicherweise veranderten Verhalten seiner Zuhorer gezogen hat, und es lasstsich m.E. auch keiner erdichten.

Aus der Reihe der nicht bindenden Direktive lost sich V. 42. Wie ich unter der Hand-lungsanlyse zu diesem Vers schon sagte, steht das Fordern der Situationsvorgabe inV. 42a auf dem Ubergang zwischen Handlung und Sprechakt. Der Sprechakt kommtnur indirekt im substantivierten Partizip zum Tragen. Aus der Sicht der Sprechakt-analyse zeigt sich im bereits deutlich vorhandenen, handelnden Element, dass fordernin sich das Recht auf das Eingeforderte besitzt. Der Sprechakt richtet sich von Jesusvermittelt von einem Beispielsprecher an die Zuhorer. Dieser Sprecher außert eineForderung; das ist ein bindendes, berechtigtes Direktiv.101 Allerdings muss beachtetwerden, dass dieses Direktiv auf einer anderen Ebene als die Anleitungen der V. 39-40.42aβ.42bβ liegt, weil es die Situation fur Jesu Stellungnahme prasentiert, abernicht seine Anleitung ist. Was sich schon bei der Untersuchung der Konjunktionenzeigte, findet auch hier wieder seine Parallele: Indem in V. 42a die Ausgangssituati-on keine konkrete Handlung ist, sondern auf der Schneide zwischen Handlung undSprechakt balanciert, wird der Vers von der Perikope abgesetzt, und ist doch mitihr in Jesu Sprechakt der Anleitung verbunden. So fuhrt auch die Sprechaktanalyse

101Zu dieser Kategorie: Hindelang [24, S. 57].

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3. Exegese

zu dem Schluss, dass der letzte Vers durch seine angebundene Abgrenzung im The-menkomplex der vergeltendenden Gesetzgebung betont wird und es sich deshalb umein wichtiges Thema handeln muss. In V. 42b wiederholt sich die Beobachtung zuV. 42a, nur dass das Direktiv der Ausgangssituation eine symmetrische Bitte ist.102

Der Sprecher konnte seinerseits selbst in die Situation des Bittstellers kommen, so wieder Leihen-Wollende seinerseits die Position des Gebers einnehmen konnte. Bei Bittenkommt noch die subjektive Kategorie der

”Große“ hinzu. Sie hangt von der Beziehung

zwischen den Sprechern und dem Inhalt der Bitte ab [24, S. 65f]. Da der Text keinenAnhalt fur die Beziehung zwischen Leihen-Wollendem und Geber enthalt und wir nurwissen, dass es um Geld geht, nicht aber um welche Summe, wird die

”Große“ der

Bitte freigestellt. So allgemein, wie es V. 42b formuliert, ist die gesamte Spannbreiteder Bitte abgedeckt, d.h. kleine Summen an nahe Verwandte und Freunde fangt derVers genauso ein wie große Summen an vollig Fremde.

Die Textmenschen haben keine weitere Aufgabe als zuzuhoren. Von ihnen kommtkeine direkte Außerung, weder eine unmittelbare Handlung noch irgendeine sprach-liche Reaktion. Was Matthaus mit dem Munde Jesu ausrichten lasst, wird nicht dis-kutiert oder in Frage gestellt. Es steht absolut.

3.7.2. Mt 5, 43-48

In Mt 5,43-48 treten eine ganze Reihe moglicher Handlungstrager auf: Die Gegner,Jager, Verbrecher, Unrechtschaffenen, Steuerpachter, Heiden, der Vater, die Sohne,Bruder, Nahestehenden, Ehrenmanner, Rechtschaffenen, die Wertschatzenden und dieangesprochenen Ihr. Uber dieser Ebene stehen Jesus, seine Junger und die Menschen-menge. Dabei handelt Jesus, indem er spricht. Die Masse findet ihren Niederschlagim erwahnten ihr.

3.7.2.1. Handlungsanalyse

Die Perikope Mt 5,43-47.48 hat zwei Handlungsquellen, namlich die Angesprochenenam Berg und Gott. Von Gott werden die Rechtschaffenen, Unrechtschaffenen, Ver-brecher und Ehrenmanner gleich behandelt. seine Handlungsweise wird zum Vorbildgenommen. Die angesprochenen Ihr gehen nur mit den Wertschatzenden und denBrudern positiv um. Darin gleichen sie den Steuerpachtern und Heiden, die ebenfallsnur die Wertschatzenden und Bruder jeweils positiv behandeln. Die Gleichung ordnetalso die Angesprochenen wegen ihrer aktuellen Handlungsweise den Gottfernen unter.Durch die Imperative wird der Menschenmenge am Berg eine weitere Handlungsstra-tegie eroffnet: Auch die Gegner wertschatzen und fur die Jagenden beten. Wenn dieaktuelle Handlungsweise der Textmenschen um die von den Imperativen gefordertenTaten erganzt wird, deckt sie sich mit dem Handlungsmuster Gottes. Die Gleichungzu den Gottfernen wird aufgehoben und in eine Gleichung zu Gottes Handeln um-gewandelt. Dadurch entwickelt man sich zum Kind Gottes und zieht in sein Hausein.

102Zur Kategorie: Hindelang [24, S. 65f].

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3.7. Handlungen

In V. 43 werden zwei Handlungsweisen zumindest als bekannt angenommen: DenNahestehenden wertschatzen und den Gegner verabscheuen. Ab V. 44 wird jedoch keindirekter Bezug zum ersten Tun mehr hergestellt. V. 44-47 geht vor allem gegen denAbscheu vor dem Gegner. Dadurch bleibt die erste Handlung in vollem Recht erhalten.Das Muster, den Nahestehenden wertzuschatzen, wird auf die Gegner ubertragen.Auf diese Weise wird erklart, wer eigentlich alles mit den Nahestehenden gemeint ist,namlich nicht nur Verwandte, Freunde und Volksgenossen, sondern alle Menschen,mit denen man in irgendeiner Form Kontakt hat.

3.7.2.2. Sprechaktanalyse

Zunachst halte ich fest, dass in Mt 5,43-48 nur Jesus spricht. Das gilt zwar sowiesoauf der ubergeordneten Ebene der Berglehre, aber es gab z.B. in Mt 5,42 auch einenSprechakt im Sprechakt. Hier ist das nicht so. Jesus ist der alleinige Sprecher.

Es wird wieder mit dem typischen Reprasentativ dieses Phrasenzyklusses begonnen:Ihr habt gehort, dass gesagt wurde. Vorausgesetzt wird, dass die Textmenschen amBerg sowohl mit dem Septuagintazitat, den Nahestehenden wertzuschatzen, als auchmit dem Pseudozitat, den Gegner zu verabscheuen, vertraut sind.

Darauf folgen in V. 44 analog zur Struktur der vorhergehenden Perikope zwei nichtbindende Direktive als Antwort auf die Vorgabe des V. 43. Sie sind auch hier alsAnleitungen zu verstehen. Die vorgegebene Situation ist der Bereich menschlicherInteraktion, die wiederum im ubergeordneten Thema der Stellung, bzw. uberhauptdes Eintritts in das Konigreich des Himmels (Mt 5,20) eingebettet ist. Sie leiten dazuan, auch den Feind wertzuschatzen und fur den, von dem man gejagt wird, zu beten.

Ab V. 45 wird auf Uberzeugung gesetzt. V. 45 als solcher kann sowohl als Reprasen-tativ als auch als Direktiv verstanden werden. Wenn das Futur im Sinne einer Ver-heißung aufgefasst wird, dann sagt Jesus voraus, dass ein Verhalten gemaß der An-leitungen dazu fuhren wird, dass sich seine Zuhorer zu Kindern Gottes entwickelnwerden. Fur ihn ware das eine wahre Aussage. Sollte das Futur jedoch als absoluterImperativ verstanden werden, dann liegt ein berechtigtes, bindendes Direktiv vor: ei-ne Anordnung [24, S. 57]. Eine Anordnung setzt voraus, dass Jesus die entsprechendenSanktionsmittel zur Verfugung stehen, um seine Anordnung durchzudrucken. Jesusstellt die Menschen am Berg vor die Wahl, sich ins Reich der Himmel hineinzuhan-deln oder außen vor zu bleiben. Sein Druckmittel ist also eher indirekter Art. Zwarkann er damit die Horer nicht direkt dazu zwingen, zu tun, was er ihnen vorgibt,aber er stellt ihnen die unausweichliche Konsequenz ihres Handelns vor Augen. Sieist durch die Familienlogik begrundet. Die Doppelfragen V. 46.47 sind am ehesten alsDeklarationen zu verstehen. Die Fragen implizieren die Antworten, dass die Zuhorerkeinen anderen Lohn als die Steuerpachter haben und dass sie sich sozial nicht an-ders als Heiden verhalten. Sie werden zu Gottfernen erklart. Da es sich jedoch umFragen handelt, erklart nicht Jesus sie dazu, sondern lasst sie sich selbst schuldigsprechen. Die eigentliche Deklaration wird also von den Textmenschen erwartet, ob-wohl sie selbstverstandlich vom Sprecher angeregt wird. Darauf beschrankt sich aberdie sprachliche Handlung nicht. Mit dem selbstgefundenen Urteil beginnt eine Krise

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3. Exegese

fur die Horer, deren Ausweg nur zwei, bzw. drei Verse weiter oben steht. Auf hochstindirekte Weise fordert sie Jesus auf, sich an seine Anleitungen zu halten. In der Si-tuation, dass sich die Versammelten zu Gottfernen erklart haben, leitet Jesus sie an,seinen Anleitungen in V. 44 zu folgen. In V. 46.47 sind die Sprechakte Deklarationund Anleitung miteinander verschachtelt.

Je nachdem wie in V. 48 das Futur verstanden wird, handelt es sich entweder umein Reprasentativ, um eine Deklaration oder um ein Direktiv. Ist das Futur eineZukunft, die nicht weiter festgelegt ist, so ist sich Jesus zwar sicher, dass die Mengeunter ihm so vollkommen wie Gott sein wird, wenn sie sich gemaß seinen Anweisungenverhalt, aber Garantien gibt es nicht. Auf diese Weise wurde der Satz als Reprasen-tativ verstanden. Nun haften aber viele betonende Stilmittel am Vers, und dass dieMenschen vollkommen sein werden, wird durch eine eigene Partikel hervorgehoben.Deshalb kann man auch sagen, dass Jesus das zukunftige Sein der Leute am Bergausruft. Zwar fehlt eine zeitliche Eingrenzung, aber trotzdem wird fur die Zukunftdie Tatsache geschaffen, dass die Zuhorer am Berg vollkommen sein werden, wie Gottvollkommen ist. Diese Form des Sprechakts setzt ubrigens voraus, dass der Sprecherautorisiert ist, eine Deklaration vorzunehmen.103 Da es sich hier um den Einflussbe-reich Gottes handelt, musste Jesus von ihm mit entsprechenden Rechten eingesetztworden sein. Im theologischen Sprachgebrauch wurde man Verheißung sagen. WennJesu Anleitungen ganzlich umgesetzt werden, dann wird man unausweichlich so voll-kommen wie Gott. Ist man so vollkommen wie er, dann lebt man auch automatischim Reich des Himmels. Eine Verheißung dieser Art wiese den effizientesten Weg auf.Trotzdem bliebe noch Hoffnung auf Gott im Falle des Versagens. Wurde das Futur alsabsoluter Imperativ aufgefasst, lage ein Direktiv vor. Die Stellung des Verses 48, sei-ne vielen Betonungsmerkmale, der inhaltliche Gleichklang und die Wortverbindungenmachen mich glauben, dass er als Konzentrat mindestens von Mt 5,43-47, aber wahr-scheinlich aller

”Antithesen“ gedacht ist. Sie liefen alle auf die letzte, unumgehbare

Anordnung zu, so sein zu mussen wie Gott. Wer das nicht schafft, hat endgultig ver-loren, ist dort, wo Heulen und Zahneknirschen ist. Alle Wege zwischen Mensch, Gottund seinem Reich laufen nur uber die Umsetzung dieses einen einzigen, ultimativenBefehls. Fur diese Variante spricht auch, dass es ein passendes Ende ware, wenn eineReihe, in der Direktive zentral stehen, mit einem so massiven Direktiv geschlossenwurde.

