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Das Lacansche Subjekt
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Bruce Fink
Das Lacarrsche Subjektzwischen Sprache und j ouis s ance
Wien. Turia + Kant, 2006
8. Es gibt kein Geschlechtsverhältnis
Die Dialektik von Teil und Ganzem ist entscheidend für Lacans Formulie-
rung der Geschlechterdifferenz oder oSexuierung<(' wie er es nennt. So-
wohl in der französisch- als auch in englischsprachigen Literatur zum
Thema wird Lacans Darstellung oft fälschlicherweise so verstanden, als
stünde darin die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem im Mittel-punkt.Die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem wird, ob es nun richtig
ist oder nicht, normalerweise auf Aristoteles zurückgeführt, während die
Dialektik von Teil und Ganzem gewöhnlich den Vorsokratikern und He-gel zugeschrieben wird. Trotzdem hat Lacans Dialektik von Teil und
Ganzem einen besonderen Dreh: Das Ganze ist niemals ganz (der Andere
existiert nicht), und der Teil ist undefinierbar, nicht situierbar, nicht spezi-fizierbar"'und hat omit dem Ganzen nichts zu tunn."' Seine Dialektik istdaher für Poststrukturalisten oder Mathematiker, die mit den neuerenEntwicklungen in der Mengenlehre vertraut sind, wohl leichter verständ-lich als für jemanden mit eher traditionellem philosophischem Hinter-grund.\üill man Lacans Ansicht zur Geschlechterdifferenz darstellen, sind dabeimehrere Hürden zu überwinden. Zahlreiche englischsprachige Autoren(oder Autoren, deren Arbeiten ins Englische übersetzt wurden) haben La-
cans Arbeiten zur Sexuierung erörtert, ohne sich groß mit den anderenAspekten seines Denkens auszukennen; sie haben somit das Lesepublikummit offenkundig oder zum Teil falschen Interpretationen versorgt und An-
sichten kritisiert, die Lacan nie vertreten hat."'Es ist ein Leichtes, sich an
eine der metaphysischer anmutenden Thesen Lacans zu klammern ("Ein
Brief erreicht immer seinen Bestimmungsortn), sie aus dem Zusammen-
hang zu reißen und dann etwas daran zu attackieren, was mit der eigentli-
chen Bedeutung nichts zu tun hat (wie Derrida in "Der Facteur der \7ahr-
heit"); und ein jeder kann in Lacans Texten das \ü7ort "Phallus" orten' um
ihn des Phallozentrismus zu bezichtigen. Dagegen ist es weitaus schwieri-ger, seine umfangreichen Erläuterungen der Geschlechterdifferenz zu sich-
ten (Seminare XVII-XXI und anderswo), seine zentralen Anliegen zu er-
kennen und die Hauptthesen herauszuarbeiten.'S/as
ich an dieser Stelle zu tun gedenke, ist (1) zu erklären, was Lacan un-
ter Kastration, dem Phallus und der phallischen Funktion versteht; (2)
kenntlich zu machen, worauf Lacan mit der Vorstellung, dass es kein Ge-
i 3 1
schlechtsverhältnis gibt, hinauswill, (3) seine ,Formeln der Sexuierung"hinsichtlich einiger ihrer Aspekte, wenn auch keinesfalls in all ihrer Kom-plexität, auszulegen, um die Debatte um die Geschlechterdifferenz wiederauf das zu konzentrieren, was er tatsächlich behauptet,ro0 und einige allge-meinere Fragen anzusprechen, die durch diese Beschreibung aufgeworfenwerden. Lacan gibt uns die Mittel an die Hand, um über die FreudschenBegriffe in einigen seiner Formulierungen hinaus zu sehen: I7enn wir dieKastration als Entfremdung betrachten, den Phallus als Signifikanren desBegehrens und den Namen-des-Vaters als S(A), können wir eine Theorieder Sexuierung skizzieren, die über Freuds weitgehend kulturspezifischeBegriffe hinausgeht.
K A S T R A T I O N
In Seminar XIV fragt Lacan:
"tü7as ist Kastration? Es ist gewiss nicht so wie in den Formulierungen,die der kleine Hans vorbringt, dass jemand den kleinen Hahn ab-schraubt, denn er bleibt trotzdem dran.
'Worum es geht, ist, dass er selne
jouissance nicht in sich aufnehmen kann." (12. ApriI 1967)
Kastration hat mit der Tatsache zu tun, dass wir an einem bestimmrenPunkt auf einen Teil unserer iouissance verzichten müssen. Die direkteFolgerung daraus ist, dass Lacans Begriff der Kastration sich im Sfesentli-
chen auf den Verzicht auf iottissance und nicht auf den Penis konzentriertund dass er sowohl auf Männer als auch auf Frauen zutrifft, insofern sieeinen Teil ihrer iouissance >entfremdsn" (im marxistischen Sinne des\Tortes).
In Lacans Schriften hängt Kastration sehr eng mit Alienation und Separa-tion zusammen. STie wir gesehen haben, entsteht das sprechende Wesen in
der Alienation und ist gezwungen, etwas aufzugeben, sobald es in derSprache ankommt.'o' Die Separation verlangt einen zweiten Verzicht:nämlich auf die Lust, die man durch den Anderen als Anspruch gewinnt
und dadurch, dass man dem Anspruch des Anderen im Phantasma dieRolle des Objekts zuweist (SoD statt $oa), das heißt, die Lust, die man
durch die Triebe erlangt.Was geschieht mit der geopferten jouissance? Iü7o bleibt sie? Wird sie
schlicht vernichtet? Löst sie sich einfach in Luft auf? Oder wechselt sie auf
eine andere Ebene oder an einen anderen Ort? Die Antwort scheint ein-
deutig: Sie verschiebt sich zum Anderen; sie wird sozusagen auf das Konto
des Anderen überragen.'o'Doch was soll das bedeuten? Eine bestimmtejouissance, die aus dem Körper "herausgepresst" wird, lässt sich in der
Sprache wieder finden. Der Andere als Sprache genießt an unserer Stelle.
1,32
qi':.1
i Anders gesagt, es ist insofern, als wir uns im Anderen entfremden und unsin den Dienst des Diskurses des Anderen stellen, dass wir ein wenig an derjouissa)ce teilhaben, die im Anderen zirkuliert.Beim Lesen von Finnegans Wake spürt man die iouissance, die in den Sig-nifikanten, also den Anderen als Sprache, hineingepackt wurde. Die Ver-kettungen von Buchstaben und die sprachlichen "Entdeckungen", die inder Sprache scheinbar bloß darauf warten, genutzt zu werden, lassen aufein Leben der Sprache schließen, das von unserem eigenen unabhängig ist.Genau genommen bekommt die Sprache offenkundig durch sich selbstkeinen Kick, aber insofern der Andere ,in" uns ist, können wir dadurcheine bestimmte iouissance erlangen.Das Opfer, das die Kastration mit sich bringt, besteht darin, eine be-stimmte iouissance an den Anderen abzugeben und im Anderen zirkulie-ren zu lassen, das heißt, sie in gewisser'$üeise "außerhalb" von uns zirku-lieren zu lassen. Dies kann durch Schreiben geschehen oder durch dieSchaffung eines,S7issenskörpers", bestehend aus'$7issen, das unabhängigvon seinem Schöpfer ein ,Eigenleben" zu führen beginnt, da andere ihmetwas hinzufügen oder es verändern können.Die Kastration lässt sich daher mit anderen Prozessen aus anderen Gebie-ten vergleichen: Im ökonomischen Register verlangt der Kapitalismus,dass dem Arbeiter ein gewisser Anteil vom !7ert abgenommen oder abge-zogen wird, der nMehrwertn. Dieser
'Wert (der aus Sicht des Arbeitersnicht so sehr ein Mehr oder ein Überschuss, sondern ein Minus ist) wirddem Arbeiter weggenommen - der Arbeiter wird einer Verlusterfahrungausgesetzt - und dem anderen qua "freiem" Markt transferiert. DerMehrwert, der im letzten Kapitel mit Mehrgenießen (Lacans plus-de-jouir) gleichgesetzt wurde, zirkuliert in einer "fremden" lfelt der uab-
strakten Marktkräften. Der Kapitalismus bringt auf seinem Gebiet einenVerlust mit sich, der einen riesigen Marktmechanismus entstehen lässt.Unsere Ankunft als sprechende \ü7esen erzeugt ebenso einen Verlust, unddieser Verlust bildet den Kern von Zivilisation und Kultur.Freud sprach von diesem Verlust als einem "Triebverzicft1", der ihm fürsämtliche Kulturleistungen notwendig zu sein schien. Er stellte ihn im All-gemeinen mit dem Ödipuskomplex und dessen Auflösung (ein Liebesob-
lekt aufzugeben und sich ein anderes suchen zu müssen) in Zusammen-hang und glaubte, dass der Mädchen abverlangte Verzicht geringer sei alsjener, der Jungen abverlangt wird - daher der angeblich geringere Beitragder Frauen zur Kultur als Ganzes.In den Arbeiten Lacans wird das Opfer der iouissance - und das Ausmaßdieses Opfers sollte man nicht unterschätzen, denn es hinterlässt nur einen"Hungerlohn der Lust" - durch den Anspruch des Anderen, dass wir spre-
1 3 3
chen sollen. erforderlich und allein durch den Autisten abgewehrt. Dieser
Anspruch ist offenkundig mit der ganzen Kultur und mit allen Sfissens-
körpern verbunden, denn ohne Sprache hätten wir überhaupt keinen Zu-
gang ztr ihnen.
Claude L6vi-Strauss lässt sich so verstehen, dass er bei Verwandtschaftsre-
geln eine ähnliche Struktur am'S7erk sieht: Der Austausch oder die Zirku-
lation von Frauen beruht auf einem fundamentalen Verlust, der durch das
Inzesttabu erzeugt wird.'t' Betrachten wir zum Beispiel, was er in Struktu'
rale Anthrop olo gie schreibt:
,Man kann diese ,kopernikanische1ü7ende, ..., die darin besteht, die Ge-
sellschaft als Ganze durch eine Kommunikationstheorie zu interpretie-
ren, einleiten, ohne die Gesellschaft oder die Kultur auf die Sprache zu
reduzieren. Von nun an ist dieser Versuch auf drei Ebenen möglich: die
Verwandtschafts- und Heiratsregeln dienen dazu, den Austausch der
Frauen zwischen den Gruppen zu sichern, wie die ökonomische Regeln
den Austausch von Gütern und Dienstleistungen und die sprachregeln
die Nachrichtenübermittlung garantieren.(144
'Wenn wir dieses Zitat leicht abwandeln, indem wir die Kommunikations-
theorie zu einer Signifikantentheorie machen, die Zirkulation von Gütern
und Dienstleistungen zw Zirkulation des Mehrwerts und die Nachrich-
tenübermittlung zur Zirkulation des Mangels an iouissance (und eines
entsprechenden Mehrgenießens), können wir in allen drei ,systemsn" die-
selbe Struktur entdecken: Es wird ein Mangel oder Verlust erzeugt' der
dann im Anderen zirkuliert.