3.8. Intertextualitat

Grundsatzlich musste eine intertextuelle Untersuchung alle literarischen Bezuge einesTextes auf andere Texte untersuchen. Das meint, dass sie sowohl nach vorhandenen(!)104 literarischen Quellen Ausschau halt, als auch parallele Texte vergleicht, sei-en sie abhangig oder unabhangig voneinander. Ihr Ziel ist es herauszuarbeiten, zu

103Vgl. Hindelang [24, S. 48].104Es ist wertlos, Abhangigkeiten zu nicht existenten Quellen, wie z.B. die imaginare Quelle Q, zu

behaupten, weil ich mir selbst erst solche Quellen zu eben diesem Gebrauch ausdenken muss.

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3.8. Intertextualitat

welcher Textsorte der Untersuchungsgestand gehort, wie und wozu er normalerwei-se eingesetzt wird und inwiefern es Sinnubernahmen oder neue Sinngebungen gibt.Im neutestamentlichen Kontext waren Texte des griechischen Umfelds, verschiede-ner Lehren torabasierter Religionsgruppen, verschiedener umgebender Religionen undauch innerhalb des Neuen Testaments zu untersuchen. Dazu gehort auch der bekanntesynoptische Vergleich. Weiterhin fragt die Intertextualitat auch nach Bezugen inner-halb einer Schrift. Sie sind nicht auf den Wortlaut festgelegt, sondern konnen durchgleiche Themen oder durch gleiche Worte entstehen. Die Intertextualitat fasst alsomehrere textvergleichende Arbeitsschritte mit der Untersuchung innertextlicher Be-zuge zusammen.

Ich verkurze diese Arbeit einerseits auf die offensichtlichen Abhangigkeiten derTexte vom Alten Testament, weil ich im AT die primare Quelle sehe. Genauer setzeich die vorrangige Verbindung zur Septuaginta, denn sie ist in der gleichen Sprachewie das Neue Testament geschrieben, und es erweist sich oft, dass alttestamentli-che Zitate aus ihr stammen. Zudem war die hebraische Bibel wegen ihrer Sprachenur Gelehrten zuganglich, denn die relevanten Alltagssprachen waren Griechisch undAramaisch. Verknupfungen zum hebraischen Text beachte ich nur durch die Septua-ginta vermittelt, soweit sich nicht anderes aufdrangt. Andererseits, frage ich vor allemnach vorgelagerten Textbezugen, weil nur die am Punkt der Perikope als schon be-kannt vorausgesetzt werden und bereits sinngebendes Material bei sich gefuhrt habenkonnen.105

3.8.1. Mt 5,38-42>Ofjalmän �ntÈ æfjalmoÜ kaÈ ædìnta �ntÈ ædìnto kommt im griechischen Alten Tes-tament an drei Stellen vor. Dabei wird das Gesetz jeweils fur unterschiedliche Fallegebraucht. In Ex 21,22-25 ist die Situation, dass eine Frau durch eine Prugelei un-ter Mannern eine Fehlgeburt erleidet. Von diesem Fall aus fuhren zwei Moglichkeitenweiter: Entsteht kein Schaden, soll der Verursacher ein Bußgeld bezahlen – d�dwmi106–, das vom Ehemann festgelegt wird. Entsteht ein Schaden, wird verletzungsgenauabgerechnet – d�dwmi. Lev 24,19-20 benutzt das Recht allgemeiner, indem die Situa-tion darin besteht, dass einer einem Schaden zufugt. Am Ende des Verses 20 wirdwieder verletzungsgenau abgerechnet – d�dwmi. Dtn 19,21 kennt den Missbrauch desGesetzes und verfugt, dass der, der mit Hilfe des Gesetzes jemandem schaden wollte,selbst die Strafe auferlegt bekommt, die er gegen den anderen erwirken wollte, bis hinzur Todesstrafe. Der Sinn des Gesetzes wird so definiert, dass der Bose, å ponhrì , tä105Diese Betrachtung folgt dem fortschreitenden Lesen. Daruber mag es noch eine andere Form ge-

ben, z.B. die in alttestamentlichen Texten ubliche Ringkomposition. Jedoch dienen ubergeordneteFormen m.E. selten dazu, einander Sinn zu geben, sondern die Aufmerksamkeit des Leser auf be-stimmte Textpassagen zu lenken. Im Beispiel der Ringkomposition wird das betont, was zwischenden gleichen Teilen liegt.

106Ebenso z.B. LXX: Ex 21,30.32.34.

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3. Exegeseponhrìn,107 zur Abschreckung moglicher Gleichgesinnter die volle Harte des Rechtszu spuren bekommt.

In Exodus und Leviticus ist klar, dass Gott die Gesetze verkundet. Im Deutero-nomium verschwimmt das etwas, trotzdem scheint auch dort Gott als Urheber derGesetze gedacht zu sein.

Vers 42b hat ebenfalls eine Verknupfung zum alttestamentlichen Gesetz. InDtn 15,7-11 geht es darum, dass einem armen Volksgenossen Geld geliehen werdensoll – d�neion danieØ –108 unabhangig davon, ob das Erlassjahr vor der Tur stehtund man so das Geliehene verlore oder nicht. Die Begrundung des Gesetzes ist, dassder Arme Gott gegen den Verweigerer der Gaben aufrufen kann. Dadurch geriete erin eine große Schuld. Das Gesetz wird also nicht positiv begrundet, sondern durchAbschreckung gefestigt. Die eigentliche Autoritat erhalt es von Gott.

Das Gesetz wird im Exodus und Leviticus von Gott jeweils offenbart, ohne dass ei-ne Begrundung dafur gegeben wird. Im Deuteronomium stehen zwar Begrundungen,aber nicht fur die Gesetze als solche, sondern dafur, warum man sich daran hal-ten, bzw. warum man sie nicht mißbrauchen sollte. Die Begrundungen beruhen aufAbschreckung. Die Gesetze beziehen ihre Autoritat von Gott her, nicht von einemmenschlichen Verstehen.

Die Antithesen folgen diesem Muster: Die Handlungsanweisungen werden gegebenund ebenfalls nicht begrundet. Auf diese Weise zeigt auch die Untersuchung der Inter-textualitat, dass die Antithesen eine Offenbarung sind. Weiterhin unterstreicht meineFeststellung, dass das âg¸ des Redners, Jesus, hier die Autoritat Gottes fur sich inAnspruch nimmt, weil zwar die Struktur gleich bleibt, aber das Subjekt von Gott zuJesus wechselt.

3.8.2. Mt 5,43-48

Von Mt 5,43 �gap sei tän plhs�on sou fuhrt der Weg in das Gesetzeskorpus Leviticus19 und umgebende Kapitel, wobei die Endung

”wie dich selbst“109 aus Lev 19,18 weg-

gelassen wurde. Weiterhin fehlt die Bekraftigung durch Gott,”ich bin der Herr“110.

In Lev 19,34 wird die Wendung variiert nochmals aufgenommen, jedoch mit Bezugauf Auslander. Der Auslander bekommt damit den gleichen Status wie der Naheste-hende. Ahnlich gelten die Gesetze aus Lev 18 nach Lev 18,26 sowohl fur Einheimischewie fur Auslander. Der Begriff des Nahestehenden wird so schon im alttestamentli-chen Kontext fur Menschen durchlassig, die nicht zur eigenen Verwandtschaft, zurFreundesgruppe oder zum eigenen Volk gehoren. In Mt 5,44-47 wird endgultig klarge-stellt, dass alle Menschen, mit denen man einen irgendwie gearteten Kontakt hat, zu

107LXX: Dtn 19,19. Die Frage, ob es maskulin oder neutral ist, kann m.E. nicht einfach von denhebraischen Schriften her entschieden werden, weil die Entfaltung der Bedeutung im griechischenSprachraum nicht nach der Bedeutung im Hebraischen fragt. Eine Ubersetzung produziert neuesVerstehen, das liegt in der Natur der Sache.

108LXX: Dtn 15,8: d�neion : Darlehen; danieØ : du wirst Geld leihen.109± seautìn110 >Eg¸ eÊmi kÔrio [39].

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3.8. Intertextualitat

den Nahestehenden gehoren. Grundsatzlich steht das nicht gegen die alttestamentli-che Vorgabe, geht aber auf der Wortebene daruber hinaus. Matthaus unterstellt mitJesus, dass der Sinn des Leviticusausschnitts schon immer darin bestanden habe, alleMenschen wertzuschatzen.

Ich finde es auffallig, dass die Offenbarung in Lev 19 mit sehr ahnlichen Wortenbeginnt, wie Mt 5,17-48 endet:

”Ihr werdet heilig sein, weil ich heilig bin, der Herr

Euer Gott“111. Die Ahnlichkeit geht nicht soweit, dass ich eine literarische Abhangig-keit ausmachen kann. Schon allein der Unterschied zwischen der KausalkonstruktionLev 19,18 und dem Vergleich Mt 5,48 macht deutlich, dass Matthaus nicht die Sep-tuaginta abschreibt. Aber auch ansonsten haben beide Satze einen je ganz unter-schiedlichen Charakter. Jedoch ist die Ahnlichkeit wiederum stark genug, um eineVerbindung zwischen den Vorstellungswelten zu sehen. Der kausale Zusammenhangaus Lev 19,2 findet sich beispielsweise in Mt 5,43-47 in der Vater-Sohn-Beziehung wie-der, und der daraus entstehenden Kausalitat, dass ein Sohn X zu sein hat, weil seinVater X ist. Moglicherweise setzt Matthaus diesen Baustein in Mt 5,48 als Signalein, dass es sich um einen Offenbarungstext handelt. Zumindest wird der Eindruck,es handele sich um einen, im intertextuellen Vergleich mit der Gesetzesoffenbarungin Lev 19 weiter bestarkt. Weiterhin enden Lev 18 und 19 jeweils mit Bekraftigun-gen, dass die gegebenen Gebote zu halten sind. Da der Zusammenhang zwischen denTextpassagen naheliegt, kann auch fur Mt 5,48 angenommen werden, dass er unmiss-verstandlich klar macht, dass die gegebenen Gebote eingehalten werden sollen. DieseAuffassung bestarkte im Ubrigen das Futur als absoluten Imperativ.

Die”Gegner zu verabscheuen“ stammt nicht aus dem Alten Testament. Es gibt

zwar eine ahnliche Passage in Dtn 23,1-8, aber dort bezieht sich der Abscheu auf zweiVolksgruppen, die Ammoniter und die Moabiter, und er wird auch wirklich auf genaudiese beiden eingegrenzt. Da der Satz trotzdem in Form eines Zitats gekleidet ist,mussen andere Quellen vorliegen. Ich vermute, dass er eine verbreitete Auffassungsowohl im Volk als auch unter seinen Lehrern spiegelt.

Die Zusammenstellung der beiden Zitate lasst erahnen, wie Lev 19,18 allgemeininterpretiert wurde: Der Nahestehende war der Volksgenosse. Nur solange er so engwie moglich aufgefasst wird, kann die Gegenkonzeption mit den Gegnern funktionie-ren. Matthaus 5,43-47 torpediert hier ganz deutlich nicht alttestamentliches Gesetz,sondern dessen Auslegung und dessen haltlose Lehrerweiterung.