Lacan selbst liefert ein Beispiel aus dem Register des Politischen:
,Jouissance ist mir nie anders gegeben oder kann mir nicht anders gege-
ben sein als durch meinen eigenen Körper. Das leuchtet nicht unmittelbar
ein, es ist zweifelhaft, und doch gründen die Menschen in dieser iouis-sance,was gut so ist, was somit meine einzige stütze ist, der Schutzzaun
eines so genannten universalen Gesetzes namens Menschenrechte: Nie-
mand kann mich davon abhalten, meinen Körper so zu gebrauchen, wie
ich es für richtig halte. Das Resultat dieser Grenze ... ist, dass die ioals-sance {ir alle versiegt." (Seminar XlV,22'Februat 1'967)
Es wird eine Einschränkung in Form des Gesetzes geschaffen, die anfäng-
lich dazu bestimmt ist, mir das Recht auf die exklusive iouissance meines
eigenen Körpers zu geben (und andere davon abzuhalten, ihn so zu ge-
brauchen, wie sie es für richtig halten), doch gerade diese Einschränkung
führt gleichwohl zur Zerstörung meiner eigenen iouissance'
Dieser Gedanke ist zum Beispiel für Lacans Freud-Interpretation in Semi-
nar VII von zentraler Bedeutung. Das Realitätsprinzip erlegt dem Lust-
prinzip Beschränkungen auf, die letztlich im Interesse des Lustprinzips
134
sind, doch geht es dabei zu weit. Der durch das Realitätsprinzip aufge-zwungene Verzicht ist der Funktion, die das Realitätsprinzip erfüllen soll,nicht angemessen: der Aufrechterhaltung des Lustprinzips auf Umwegenoder durch Aufschub. So wie Freuds Über-Ich seine Grenzen überschreitet- indem es gewissermaßen die strengste Strafe über genau jene verhängt,die am Ethischsten handeln'o'-, überschreitet das Gesetz unvermeidlichseine Befugnis: Die symbolische Ordnung tötet das Lebewesen oder denOrganismus in uns, indem es ihn mit Signifikanten um- oder überschreibt,so dass das Sein stirbt (,der Buchstabe tötetu) und allein der Signifikantweiterlebt.Grenze, Mangel, Verlust: diese Begriffe sind für die Logik Lacans von zen-traler Bedeutung, und sie konstituieren das, was Lacan als Kastration be-zeichnet. In bestimmten Fallgeschichten und besrimmten Teilen oder Pha-sen der westlichen Kultur werden sie häufig mit Genitalien, der Tumes-zenz und Detumeszenz des männlichen Glieds sowie den kindlichenTheorien über Sex oder darüber, woher die kleinen Kinder kommen, inVerbindung gebracht. Verglichen mit der Struktur des Mangels bzw. Ver-lustes selbst sind solche Einzelheiten gleichwohl kontingent.
D E R P H A L I . U S U N D D I E P H A L T I S C H E F U N K T I O N
In seinem Streben nach Liebe und Aufmerksamkeit wird ein Kind früheroder später mit der Tatsache konfrontiert, dass es für seine Eltern nichtder einzige Gegenstand ihres Interesses ist. Die zahlreichen und zweifels-frei vielgestaltigen Gegenstände ihres Interesses haben eines gemeinsam:Sie lenken die Aufmerksamkeit der Eltern von ihrem Kind ab. Im Univer-sum des Kindes ist die Aufmerksamkeit der Eltern das Wertvollste: Es istsozusagen der Goldstandard, der'Wert, an dem alle anderen Werte gemes-sen werden. Alle Gegenstände oder Aktivitäten, die ihre Aufmerksamkeitzuungunsten des Kindes auf sich ziehen, erhalten eine Bedeutung, die sieandernfalls niemals bekommen würden. So ist es kaum erstaunlich, dassein Signifikant die Funktion übernimmt, den Teil des Begehrens der Elternzu bezeichnen, der über das Kind hinausgeht (und in Erweiterung dessenihr Begehren im Allgemeinen zu bezeichnen). Lacan bezeichnet ihn als den,Signifikanten des Begehrensn und da odas Begehren des Menschen dasBegehren des Anderen" ist, kann er auch als der "Signifikant des Begeh-rens des Anderenn bezeichnet werden. Es ist der Signifikant dessen, wasdes Begehrens würdig, was begehrenswert ist.Die Praxis der Psychoanalyse legt, wie auch andere Praktiken, den Schlussnahe, dass dieser Signifikant in der westlichen Kultur im Allgemeinen derPhallus ist. Obwohl häufig behauptet wird, dies sei bloß eine vorgefasste
1 3 5
Ansicht, macht die Psychoanalyse geltend, dass dies eine klinische Beob-
achtung ist und als solche kontingent.'o' Sie wird in der klinischen Praxrs
immer wieder gemacht und konstituiert damit eine verallgemeinerung,
aber keine notwendige, allgemeine Regel. Es gibt keine theoretischen
Gründe, weshalb es nicht auch etwas anderes sein könnte, und vielleicht
gibt (und gab) es Gesellschaften, in denen ein anderer Signifikant die Rolle
des Signifikanten des Begehrens spielt (oder spielte).rVarum spielt der Phallus in unserer Gesellschaft diese Rolle? Lacan liefert
verschiedene mögliche Gründe:
'Man kann sagen, daß die lüüahl auf diesen Signifikanten fällt, weil er amauffallendsten von alledem, was man in der Realität antrifft, die sexuelleKopuladon ausdrückt wie auch den Gipfel des Symbolischen im buch-stäblichen (typographischen) Sinn dieses Begriffs, da er im sexuellen Be-reich der (logischen) Kopula entspricht' Man kann auch sagen, daß er
, kraft seiner Turgeszenz das Bild des Lebensflusses ist, soweit dieser in die(in der) Zeugung eingeht.o lSchriften II' S. 128)
\Telche Gründe man auch immer für den tatsächlichen Status des Phallus
anführt - und solche Gründe sind allesamt ,,anthropologischero oder ima-
ginärer Art, nicht strukturaler -, Tatsache bleibt, dass in unserer Kultur
der Phallus im Allgemeinen als Signifikant des Begehrens dient.'o'
Der Signifikant des Begehrens ist jedoch nicht dasselbe wie die Ursache
des Begehrens. Die Ursache des Begehrens bleibt jenseits des Signifikanten
und ist nicht signifizierbar. Im Rahmen der Lacanschen psychoanalyti-
schen Theorie ist der Ausdruck ,Objekt (a). offenkundig ein Signifikant,
der das Begehren des Anderen bezeichnet, insofern es als Ursache des Be-
gehrens des Subiekts dient; aber Obiekt (a), von dem angenommen wird,
dass es oaußerhalb der Theorieo, als ,Realesn also, eine Rolle spielt, be-
zeichnet gar nichts: Es lst das Begehren des Anderen, es ist das Begehren
als Reales, nicht als Signifikat.Der Phallus hingegen ist niemals etwas anderes als ein Signifikant: In der
Theorie wie in der Alltagssprache ist es der Signifikant des Begehrens. ob-
iekt (a) ist somit die reale, unaussprechliche Ursache des Begehrens,
während der Phallus oder Name des Begehrens" und somit aussprechbar
lst.
Insofern als das Begehren immer mit dem Mangel korreliert ist, ist der
Phallus der Signifikant des Mangels. Seine Verschiebungen und Verlage-
rungen lassen die Bewegung des Mangels innerhalb der struktur als
Ganzes erkennen. Während die Kastration sich auf einen ursprünglichen
Mangel bezieht, der die struktur in Bewegung setzt, ist der Phallus der
Signifikant dieses Verlusts. \üie Lacan in seiner Arbeit "Ernest Jones zum
l J t )
Gedächtnis: Über seine Theorie des Symbolismus( aus dem Jahre 1959
schreibt, ist ,der Phallus .., der Signifikant dieses Verlusts selbst, den das
Subjekt durch die Zerstückelung des Signifikanten erleidet lmorcellementdu signifiantl" (Ecrits, S.715). Lacan schreibt im selben Artikel an ande-
rer Stelle, dass "der Phallus als der Signifikant des Mangels an Sein [Man-gel im Sein oder Mangel zu sein (manque ä ötre ohne die üblichen Gedan-
kenstriche] das Subjekt in seiner Relation zum Signifikanten bestimmtn'
Es ist somit der Signifikant dieses Mangels oder dieser Abwesenheit des
Seins, der hinter ebendieser Relation des Sublekts zum Signifikanten
steckt: Am Anfang gibt es kein Subjekt, und der Signifikant benennt den
vorerst noch leeren Platz, an dem das Sublekt entstehen wird. In seinem
Nachwort zu diesem Artikel aus dem Jahre 1966 schreibt 1xsxn1 "[E]in
Symbol kommt an die Stelle des Mangels, der durch das uNicht-an-
seinem-Orto [oder an seinem Platz fehlendi manque ä sa place] konstitu-
iert wird und der für die Einführung der Dimension der Verschiebung not-
wendig ist, von der sich das Symbol vollständig ableitet" (Ectits,5.722;
hier verwendet er das Wort "symbol( statt "Signifikant", da er Jones'Theorie des Symbolismus kommentiert). Es ist dabei ganz klat, dass der
Mangel oder Verlust von etwas erforderlich ist, um das Symbolische in Be-
wegung zu setzen.'otAm einfachsten lässt sich dies vielleicht foigendermaßen erklären: Vieso
sollte sich ein Kind je die Mühe machen, sprechen zu lernen, wenn ihm all
seine Bedürfnisse von den Augen abgelesen würden, wenn seine Erzie-
hungsberechtigten es fütterten, wickelten, die Temperatur einstellten und
so weiter, bevor es überhaupt die Gelegenheit hatte, Hunger, Nässe, Kälte
oder irgendwelche anderen Unannehmlichkeiten zu spüren? Oder wenn
die Brust oder die Flasche ihm direkt in den Mund gesteckt würde, sobald
es zu schreien anfinge? \ü7enn es nie an Nahrung fehlt, wenn es nie an dergewünschten Temperatur mangelt, warum sollte das Kind sich Mühe ge-
ben zu sprechen? rJ(ie Lacan im Rahmen seiner Diskussion der Angst sagt:nln höchstem Maße angsterzeugend ist es für das Kind, wenn die Bezie-
hung, durch die es wird - die sich auf den Mangel gründet, der es begeh-
ren macht -, am meisten gestört wird: Wenn es keine Möglichkeit des
Mangels gibt, wenn seine Mutter ihm ständig im Nacken sitzt.n (Seminar
X, 5. Dezember 1.962). Ohne Mangel kann das Subiekt niemals entstehen,
und das Erblühen der Dialektik des Begehrens wird gänzlich zunichte ge-
macht.tot
Im Falle des Phallus handelt es sich bei dem fraglichen Mangel um den,Mangel an Haben [das Nichthaben oder Nichtbesitzeni manque ä auoirl
..., den jede partikulare oder globale Frustration des Ansprucbs erzeugt"(Schriften III, S. 228, Hervorhebung von mir) - das heißt, genau den Man-
gel, der das Sublekt dazu bringt zu begehren und nicht bloß zu fordern."-
j t :
ri'
rl,,'itt'
iltlilr
:
u;S-l:
pis "phallische Funktionu wiederum, wie Lacan sie nennt, ist die Funk-
tion, die den Mangel, also die entfremdende Funktion der Sprache, eiz-
führt. \Xlie sich zeigen wird, spielt die phallische Funktion eine entschei-
dende Rolle für Lacans Definition der männlichen und der weiblichen
Struktur, denn Letztere sind unterschiedlich bestimmt hinsichtlich des
Mangels, der durch die Alienation eingeführt wird, der mithin durch die
Spaltung, die durch unseren Gebrauch der - oder vielmehr unseren Ge-
brauch durch die - Sprache verursacht wird''''o\7ie sich ebenfalls zeigen wird, sind der Mangel (der durch die phallische
Funktion eingeführt wird) und seine Zirkulation keineswegs schon alles:
Lacans Ökonomie der iouissance ist keine geschlossene Ökonomie, die
sinsrn, J ou i s s an c e erhaltun gsgesetz ( unterworfen ist, demzuf olge das, wa s
an einer Stelle geopfert wird, sich an einer anderen wiederfindet, nicht
mehr und nicht weniger. Genauso wie die Libido in Freuds Ökonomie er-
halten zu werden scheint, mit Ausnahme der Fälle, in denen Freud über
die Viederholung und die exzessive, inkommensurable Natur des Über-
Ichs spricht, scheint es in Lacans Theorie eine reibungslose Verschiebung
von Mangel und Begehren zu geben, aber nur solange, wie wir unsere
Aufmerksamkeit auf das symbolische Universum beschränken, das durch
den Signifikanten qua Bezeichnenden definiert ist. Sobald wir unsere Per-
spektive erweitern, um auch das Reale und die Signifikantheit des Signifi-kanten zu berücksichtigen, ändert sich alles."'
D E S G I B T K E I N G E S C H L E C H T S V E R H A T T N I S N
"L'ötre sexuö ne s'autorise que de lui-möme."- Lacan, Seminar XXI, 9. Lpril L974's2
Nachdem er ein halbes Jahrhundert auf das Studium von Liebe, Sex und
Sprache verwendet hatte, platzte Lacan in den späten sechziger Jahren mit
einer dieser Aufsehen erregenden Formulierungen heraus, für die er über-
aus bekannt war: ,Es gibt kein Geschlechtsverhältnis" ("il n'y a pas de
rapport sexuel"))ttDie französische
'Süortwahl ist zweideutig, da rapports sexuels sich auch
einfach auf Geschlechtsverkehr beziehen kann. Gleichwohl hat Lacan
nicht sagen wollen, dass es bei den Menschen keinen Sex gibt - eine, ge-
linde gesagt, alberne Behauptung; seine Verwendung des Votts rapport
lässt auf eine eher ,abstrakteo Ideenwelt schließen: Relation, Beziehung,
Proportion, Verhältnis, Bruchteil und so weiter.
1 3 8
;i
:
L a c a n n a c h g i b t e s k e i n d i r e k t e s V e r h ä l t n i s z w i s c h e n M ä n n e r n u n dFrauen, insofern als sie Männer und Frauen sind. Anders gesagt' sie nin-
t.."gi.r.n. nicht von Mann zu Frau und von Frau zu Mann' Irgendetwas
uerh"indert, dass sie eine solche Beziehung haben können; irgendetwas ver-
zerrt ihre Interaktionen.gr gil viele verschiedene Arten, sich vorzustellen' was zu solch einer Be-
,i.iung - wenn es sie gäbe - dazugehören könnte' Man könnte anneh-
men, dass es so etwas *ie eine Beziehung zwischen Männern und Frauen
gäbe, wenn man sie gegenseitig definieren könnte' sagen wir' als
Gegensätze, als Yin uniVlng oder als einfache komplementäre Umkeh-
,orig *i. Aktivität/Passivität (Freuds Modell, obgleich dies sogar seiner
Ans]cht nach unbefriedigend war)' \üir könnten uns sogar vorstellen'
Männlichkeit mit einer Sinuskurve und \üeiblichkeit mit einer Kosinus-
kurve in Verbindung zu bringen, denn dies würde es uns ermöglichen' das'
waswirfüreinGeschlechtsverhältnishaltenkönnten,folgendermaßenzuformulieren: sint x + cos'x = 1 (Figur 8.1).
Figur8.1
Der vorteil dieser bestimmten Formel besteht darin, dass sie auf sehr gra-
pfrir.t. Weise zu erklären scheint, was Freud sagt' wenn er die unter-
schiedlichen Dinge beschreibt, die Männer und Frauen voneinander er-
warten: oMan hat den Eindruck, die Liebe des Mannes und die der Frau
sind um eine psychologische Phasendifferenz auseinandsl" (G'\7' XV' S'
1441.lndiesem Fall känten wir sie trotz der offenkundigen Ungleichar-
t igkeitdermännl ichenundderweibl ichenKurve,trotzihrerPhasen-Ver-,Jg.rung so kombinieren, dass sie zusammen eins ergeben'
Doch laut Lacan ist eine solche Gleichung nicht möglich: Es lässt sich
ni.h,r" ,rrrprechenoderschreiben,dasalswirkl ichesVerhälmiszwischendenGesch lech ternge l tenkönnte . Ih rVerhä l tn iszue inander is twederkomplementärnochdurcheineinfaches,inversesUmkehrungsverhältnisoderirgendeineFormvonParallelitätzwischenihnenbestimmt.Vielmehrist iedes Geschlecbt einzeln für sich in Bezug auf einen dritten Term be-
stimmt.somit gibt es nur ein Nichtverhältnis' die Abwesenheit irgendei-
nes denkbaren direkten Verhältnisses zwischen den Geschlechtern'
1r
139
Lacan nimmt sich vor zu zeigen, (1) dass die Geschlechter unabhängig
voneinander und unterschiedlich definiert sind und (2) dass ihre ,Partner"
weder symmetrisch sind noch dass es Überschneidungen bei ihnen gibt.
Analysanden demonstrieren tagein, tagaus, dass ihr biomedizinisch bzw.
genetisch bestimmtes Geschlecht (Genitalien, Chromosomen, usw.) unter
Umständen sowohl mit den gesellschaftlich geprägten Vorstellungen von
Männlichkeit und Iüeiblichkeit als auch mit der Iüahl ihrer Ge-
schlechtspartner (von der immer noch viele glauben, dass sie auf dem
Fortpflanzungsinstinkt beruhe) in Konflikt steht. Analytiker werden daher
täglich mit der Unzulänglichkeit dessen konfrontiert, die Geschlechterdif-
ferenz biologisch zu bestimmen. Lacan beginnt in Seminar XMII, einen
streng psychoanalytischen Ansatz zu erforschen, wie sich Männer und
Frauen definieren lassen, und fährt damit bis Mitte der siebziger Jahrefort.Sein Versuch erscheint zunächst vielleicht unnötig kompliziert und reich-
lich "belanglosen Stoff. Freudschen Ursprungs zu enthalten; man sollte
jedoch nicht vergessen, dass Lacan am Ausprobieren war, als er diese neue
Art, zwischen den Geschlechtern zu unterscheiden, entwickelte, ohne
zwangsläufig immer eine ganz klare Vorstellung davon zu haben, in wel-
che Richtung er sich gerade bewegte. Ich werde zunächst versuchen, die
Grundzüge seiner Theorie zu erläutern, um erst dann dazu überzugehen,
die Matheme zu erörtern, die manchen Lesern am Anfang ernsthafte
Schwierigkeiten bereiten. "o
Die U nterscheidung der Geschlechter
" [R]eine Männlichkeit und veiblichkeit [bleiben] theoretische Konstruk-tionen ... mit ungesichertem Inhalt."- Freud, G.\ü. XIY S. 30
Lacan nach sind Männer und Frauen im Hinblick auf die sprache, das
heißt, im Hinblick auf die symbolische Ordnung, unterschiedlich defi-
niert. So wie Lacans Beitrag zum Verständnis von Neurose und Psychose
darauf hindeutet, dass man es bei Letzterer mit einem Teil des Symboli-
schen zu tun hat, der verworfen wurde und in das Reale zurückkehrt,
während dies bei Ersterer nicht der Fall ist, sind Männlichkeit und \üeib-
lichkeit als unterschiedliche Relationen zum Symbolischen definiert, als
unterschiedliche Arten, durch die sprache gespalten zu sein. seine For-
meln der Sexuierung betreffen daher lediglich sprechende \üüesen und zu-
dem, wie ich behaupten möchte, nur neurotische Subiekte: Die Männer
und Frauen. die durch diese Formeln definiert werden, sind klinisch gese-
140
hen neurotisch; neurotische Männer unterscheiden sich von neurotischen
Frauen dadurch, wie sie durch die bzw. innerhalb der symbolischen ord-
nung entfremdet sind.
MANNER
Diejenigen, die aus psychoanalytischer Perspektive als Männer gelten -
,.rng.".hr., ihres biologischen bzw. genetischen Aufbaus -, sind vollstän-
dijdurch die ophallische Funktiono bestimmt. Da die phallische Funktion
auf die Alienation zurückzuführen ist, die durch die sprache verursacht
wird, lässt sich Lacans zentrale Aussage zum Thema Männer auf verschie-
dene Art ausdrücken:
' Männer sind gänzlich in der Sprache entfremdet'' Männer sind ganz und gar der Sprache unterworfen'. Männer sind vollständig durch die phallische Funktion bestimmt.
Trotz der unendlichen Permutationen, die die sprache bei der Konstitu-
tion des Begehrens gestattet, lässt sich der Mann im Hinblick auf das sym-
bolische Register als begrenzt oder endlich betrachten. In der sprache des
Begehrens ausgedrückt, ist diese Grenze der Vater mit seinem Inzesttabul
Das Begehren des Mannes geht nie über den Inzestwunsch hinaus, den zu
verwirklichen unmöglich ist, denn dies hätte zur Folge, dass man die
Grenzen des Vaters überschreiten und somit die oVerankerung( der Neu-
rose herausreißen würde: le nom du päre,der Name des vaters, aber auch
le non d.u pöre,das oNein!n des Vaters (da onom" und "non" im Franzö-
sischen Homonyme sind). An diesem Punkt zeigt sich ganz deutlich' dass
die männliche struktur in Lacans \üerk in gewisser Hinsicht gleichbedeu-
tend ist mit Zwangsneurose.Aus linguistischer Sicht ist die Grenze des Mannes das, was die symboli-
sche Ordnung selbst einrichtet, der erste Signifikant (S,)- das 'Nein!" des
vaters -, der der ursprung der signifikanten Kette ist und mit der urver-
drängung einhergeht: die Einrichtung des unbewussten und eines Platzes
für das neurotische Subjekt."'Die Lust des Mannes ist in ähnlicher'süeise begrenzt. Ihre Grenzen werden
durch die phallische Funktion bestimmt. Die Lust des Mannes ist auf das
beschränkt, was das Spiel des signifikanten selbst gestattet - auf das, was
Lacan die phallische Funktion nennt, das sich ebenso als symbolische iou-
issancebezeichnen ließe."'In diesem Fall ist das Denken selbst iouissance-
geladen (siehe Seminar XX, S. 78), eine Schlussfolgerung' die durch
Freuds Arbeit über zwangh aften zweifel hinreichend bestätigt wird (neh-
men wir den Fall des oRattenmanns') und mit dem Ausdruck "geistiges
141
i
ll
irllt l
ffi'i
Masturbieren" passend wiedergegeben wird. Insofern sie in Zusammen-hang mit dem Körper steht, bezieht die phallische oder symbolische lozls-sance nvr das durch den Signifikanten bezeichnete Organ mit ein, das so-mit bloß als Verlängerung oder Instrument des Signifikanten dient. Des-halb bezeichnet Lacan die phallische iouissance gelegentlich als"Organlust" (vgl. G.V. XI, S. 336).Die Phantasmen von Männern sind an den Aspekt des Realen geknüpft,der gewissermaßen die symbolische Ordnung unter-schreibt: Objekt (a).Das Objekt (a) lässt das Symbolische die immer gleichen Umwege ma-chen, bei konstanter Vermeidung des Realen."'Bei denjenigen, die unterdie Kategorie "Männer" fallen, gibt es eine Art Symbiose von Subjekt undObjekt, Symbolischem und Realem, solange zwischen ihnen die richtigeEntfernung beibehalten wird. Das Obiekt steht dabei nur peripher miteinem anderen Menschen in Zusammenhang, daher bezeichnet Lacan diedaraus gewonnene iouissance als masturbatorisch (Seminar XX, S. 88).