Innerhalb der”Antithesen“ bezieht sich Mt 5,43-48 deutlich auf Mt 5,17-20. Das

offensichtlichste Mittel ist die Wortverbindung durch Himmel. Er spielt in beidenTexten eine Rolle. Zwischen ihnen steht er noch einmal in Mt 5,34, ansonsten nichtmehr. Wahrend in V. 17-20 Himmel uberwiegend mit Konigreich verbunden ist, ister in V. 43-48 ein Attribut des Vaters. Auf inhaltlicher Ebene ist damit jeweils das

111LXX, Lev 19,2: VAgioi êsesje íti âg° �gio kÔrio å jeä ÍmÀn. Zu diesem Satz ist anzumerken,dass das Griechische kruschig ist, weil es das Hebraische nahezu wortlich imitiert. Dem Kau-salsatz muss noch ein eÊm� spendiert werden, um vollstandig zu sein. Außerdem ist das Futurleicht irrefuhrend, denn es kann im Kontext der Septuaginta in Abhangigkeit vom hebraischenAusgangstext sowohl normaler Imperativ als auch Futur sein. In Anlehnung an den Klang desOriginals belasse ich das Futur.

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3. Exegese

gleiche, jedoch aus verschiedenen Perspektiven bezeichnet. Die Konigsherrschaft imHimmel setzt voraus, dass jemand dort Herrscher ist, bzw. dass jemand Herr desBereichs ist. Der Vater im Himmel setzt voraus, dass er eine Familie hat, uber dieer waltet, dass er also einen Einflussbereich hat. Meiner Meinung nach sind Vater imHimmel und Konigsherrschaft im Himmel voneinander untrennbare Begriffe. Wei-terhin geht es in V. 19-20 um die Stellung, bzw. den Einzug ins Himmelreich. Dementspricht das Reden von den Sohnen Gottes. Wer Sohn Gottes wird, der ist im Vater-haus, also im Reich des Himmels. Denkbar waren im Rahmen der Familienlogik auchgraduelle Abstufungen der Sohne je nach ihrem Verhalten, so dass die Thematik desV. 19 durchaus auch mitschwingt. Der absoluten Abwehr der Meinung, man konneauch ohne die bessere Gerechtigkeit gegenuber den Schriftgelehrten ins Himmelreicheinziehen, steht die Verheißung, bzw. der absolute Befehl in V. 48 gegenuber. Vers 20legt fur V. 48 nahe, dass das Futur als Anordnung zu verstehen sein muss. Dann sag-ten beide das gleiche aus, jedoch einmal negativ und einmal positiv gewandet: V. 20:Wessen Gerechtigkeit nicht den vom matthaischen Jesus aufgezeigten Anleitungenentspricht, der hat absolut keine Chance ins Reich des Himmels zu kommen. V. 48.Ihr werdet so vollkommen sein, wie Gott im Himmel vollkommen ist, meint, dass mansich an die Anleitungen Jesu halten wird. Nur dann folgt daraus nach Mt 5,44-47, dassman sich als Gottes Sohn erweist und deshalb einen Platz im Himmelreich innehat.In beiden Versen hangt der Platz bei Gott von der vollzogenen, gottgemaßen Gerech-tigkeit ab. Da nach V. 20 die eigentlichen

”Antithesen“ erst beginnen und V. 48 ihren

Endpunkt bildet, fassen sie ein, was mit der besseren Gerechtigkeit gemeint ist, die inV. 20 angesprochen ist. Die

”Antithesen“ sind also als beispielhafte Erklarungen zu

lesen, wie sich eine Gerechtigkeit außert, die besser als die der Schriftgelehrten undPharisaer ist.

In den bisherigen Untersuchungen enthullte sich die Lehre am Berg immer wie-der als Offenbarungsgeschehen. Deshalb werde ich die Berglehre von nun an i.d.R.Bergoffenbarung nennen.

3.9. Pragmatik

Bislang habe ich mich darauf konzentriert, den Text in sich zu untersuchen, ohnedabei Ruckschlusse daraus zu ziehen, was er eigentlich vom Leser will. Nun gibt esdurch die Geschichte eine Reihe von Lesern, allen voran die zeitgenossischen. Was erbei den zeitgenossischen Lesern bewirken wollte, muss im allgemeinen der historischenFantasie uberlassen bleiben. Ich versuche nicht, das, was der Text mir zu sagen hat,durch eine Projektion auf die zeitgenossischen Leser zu legitimieren, sondern das Kindbeim Namen zu nennen: Was sagt mir der Text jetzt?

Aus der Beobachtung, dass die Anforderungen der Bergoffenbarung im Text vonden Textmenschen am Berg nicht eingelost werden, stehen wir vor einem Problem.Hatten die Menschen im Text die Bergoffenbarung erfullt, konnten wir uns zuruck-lehnen und sagen, dass sei nun alles Vergangenheit. So ist aber die Rechnung bisheute offengeblieben. Der Text halt sie uns zum Ausgleichen entgegen. Mit einem

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3.9. Pragmatik

fast gemeinen Zungenschlag fragt er uns weiterhin, ob wir denn in der Lage sind zuverstehen, was die Horer am Berg nicht begriffen haben. Wiederum werden die beidenTextabschnitte getrennte Aussagen beherbergen, so dass ich auch hier jeweils einenAbschnitt fur sich darstelle.

Dabei ist zu beachten, dass der Leser genauso mundtot ist, wie die Junger und dieanderen Horer im Text. Unser Protest und unsere Anfragen finden in nichts Ruckhaltim Text. Es gibt namlich nicht den geringsten Ansatz zur Identifikation mit Personen.Damit stehen wir im gleichen Ohnmachtsverhaltnis zur Offenbarung Jesu wie dieJunger und die Horer im Text. Es mag Anfragen geben, es mag Protest geben, aberder ist irrelevant, wird vollkommen ausgeblendet, ist nichtig neben der OffenbarungJesu. Es muss m.E. festgehalten werden, dass der Text uns unmissverstandlich eineHandlungsanleitung geben will.

Nichtsdestotrotz bleibt naturlich der nagende Protest und die Anfrage, auf welcherBasis wir handeln sollen. Kann es denn sein, dass wir nur handeln, weil Jesus es sagt?Gibt es eine tiefere Begrundung fur die Anweisungen? Wie sichern wir uns das Rechtzu einer zeitgemaßen Anpassung der Befehle – wohl gemerkt, dieses Recht raumt unsder Text nicht ein! Wie konnen wir mit diesen Anweisungen leben, und konnten wires uberhaupt?

3.9.1. Mt 5,38-42

Die starke Prasenz der 2. Pers. Sg. durchbricht die Grenze des Textes insofern, dasssich der Leser ebenso angesprochen fuhlen muss, wie die Textmenschen, die sich amBerg versammelt haben, um Jesus zu lauschen. Dieser Effekt basiert auf der direkten,personlichen Anrede, selbst wenn sie innerhalb des Textes eigentlich jemand ande-rem gilt. Es ist außerst schwer, ihn in die Schranken des Textes zuruckzuweisen;man konnte sogar sagen, es ware intellektuelle Akrobatik. Genau genommen musssogar gefragt werden, ob der Effekt der direkten Anrede aus dem Text heraus nichtvoll beabsichtigt ist, wenn auf die 2. Pers. Sg. dermaßen stark und sogar gehauft inimperativischer Form zugegriffen wird. Nahme man weiterhin an, dass das Matthaus-evangelium zweckgebunden geschrieben wurde, lage es nicht fern zu vermuten, dassmit diesem Textabschnitt den zeitgenossischen Lesern tatsachlich Anleitungen mitauf den Weg gegeben werden sollten. Auch wenn wir sicher nicht mehr im Blick desEvangelisten sind, so bleibt trotzdem der benutzte Effekt erhalten, so dass wir ebenhochst personlich vom Text angesprochen werden. Die Belehrungen, bzw. die Offen-barung dieses Textabschnittes gelten nicht nur den Textmenschen am Berg, sondernauch unmittelbar dem jeweiligen Leser des Textes.

Der Eindruck wird durch die Prasentia und das Futur verstarkt. Jesus hat nichtirgendwann einmal gesprochen, sondern er spricht jetzt. Die Situationen in den Hand-lungsbeispielen haben nicht irgendwann einmal stattgefunden, sondern sie finden ge-rade statt. Das Futur steht uns sogar noch bevor. Mit diesen Mitteln durchbricht derText ebenfalls seine Grenze in unsere Zeit, wenn wir ihn lesen.

Die Einleitung V. 38-39 ist von Zeit, Situation und Menschen entbunden, so dass

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3. Exegese

sie ihre Gultigkeit per se beibehalt und beibehalten wird. Damit uberwindet auch siedie Barriere zu uns.

Wir haben eigentlich eine ganz einfache Aufgabe zu erfullen, denn sie entspricht un-serer schopfungsbedingten Ebenbildlichkeit Gottes: Wir sollen handeln wie Gott. Dasheißt fur Mt 5,38-42, dass wir wie Gott vergelten sollen, oder besser, nicht vergeltensollen. In lutherischer Sprache meint das, dass wir andere Menschen so rechtfertigensollen, wie Gott uns rechtfertigt – und wo wir es nicht tun, gehen wir gegen GottesOffenbarung des Gesetzes an und darin gegen Gott.

3.9.2. Mt 5,43-48

Auch dieser Abschnitt begnugt sich nicht mit den Horern am Berg. Er bietet einfachnichts, womit wir seine Ansprache auf den Text zuruckweisen konnten. Wir werdenalso auch hier zu Fußen Jesu am Berg gesetzt und sind damit den Behauptungen undForderungen des Textes ausgeliefert. Da uns jedoch der soziale Hintergrund der engverbundenen Großfamilie mit einem Patriarchen an der Spitze fehlt, geht die Logikdes Textes furs Erste an uns vorbei und wir konnen uns im Plural der angesprochenenMasse Ihr! verstecken. Stirnrunzeln bereiten uns allenfalls die Verse 45 und 48. Erstensgehen wir in unserem Selbstbild, sofern es uberhaupt noch christlich gepragt ist,davon aus, dass wir schon Kinder Gottes sind. Warum sollten wir uns erst noch dazuentwickeln, wie V. 45 sagt. Zweitens ist die Forderung oder Verheißung gemaß V. 48Quatsch. Wir trennen so stark zwischen Gott und Mensch, dass man einfach nicht sovollkommen wie Gott sein kann. Letztlich folgt aus dem Handeln einer Person, undsei es Gott, noch lange nicht, was eine andere Person zu tun hat. Somit geht auchdiese Logik bei uns daneben.

Trotzdem wirft uns der Text seine Herausforderung entgegen. Wir sollen uns unter-einander so verhalten, wie sich Gott verhalten wurde;112 wobei der Text das Verhaltendarauf festlegt, alle Menschen zu bejahen, bzw. wertzuschatzen. Uns bleibt zwar frei-gestellt, dieses Verhalten anzunehmen, aber die Konsequenz daraus wird uns auchgleich vorgesetzt: Verhalten wir uns wie Gott, werden wir im Reich des Himmelssein, tun wir es nicht, bleiben wir draußen. An der Leichtigkeit, mit der der Textdas ausspricht, konnen wir unser eigenes Selbstbewusstsein trainieren – oder wir zer-brechen an ihm. Offensichtlich geht er davon aus, dass wir selbstverstandlich in derLage sind, Gottes Vollkommenheit anzunehmen. Der Text lasst unser Aber nicht zu.Selbstverstandlich sind wir in der Lage, Gottes Vollkommenheit anzunehmen. Bevorwir den Anforderungen der Bergoffenbarung in unserem Leben eine Chance zu gebenvermogen, werden wir diese Nuss zu knacken haben. Ich bezweifel zwar, dass Selbst-bewusstseinstraining ein primares Ziel des Textes ist, aber fur mich ware es das, wennder Text Bedeutung gewinnen soll.

In Matthaus 5,43-48 geht es ubrigens mit keiner Silbe darum, Wertschatzung des

112Samuel F. Williams kommt uber seine Gedichtinterpretation und der These, Mt 5,43-48 sprechenicht den Einzelnen, sondern die Kirche an, zu dem Schluss:

”So the church prays in order that we

may take on the very character of God, [. . . ]“ [50, S. 394]. Zwar unterscheidet sich sein Ergebnismerklich von meinem, trotzdem sieht er in die gleich Richtung wie ich.

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3.9. Pragmatik

Gegners als Mittel einzusetzen, den Feind zu besanftigen.113 Wenn ein Gegner zumFreund wird, ist das allenfalls ein

”Abfallprodukt“.

113Samuel F. Williams:”[. . . ] such ‘effectivness’ [in transforming the official enemy] is not the issue.

[. . . ] there is no hint that Jesus was concerned with love as a tactic that would ‘work’.“[50, S. 393]–

”Es fehlt ein resignatives Moment: ≫Gib nach, du kannst ja doch nichts machen!≪ Es fehlt ein

optimistisches Berechnen: ≫Durch Nachgiebigkeit machst du Feinde zu Freunden!≪ Es fehlt jederHinweis, der diese Forderung als klug und vernunftig herausstellte.“ [31, S. 294].

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3. Exegese

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4. Systematik

< VI. Vom neuen Gehorsam. >

Auch wird gelehrt, daß solcher Glaube gute Frucht und gute Werk bringensoll, und daß man musse gute Werk tun, allerlei, so Gott geboten hat, umGottes willen, doch nicht auf solche Werk zu vertrauen, dadurch Gnad furGott zu verdienen. Denn wir empfahen Vergebung der Sunde und Gerech-tigkeit durch den Glauben an Christum, wie Christus selbs spricht:

”So ihr

dies alles getan habt, sollt ihr sprechen: wir sein untuchtige Knecht.“ Alsolehren auch die Vater. Dann Ambrosius spricht:

”Also ist’s beschlossen

bei Gott, daß, wer an Christum glaubet, selig sei und nicht durch Werk,sonder allein durch den Glauben, ohn Verdienst, Vergebung der Sundenhab.“

Augsburger Konfession [11, S. 60; CA VI]

< XX. Vom Glauben und guten Werken. >

[. . . ], ist davon durch die Unseren solcher Unterricht geschehen:

Erstlich, daß uns unser Werk nicht mugen mit Gott versuhnen und Gnaderwerben, sondern solchs geschieht allein durch den Glauben, so manglaubt, daß uns um Christus willen die Sunde vergeben werden, welcherallein der Mittler ist, den Vater zu versuhnen. Wer nun solchs vermeintdurch Werk auszurichten und Gnad zu verdienen, der verachtet Christumund suchet ein eigen Weg zu Gott wider das Evangelium.

[. . . ]

Augsburger Konfession [11, S. 76f.; CA XX]

4.1. Dogmatik

Ich eroffne die systematischen Uberlegungen mit zwei Zitaten aus den Bekenntnis-schriften. Die Bekenntnisschriften markieren die Eigenheiten der evangelisch-luthe-rischen Christen im Chor der verschiedensten christlichen Gruppen. Sie stiften derevangelisch-lutherischen Kirche Identitat. Ich habe aus der Augsburger Konfession[im Folgenden CA] zwei Texte gewahlt, die Werke, Gehorsam gegenuber Gott undErlosung aufeinander beziehen, weil dies auch die Themen in Mt 5,38-48 sind – unddaruber hinaus mindestens in den gesamten

”Antithesen“. Ich lasse mich auf einen

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4. Systematik

Vergleich zweier Texte ein, denen ich beiden unausweichlich Autoritat innerhalb derevangelisch-lutherischen Kirche zusprechen muss: Das Matthausevangelium als bibli-sches Buch und die CA.

Es geht um die Lehre von der Erlosung. Sie ist von der Christologie, der Anthro-pologie und der Bedeutung des menschlichen Handelns abhangig.

4.1.1. Der Mensch

4.1.1.1. Im evangelisch-lutherischen Verstandnis

Grundlegend ist der Mensch im evangelisch-lutherischen Christentum durch die Erb-sunde bestimmt. Sie trenne den Menschen von Gott, seitdem der Mensch die Fruchtder Erkenntnis gegessen habe und werde von Generation zu Generation durch naturli-che Empfangnis und naturliche Geburt weitergegeben [11, S. 53; CA II]. Weiterhinsei der Mensch kein wirklich frei bestimmendes Wesen. Zwar sagt die CA, dass derMensch uber alle irdischen Handlungen selbst bestimmen konne und nur nicht in derLage sei, von sich aus Gott gefallig zu werden, an ihn zu glauben usw. [11, S. 73;CA XVIII], aber andererseits ist alles Teufelswerk, was nicht aus dem Glauben ent-springt:

”Dann zuvorn, dieweil es [das Herz] ohn den heiligen Geist ist, so ist es zu

schwach; darzu ist es ins Teufels Gewalt, der die arme menschliche Natur zu viel Sun-den treibet, wie wir sehen in den Philosophen, welche sich unterstan’den, ehrlich undunstraflich zu leben, haben aber dannoch solches nicht ausgericht, sonder seind in vielgroße offentliche Sunde gefallen. Also gehet es mit dem Menschen, so er außer demrechten Glauben ohn den heiligen Geist ist und sich allein durch eigne menschlicheKraft regieret.“ [11, S. 80f.; CA XX]. Letztlich wird der Mensch vom Teufel oder vonGott geritten, dazwischen darf er uber die banalen Dinge seines Alltags auch maletwas entscheiden.

Das Bild vom erbsundigen Menschen wird aus”Adams Fall“ [11, CA II], also von

der Schopfungsgeschichte her abgeleitet.

Exkursion: Der geschaffene Mensch

Die Schopfungsgeschichte klart grundlegend, was es mit der Welt, in der wir leben,auf sich hat. Sie bildet quasi die theologische – nicht zwingend historische – Wurzelder Bibel.1 Am ersten Satz der Bibel

Am Anfang schafft Gott Himmel und Erde [Gen 1,1]

durfen wir nicht achtlos vorbeilesen. Die Afformativkonjugation dieses Satzes wird inder Regel in der deutschen Ubersetzung mit der Vergangenheit wiedergegeben. Diesverkurzt aber die eigentliche Aussage des Aspekts erheblich. Tatsachlich wird damitein Faktum gesetzt. Das kann in der Vergangenheit geschehen sein, das kann geradepassieren, das kann noch in der Zukunft liegen. Dieser erste, kleine Satz am Anfangder Bibel komprimiert alles, was theologisch uber den Zusammenhang zwischen Gott

1Nicht alles muss sich an der Schopfungsgeschichte messen, aber vieles lasst sich aus ihr herauserklaren.

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4.1. Dogmatik

und seiner Schopfung gesagt werden kann, damals, jetzt und bis in alle Zukunft hinein.An diesen Satz schließen sich die beruhmten sieben Tage der Schopfung an. Auch hiergeht man in die Irre, wenn man sie auf einen lange vergangenen Zeitpunkt beschrankt.Vielmehr signalisieren die Aspekte der Tage, dass es sich um eine Erzahlung handelt.Eine Erzahlung, die den ersten Satz der Bibel mit Fleisch ummantelt. Sie ist ebensozeitlos, wie der Eroffnungssatz, nur eben kein Faktum. Einzig das Urteil Gottes uberseine Schopfung ist wieder unumstoßlich:

”Gott sieht alles, was er macht, und siehe

[es ist] sehr gut.“ [Gen 1,31]

Diese Bewertung gilt bis in alle Zeit auch vom Menschen! Wie die Schopfung uber-haupt, kann sich ein Mensch unmoglich von Gott entfernen, denn die Schopfung undmit ihr der Mensch ist nichts weiter als die Schallwelle Gottes, damals, jetzt und inalle Zeit.

Damit ist aber nur erklart, warum es die Welt uberhaupt gibt. Es ist noch nichtgesagt, warum was geschieht, wieso wer wie handelt usw. Der fur den Menschenrelevante Teil der Schopfung endet damit, dass er die Frucht der Erkenntnis zu sichnimmt. Irrtumlich wird der Vorgang oft als Fall bezeichnet, als handle es sich umeine Abspaltung des Menschen von Gott. Der Fehler habe unausloschliche Sunde aufdie Schultern des Menschen geladen, die Erbsunde. Tatsachlich steht davon nichts inder Bibel. Genau gelesen isst der Mensch von der Frucht der Erkenntnis und gelangtzur Erkenntnis. Er bekommt die Fahigkeit zu differenzieren und zwischen Gut undBose zu unterscheiden. Gott selbst stellt laut Schopfungsbericht uber diesen neuenMenschen fest:

”Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner, dass er weiß, was gut

und bose ist.“ [28, Gen 3,22]. Es ist richtig, dass der Mensch bestraft wird: Er mussfur sein Uberleben selbst arbeiten und selbst fur sein Fortbestehen sorgen. Gott setztMann und Frau aber nicht vor die Tore des Gartens, weil sie bose, sundig, unartig odersonst etwas dergleichen gewesen seien. Er setzt sie hinaus, damit sie nicht vom Baumdes Lebens essen und womoglich die gleiche Existenzspanne wie er bekommen. Mitkeiner Silbe wird erwahnt, dass Mensch und Gott dadurch getrennt seien. Vielmehrist es so, dass sie im Anschluss natlos weiter miteinander agieren. Selbst vor den Torendes Garten Gottes bleibt der Mensch sein gutes Ebenbild, das allerdings nunmehrin der Pflicht steht, von seiner Fahigkeit, zwischen Gut und Bose unterscheiden zukonnen, Gebrauch zu machen.

Der Mensch ist keine Marionette Gottes oder des Bosen. Ansonsten machte dieFahigkeit zu unterscheiden keinen Sinn. Selbst die Strafen Gottes waren Unfug, dennwie sollte eine unselbstandige Marionette schuldfahig sein. Auch die vielen GeboteGottes waren absolut nutzlos, denn wie sollte eine Marionette selbstandig ein Gebothalten oder brechen? Der Mensch kann entscheiden, und er muss zwischen Gut undBose wahlen.

Als Ebenbild Gottes hat der Mensch, komprimiert geschrieben, die gleiche Aufgabewie Gott selbst, namlich die Schopfung zu erhalten.2 Davon irrt er aber gerne abund hat eher im Blick, sich selbst zu bewahren. In diesem Denken ist Sunde diefreie Entscheidung des Menschen gegen die Schopfung wider besseren Wissens; sie ist

2Vgl. Gen 1,28.

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4. Systematik

Tatsunde, exemplarisch am Brudermord Kains an Abel dargestellt – in der Erzahlungwird der Bergriff Sunde in die Bibel eingefuhrt.

4.1.1.2. Im Matthausevangelium

Ich stehe in den”Antithesen“ vor dem Problem, dass sie in sich keine offenkundige

Begrundung tragen, wieso Menschen gesagt werden kann, dass ihre Gerechtigkeit dieGerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisaer ubersteigen soll [Mt 5,20] und wes-halb ihnen gesagt werden kann, dass sie sicherlich vollkommen sein werden [Mt 5,48].

Insbesondere Mt 5,48, die Gleichung der kunftigen Vollkommenheit des Menschenmit Gottes Vollkommenheit, scheint mir aber ein Denken von der Ebenbildlichkeitdes Menschen vorauszusetzen. Das ware zumindest ein Verweis in die Schopfungs-geschichte. Als theologischer Wurzeltext der Bibel ist es zudem immer naheliegend,sie als Hintergrund der Exegese mit heranzuziehen.

Als Ebenbild Gottes, das zwischen Gut und Bose scheiden kann ist es die ureigeneNatur des Menschen, so vollkommen wie Gott zu sein. In diese Richtung stoßt dieBergoffenbarung bei Matthaus. Sie will Menschen dazu bewegen, zu ihrer schopfungs-gemaßen Natur zu finden.3 Wo sie ihrer Natur gemaß leben, dort ist ihr Wille undihr Handeln so wie Gottes Handeln und Wille. Im vollkommenen Menschen geschiehtGottes Wille auf Erden, das Reich der Himmel ist mitten unter den Menschen, wirkonnen schon das morgige Brot, das uns eigentlich erst in der jenseitigen Sphare beiGott zusteht, diesseits auf Erden genießen, wir sind gerechtfertigt und wir rechtferti-gen andere Menschen und wir sind der Versuchung gegenuber so resistent wie Gott.Jedoch, dies ist eine mogliche Zukunft des Menschen, noch keine Realitat. Vom voll-kommenen Menschen wird im Futur geredet. Die Ruckwirkung des vollkommenenMenschen auf die diesseitige Welt steht im Vaterunser [Mt 6,9-13/15], also in einemGebet, so dass auch das noch nicht Lebenswirklichkeit geworden zu sein scheint.