FRAUEN
!7ährend Männer so definiert sind, dass sie vollständig von der phalli-schen Funktion eingefasst sind und vollständig unter der Herrschaft desSignifikanten stehen, sind Frauen (d.h. diefenigen, die aus psychoanalyti-scher Perspektive ungeachtet ihres biologischen bzw. genetischen Aufbausals Frauen betrachtet werden) so definiert, dass sie nicht vollständig einge-fasst sind. Eine Frau ist nicht in der gleichen \ü7eise gespalten wie einMann: Obwohl sie entfremdet ist, ist sie der symbolischen Ordnung nichtvollständig unterworfen."' Obwohl die phallische Funktion bei ihr wirk-sam ist, herrscht sie nicht absolut. Im Hinblick auf die symbolische Ord-nung ist eine Frau nicht ganz, begrenzt oder beschränkt.\fährend die Lust bei Männern vollständig durch den Signifikanten be-stimmt ist, ist sie bei den Frauen zum Teil durch den Signifikanten be-stimmt, aber nicht durch und durch. Männer sind auf das beschränkt, wasLacan phallische jouissance nennt, Frauen hingegen können sowohl dieseals auch eine andere iowissance erfahren, die er iouissance des Anderennennt. Nicht, dass jedes Subjekt, das sich unter nFraueno einordnen lässt,diese auch erlebt - ganz im Gegenteil, wie nur allzu oft bestätigt wird -,
aber es ist laut Lacan strukturell möglich.'Was
ist diese iouissance des Anderen, zu der dieienigen' die aus psycho-
analytischer Sicht als Frauen zu klassifizieren sind, fähig sind? Allein
schon die Tatsache, dass Lacan den uAnderenn mit großem A schreibt,
deutet auf die Verbindung der iouissance des Anderen mit dem Signifikan-
ten hin, aber sie ist mit Sr verbunden, nicht mit S, - nicht mit "irgendei-
142
{I
. l
1nem" Signifikanten, sondern mit dem ,Signifikanten des Andersnu (um
einen Begriff zu prägen): dem einzigen Signifikanten, dem Signifikanten,
der radikal Anders, radikal verschieden von allen anderen Signifikanten
bleibt. rJfährend S, (das,Nein!" des Vaters) für einen Mann als Grenze
seines Bewegungsspielraums und seiner Lust fungiert, ist S, für eine Frau
ein möglicher oPartnern, und ihre Beziehung zu ihm ermöglicht es ihr, die
von der Sprache gezogenen Grenzen und das bisschen Lust, das die Spra-
che gestattet, hinter sich zu lassen. \üas für Männer einen Endpunkt be-
deutet. dient Frauen als offene Tür."'Die weibliche Struktur zeigt, dass die phallische Funktion ihre Grenzen
hat und dass der Signifikant nicht alles ist. Die weibliche Struktur weist
daher starke Ahnlichkeiten mit der Hysterie auf, wie sie im Diskurs des
Hysterikers definiert ist (siehe Seminar XVII und Kapitel 9 der vorliegen-
den Untersuchung).
JENSEITS DER BIOLOGIE
Lacans Art, Männer und Frauen zu definieren, hat nichts mit Biologie zu
tun und lässt sich so verstehen, dass sie die Existenz von (genetisch) männ-
lichen Hysterikern und (genetisch) weiblichen Zwangsneurotikern erklärt.
Charakteristisch für einen männlichen Hysteriker ist, sofern meine Inter-
pretation von Lacan in diesem Punkt zutreffend ist, die feminine Struktur:
Er kann potentiell sowohl die phallische als auch die iouissance des Ande-
ren erfahren. Für eine weibliche Zwangsneurotikerin ist die männliche
Struktur charakteristisch, ihre iouissance ist ausschließlich symbolischer
Art.Klinisch betrachtet stellen sich recht viele biologische Frauen als männlich
strukturiert heraus, und viele biologische Männer erweisen sich als weib-
lich strukturiert.t'o Die Ausbildung eines Analytikers muss daher zum Teil
darin zu bestehen, mit den alten Denkgewohnheiten zu brechen, immer
gleich anzunehmen, dass eine Frau eine Hysterikerin und daher als weib-
lich strukturiert zu charakterisieren ist. Bei iedem Menschen muss die Re-
lation zum Signifikanten und die Art der iouissance genauer untersucht
werden; man darf keine voreiligen Schlüsse aufgrund des biologischen Ge-
schlechts ziehen."'Der Umstand, dass so viele Menschen zu diesen allgemein gültigen biolo-
gischen Unterscheidungen querliegen, erklärt zum Teil den weit verbreite-
ten Gebrauch der Kategorie "Borderline. in Amerika. Häufig sind es ge-
nau die Patienten, die diese Grenzen überschreiten, die von Psychiatern,
Psychoanalytikern und Psychologen als Borderliner diagnostiziert werden.
(Lacan lehnte die Borderline-Kategorie komplett ab')
t43
Lacans charakteristische Art, Männlichkeit und lüreiblichkeit zu definie-
ren, macht deutlich, warum es kein Verhältnis zwischen den Geschlech-
tern gibt, doch dieser Punkt muss der Klärung harren' bis der Partner des
MannesunddiePartnerderFrauuntendetai l l ierterbeschriebenwerden.Diejenigen, die Lacans logischen Exkursen gänzlich abgeneigt sind' sollten
den Abschnitt mit der Üüerschrift 'Eine Asymmetrie der Partner" besser
überspringen.
Die Formeln der Sexuierung
ln Seminar XX erstellt Lacan ein Schema (Figur 8'2)' bei dem er an eini-
gen Teilen jahrelang gearbeitet hatte, und von dem er behauptet' dass er
den Rest noch am Morgen, bevor er es in seinem Seminar zum ersten Mal
an die Tafel schrieb, hingezaubert habe'
Figur 8.2
Männer Frauen
3xQx
VxOx
3x.[,x
fro*
Q .
s(Ä)
,^
Ich werde meine Interpretation dieses Schemas damit beginnen' dass ich
einige Passagen aus Seminar XX kommentiere'
MANNLICHE STRUKTUR
,Zuerst die vier propositionalen Formeln' oben' zwei links' zwei rechts'.was
immer ., ,.i uoÄ-rpr..henden Sein, es schreibt sich ein auf der einen
Seite oder auf der ;;d;;;"' Links' die untere Zeile' Vx@x'.zeigt an' daß
es durch di. ph"ffis'i" fon['ion'i"' daß der Mann als Alles seine Ein-
,cfrr.iUung annimmtu' (Seite 86' Hervorhebung von mir)
144
Die Formel Vx@x bedeutet daher, dass alle Männer unter die phallische
Funktion fallen (x steht dabei für irgendein gegebenes Subjekt oder einen
Teil desselben, Ox dafür, dass die phallische Funktion für dieses Subjekt
oder diesen Teil zutreffend ist, und vx für alle x)."'um diese Formel zu
paraphrasieren, können wir sagen, dass der Mann vollständig von der
symbolischen Kastration bestimmt ist, das heißt, jedes Stück von ihm
steht unter der Herrschaft des Signifikanten. \üflenn wir noch einmal auf
das Zitat zurückkommen, stellen wir fest, dass es iedoch eine Ausnahme
gibt:
"[D]er Mann [nimmt] als Alles seine Einschreibung an..., wobei freilichdiese Funktion ihre Grenze findet in der Existenz eines x, durch das dieFunktion ö x verneint ist [l x@ x. Das eben ist es, was man die Funktiondes Vaters nennt . . .. Das Alles beruht also hier auf der Ausnahme, die alsTerm gesetzt ist über das, was' dieses (Dx, es integral verneint." (Seite 86,Hervorhebung von mir)
Der Mann lässt sich als ein Ganzes betrachten, weil es etwas gibt, das ihn
begrenzt (il x: Es gibt mindestens ein x [irgendein subiekt oder ein Teil
desselben], derart, dass <D-x, die phallische Funktion verworfen ist). Er
lässt sich als ein Ganzes betrachten, weil es für seine Menge eine definier-
bare Grenze gibt (Figur 8.3)
Figur 8.3
Vater
Man sollte immer daran denken, dass Lacans Forschung zur Geschlechter-
differenz auf seiner Neubearbeitung der traditionellen Logik gemäß seiner
eigenen Signifikantenlogik beruht und sich mit dieser deckt. Ein Signifi-
kant steht nie für sich allein. Wir würden nie über Schwarz sprechen,
wenn alles um uns herum dunkel wäre, wenn es also niemals der Fall
wäre, dass Schwarz nicht vorkommt. Gerade weil gelegentlich etwas an-
deres als Schwarz auftaucht, bekommt Schwarz eine Bedeutung. Das \üfort
'schwarzo bekommt seine Bedeutung in Opposition zu "'$üeiß" und allen
übrigen Farbwörtern.
obgleich Lacan die sprache der Theorie der Klassen in den frühen sechzi-
grrn ,rr*"ndete, fährt er damit fort, dieselbe Idee in den frühen Siebzi-
gern gemäßseinem eigenen, einzigartigen Gebrauch der Symbole der klas-
ii,li$
t4s
sischen Logik auszuarbeiten. ln LEtourdif zum Beispiel sagt er, dass ,eskeine allgemeingültige Aussage gibt, die sich nicht durch die Existenz vonetwas, das diese Aussage negiert, überprüfen ließe"."'Anders gesagt, jedeallgemeingültige Behauptung berubt auf der Ex-sistenz einer Ausnahme,die die Regel bestätigl, um eine bekannte französische Maxime zu para-phrasieren.t*Das Wesen des Mannes (als vollständig, allgemein durch die phallischeFunktion bestimmt) impliziert damit zwangsläufig die Existenz des Vaters.Ohne den Vater wäre ein Mann nichts und formlos (informe). Der Vaterals Grenze (um bei dem Vergleich zu bleiben) besetzt allerdings kein Ge-biet: Er definiert eine zweidimensionale Oberfläche innerhalb seiner Gren-zen, ohne Raum einzunehmen. Dieser Vater, der die Grenze der Männlich-keit eines Mannes markiert, ist nicht bloß irgendein Vater: Lacan bringtihn in Zusammenhang mit dem Urvater, der in Freuds Totem und Tabudargestellt wird, dem Vater der Urhorde, der nicht der Kastration unter-liegt und angeblich jede einzelne Frau in der Horde beherrscht. Obwohlalle Männer durch die symbolische Kastration gekennzeichnet sind, exi-stiert oder persistiert dennoch ein Mann, für den die phallische Funktionnicht gilt, ein Mann, der in diese Lage geraten ist, ohne der symbolischenKastration zu erliegen. Er ist nicht dem Gesetz unterworfenz Er ist sein ei-genes Gesetz.Existiert dieser Urvater. von dem in Lacans oberer Formel der männlichenSexualität (A xO x) scheinbar geltend gemacht wird, dass er existiere, auchim üblichen Sinne? Nein, er ex-sistiert: Die phallische Funktion wird inseinem Fall nicht einfach in gemäßigter Form negiert; sie wird verworfen(Lacan weist darauf hin, dass der Negationsstrich über dem Quantor fürDiskordanz steht, während der Negationsstrich über der phallischenFunktion für Verwerfung steht),t" und Verwerfung bedeutet den vollstän-digen Ausschluss von etwas aus dem Register des Symbolischen. Da nurdas als existierend gelten kann, was für die symbolische Ordnung nichtuerworfen ist, da die Existenz mit der Sprache Hand in Hand geht, mussder Urvater - der eine solche Verwerfung impliziert - ex-sistieren, da eraußerhalb der symbolischen Kastration steht. Offenkundig gibt es einenNamen für ihn, und daher existiert er gewissermaßen innerhalb unserersymbolischen Ordnung; andererseits impliziert gerade seine Definitioneine Verweigerung dieser Ordnung, per definitionem ex-sistiert er also.Sein Status ist problematisch; er ist das, was Lacan in den Fünfzigern nochals "extimo bezeichnet haben würde: von innen ausgeschlossen. Er kannjedoch als ex-sistierend gelten, da der Urvater, wie auch Objekt (a), ge-
schrieben werdenEnn: !I x<Dx.