Es liegt am Menschen selbst, zwischen Gottes Reich und der Obdachlosigkeit, woHeulen und Zahneklappen ist, zu wahlen. Er kann sich seiner selbst und Gottes wurdigerweisen und als Kind in seinem Haushalt leben, er kann aber auch im selbstsuchtigenDenken verharren und bleibt dafur auf immer und ewig ohne gottliche Heimat. Esliegt am Menschen selbst. Kinder [vgl. Mt 19,13-15] sowie geistig schwache Menschen[vgl. Mt 5,3] genießen besonderen Schutz, vielleicht, weil sie in einem Zustand leben,der dem des ersten Menschen gleicht, bevor er von der Frucht der Erkenntnis aß? Siesind (noch) nicht vollstandig in der Lage und stehen (noch) nicht im Zwang, zwischen

3Luz macht im Hellenismus eine ahnliche Beobachtung:”Grundlegend ist dabei, daß jeder Mensch

Anteil an derselben gottlichen Abstammung hat, so daß universale Menschliebe der Natur ent-spricht. [. . . ] Auch von der Nachahmung Gottes konnen hellenistische Parallelen in diesem Zu-sammenhang sprechen.“ [31, S. 308]. Allerdings stellt er diese Beobachtung Matthaus gegenuber.Das ist jedoch problematisch, denn sein Hinweis auf die hellenistische Gedankenwelt fasst eingrundlegendes Menschbild ins Auge. Fur Matthaus beobachtet er nur ein besonderes Verhaltendes Menschen. Luz stellt also ein grundlegendes Menschenbild einem besonderen Verhalten ge-genuber, vergleicht also Apfel mit Birnen. Das hinter Matthaus stehende Menschenbild arbeitetLuz nicht heraus.

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4.1. Dogmatik

Gut und Bose zu unterscheiden, so dass sie fur ihr Tun nicht in vollem Umfang haftbarsind.

Jesus von Nazaret ist bereits so ein in der Taufe gereinigter, vollkommener Mensch[Mt 3,13-17]. Das ist seine einzige, wenn auch hell schillernde Natur. Als vollkomme-ner Mensch ist er gemaß unseres Gottes und hat deshalb bei ihm Hausrecht. Zurechtnennt man ihn deshalb Sohn Gottes; wohlgemerkt Sohn, nicht Gott. Schon die Vor-geschichte der Bergoffenbarung ist darum bemuht, ihn unmissverstandlich als SohnGottes auszuweisen. Sohn Gottes, nicht Gott (Vater), diese Unterscheidung ist furMatthai Haustheologie grundlegend wichtig! Selbst wenn Jesus alles das tut, was derVater von seinem Sohn erwarten darf, selbst wenn er denkt und handelt wie der Vateres tate, selbst wenn er als authentischer Stellvertreter Gottes auf Erden lebt, selbstdann ist er niemals Gott selbst. Um spitzfindigen Sticheleien zu begegnen: Ich mei-ne nicht, dass er nur nicht die Person Gott Vater der Trinitat ist, das ist seit ihrerErfindung so gedacht. Er ist uberhaupt nicht der einzige, personell undifferenzierba-re, nicht-schizophrene Gott. Die Tatsache, dass Jesus ein Sohn Gottes ist, macht ihnnicht zum Christus. Jesu Botschaft, seine Frucht, die macht ihn zum Christus fur dieMenschen: Bußt und werdet vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommenist. Indem Jesus der vollkommene Mensch ist, mischen sich in ihm die Welt des Men-schen und das Haus Gottes, so dass dort, wo er ist, das Reich Gottes mitten unterden Menschen steht. Es erkennen und hineintreten mussen die Menschen aber selbst.

4.1.2. Die Erlosung

Die Soteriologie ist eng mit der Christologie verknupft. Aus der Bestimmung derFunktion Christi folgen Wege ins Heil.

Abhangig von den Glaubensbekenntnissen definiert die CA, dass es einen einzigenGott gibt, dass sich dieser einzige Gott aber auf drei Personen verteile: Gott Vater,Gott Sohn und Gott Heiliger Geist. Jesus Christus sei einerseits wahrer, fleischlichgeborener Mensch, andererseits wahrer Gott. Mensch Jesus und Gott Sohn seien un-zertrennbar, andererseits vermischten sich menschliche und gottliche Welt in ihm nicht[11, vgl. u.a. S. 50ff.54f.; CA I.III]. Der Bruckenschlag zwischen beiden Welten fur al-le Menschen geschehe durch seinen Tod und seine Auferstehung. Darin durchbrichtJesus die Welt der Menschen hin zur gottlichen, ohne dabei beide Welten zu vermen-gen. Indem er die einzige Brucke zwischen beiden, sonst unvereinbaren Welten wird,wird er zum Christus. Um an der Erlosung teilhaben zu konnen, also um gleichsamuber die Brucke zwischen den Welten gehen zu konnen, bedurfen die Menschen desGlaubens, der wiederum den Heiligen Geist bedarf.

In der matthaischen Welt wird Jesus als der vollkommene, Gottes Ebenbildlich-keit lebende Mensch bestimmt. Darin ist er ein Sohn Gottes, aber nicht Gott. Er istnicht der Erloser, sondern der Anleiter und quasi das Vorbild der Erlosung. Erlosunggeschieht durch das konkrete Handeln jedes einzelnen Menschen. Der Mensch, dersein Potential als Ebenbild Gottes realisiert, ist bereits durch die Realisierung erlost.In der matthaischen Bergoffenbarung werden wir eindeutig mit einer Werkgerechtig-keit konfrontiert. Jedoch blockiert Mt 5,20, die Ubersteigerung der Gerechtigkeit der

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4. Systematik

Schriftgelehrten und Pharisaer, den Gedanken, man musse einfach nur andere odermehr Gebote halten oder die vorhandenen Gebote intensiver umsetzen. Schriftgelehr-te und Pharisaer konnen eigentlich weder quantitativ noch intensiv uberboten werden.Es geht um eine qualitative Ubersteigerung. Es geht darum, den Willen, bzw. die Ge-rechtigkeit Gottes, der sich nicht auf festgesetztes Wort eingrenzen lasst, in diesseitigeWerke zu gießen. Matthaus lasst uns nicht mit diesem Anspruch allein, sondern wirkonnen in seiner Welt Jesus uber die Schulter schauen, und lernen, wie man diesenAnspruch leben kann. Daraus folgen zwei weitere Dinge: Erstens hat Jesus in dermatthaischen Welt zwar vorerst eine Sonderstellung, aber dieses Vorrecht bleibt nichtauf ihn beschrankt. Eigentlich soll jeder Mensch ihm ebenburtig ein Kind Gottes seinund damit zu Jesu Geschwistern zahlen. Zweitens beginnt die Erlosung bereits in derdiesseitigen Welt.

4.1.3. Problematik

Das Bild Christi in der matthaischen Welt lasst sich nicht mit seinem Bild in denGlaubensbekenntnissen in Einklang bringen. Es stehen sich der vollkommene Menschund die Person Gott Sohn, die eines Wesens mit Gott Vater und Gott Heiliger Geistsei, gegenuber. Das Problem lasst sich zwar historisieren, denn z.B. das Nizanumwurde 325 n.Chr. das erste Mal beschlossen, konnte sich aber erst ab 381 n.Chr.neu gefasst durchsetzen. Das Matthausevangelium ist aber fast sicher schon vor 110n.Chr. bekannt gewesen.4 Aber historisierend lasst sich das Problem nicht losen, denndas Nizanum wurde geschaffen, um die Vielfalt christlichen Gruppen zu einer Kir-che eines Bekenntnisses zu vereinigen und um zwischen Haresie und wahrer Lehrezu trennen. Folgerichtig gehort es in nahezu allen christlichen Kirchen so fest zumGlaubensfundament wie die Bibel selbst. Von den Glaubensbekenntnissen abzuwei-chen bedeutet per definitionem, von wahrer, christlicher Lehre, von der Verfassungder christlichen Kirchen abzuweichen, also nicht mehr christlich zu sein. Andererseitskann das Matthausevangelium nicht als haretisch aus dem Kanon gestrichen werden.Die Spannung lasst sich eigentlich nicht losen, es sei denn man bugelte die Welt desMatthausevangeliums mit der Sicht der Glaubensbekenntnisse glatt. Eine Revisionder Glaubensbekenntnisse fuhrte unausweichlich in neue Kirchenspaltungen.

Die Anthropologie der CA lasst sich weder mit der Schopfungsgeschichte bis ein-schließlich Gen 4 vereinbaren, noch mit dem Matthausevangelium, in dem jeder Menschvollkommen und damit Sohn Gottes sein kann. Auch dieses Problem lost sich nichthistorisch, denn meine exegetischen Ergebnisse stehen nicht im Widerspruch zu ir-gendeiner 472 Jahre alten Meinung irgendeines Theologen, sondern zur festgeschrie-benen Verfassung des evangelisch-lutherischen Christentums.

Als Theologen mussen wir angesichts solcher Ergebnisse die Entscheidung treffen,wie wichtig uns die formale

”Einheit“ der Kirche ist. Wirklich einheitlich war sie

nie. Wir mussen bedenken, ob wir Kirchenspaltungen akzeptieren konnen und ob

4Zur Datierung s. Fußnote 19 auf Seite 27.

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4.2. Ethik

die okumenische Bewegung das Potential hat, Christen trotzdem zu einem Bundzusammenzufassen.

Da ich versuche, meine Ergebnisse der Exegese direkt in die Predigt einzubrin-gen, kann meine Predigt von Mt 5,38-48 als Dokument einer Abspaltung zumindestvom evangelisch-lutherischen Christentum gewertet werden, und ernst genommenentatsachlich diese Wirkung entfalten, wenn sie nicht das einzige Dokument in dieseRichtung bliebe.

4.2. Ethik

Die Anfragen der Geschichte und der Psychologie sind fur die Reflexionuber die von Matthaus geforderten Fruchte unentbehrlich.

. . .

Jesu Absicht war es nicht, die Situation der Welt zu verbessern. Taten derFeindesliebe sind von Jesus her Ausdruck des bedingslosen Ja Gottes zumMenschen um seiner selbst willen.[5]

[31, S. 317.318]

In der matthaischen Welt erleben wir einen Menschen, den wir so nicht in unsererrealen Welt zu finden meinen. Nichtsdestotrotz erfahrt der aufmerksame Leser desMatthausevangeliums die Wucht dieser Offenbarung: Jeder Mensch ist ein EbenbildGottes, er kann zum Kind Gottes werden, wenn er so lebt, wie er geschaffen wurde,namlich vollkommen, wie der Erbauer und Bewahrer der Schopfung. Und wenn erso lebt, dann lebt er im Reich Gottes und um ihn herum wird sein Reich sein. Nunkonkurriert dieses Welt- und Menschenbild mit dem Welt- und Menschbild, das wiraus unserer alltaglichen Erfahrung ableiten. Dass die Erfahrung eines Menschen dasVerstehen eines jeden Textes – diesmal im weitgefassten Sinne – beeinflusst, habeich zur Grundlage meiner Exegese gemacht. Aber ich spreche bewusst auch von einerWechselwirkung zwischen Mensch und Text. In unserem Kopf steht die Welt des Mat-thaus in Spannung zur

”normalen“ Welt, und genau durch diese Spannung bewegen

sich beide Welten in uns aufeinander zu. Die matthaische Welt versucht Wirklichkeitin unserem Alltag zu werden.6 Deshalb nimmt es nicht Wunder, dass die Bergoffenba-rung zu den wirkmachtigsten Texten der christlichen Tradition gehort. Immer wiedergehen von ihr Impulse zur Erneuerung des Christentums aus; immer wieder wird siezur Sprache gebracht, wenn es darum geht, wie sich ein Mensch richtig zu verhaltenhabe – wobei dann immer eher auf den direkten Wortlaut geschaut wird –.

5Luz sagt beides primar zur Feindesliebe. Ich meine aber, diese Statements konnen muhelos fur alle

”Antithesen“ in Anschlag gebracht werden. Letztendlich ist das ja auch der Abschluss und quasi

Luzs Essenz seiner Betrachtungen zu ihnen.6Ricoeur beschreibt den Vorgang allgemeiner und mit einer leicht anderen Nuance:

”Die Lekture

bringt mich in die imaginativen Veranderungen des Ich. Die Verwandlung der Welt im Spiel istauch die spielerische Verwandlung des Ich.“ [40, S. 33].

85

Page 92: Handelt wie Gott. Gepredigte Auslegung von Mt 5,38–48

4. Systematik

In der Bergoffenbarung geht es um das bedingungslose Ja des Menschen zu Gottund zu seiner Aufgabe als urteilsfahiges Ebenbild um seiner selbst willen. Der Menschhat sich und seine Heimat im Haushalt Gottes vor Augen. Dort wo der Mensch aberdieses Ja spricht und lebt, bricht das Reich Gottes aus.

Wie stark sich ein Mensch von der Kraft der matthaischen Welt ziehen lasst, hangtan jedem Menschen selbst. Die Spannung jedoch lost sich nur, wenn beide Weltenzu einer werden, wenn die matthaische Welt zum Alltag wird. Wer aber die Chanceergreift, zum vollkommenen Menschen zu werden, der muss dann auch die Pflichteines Kindes Gottes auf sich nehmen, und ein unumstoßlicher Bewahrer der Schop-fung werden, der immer seinem Wissen, was richtig und was falsch ist, folgt.

Aus (schopfungs-) theologischer Sicht wird der Mensch davon nicht uberfordert,sondern heil. Padagogisch betrachtet handelt es sich um ein Entwicklung forderndesZutrauen zu dem, was Menschen sind und vermogen. Zutrauen ist der Schlussel zumKonnen.

”Kann ich nicht!“ ist ein Zwischenergebnis in jeder Entwicklung, das durch

Zutrauen und Ubung uberwunden wird.

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Page 93: Handelt wie Gott. Gepredigte Auslegung von Mt 5,38–48

5. Homiletik

In der Exegese beschaftigt sich der Ausleger mit sich und dem Text. Er bildet mitseinem Untersuchungsgegenstand ein geschlossenes System. Außenstehende sind aufsich selbst angewiesen, in dieses System einzubrechen, wenn sie verstehen wollen, wasExeget und Text miteinander treiben.

Die Homiletik bedeutet die Offnung dieses Systems nach außen durch den Auslegerselbst. In ihr versucht er zu anderen Menschen zu transportieren, was in der Spannungzwischen dem Text und ihm geschehen ist.

Wahrend also die Exegese unabhangig von anderen Menschen geschieht, ist dieHomiletik an andere Menschen gebunden. Der Exeget muss sich nun die Frage stellen,wem er sagen will, was aus ihm mit seinem Text geworden ist, denn davon hangenerstens die Mittel ab, die er zur Kommunkation wahlt und zweitens auch der Umfangdessen, was er Preis geben will.

Da die Exegese nicht in die zwischenmenschliche Kommunikation eingebunden ist,kann sie scheinbar außerhalb zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Ereignissebestehen. Die angewandte Homiletik ist nur bis zu ihrem Ausgangspunkt in der glei-chen Lage; namlich bis zur Frage, was man – im Anschluss an die Exegese – alleszu einem Text sagen konnte. Jeder Schritt daruber hinaus muss auf lebende Men-schen fokussieren. Damit sind aber homiletische Aussagen offensichtlich dem Tobengesellschaftlicher Veranderungen ausgeliefert und konnen von ihnen jederzeit fortge-spult werden. Je naher der Exeget der Predigt kommt, desto enger wird der Kreisangesprochener Menschen und desto leichter kann sie relativiert werden.

5.1. Die Zielgruppe

Jede Zielgruppe existiert im Kopf des Predigers in Form von Einschatzungen, Be-urteilungen und Sympathien. Eine homiletische Arbeit richtet sich erst einmal andiese Gruppe im Kopf. Kommt es zur Predigt, tritt eine Wechselwirkung zwischender Predigt, der lebenden Gemeinde und der Gemeinde im Kopf des Predigers ein.

Damit es eine authentische Wechselwirkung zwischen Predigt, Gemeinde und Pre-diger geben kann, muss die Zielgruppe die Gemeinde sein, vor der gepredigt werdensoll. Deshalb habe ich meine Predigt auf die Teilnehmer des exegetisch-homiletischenSeminars ausgerichtet. An dem Seminar nahmen ausnahmslos Volltheologen in fort-geschrittenem Semester und zwei Professoren der Theologie teil.

Theologen als Zuhorer schatze ich wie folgt ein: Es ist ein kritisches Volk, nicht wirk-lich frei zum Zuhoren. Der analytische Verstand lauft im Hintergrund standig mit:Darf der Prediger das Gesagte aus dogmatischer Sicht vertreten? Welcher (christ-lichen?) Gruppe ist er zuzuordnen? Lasst sich das Gesagte exegetisch widerlegen?

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Page 94: Handelt wie Gott. Gepredigte Auslegung von Mt 5,38–48

5. Homiletik

Benimmt sich der Prediger entsprechend der Situation Andacht bzw. Gottesdienst?Eine Predigt vor Theologen ist immer auch potentiell ein Lehrstreit. Andererseitskann ich von fortgeschrittenen Theologen erwarten, dass sie Kernpunkte erkennenund dass sie eine hinreichend gefestigte, eigene theologische Position haben, so dasssie selbst eine radikale Predigt ungefahrdet verarbeiten konnen.

5.2. Die Predigt

Meine Predigt ist die letzte aus einer Reihe von vier Predigten uber die sogenanntenAntithesen in der Bergoffenbarung bei Matthaus: Mt 5,21-26 ;Mt 5,27-32 ; Mt 5,33-37 ; Mt 5,38-48. Ich habe sie in der letzten Seminareinheit vor den beiden folgendenEinheiten zur Ertragssicherung gehalten. Damit bildet sie so etwas wie den Schluß-punkt des aktiven Seminars und hat es als Ganzes zur Voraussetzung. In den je-weiligen Nachbesprechungen der Predigten kam immer wieder die Frage auf, ob diejeweilige Predigt im moglichen Interpretationsrahmen liege oder nicht, und ob sie An-haltspunkte fur Kriterien zur Entscheidung dieser Frage bote. Im Wissen, dass meinePredigt auch dieser Frage unterworfen sein wird, erarbeitete ich sie.

5.2.1. Die Predigtmoglichkeiten

Der Predigttext bietet ein breites Spektrum moglicher Themen an:

Mt 5,38-39 : Umgang mit Gewalt; Friedfertigkeit; Jesus und das judischeGesetz.

Mt 5,40 : Verhalten vor Gericht; Umgang mit der Situation, dasNotigste zum Leben zu verlieren.

Mt 5,41 : Verhalten gegenuber gesetzlich abgesicherter Gewalt vonMachtigeren.

Mt 5,42 : Sozialverhalten; eigenes Verhalten gegenuber Bedurftigen;Umgang mit eigenem Reichtum.

Mt 5,43-44 : Umgang mit Freund und Feind; Jesus und das judische Ge-setz.

Mt 5,45.48 : Nachfolge in die Kindschaft Gottes; Spannung zwischenSohn- und Kindschaft; Bedeutung der Kindschaft; Bedeu-tung Gottes als Vater.

Mt 5,45-47 : Stellung des Menschen vor Gott; Wertigkeit der Menschenuntereinander.

Mt 5,46-47 : Lohn bei Gott.

Als zusammenhangende Textblocke legt Mt 5,38-42 das Thema”Ausgleichende Ge-

rechtigkeit“ und Mt 5,43-48”Erlosung“ oder

”Einzug ins Haus Gottes“ nahe.

Fur die komplette Perikope Mt 5,38-48 bietet es sich an, fur sie das Thema ausMt 5,20 abzuleiten: Was hat es mit der gegenuber den Pharisaern und Schriftgelehrtengesteigerten Gerechtigkeit auf sich?

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Page 95: Handelt wie Gott. Gepredigte Auslegung von Mt 5,38–48

5.2. Die Predigt

Weiterhin kann der gesamte Text unter dem Gesichtspunkt behandelt werden, obMenschen ihn zur Grundlage ihres Handelns machen konnen oder sollen.

5.2.2. Verarbeitung des Predigttextes

Ich gehe von der griechischen Fassung von Mt 5,38-48 aus und arbeite in der Predigtmit meiner Interpretation des Textes. Da die Zielgruppe Theologen sind, kann ich dasohne Bedenken tun. Hatte ich Laien als Zielgruppe, ware das nicht so einfach moglich.Da sie i.d.R. nicht des Griechischen machtig sind, steht ihnen nur eine deutsche Uber-setzung zur Verfugung. Von der weiche ich aber begrundet ab. Es ist anzunehmen,dass Leser der deutschen Ubersetzung einen anderen Sinn produzieren, weil sie von ihrzu anderen Verstandnissen angeregt werden. In der Situation, vor Laien predigen zumussen, musste die Arbeit noch um eine Betrachtung der moglichen Textknoten, andenen verschiedene Verstandnisse gefordert werden, erganzt werden. Als Beispiel seieinfach nur der gravierende Unterschied von �gap�w und lieben genannt. Zudem sinddie Ubersetzungen meistens mit Zwischenuberschriften versehen, die im Griechischenso nicht existieren. Wer jedoch so eine Bibel in der Hand hat, wird bereits durch dieseUberschriften massiv in der Textinterpretation beeinflusst. Deshalb mussten sie auchwie Textbestandteile analysiert und diskutiert werden. Noch grundlegender kann ge-fragt werden, was eigentlich der Ausgangstext fur eine Predigt vor Laien sein sollte.Hat der griechische Text uberhaupt eine Berechtigung, wenn sich Prediger und Horerverstehen sollen? Wenn ja, welche Legitimation hat er und welchem Zweck dient er?

Ich habe mich dazu entschlossen, den gesamten Text Mt 5,38-48 als Ausgangsbasisfur meine Predigt zu nehmen und ihn in die Predigt einzubringen.

Erweiternd habe ich auf einen Teil aus Mt 5,17-20 zuruckgegriffen, auf Mt 5,201.Dieser Vers ist die Uberschrift, die Grundlage und der Angelpunkt fur alle anderenUnterthemen der Predigt. Das Hauptthema der Predigt soll die bessere Gerechtigkeitsein, zu der ich die Perikope etwas sagen lassen will. Den Text versuche ich so zurGeltung zu bringen, dass er selbst in die aktuelle Situation hineinspricht.

Zur Erklarung des geforderten Verhaltens lehne ich die Predigt an die Schopfungs-geschichte Gen 1,27 an. Das halte ich fur notwendig, weil der Perikope als solcher einerichtige Begrundung fehlt und sich Gen 1,27 hervorragend zur Erklarung anbietet.

Die beiden Thesen Mt 5,38 und Mt 5,43 habe ich aus dem alttestamentlich-judi-schen Kontext herausgelost und auf ein allgemein-menschliches Verhalten bezogen.Damit erweitere ich die Basis der Angesprochenen in unserer derzeitigen Multi-Kulti-Gesellschaft.