146
Vom mythischen Vater der Urhorde wird also gesagt, dass er der Kastra-
tion nicht erlegen ist, und was ist Kastration anderes als eine Grenze oder
Beschränkung? Er kennt somit keine Grenzen. Laut Lacan fasst der Urva-
ter alle Frauen unter einer Kategorie zusammen3 zugänglich. Die Menge
allerFnuenexistiert filr ihn und nur ftir ihn (Figur 8.4). Seine Mutter und
Schwestern sind für ihn ebenso Freiwild wie seine Nachbarinnen und
Cousinen zweiten Grades. Die Kastration (in diesem Fall das Inzesttabu)
har zur Folge, dass diese mythische Menge in wenigstens zwei Kategorien
unterteilt wird: zugänglich und unzugänglich. Die Kastration bewirkt
einen Ausschluss: Mutti und Schwesterchen sind tabu (Figur 8'5)'
Figur 8.4
alle Frauen
Figur 8.5
alle anderenFrauen
Mutti
Doch die Kastration ändert bei einem Mann sogar die Beziehung zu den
Frauen, die zugänglich bleiben: Sie werden sozusagen schlicht als nicbt
tabu definiert. In Seminar XX sagt Lacan, dass ein Mann nur aus der Po-
sition der Nichtkastration iouir d'une femme könne. Jouir d'une femme
bedeutet, bei einer Frau den Höhepunkt zu erreichen, sie auszunutzen,
wobei dies impliziert, dass die eigene Lust tatsächlich von ihr kommt,
nicht davon, wie man sie sich vorstellt, wie man sie haben möchte oder
sich vormacht, dass sie etwas Bestimmtes sei, habe oder was auch immer'
Nur der Urvater kann bei Frauen richtig den Höhepunkt erreichen. Ge-
wöhnliche männliche Sterbliche müssen sich damit begnügen, von ihrem
Partner, Objekt (a), einen Kick zu bekommen.
Nur der mythische Urvater kann also ein wirkliches Geschlechtsverhältnis
zu einer Frau haben. Für ihn gibt es ein Geschlechtsverhältnis. Jeder an-
dere Mann hat ein ,Verhältniso zu Objekt (a)- nämlich dem Phantasma
-, nicht zu einer Frau als solcher.
Der Umstand, dass leder Mann gleichwohl durch beide Formeln definiert
ist - von denen die eine festlegt, dass er vollständig kastriert ist, und die
andere, dass eine bestimmte Instanz die Kastration verweigert -, zeigt,
1,47
dass Inzesfwünsche im Unbewussten unbegrenzt weiterleben. Trotz derKastration (der Aufspaltung der Kategorie der Frauen in zwei verschie-dene Gruppen) hat jeder Mann weiterhin Inzestträume, in denen er sichdie Privilegien des imaginierten Vaters gestattet, der seine Lust erfüllt undkeine Grenzen kennt.
Quantitatiu ausgedrückt, lässt sich Lacan zudem so verstehen, dass er Fol-gendes sagen will: Auch wenn es vor langer Zeit einmal eine Ausnahmebei der Kastrationsregel gab, kann man heutzutage völlig gewiss sein, dassjeder Mann, der einem begegnet, kastriert ist. Es lässt sich also mit Sicher-heit behaupten, dass alle Menschen, die - nicht im biologischen, sondernim psychoanalytischen Sinne - Männer sind, kastriert sind. Doch obwohldie Männer durch und durch kastriert sind, gibt es dennoch einen Wider-spruch: Das Ideal der Nichtkastration - keine Grenzen oder Beschränkun-gen zu kennen - lebt irgendwo irgendwie in jedem einzelnen Mann weiter.
Figur 8.5
Die männliche Struktur lässt sich, um Figur 8.3 etwas zu modifizieren' wrein Figur 8.6 darstellen. S, entspricht Vxox und steht in diesem Fall ftir
den Sohn, während S, [I x@x entspricht und für den Vater steht.
s1
VaterSohn
tx(DxVxöx
s1s2
Schon diese partielle Darstellung der Formeln der Sexuierung sollte deut-
lich erkennen lassen, wie vielschichtig Lacans Erörterung derselben ist, in-
dem sie Stoff aus der Logik und der Linguistik sowie von Freud einbe-zieht.
WEIBLICHE STRUKTUR
ITas die beiden Formeln angeht, die die Veiblichkeit definieren, können
wir zunächst feststellen, dass nicht alles an einer Person, die, ungeachtet
ihrer Anatomie, unter die psychoanalytische Kategorie oFrauen" fdllt,
durch die phallische Funktion (Yiox) bestimmt ist: Nicht alles kommt'"
bei einer Frau unter das bzw. dem Gesetz des Signifikanten (-Vx, nicht für
alle x [ein gegebenes Subiekt] oder nicht für ieden Teil von x, derart, dass
148
0 x, d.h. derart, dass die phallische Funktion auf x zutrifft). Lacan formu-
liert diesen Gedanken nicht in positiver Form, indem er zum Beispiel be-
hauptet, dass ein Teil jeder Frau sich der Herrschaft des Phallus entzieht'
Er belässt es bei der Möglichkeit, ohne sie zur Notwendigkeit zu erklären;
aber diese Möglichkeit ist gleichwohl bei der Bestimmung der geschlechtli-
chen Struktur entscheidend.Die zweite Formel tg*O*) besagt, dass es nicht eine einzige Frau gibt, für
die die phallische Funktion völlig unwirksam wäre: Jede ist zumindest
zum Teil durch die phallische Funktion bestimmt (fl- a es gibt kein x [einSubjekt oder ein Teil desselben], derart, dass @x, d.h. derart, dass diephallische Funktion nicht auf es zutrifft). \ü(/äre die phallische Funktion
bei einem Subjekt uöllig unwirksam, wäre er oder sie psychotisch, wobei
der Strich über der phallischen Funktion die Verwerfung bezeichnet."'Als vorläufige Darstellung der zwei Formeln für weibliche Struktur finde
ich die Tangenskurve als Bild sehr hilfreich (Figur 8.7), deren Kurve beip/2 direkt von der Bildfläche verschwindet und dann auf mysteriöse \(eise
auf der anderen Seite wieder auftaucht. Wir können ihr bei p/2 keinen
richtigen \üüert zuschreiben und sind gezwungen, uns mit Ausdrücken zu
behelfen wie ,Der'!üüert von y strebt gegen plus unendlich, wenn x sich
von 0 aus plL nähert, und strebt gegen minus unendlich, wenn x sich von
p aus p/2 nähertn. Niemand weiß genau, wie sich die beiden Seiten der
Kurve treffen, aber wir übernehmen ein Zeichensystem, anhand dessen
wir über seinen \ü(ert an dieser Stelle sprechen. Der Status der iouissancedes Anderen, die mit der Formel für weibliche Struktur (Vx6-6 siehe Fi-gur 8.2) in Zusammenhang gebracht wird und für dieienigen, die unter die
Kategorie ,Frauenn fallen, potentiell erfahrbar ist, ähnelt dem \ü(/ert der
Tangenskurv e bei pl2. Sie verschwindet direkt von der Skala oder von der
Bildfläche der Repräsentation. Ihr Status ist dem einer logischen Aus-
nahme ähnlich, ein Fall, der das Ganze in Frage stellt.
Figur 8.7
r49
Die Formel iI x<D x fasst sozusagen folgenden Sachverhalt zusammen: Auch
wenn bei einer Frau nicht alles von der phallischen Funktion bestimmt ist
- die Existene eines Teils von ihr geltend zu machen, der sich der phalli-
schen Funktion verweigert, käme der Behauptung gleich, dass etwas, das
die phallische Funktion verneint, ihr gleichwohl unterworfen und in die
symbolische Ordnung eingefügt ist; denn existieren heißt, einen Platz in-
nerhalb des symbolischen Registers zu haben. Deshalb behauptet Lacan
auch niemals. dass die weibliche Instanz, von der er postuliert, dass sie
über den Phallus hinausgeht, existiert: Er wahrt ihre radikale Andersheit
in Relation zum Logos, zur symbolischen ordnung als etwas vom Signifi-
kanten des Begehrens Strukturiertem. Obwohl sie die Existenz dieses
,Reichs ienseits des Phallus" verneint, bestreitet A*O* keineswegs ihre
Ex-sistenz.'ttDie Frau ist daher nicht weniger "vollständign als der Mann' denn der
Mann ist nur im Hinblick auf die phalliscbe Funktion uollständig."'
Frauen sind nicht weniger "vollständig" als Männer, es sei denn' man be-
trachtet sie in Bezug auf die phallische Funktion; Frauen sind nicht "unde-
finierter. odepunbestimmter. als Männer, außer in Relation zur phalli-
schen Funktion.
Eine Asymmetrie der Partner
DER PHALLUS: EIN PARTNER,TtrFRAU
Betrachten wir nun die Symbole oder Matheme, wie Lacan sie nennt, die
sich unter den Formeln der Sexuierung befinden. In Figur 8.8 können wir
erkennen, dass das durchgestrichene La- das in gewisser Hinsicht symbo-
lisiert, dass die Frau nicht vollständig ist -, obwohl es einerseits (durch
Pfeile, die auf die Partnerlef Frau hinweisen) mit @ (phi, dem Phallus als
Signifikant) verbunden ist, es andererseits mit S(A), dem Signifikanten des
Mangels im Anderen verbunden ist.
Ich habe den Phallus als signifikanten des Begehrens etwas eingehender zu
Beginn dieses Kapitel erörtert. rüas Lacan an dieser Stelle hinzufügt, ist die
vorstellung, dass eine Frau in unserer Kultur im Allgemeinen durch einen
Mann oder eine ,männliche Instanzu, das heißt, iemanden, der unter die
psychoanalytische Kategorie'Männs1n fällt, Zugang zum Signifikanten
des Begehrens erhält.