Einige Verse habe ich weggelassen:

1. V. 41 (Tragedienst), weil ich diese Form der Unterdruckung heute nicht mehrnachempfinden kann. Es passiert nicht, dass irgendein Soldat oder Politiker da-herkommen und mich zu irgendeiner Form von Arbeit zwingen kann, zumindest

1Lègw g�r ÍmØn íti â�n m� perisseÔsù ÍmÀn � dikaiosÔnh pleØon tÀn grammatèwn kaÈ farisa�wn,oÎ m� eÊsèljhte eÊ t�n basile�an tÀn oÎranÀn. – Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeitnicht im Uberfluss mehr als die der Schriftgelehrten und Pharisaer ist, ihr werdet nicht in dasKonigreich des Himmels eintreten!

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Page 96: Handelt wie Gott. Gepredigte Auslegung von Mt 5,38–48

5. Homiletik

nicht im Deutschland dieser Tage. Ein Angestelltenverhaltnis trifft diese Situa-tion nicht.

2. V. 44 (betet fur die, die euch jagen), weil ich bestenfalls durch meine Verbindun-gen nach Japan eine vorsichtige Idee von Christenverfolgung entwickelt habe.2

Aber Christenverfolgung gehort nicht mehr zu unserer normalen Lebenswelt inEuropa.

3. V. 47.48 (tun nicht auch die anderen dasselbe), weil ich nicht stark gemachthabe, dass die Zuhorerschaft etwas ganz außergewohnliches sein soll. Ich konntediese Verse nicht sinnvoll unterbringen.

5.2.3. Form

Auch in Bezug auf die Gestaltung, die Form der Predigt sind Entscheidungen zutreffen:

Soll die Predigt dem Verstand eine Erklarung des Textes liefern oder dem Gefuhl?Soll sie uber den Text handeln, oder den Text bringen?

Ich habe versucht, den theologischen Intellekt durch die Ansprache des Gefuhls aus-zukontern. Mein Ziel war dabei, eine Dimension des biblischen Textes aufzuzeigen, dieim nuchternen, denkenden Betrieb der Theologen untergeht, namlich die Situation zuempfinden, die uns der Text bietet. Ich bin uberzeugt, dass auch darin die Moglich-keit zu Textverstandnis liegt. Als Nebenziel erhoffte ich mir auch eine therapeutischeWirkung der Predigt: Indem ich die in der Theologie verkummerte Dimension desemotionalen Verstehens reizen wollte, erhoffte ich mir eine zumindest zeitweilige Re-animation derselben. Eine argumentative Predigt scheint mir diesem Anspruch nichtgerecht werden zu konnen. Argumentation gehort zum typischen Verhalten von Theo-logen, und wurde deren Verstehen in den ublichen Bahnen fesseln. Deshalb mussteich eine nicht-argumentative Form wahlen.

Zuerst standen mir zwei Formen vor Augen. Die eine sollte wie eine moderne Groß-veranstaltung eines aktuellen charismatischen Fuhrers, wie etwa des Dalai-Lamas,aufgezogen werden. Dazu hatte ich im voraus fiktive Plakate an die Seminarteilnehmerverteilen wollen. Die Predigt ware aus dem Blickwinkel eines Beobachters geschehen.Gegen diese Art spricht jedoch, dass der Kontext von Mt 5,38-48, die Bergoffenba-rung mit ihrer Vorgeschichte, keine inszenierte Großveranstaltung vorstellt. Vielmehr

2Meine Frau und ich haben dort ein Jahr lang in einem diakonischen Zentrum in Kamagasaki, ei-nem Slum in Osaka, gearbeitet. Im Dialog mit japanischen Christen haben wir wahrend unseresAufenthalts gelernt, mit welchen Anfeindungen selbst heute noch japanische Christen dort lebenmussen. Wir selbst blieben davon verschont, weil wir als Auslander sowieso außerhalb der japa-nischen Gesellschaft standen und nicht mehr als unmittelbare Gefahr fur die japanische Familie

von den Urahnen bis zu den noch lange nicht geborenen Nachfahren empfunden wurden. Zudemhaben wir uns mit der Geschichte auseinandergesetzt, die uber rund 300 Jahre Christenverfolgun-gen bis in die jungere Zeit kennt. Noch vor gut 30 Jahren wurde das Diakoniezentrum, in dem wirarbeiteten, gegen den starken Widerstand vieler Japaner aufgebaut, der sich sowohl aus religiosenMotiven wie auch aus dem traditionellen Verbot der christlichen Religion nahrte.

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Page 97: Handelt wie Gott. Gepredigte Auslegung von Mt 5,38–48

5.2. Die Predigt

wird eine Szene dargestellt, in der sich Jesus inmitten einer immer großer werdendenVolksmenge wiederfindet und die Spontanitat besitzt, sie zu lehren. Moderne Groß-veranstaltungen haben ganz andere Voraussetzungen: Sie bieten kaum Freiraum furSpontanitat. Die Horerschaft ist auf ein Publikum begrenzt, das sich die Eintritts-karten leisten kann. Lehre geschieht nicht einfach, sondern ist schon auf Monate imVoraus sowohl vom Darsteller als auch vom Publikum auf den Kalender gesetzt. Ichbefurchtete Verzerrungen im emotionalen Verstehen, wenn ich die Bergoffenbarung,bzw. die hier behandelte Perikope in den Zusammenhang einer modernen Großveran-staltung gestellt hatte. Weitere Zweifel, ob diese Form angemessen sei, kamen mir inHinblick darauf, dass sie auch mit vielen negativen Eindrucken belegt sein kann. Zumeinen denke ich da an die

”großen“ Evangelisationsprediger, wie sie in den USA und

auch immer haufiger in Deutschland zu finden sind, die mit der Psyche ihres Publi-kums Pingpong spielen. Zum anderen muss ich insbesondere hier in Deutschland inRechnung stellen, dass mit den gleichen Mitteln, wie sie die

”großen“ Evangelisations-

prediger jetzt benutzen, im Deutschen Reich das grausame Potential des Menschenaktiviert wurde. Aus dieser Perspektive betrachtet, muss man sehr vorsichtig sein,wenn man fur die Predigt die Form einer Großveranstaltung eines charismatischenFuhrers wahlt. Sehr schnell kann die Predigt durch solche Konnotationen in ein ganzanderes Verstehen als das gewunschte abgleiten und ggf. verheerend wirken. Endgultigbeiseite geschoben habe ich diese Form jedoch erst, als fur eine andere Predigt, dievor meiner gehalten worden war, die Form

”Predigt als Fernsehberichterstattung von

einer Großveranstaltung Jesu“ gewahlt wurde. Ich wollte das Seminar nicht mit Wie-derholungen langweilen.

Die zweite Form, die mir parallel zur ersten vorschwebte, war eine Erzahlung, dienahtlos in eine Auslegung oder in den Predigttext ubergegangen ware. Der Predigttextware erst im Vollzug der Predigt das erste Mal zur Sprache gekommen. Den ersten Teilsollte die Erzahlung ganz fur sich einnehmen. Sie basierte auf einem Uberfall auf michvor ziemlich langer Zeit. Jedoch achtete ich peinlichst darauf, dass weder ein Ich in derErzahlung vorkommt, noch irgendwelche Namen. Damit blieb sie fur andere Menschenoffen und wirkte kunstlerisch: Eine Form gespannter, gewisser Ungewissheit. Obwohlich die Erzahlung bereits geschrieben hatte, entschied ich mich dann doch noch gegendiese Form. Erstens hatte ich Probleme, den ganzen Text zu benutzen. Ich hatte michauf Stellen zum Themenkreis

”Feindesliebe“ beschranken mussen, zumindest verband

ich die Erzahlung nur mit solchen. Dies war aber gegen meine selbstgesteckte Vorgabe,den ganzen Text fur die Predigt zu benutzen. Zweitens bin ich zu der Uberzeugunggekommen, dass eine Erzahlung nicht zur Bergoffenbarung passt. Eine Erzahlung seheich als nutzlich an, wenn der Text selbst eine Erzahlung bietet, oder wenigstens indiese Richtung geht, wie z.B. Gleichnisse. Die Bergoffenbarung ist jedoch direkte Rede,gespickt mit Anleitungen. Sie hat demnach einen ganz anderen Charakter als eineErzahlung. Es scheint mir schwierig, das eine in das andere angemessen umzuwandeln.

Zweier Ideen zur Form der Predigt beraubt und mit dem Termin zur Vorstellungimmer naher ruckend nahm ich mir das Novum Testamentum Graece und mein Po-

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5. Homiletik

werBook3, setzte mich in ein Cafe, bestellte mir einen Cappuccino und begann einfachdie Predigt zu schreiben. Was dort anfing Gestalt zu gewinnen, entsprach meinen Vor-stellungen ziemlich genau, und es war, als suche sich die Vorstellung die Form selbstaus. Ich mache den Text der Perikope unter interpretierenden Eingriffen zur Predigt.Es handelt sich also nicht um eine Predigt uber den Text, sondern um den Text alsPredigt, wodurch sich das Vorlesen des Originaltextes erubrigt. Dabei geht die gesam-te Predigt vom Ich zum Ihr und behalt auch den anleitenden Charakter der Vorgabebei. Damit bleibt die Predigt in der Sprechweise und -richtung der Bergoffenbarung.Ich verzichte bewusst auf eine Einleitung, die irgendwie die Rolle des Ichs, das ichbenutze, erklart. In erster Linie bin ich dieses Ich. Jedoch ist mein authentisches Ichuntrennbar mit dem Ich der Textgrundlage verwoben. Ich meine was ich sage, kannes aber nur sagen, weil es im Text bereits vom Ich Jesu vorgegeben wurde. Durchdieses doppelte Ich kommt fur die Zuhorer der Predigt Unsicherheit auf, weil sie nichtsofort eine Trennung vornehmen oder die Verschachtelung erkennen konnen: Ist es einauthentisches Ich? Meine ich also, was ich sage? Wenn es ein authentisches Ich ist,woher legitimiere ich dann diese Sprechweise? Darf ich Mitstudenten und Dozentengegenuber aus einer Position heraus sprechen, die Jesus gebuhrt? Darf ich den alten,uberlieferten Text so aufnehmen und wiederholen, wie ich es getan habe? Darf ichuberhaupt die vertretenen Position aus Sicht der Dogmatik vertreten? Wenn es keinauthentisches Ich ist, spricht dann Jesus aus der Bergoffenbarung zur Gemeinde? Istdann das Ich das Ich des matthaischen Jesu auf dem Berg, der nun nicht mehr nur zuseinen versammelten Textmenschen, sondern auch zu gerade versammelten Menschenspricht? Welche Funktion kommt dann mir als Prediger zu? Wenn das Ich nicht au-thentisch ist, welche Relevanz haben dann meine Aussagen? Indem ich die Spannungum das Ich nicht auflose und damit auch nicht um die Relevanz meiner Aussagen,fuhre ich die versammelte Gemeinde, das Seminar, in die Spannung ein, in der sichdie matthaischen Zuhorer Jesu befunden haben. Wer ist dieser Jesus und darf der ein-fach die bekannten Lehren und Gesetze so uminterpretieren, wie er es tut? Wie derFortgang der Gesichte Jesu zeigt, gab es genugend Menschen, die der Ansicht waren,er durfe nicht und die sich deshalb massiv gegen ihn stellten. Da ich im Seminar ebengenau den gleichen Fragenkomplex heraufbeschworen wollte, war mir auch klar, dassich mit deutlicher Gegenwehr zu rechnen hatte – was dann auch nicht ausblieb. Genaudamit hoffe ich aber ein emotionales Verstandnis, ein selbst gespurtes Verstandnis furdie emotionale Motorik hinter der Untergangsgeschichte Jesu zu erreichen, die sichsonst auf dem intellektuellen Wege immer nur schwer nachvollziehen und z.T. nichteinmal entdecken lasst.