150
fi
Figur 8.8
Männer Frauen
Sfi): DER ANDERE PARTNERIERTRAU
oSi quelque chose ex-siste ä quelque chose, c'est trös pr6cis6ment de n'yötre pas coupl6, d'en ötre )trois6(, si vous me permettez ce n6ologisme.n- Lacan, Seminar XXI, 19. März 1974"0
'Wenn wir noch einmal unsere Tabelle anschauen, können wir feststellen,
dass Frauen, obwohl sie auf der einen Seite mit dem Phallus >g€päärt<sind, außerdem untrennbar mit dem Signifikanten eines Mangels oderLochs im Anderen ,getripeltn (troisdes) sind.Dieser Mangel ist nicht einfach der Mangel - der direkt mit dem Begehrenkorreliert ist *, der zeigt, dass die Sprache vom Begehren erfüllt ist unddass die Mutter oder der Vater, als Verkörperung des Anderen, nicht voll-ständig ist und daher (nach) etwas verlangt. Denn der Signifikant diesesBegehren implizierenden Mangels (oder Mangel implizierenden Begeh-rens) ist der phallische Signifikant selbst. Lacan ist in den siebziger Jahrennicht besonders redselig, was S(A) betrifft, deshalb werde ich an dieserStelle meine eigene Interpretation seiner Funktion anbieten.tttIn Kapitel 5 habe ich in Zusammenhang mit Lacans Ausführungen zuHamlet in Seminar VI von S(A) als dem ,Signifikanten des Begehrens desAnderen" gesprochen. In dieser Phase von Lacans Werk scheint S(A) La-cans Ausdruck für den Phallus als Signifikanten zu sein, der es Lacan so-mit in gewisser Hinsicht erst ermöglicht, den imaginären Phallus (-Q) vomsymbolischen Phallus ((D) zu trennen. Die Bedeutungen von Symbolen ent-wickeln sich in Lacans Texten über die Zeit in ziemlich signifikanterIüüeise,'und ich möchte behaupten, dass S(A) sich zwischen den SeminarenVI und XX dahingehend verändert, dass es zunächst den Signifikanten desMangels des Anderen bezeichnet und später den Signifikanten des ,er-
sten. Mangels.'" lDiese Veränderung entspricht einem \Techsel des Regi-
1 5 1
$ s(Ä)\
a . L n
o
sters, wie es in Lacans \(erk oft der Fall ist: vom symbolischen zum Rea-
len. Dabei ist zu beachten, dass alle Elemente, die unter 'Männer" zu fin-
den sind, mit dem Symbolischen in Zusammenhang stehen, während alle
Elemente unter oFrauen* dem Realen zugeordnet sind')
Dieser erste verlust lässt sich auf verschiedene Art verstehen. An der
Grenze des Symbolischen zum Realen lässt er sich als der Verlust des "er-
sten" signifikanten (SD das Begehren der Mutter lmotherll begreifen,
wenn die urverdrängung stattfindet. Das "Verschwindenn dieses ersten
Signifikanten ist notwendig ftir die Einrichtung der symbolischen Ord-
nung als solche: Es muss ein Ausschluss stdttfinden, damit etwas anderes
entsteben kann. Der Status dieses ersten ausgeschlossenen Signifikanten
unterscheidet sich offenkundig stark von dem anderer Signifikanten - da
er eher ein Grenzphänomen (zwischen dem symbolischen und dem Rea-
Ien) ist - und hat große Ahnlichkeit mit dem status des ursprünglichen
Verlusts oder des Mangels im ursprung des subiekts. Ich würde behaup-
ten, dass der erste Ausschluss oder verlust seine Repräsentation oder sei-
nen Signifikanten irgendwie findet: S(l\).'$üas
aber bedeutet es für etwas Reales (einen realen Verlust oder Aus-
schluss), einen signifikanten zu finden? Denn das Reale wird im Allgemei-
nen als nicht signifizierbar betrachtet. \üyenn das Reale einen Signifikanten
findet, so muss die Funktionsweise dieses signifikanten äußerst unge-
wöhnlich sein. Denn der signifikant ersetzt normalerweise das Reale,
streicht es durch oder löscht es aus; er bezeichnet für einen anderen signi-
fikanten ein subiekt, aber er bezeichnet nicht das Reale als solches.
Mein Eindruck dabei ist, dass S(A) in Figur 8.8, den Lacan in Seminar XX
ausdrücklich mit weiblich er iouissance in Zusammenhang bringt, eine Art
Freudsche sublimierung von Trieben bezeichnet, bei der die Triebe voll-
ständig befriedigt werden (diese andere Art von Befriedigung steckt hinter
La."ns Ausdruck ,iouissance des Anderen'), und eine Art Lacanscher
Sublimierung, durch die ein gewöhnliches obiekt in den Status des Dings
erhoben wird (siehe Seminar VII).'" Das Freudsche Ding findet einen Sig-
nifikanten, als einfache Beispiele können oGott<(: oJesusn, "Mariau' "die
Jungfraun, 'Kunst', nMusik* und so weiter zählen' und das Finden des
Sigriifik"nt.n ist als eine Begegnung zu verstehen (tuXn), das heißt' als in
gewisser lVeise zufällig.
ibg.r.hrn von der imaginären Befriedigung, die wir mit religiöser Ekstase
oder verztickung oder aber mit der Arbeit eines Künstlers oder Musikers
verbinden, wird gleichwohl eine reale Beftiedigung erlangt' und dies
scheint mir Lacans oJenseits der Neurosen bei denienigen mit weiblicher
struktur zu sein. In den Kapiteln 5 und 5 habe ich Lacans erste Bestim-
mungdesJense i tsderNeurosea lsd ieSub jek t iv ie rungderUrsachecha-
r52
rakterisiert, als ein Seine-eigene-Ursache-!üerden, so paradox dies
zunächst klingen mag. In Seminar XX scheint Lacan dies fljrr einen \leg
über die Neurose hinaus zu betrachten, den \üüeg derer, die durch die
männliche Struktur bestimmt sind. Der andere Weg - der 'V{eg der Subli'
mierung - ist kennzeichnend für dieienigen, die durch die ueiblicbe Struk'
tur ch arahterisiert sind."oDer männliche \üeg könnte demnach als lü7eg des Begehrens beschrieben
werden (seine eigene Ursache des Begehrens werden), der weibliche lüüeg
hingegen wäre der 1i7eg der Liebe. Und wie wir sehen werden, lässt sich
sagen, dass es zur männlichen Subjektivierung gehört, die Andersheit qua'Wirkursache (den Signifikanten) zu seiner eigenen zu machen,"'während
es zur weiblichen Subjektivierung gehört, dass man die Andersheit qua
Materialursache (den Buchstaben) zu seiner eigenen macht.'" Beide ma-
chen daher die Subjektivierung der Ursache oder der Andersheit erforder-lich, wenngleich verschiedene Facetten derselben. Ich werde in Kürze aufdieses Thema zurückkommen.
26 rrau existiert nicht
Das !4. in der Tabelle unter den Formeln der Sexuierung ist Lacans Ab-
kürzung ftir die Vorstellung, dass ,die Frau nicht existiert(: Es gibt keinenSignifikanten ftir die oder ein'S7esen der Frau als solche. Die Frau kann
daher nur ausgelöscht geschrieben werden:M. Wenn es einen solchen
Signifikanten nicht gibt, wie Lacan behauptet - dem liegt vermutlich die
Idee zugrunde, dass der Phallus irgendwie der Signifikant des Mannesoder sein
'Wesen ist, da die phallische Funktion ihn definiert -, dann lässt
der Umstand, dass S(A) einer der PartnerAtI( Frau ist, darauf schließen,
dass es möglich ist, auf einen Signifikanten zu stoßen und ihn anzuneh-
men, so dass er in gewisser Hinsicht an die Stelle dieser fehlenden Defini-
tion oder dieses fehlenden \üTesens tritt. S(A) nimmt den Platz eines Signi-
fikanten ein, der weder vorgefertigt noch pröt ä porter ist, und stellt das
Erfinden eines neuen Herrensignifihanten (S) dar, dem allerdings keine
Frau untenuorfen ist, Vährend ein Mann immer einem Herrensignifikan-
ten unterworfen ist, scheint eine Frau in einer völlig anderen Beziehung
dazu zu stehen. Ein Herrensignifikant dient einem Mann als Grenze; nicht
so S(A) in Relation zu einer Frau.Gesellschaftlich gesehen hängt Lacans Behauptung, dass es keinen Signifi-
kanten der bzw. für die Frau gibt, zweifelsfrei mit der Tatsache zusammen,
dass die Stellung einer Frau in unserer Kultur entweder automatisch durch
den Mann definiert ist, den sie zum Partner nimmt, oder sich nur mit
großer schwierigkeit definieren lässt. Anders gesagt, die suche nach ei-
153
nem anderen \üüeg, sich selbst zu definieren, ist für sie lang und voller
Hindernisse,'' D-r Andere der westlichen Gesellschaft betrachtet solche
versuche nie mit \rohlwollen, was die Befriedigung, die sich daraus ge-
winnen ließe, häufig verdirbt. Musik, Kunst, Oper' Theater,Tanz und an-
dere oschöne Künste. werden von diesem Anderen weitgehend akzeptiert,
weniger jedoch, wenn eine Beziehung zu einem Mann nicht erwiesener-
*aß.n das Grundlegende ist. und während es in der vergangenheit über-
wiegend akzeptiert war, wenn Frauen sich dem religiösen Leben in Klös-
rern widmeten und so die definierende Beziehung zu einem Mann mieden,
runzeft man heutzutage sogar bei dieser Zuflucht die Stirn, was heißt, dass
es der Andere einem bei bestimmten religiösen signifikanten immer
schwerer macht, sie zu übernehmen. Denn auch wenn es so sein mag, dass
die Beziehung zu s(A) durch eine Begegnung entsteht, kann diese Begeg-
nung gleichwohl von der Kultur oder (den) subkultur(en), in der eine Frau
sich bewegt, erleichtert oder vereitelt werden'
Dies bedeutet ledoch keineswegs, dass es niemals einen >automatischen"
oder vorgefertigten Signifikanten für Frauen geben wird. \üüenn wir La-
cans Diatnose in diesem Punkt akzeptieren, ist dieser Sachverhalt kontin-
gent, aber nicht notwendig.
ib.nro wenig will Lacan damit sagen' dass Frauen keine eigene ge-
schlechtliche Identität haben; er definiert Frauen auch nicht, wie es in der
Literatur manchmal heißt, einfach als Männer, denen etwas fehlt."t Die
geschlechtliche Identität im Lacanschen Sinne wird auf mindestens vier
verschiedenen Ebenen konstituiert: (1) Die aufeinander folgenden ldentifi-
kationen, die das Ich konstituieren (normalerweise Identifikationen mit
dem einen oder anderen Elternteil), die eine imaginäre Ebene der sexuellen
Identität ausmachen, eine starre Ebene, die häufig in sehr realen Konflikt
gerät mit (2) der männlichen oder weiblichen struktur, wie sie oben defi-
niert .lvurde, als etwas, das mit den verschiedenen seiten von Lacans For-
meln der Sexuierung zusammenhängt, wobei sich iedes beliebige subiekt
auf einer der beiden seiten einordnen kann. Diese beiden Ebenen, die oft
miteinander in Konflikt geraten,tt' entsprechen somit dem Ich und dem
subjekt. Auf der Ebene der Ich-Identifizierungen kann sich eine-Frau sehr
wohl mit ihrem vater identifizieren (oder einer Figur, die von der Gesell-
schaft als ,männlich. betrachtet wird), während sie auf der Ebene des Be-
gehrens und ihrer subjektiven Fähigkeit, iouissance zu empfinden' durch
die weibliche Struktur charakterisiert sein mag'
Die sexuelle Identität einer Frau kann tatsächlich viele verschiedene mög-
liche Kombinarionen umfassen, denn anders als bei männlicher und weib-
licher struktur, die aus Lacans sicht ein Entweder-oder konstituieren, da
es kein Drittes zwischen ihnen gibt, können lch-Identifizierungen Ele-
154
.,t i
i i; t
r1 , l
i i '! i :1 1 .lr,-
mente von vielen verschiedenen Personen enthalten, sowohl männlich als
auch weiblich. Mir anderen 'sflorten, die imaginäre Ebene der sexuellen
Identität an und für sich kann äußerst widersprüchlich sein.
Der Umstand, dass es sexuelle Identität (sexuierung, um Lacans Ausdruck
zu verwenden) auf einer anderen Ebene als der des lchs, auf der Ebene der
Subjektivität nämlich, gibt, sollte den in der englischsprachigen Welt weit
verbreiteten Irrtum beseitigen, dass eine Frau in der Lacanschen Theorie
überhaupt nicht als Subjekt betrachtet wird. Weibliche Struktur bedeutet
ueibliche Subiektiuität Insofern eine Frau eine Beziehung zu einem Mann
eingeht, wird sie wahrscheinlich in seinem Phantasma auf ein Obiekt -
objekt (a) - reduziert; und insofern sie aus der Perspektive der männli-
chen Kultur betrachtet wird, wird sie wahrscheinlich auf kaum mehr als
eine Ansammlung von männlichen Phantasieobjekten reduziert und in für
die Kultur stereotypische Kleider gesteckt: i(a), das heißt, ein Bild, das Ob-
iekt (a) enthält und doch verbirgt. Dies kann durchaus einen Sublekti-
vitätsverlust im gewöhnlichen, alltäglichen Sinne des \ü(orts bedeuten -
osein Leben unter Kontrolle haben", >eine ernst zu nehmende Kraft sein"
und so weitert'o -, aber es bedeutet keinesfalls einen Subiektivitätsverlust
im Lacanschen Sinne des Ausdrucks. Es isr ebeniene Einnahme einer Posi'
tion oder Haltung in Bezug auf (eine Erfahrung von) iouissance, die Sub'
iektiuität mit sich bringt und impliziert.Ist sie erst einmal eingenommen,
wird ein weibliches Subiekt entstanden sein. In welchem Ausmaß dieses
bestimmte Subjekt die eigene \üelt subiektiviert, ist eine andere Frage.
Bei einigen Arbeiten, die von gewissen Feministinnen heutzutage verfasst
werden, lässt sich vermuten, dass mit ihnen der Versuch einhergeht, ein
ganz bestimmtes von ihnen erfahrenes Reales zu präsentieren, repräsentie-
ren, symbolisieren und dadurch zu subjektivieren, eines, das noch nie zu-
vor repräsentiert, symbolisiert oder sublektiviert worden ist. Vermutlich
hängt das zuvor unausgesprochene und ungeschriebene Reale mit dem zu-
sammen, was Lacan die iouissance des Anderen und das Andere Ge-
schlecht nennr (die Frau konstituiert selbst für eine Frau das Andere Ge-
schlecht; dieser Punkt wird unten erörtert). Letztere sind nur insofern An-
ders (für jemanden seltsam oder fremd), als sie nicht ausgesprochen,
geschrieben, repräsentiert oder subiektiviert worden sind. Obwohl viele
Feministinnen ihre Arbeit unter anderen Aspekten betrachten - dass sie
mit einem spezifisch weiblichen Imaginären oder mit einer prä-thetischen
bzw. semiotischen Stufe der Erfahrung zu tun hat -, ließe sie sich in stär-
ker lacanianischen Begriffen und auf die Gefahr hin, reduktionistisch zu
sein, als ein Versuch verstehen, das Reale (das Reale des Anderen oder den
Anderen als iouissance) zu subiektivieren."'
1 5 5
MännlichNrleibl ich - Signifikant/Sig nifikantheit
Lassen Sie mich in meiner Interpretation noch einen Schritt weiter gehen.
Obgleich Lacan nie so recht zugibt, dass der Mann durch den Signifikan-ten des Begehrens (Q) definiert ist, wollen wir einen Moment annbhmen'dass er es sei. Hat dies zwangsläufig zur Folge, dass die Frau niemals defi-niert werden kann, solange der Mann definiert ist? Und hat dies wiederumzur Folge, dass der Mann, wenn die Frau mit dem Signifikanten des Be-gehrens gleichgesetzt würde, nicht definiert werden könnte? Gibt es einenstrukturellen Grund, weshalb der Signifikant des Begehrens sich nur miteinem Geschlecht zur Zeit identifizieren lässt, sogar wenn es theoretischirgendeines der beiden sein kann? Wenn dem so ist, ist das andere Ge-schlecht dann notwendigerweise mit dem Objekt als Ursache des Begeh-rens verbunden? Gibt einen theoretischen Grund dafür, weshalb ein Ge-schlecht durch einen Signifikanten definiert ist und das andere als Objekt?Vielleicht gibt es einen. Insofern die Separation zur Aufteilung des Ande-ren in gebarrten Anderen und Objekt (a) führt, spaltet sich der Andere(2.B. der elterliche Andere: in der Kernfamilie also Mutter und Vater) inzwei "Teileu auf, von denen sich der eine (A) zweifellos dem Signifikantenzuordnen lässt und der andere einem Objekt (Figur 8.9). rüüas die Lacan-sche Dialektik des Begehrens betrifft, wie sie in Gesellschaften, die wie un-sere geordnet sind, wirksam ist, so glär es vielleicht einen theoretischenGrund, warum die Rollen von Signifikant und Obiekt von den beiden Ge-schlechtern verkörpert werden.
Figur 8.9
/ \
Die Arbeiten Lacans zur Sexuierung scheinen zu implizieren, dass die Sub-jektivierung bei unterschiedlich sexuierten \üüesen auf unterschiedlichenEbenen stattfindet: Solche mit männlicher Struktur müssen das Obiekt
subjektivieren oder eine neue Beziehung zu ihm herstellen, während solche
mit weiblicher Sruktur den Signifikanten subiektivieren oder eine neue
Beziehung zu ihm herstellen müssen. Beide Geschlechter subiektivieren
das, was am Anfang Anders ist, doch ihr Zugang zu diesem Anderen, die
Facette des Anderen, mit der sie zu tun haben, ist verschieden. Es ist so,
als wäre bei Männern der Andere mit allem Drum und Dran installiert
1.56
und als läge ihnProblemn bei dem Objekt; bei Frauen dagegen ist der
Andere als solcher nie vollständig installiert. Das "Problem" der Frau be-
stünde somit nicht darin, den Anderen zum Existieren zu bringen oder ihn
zu vervollständigen - was schließlich das Projekt des Perversen ist -, son-
dern vielmehr darin, ihn zu subjektivieren, ihn in sich selbst zu konstitu-
ieren. Bei jemandem mit weiblicher Struktur ist die Subjektivierung daher
vollkommen anders als in den Kapiteln 5 und 6 oben skizziert und ver-
langt das Zusammentreffen mit einem Signifikanten."'Männer und Frauen sind auf grundverschiedene \üüeise in und durch die
Sprache entfremdet, was durch ihre völlig unterschiedliche Relation zum
Anderen sowie zu S, und S, bestätigt wird. Als Subiekte sind sie verschie-
den gespalten, und dieser [Jnterschied in der Spahung erklärt die Ge-
schlechterdifferenz. Die Geschlechterdifferenz ist somit auf die unter-
schiedliche Relation von Männern und Frauen zum Signifikanten zurück-
zuführen.
Jedes Geschlecht ist anscheinend aufgefordert, eine Rolle zu spielen, die
mit dem Fundament der Sprache selbst zusammenhängt: Männer spielen
die Rolle des Signifikanten, während Frauen die Rolle von "l'Ate de la
signifiance" spielen, wie Lacan es nennt (Seminar XX, S.83)' Meines Wis-
sens hat bis heute kein Sprecher des Englischen den Ausdruck "signifi-
ance."' zu übersetzen versucht, dabei ist ziemlich klar, worauf er mit
diesem der Linguistik entlehnten Ausdruck hinauswill. (Er wird "über-
nommen< in dem Sinne, dass er in der Linguistik bloß "die Tatsache, eine
Bedeutung zu habenn bezeichnet, wobei Lacan seine Bedeutung auf den
Kopf stellt.) Ich habe vorgeschlagen, ihn mit ,signifikantäeit" lsignifiern-ess] zu übersetzen; gemeint ist die Tatsache' ein Signifikant zu sein, die
Tatsache, dass Signifikanten ex-sistieren, die Subsistenz der Signifikanten,
das bezeichnende \?esen der Signifikanten."o Lacan verwendet diesen Aus-
druck, um das unsinnige '$(/esen
des Signifikanten zu betonen, die bloße
Existenz der Signifikanten abgesehen und losgelöst von jeglicher mögli-
chen Bedeutung oder einem Sinn, die oder den sie haben könnten; er soll
verdeutlichen, dass die Existenz des Signifikanten selbst über seine be-
zeichnende Rolle hinausgeht, dass seine Substanz seine symbolische Funk-
tion übersteigt. Das Sein des Signifikanten geht über seine "vorgesehene
Rolle" hinaus, seine Rolle im Logos, die im Bezeichnen besteht' Statt also
'die Tatsache, eine Bedeutung zu haben" zu bezeichnen, verwendet Lacan
ihn, um odie Tatsache, andere wirkungen als Bedeutungswirkungen zu
haben" zu bezeichnen.Aus Lacans ,,sigyifi4ncs,, sollte man Defiance fdefiance] heraushören!
Der Signifikant trotzt der ihm zugewiesenen Rolle, indem er sich weigert,
vollständig dazu degradiert zu werden, die Funktion des Bedeutens zu
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iilil,I
übernehmen. Er hat eine Ex-sistenz ienseits und außerhalb des Bedeutung-
Erzeugens oder Sinn-Erzeugens.Das Sein steht in Lacans \üerk mit dem Buchstaben in Zusammenhang -
mit dem Buchstaben, der in den siebziger Jahren die materiale, nicht be-
zeichnende seite des signifikanten ausmacht, den Teil, der \üirkungen hat,
ohne zu bezeichnen: Jouissance-\lirkungen. Der Buchstabe bezieht sich
auf die Materialität der Sprache, die "substance 'iouissante", wie Lacan es
in Seminar XX nennt (S. 27):"' die Jouissance- oder ojouissenden Sub-
stanz, die Substanz, die von etwas einen Kick bekommt oder genießt. Das
Männliche mit dem signifikanten und das lüeibliche mit dem Buchstaben
in Zusammenhang zu bringen, mag wie eine Rückkehr zur alten Meta-
pher von Form und Materie erscheinen, die mindestens bis auf Platon
zurückgeht, aber in Lacans'tüüerk gibt es bei der Rückkehr immer eine
überraschende Wendungr Die Substanz überwindet die Form und zeigt ihr
den einen oder anderen Kniff.