Da ich die matthaische Textvorlage direkt zur Predigt gemacht habe, ist sie imGrunde keine freie Rede. Ihr haftet immer noch der Eindruck der Literatur an. AlsFuhrungslinie fur meine Zuhorer habe ich starker als die Vorlage auf deutliche Wie-derholungen gesetzt. Weiterhin will ich mit den fast einhammernden Wiederholungenden permanent aktiven, analytischen Theologenverstand auf mein Textverstandniseinschworen.

3Tragbarer Computer von Apple Computer Inc.

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5.2. Die Predigt

Zur Form sei abschließend noch angemerkt, dass sie eine sehr kurze Predigt bedingt.Im Versuch, die Predigt zu langen, stellte ich fest, dass nur Geschwafel dazugekommenware. Also verzichtete ich darauf.

Um dass Gefuhl fur meine Predigt zu vermitteln, habe ich sie unkommentiert anden Anfang dieser Arbeit gestellt. Die Horer haben sie auch unvermittelt zu horenbekommen, obwohl sie in eine sehr kurze Andacht eingebettet war.

5.2.4. Predigtaufbau

Abs. I Thema Bessere Gerechtigkeit, um insReich Gottes zu kommen.

Abs. II Einordnung in die Predigtrei-he des Seminars

Was schon zur besseren Ge-rechtigkeit gesagt wurde.Zusammenfassung der Predig-treihe.

Abs. (II), IV–VII Behandlung Beispielhafte Annaherung andie bessere Gerechtigkeit.

Abs. XIII–XIV Ertrag So sieht die bessere Gerechtig-keit aus.

Abs. XV–XVII Zuspruch Als Lohn winkt der Einzugins Reich Gottes. Es ist wahr-scheinlich, ihn zu erhalten.

5.2.5. Korrigierende Anmerkungen

Die Predigt, wie sie am Anfang dieser Arbeit steht, entstand vor der intensiven Ex-egese. Inzwischen bin ich der Meinung, dass die Absatze VII, IX und XII korrigiertwerden mussten.

In VII geht es darum, wie man sich bei einer schweren Korperverletzung verhaltensollte. Das geht deutlich uber das Beleidigen hinaus. Da Gott nicht zusammenge-schlagen werden kann, musste auch das Beispiel geandert werden.

In IX geht es eigentlich nicht um Bitten und Geben, sondern um Fordern undZuruckzahlen. Zinsen spielen in der matthaischen Vorlage keine Rolle.

XII erfasst Mt 5,43-44 nur indirekt. Eigentlich geht es darum, Menschen wert-zuschatzen. Wenn ein Mensch in eine Gemeinschaft aufgenommen wird, dann setztdas implizit die Achtung vor diesem Menschen voraus. Im Grunde spitze ich in derPredigt die Vorlage des Evangeliums noch weiter zu.

Obwohl ich den Anderungsbedarf an meiner Predigt sehe, habe ich sie in dieserArbeit nicht umgeschrieben. Ich wollte, dass sie genau so, wie ich sie vor den Se-minarteilnehmern gehalten habe, in dieser Arbeit erscheint.

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5. Homiletik

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A. Zusammenfassung der Exegese

Ich komme in meiner Arbeit uber Mt 5,38-48 zu dem Schluss, dass es sich mindestensbei den Antithesen, wohl aber bei der Bergpredigt uberhaupt um eine Offenbarunghandelt. Abhangig von Mt 5,17-20 schließe ich fur die Offenbarung, dass sie erstensnicht gegen die alttestamentliche Gesetzesoffenbarung stehen soll. Da die Antithe-sen aber durchaus Elemente auf der Handlungsebene enthalten, die sich nicht mitder alttestamentlichen Gesetzesoffenbarung decken, nehme ich einen anderen Bezugs-punkt als die Handlungsebene an: den Sinn des Gesetzes. Meines Erachtens zielt dieOffenbarung der richtigen Handlungsanleitungen auf die bessere Gerechtigkeit ab.Die bessere Gerechtigkeit besteht aber nicht primar in einer anderen Gesetzgebung,sondern darin, aus der Perspektive der Gerechtigkeit Gottes zu handeln. Wir sollendie Gerechtigkeit nicht allein Gott uberlassen. Vielmehr sollen wir selbst so gerechtsein wie er. Die Offenbarung deckt dabei in den

”Antithesen“ exemplarisch funf

gleichgeordnete Bereiche dieser Gerechtigkeit ab. Zweitens wird erst mit der besserenGerechtigkeit das Haus Gottes betreten und dort die gebuhrende Position eingenom-men. Dafur erhalten wir vermittelt durch die Bergoffenbarung die absolute Zusage,dass auch wirklich jeder, der gemaß der besseren Gerechtigkeit lebt, ein Teil der Fa-milie Gottes und ihm gleich vollkommen sein wird. Nach der besseren Gerechtigkeitzu leben meint, insbesondere so zu leben, wie der Mensch geschaffen wurde, namlichals gutes Ebenbild Gottes, das nach der Erkenntnisgewinnung in der Pflicht steht,selbstandig zu sein und Gutes vom Bosen zu trennen.

Im Speziellen befasst sich mit Mt 5,38-42 mit dem Bereich der vergeltenden Ge-setzgebung. Sinn des alttestamentlichen Vergeltungsgesetzes sei es, Verbrecher undVerbrechen – damit die Sunde als solche uberhaupt – auszurotten. Dafur setzt dasAT vor allem auf Abschreckung durch harte Strafen. Jesu Offenbarung verfolgt die-ses Ziel mit einem anderen Mittel. Indem der Verbrecher durch seine unmittelbarenOpfer gerechtfertigt wird, wird ihm der Status des Verbrechers genommen. Denn eingerechtfertigter Verbrecher ist kein Verbrecher mehr. Darin handeln die Opfer gott-gleich. Eine gesonderte Stellung nimmt das Verfahren um Schuldner und Glaubigerein. Wahrend die eine Seite auf Anfrage zahlen soll, soll die andere Seite bei BedarfKredit gewahren, und zwar beidseitig ohne Wenn und Aber. Es gibt keine Anzeichendafur, dass in diesem Verfahren irgendwie ein Handeln Gottes zum Vorbild genommenwird.

Mt 5,43-48 setzt die antike, menschliche Großfamilie des (ostlichen) Mittelmeer-raums mit der Familie Gottes parallel, um einerseits den Forderungen der Antithesen,ggf. der ganzen Bergoffenbarung, eine Begrundung der neuen Handlungsstrategie zuliefern, andererseits um die Fruchte des neuen Handelns vorzustellen. Wie sich einSohn seines Vaters wurdig erweisen muss, um zu Recht in dessen Haushalt leben

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A. Zusammenfassung der Exegese

zu durfen, so muss sich auch der Mensch Gottes wurdig erweisen, um im Reich desHimmels aufgenommen zu werden. Zugleich geht die Logik auch in die andere Rich-tung, namlich wenn Gott Vater ist, dann kann er nur Kinder haben, denen man ihregottliche Herkunft unverkennbar anmerkt.

Dazu wird das alttestamentliche, Schopfungsbild des Menschen bemuht: JederMensch ist ein Ebenbild Gottes, von Natur aus gut und inzwischen in der Lage,Gut von Bose zu unterscheiden. Deshalb ist auch jeder Mensch, Nahestehender wieGegner, wertzuschatzen.

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B. Phrasenschema Mt 5,1–6,18

Mt 5,3-10 mak�rioi oÉ . . . íti. Nominalstil ohne Bezug auf eine etwaigeHorer-/ Leserschaft. Im Nebensatz 3. Pl. Fut. Nebensatzevon V. 3 und V. 10 sind identisch.

Mt 5,11-12 Mit mak�rioi in Mt 5,11 wird zwar das Leitwort aus Mt 5,3-10 weitergetragen, jedoch gibt es deutliche Unterschiede.Erstens steht durch die 2. Pers. Pl. eine direkte Anspra-che, d.h. es findet mit Mt 5,11 ein Personenwechsel bzw. ei-ne Personeneinfuhrung statt. Fur den Rest der Bergleh-re bleibt diese Person erhalten. Zweitens ist der Neben-satz durch ítan konditional eingefarbt und bricht damit ausder Struktur von Mt 5,3-10 aus. Richtung Mt 5,12 verbindetsich Mt 5,11 durch das Wort di¸kw, in die andere Richtungnimmt Mt 5,12 durch oÏtw g�r Ruckbezug auf Mt 5,11.Mt 5,11-12 bricht aus dem Schema der Phrasenwiederholungaus.

Mt 5,13-14 ÍmeØ âste tì . . .Mt 5,(17-20)21-48 Siehe Fließtext.

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B. Phrasenschema Mt 5,1–6,18

Mt 6,(1).2-13.16-18 ítan . . . , m�/ oÎk . . . ¹sper/ ± oÉ ÍpokritaÈ . . . �m�n lègwÍmØn, �pèqousin tän misjän �utÀn. [2. Sg. Pers. Pron.] dà . . .Mt 6,1 bricht aus dem Schema der Phrasenwiederholungaus, enthalt aber bereits die Beziehung der offentlich aus-geubten Gerechtigkeit zum himmlischen Lohn, die in denAbschnitten Mt 6,2-4.5-13.16-18 behandelt wird. Den Ab-schnitt Mt 6,7-9a sehe ich zu Mt 6,5-6 gehorig, so dass der ge-samte Abschnitt Mt 6,5-9a lauten muss. Mt 6,7-9a wird mitdè eingeleitet und dreht sich weiterhin um das Thema Beten,so dass dieser Abschnitt als ein weiterer Aspekt des behan-delten Themas zu sehen ist. Deshalb darf die Struktur diesesAbschnittes durchaus leichte Abweichungen von der vorge-nannten Struktur zeigen, denn der Gesamtabschnitt Mt 6,5-9a erfullt sie. Ebenso bietet das Vaterunser, Mt 6,9b-13 kei-nen Anhaltspunkt fur Eigenstandigkeit und musste somitebenfalls zum Abschnitt Mt 6,5-9a gerechnet werden. DieEinzelteile der Perikope Mt 6,7-9a.9b-13 sind nur Binnen-elemente, aber keine Elemente auf der Hoheren Ebene derStruktur der Rede auf dem Berg. Die Einordnung in denhoheren Fluss der Rede geschieht uber Mt 6,5-6.

Mt 6,19 - 7,29 ist nicht mehr durch Phrasenwiederholungen strukturiert.

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C. Literaturverzeichnis

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Literaturverzeichnis

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Matthaus 5,38–48

38 Ihr habt gehort, dass gesagt wurde:”Ein Auge fur ein Auge“ und

”ein

Zahn fur einen Zahn“.

39 Ich sage euch dazu: Stellt euch nicht dem Verbrecher entgegen.

Sondern wer auch immer dir auf die rechte Wange eindrischt, dem halte

auch die andere hin.

40 Und dem, der dich vor Gericht ziehen und der deine Unterwasche nehmen

will, dem uberlass auch deine Uberkleidung.

41 Und wer auch immer dich zu einer Meile Tragedienst zwingen wird, mit

dem mach dich zwei auf den Weg.

42 Dem, der von dir fordert, zahle! Und wende dich nicht ab von dem, der

sich von dir Geld leihen will!

43 Ihr habt gehort, dass gesagt wurde:”Du wirst deinen Nahestehenden wert-

schatzen“ und”du wirst deinen Gegner verabscheuen.“

44 Ich sage euch dazu: Schatzt eure Gegner wert und betet fur die, die euch

jagen,

45 damit ihr Sohne eures Vaters im Himmel werdet!

Denn er lasst seine Sonne uber Verbrecher und Ehrenmanner aufgehen.

Und er lasst es uber Rechtschaffene und Unrechtschaffene regnen.

46 Denn wenn ihr die wertschatzt, die euch wertschatzen, welchen Lohn habt

ihr? Tun nicht auch die Steuerpachter dasselbe?

47 Und wenn ihr nur eure Bruder gern habt, was tut ihr Außergewohnliches?

Tun nicht auch die Heiden dasselbe?

48 Gewiß, ihr werdet vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkom-

men ist!