Für sich selbst ein Anderes, iout'ssance des Anderen
In welcher Hinsicht kann eine Frau für sich selbst als ein Anderes betrach-
tet werden, wie Lacan sagt? Insofern sie sich selbst im Hinblick auf einen
Mann definieft (im Hinblick auf den Phallus, über diesen Mann), bleibt
jener andere Aspekt - die mögliche Beziehung zu S(A) - dunkel, fremd,
Anders. Betrachten wir einmal, was Lacan im Jahre 1.95811,962 sagt: "Der
Mann dient hier [in Relation zur Kastration] als Relais, damit die Frau
dies Andere für sich selbst wird, wie sie es für ihn ist." (Schriften III, S'
230) Indem sie sich selbst nur im Hinblick auf den Phallus sieht, das heißt,
im Hinblick auf ihre Position, in Relation zu einem Mann definiert zu
sein, werden andere Frauen, die nicht in dieser lüüeise definiert zu sein
scheinen, als Anders hingestellt. Insofern jedoch dieses Andere Potential
realisiert wird, also eine Beziehung zu s(A) hergestellt wird, ist die Frau
für sich selbst nicht mehr ein Anderes. Insofern es nicht realisiert wird,
bleibt sie eine hommosexuelle, wie Lacan es schreibt, indem er Mann
(homme) und homosexuell verschmilzt: sie liebt Männer, sie liebt wie ein
Mann, und ihr Begehren ist im Phantasma wie seines strukturiert.
Denjenigen, die durch die männliche Struktur charakterisiert sind, er-
scheint eine Frau als Anders - als radikal Anders, als der Andere der bzw.
als jouissance - insofern sie die fozlss ance desAnderen verkörpert oder als
Repräsentanz dieser iouissance betrachtet wird, die Lacan als unpassend
bezeichnet. !üarum ounpassendn? rüeil sie keine Relation zum Phallus er-
fordert und den tvtangel der phallisch en iouissance sichtbar macht, die
bloß der Hungerlohn der Lust ist, der übrig bleibt, nachdem die Triebe
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(im Falle männlichen Struktur) völlig dem Symbolischen unterworfen
wurden. Diese Unterwerfung der Triebe entspricht einer bestimmten
Freudschen Form der sublimierung, nämlich derjenigen, bei der das Reale
in das Symbolische eindringt'" und die iouissance dem Anderen übertra-
gen wird.Die iouissance des Anderen geht mit einer Form der Sublimierung durch
Liebe einher, die für eine vollständige Befriedigung der Triebe sorgt. Die
iouissance des Anderen ist eine iouissance der Liebe,"t und Lacan bringt
sie mit religiöser Ekstase und einer Art körperlicher iouissance in Zusam-
menhang, die nicht wie die phallische iouissance in den Genitalien lokali-
siert ist (wie er deutlich macht, ist Erstere kein so genannter vaginaler Or-
gasmus im Gegensatz :.lrJm klitoralen). Lacan nach ist die iouissance des
Anderen asexuell (während die phallische iouissance sexuell ist), und den-
noch ist sie eine iouissance des Körpers und im Körper"' (zur phallischen
iouissance gehört lediglich das Organ als Instrument des Signifikanten).
Das wenige, das Lacan direkt über S(A) sagt, legt den Schluss nahe, dass
die iouissanca des Anderen, die er bezeichnet, etwas mit der absoluten Ra-
dikalität oder Andersheit des Anderen zu tun hat: Es gibt keinen Anderen
(d.h. kein Außerhalb) des Anderen. Der Andere ist nicht bloß ein Außen,
das relatiu Zu einem bestimmten, einzelnen Innen wäre; er ist immer und
unausweichlich Anders,,außerhalbn ieglicher Systeme."'
Die iouissance des Anderen werde ich bei anderer Gelegenheit detailliert
erklären.tto An dieser Stelle möchte ich nur bemerken, dass sie mit Freuds
Idee zusammenhängt, dass die vollständige Befriedigung der Triebe, die
durch eine Form der sublimierung erreicht wird' odesexuslislsft''el ist'
Die odesexualisierte Libido* scheint in engem Zusammenhang mit Lacans
asexueller iouissance des Anderen zu stehen. Nebenbei bemerkt, ordnet
Lacan die sublimierung (in einem erwas anderen Zusammenhang) in der
unreren linken Ecke des logischen Quadrats ein, das ich in den Kapiteln 4
und 5 oben vorgestellt habe (siehe Figur 8.10).
Figur 8.10
Passage ä I'acte'!üiederholung
Sublimierung Acting-out
t59
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M.
Meine Ausführungen stellen lediglich den Ansatz zu einer Interpretation
dar, aber mir scheint dies eine allgemeine Hinsicht zu sein, in der sich Fi-
gur 8.8 verstehen ließe.rüüie ich zuvor angedeutet habe, nimmt Lacan sich vor zu zeigen, (1) dass
die Geschlechter einzeln und verschieden definiert werden, und (2) dass
ihre Partner weder symmetrisch sind, noch dass es Überschneidungen bei
ihnen gibt. Wie wir in Figur 8.8 gesehen haben, ist der Partner des Man-
nes das Objekt (a) und nicht eine Frau als solche. Ein Mann kann also von
etwas einen Kick bekommen, das er von einer Frau bekommt: eine ge-
wisse Art, wie sie spricht, wie sie ihn anblickt und so weiter, aber nur, in-
sofern er sie mit lenem heiß geliebten Obiekt besetzt hat, das sein Begeh-
ren erweckt. Er mag daher eine (biologisch definierte) Frau als Substrat,
Stütze oder Medium für Objekt (a) benötigen, aber sie wird niemals sein
Partner sein.Noch wird er als solcher iemals ihr Partner sein. Sie mag einen (biologisch
definierten) Mann benötigen, der den Phallus verkörpert, personifiziert
oder als Stütze desselben dient, aber es ist der Phallus und nicht der Mann,
der ihr Partner sein wird. Der Bruch oder die Asymmetrie ist sogar noch
radikaler, was ihren Anderen Partner betrifft, S(A), denn dieser Partner
wird überhaupt nicht unter oMännero eingeordnet, weshalb eine Frau
keine Zuflucht zu einem Mann nehmen muss' um Deine Beziehung" oder"Zugang" zu ihm zu haben.Hätten sich die Geschlechtspartner von Männern und Frauen als identisch
herausgestellt - würde, sagen wir, Obiekt (a) als einziger Partner für beide
fungieren -, wäre bei ihnen als sexuierten \ü7esen wenigstens das Begehren
in einer irgendwie ähnlichen (hommosexuellel Veise strukturiert, und wir
könnten versuchen, uns ein Geschlechtsverhältnis zwischen ihnen auf
dieser Grundlage vorzustellen. Aber ihre Partner sind vollkommen asym-
merrisch, und daher lässt sich keinerlei denkbare Beziehung zwischen den
Geschlechtern postulieren, artikulieren oder schreiben.
Die Wahrheit der PsychoanalYse
Dies beschreibt Lacan im Allgemeinen als dle Wahrheit der Psychoana-
lyse. Zugegeben, er behauptet hin und wieder, dass sich iede lyahrheit ma-
thematisieren lässt: ,[E]s gibt keine \üahrheit, die nicht 'mathematisiert',
das heißt, geschrieben ist, das heißt, die sich nicht qua Sflahrheit allein auf
Axiome gründet. \ü(as bedeutet, dass es zwarlüüahrheit gibt, aber nur von
etwas ohne Bedeutung, das heißt, von etwas, hinsichtlich dessen sich
Schlussfolgerungen nur innerhalb [des Registers] der mathematischen De-
duktion ziehen lassen* (Seminar XXI, 11. Dezember 1,973]'.
1,60
fr
fi
Aber diese Bemerkung trifft lediglich auf das '!üahre (le urai) zu, dem wir
zum Beispiel in o\(/ahrheitstafelnn und der symbolischen Logik begegnen(siehe Kapitel 10). Die einzige Wahrheit der Psychoanalyse ist Lacan nachdie, dass es kein Geschlechtsverhältnis gibt, wobei das Problem darin be-
steht, das Subjekt an den Punkt zu bringen, auf diese rüüahrheit zu stoßen.
E X I S T E N Z U N D E X - S I S T E N Z
N'existe que ce qui peut se dire.N'ex-siste que ce qui peut s'öcrire,
Angesichts der vielen scheinbar paradoxen Aussagen Lacans, die mit Exi-stenz zu tun haben - oDie Frau existiert nicht", "Die iouissance des Ande-ren existiert nichto, "Es gibt kein Geschlechtsverhältnisn, o1l y a de I'Un","ll n'! a pas d'Autre de I'Autreo - möchte ich an dieser Stelle noch einpaar ergänzende Bemerkungen zu Lacans Begriff der Ex-sistenz machen.Soweit ich weiß, wurde das lfort oex-sistenceu zum ersten Mal durchÜbersetzungen von Heidegger (2.8. von Sein und Zeit) als Übersetzung fürdas griechische ekstasis und das deutsche "Ekstase" in das Französischeeingeführt. Die Grundbedeutung des Ausdrucks im Griechischen ist,außerhalb von etwas stehenn oder "abseits stehen". Im Griechischenwurde es normalerweise für die Entfernung oder Verschiebung von etwasverwendet, aber es wurde auch auf Geisteszustände angewandt, die wirheutzutage ,eksfatischn nennen würden. Eine abgeleitete Bedeutung desl7ortes ist somit oVerzückungu [ecstasy], daher der Zusammenhang mitder iouissance des Anderen. Heidegger spielte oft mit der Grundbedeu-tung des'$üortes, oaußerhalb seiner selbst stehenn oder "aus sich heraus-treten<, aber auch mit seiner engen Verbindung zur'l7urzel des'lüortes für"Existenz". Lacan verwendet es, um von ,einer Existenz, die abseits"steht, die besteht, als sei sie von außerhalb, zu sprechen; etwas, das nichtin das Innere eingeschlossen wird, etwas, das, statt intim zu sein, "extim,l
ist.Die iouissance des Anderen ist jenseits des Symbolischen, sie steht außer-halb der symbolischen Kastration. Sie ex-sistiert. \7ir können einen Platzfür sie innerhalb unserer symbolischen Ordnung ausmachen und ihn sogarbenennen, aber sie bleibt gleichwohl unbeschreiblich und unaussprechlich.'$7ir
können sie als ex-sistierend betrachten, da sie sich schreiben lässt:VxOx.Geschlechtsverhältnisse sind in dieser Hinsicht iedoch anders: Sie lassen
sich nicht schreiben und können daher weder existieren noch ex-sistieren.Es gibt einfach nichts dergleichen.
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Die bloße Vorstellung der Ex-sistenz und der iouissance des Anderen alsex-sistierend macht Lacans ,Ökonomie der iouissance,, oder "libidinöseÖkonomie" zu einer offenen Ökonomie, die sich nicht totalisieren lässt.Es gibt keinen Erhalt der iouissance, kein Entsprechungsverhältnis von ge-opferter und gewonnener iouissance, keine Hinsicht, in der die iouissancedes Anderen die Unzulänglichkeit oder den Mangel der phallischen iouis-sance wettmacht - mit einem Wort, keine Komplernentarität oder Entspre-chung. Die iouissance des Anderen ist für die "höfliche Gesellschaft"grundsätzlich unangemessen, unquantifizierbar, unproportioniert und un-passend. Sie lässt sich niemals als "phallische Ökonomie. oder einfacherStrukturalismus wieder herstellen. \fie Obiekt (a) als Ex-sistenz hat auchdie iouissance einen nicht wiedergutzumachenden Effekt auf das ,rei-
Funktionieren
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