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Physikalische Chemie II:
Chemische Reaktionskinetik
Hans Jakob Wörner
Herbstsemester 2014
nach einer Vorlesung
von Martin Quack 2012
2
PCII - Chemische Reaktionskinetik
Kapitel 1
Einführung: Phänomenologische
Kinetik
Die phänomenologische Kinetik beschreibt den Ablauf chemischer Reaktionen durch die Zeitab-
hängigkeit globaler chemischer Parameter wie Konzentration, Druck, Temperatur oder Entro-
pie. Es werden hierfür zwar auch geeignete Differentialgleichungen und ihre zeitabhängigen
Lösungen angegeben, eine grundlegende, molekulare Begründung für diese Gleichungen wird je-
doch zunächst nicht angestrebt. Ziel dieses Kapitels ist eine Einführung und ein kurzer Überblick
über die Grundlagen der phänomenologischen Kinetik.
1.1 Zeitskalen
Chemische Prozesse finden auf fast allen Zeitskalen in unserem Universum statt. Die folgende
Übersicht gibt einige Beispiele. In dieser Übersicht sind Zeitschritte von jeweils drei Zehnerpoten-
zen (mit den Abkürzungen für die jeweiligen Zeiteinheiten in Klammern) mit Grössenordnungen
für allgemeine Prozesse und Zeiten (Mitte) und physikalisch-chemische Primärprozesse (rechts)
wiedergegeben. Der Überblick über die Grössenordnungen lässt sich noch veranschaulichen, wenn
wir ihn in Schritte von jeweils 109 einteilen. Im mittleren Lebensalter hat ein Mensch etwa eine
Milliarde (109) Sekunden hinter sich gebracht, also ungefähr eine Milliarde Herzschläge erlebt.
Dies ist unserer Erfahrung intuitiv gut zugänglich. Setzen wir etwa eine Milliarde Menschenleben
in einer Reihe hintereinander, so erreichen wir etwa das Alter des Universums.
3
4 KAPITEL 1. PHÄNOMENOLOGISCHE KINETIK
t/s Einheit Allgemeine Prozesse PC Primärprozesse
1018 (Es) Alter des Universums ' 15× 109 a (5× 1017 s)Sonnensystem ' 4.56× 109 aEvolution des Lebens
1015 (Ps) langsamer radioaktiver
Zerfall natürlicher Isotope
Entstehung des Menschen langsame chemische Reaktionen;
1012 (Ts) L-D Asparaginsäurerazemisierung
τ = 3.6× 1012 s
109 (Gs) eine Menschengeneration
ca. 109 s (≈ 32 a)
3.15×107 s ' 1 a (annus, Jahr)
106 (Ms)
8.64×104 s = 1 d (dies, Tag) langsame DNS-Synthese(Mitose) Zellzyklus
3.6×103 s = 1 h (hora, Stunde)103 (ks) Generationsdauer von Bakterien
10 – 30 Minuten (37 oC) Halbwertszeit des
1 Minute (1 min) = 60 s Neutrons (10 min)
100 (s) Herzschlagperiode
Zeitauflösung des
menschlichen Auges
spontane Infrarotemission
10−3 (ms) Zeitauflösung des von Schwingungsübergängen
menschlichen Gehörs
10−6 (µs) schnellste enzymkatalysierte
Reaktionen
PCII - Chemische Reaktionskinetik
1.1. ZEITSKALEN 5
t/s Einheit Allgemeine Prozesse PC Primärprozesse
1.087828×10−10 s ist die typische Lebensdauer elektronisch10−9 (ns) Periode eines Hyperfein- angeregter Atome und Moleküle;
überganges in 133Cs Zeit zwischen zwei Stössen von
(Zeitstandard) Molekülen in Gasen bei Atmos-
phärendruck
Licht braucht für 1 mm Bruch von H-Brückenbindungen
10−12 (ps) 3.3356409×10−12 s = schnelle intramolekulare(1 s/299792458000) Schwingungsenergieumverteilung
(Definition des Meters) Periode hochfrequenter
Molekülschwingungen
kurze Laserpulse
10−15 (fs) (ca. 10 fs, sichtbares Licht)
atomare Zeiteinheit
tae = h/(2πEh) schnellste chemische
tae = 2.41888×10−17 s Prozesse (e−-Transfer)10−18 (as) Heutige Grenze der zeit-
aufgelösten Messtechnik
10−21 (zs)
Licht oder Neutrinos brauchen schnellste Kernreaktionen
für die Durchquerung eines
Neutrondurchmessers
ca. 3×10−24 s10−24 (ys) Lebensdauer des Z-Teilchens
(Feldteilchen der schwachen
Wechselwirkung)
τZ ≈ 2.6× 10−25 s = 0.26 ystP =
√Ghc−5/(2π)
tP = 5.39×10−44 s Diese kurzen Zeiten entsprechenPlanck-Zeit, gilt als kürzeste so hohen Energien, dass die bis
Elementarzeit im Urknall bei heute bekannten physikalischen
der Entstehung des Universums Gesetze nicht in der Lage sind,
solche Kurzzeitphänomene zu
beschreiben
PCII - Chemische Reaktionskinetik
6 KAPITEL 1. PHÄNOMENOLOGISCHE KINETIK
Auf der anderen Seite sind in einer Sekunde gerade eine Milliarde Nanosekunden also in etwa
109 typische Lebensdauern elektronisch angeregter Atome enthalten. Schliesslich passen in eine
Nanosekunde gerade wieder etwa eine Milliarde elektronische Umlaufzeiten oder Perioden für
die inneren Schalen in einem typischen “leichten” Atom, was den schnellsten typischerweise noch
als “chemisch” betrachteten Prozessen entspricht.
1.2 Die stöchiometrische Gleichung
Zur quantitativen Beschreibung chemischer Reaktionen verwenden wir die stöchiometrische Glei-
chung
0 =∑i
νiBi (1.1)
oder konventionell geschrieben
− ν1B1 − ν2B2 − ... = νmBm + νm+1Bm+1 + ... (1.2)
νi ist ein stöchiometrischer Koeffizient und Bi ist ein chemischer Stoff. Die Vorzeichen der Ko-
effizienten der stöchiometrischen Gleichung sind zwar prinzipiell willkürlich, es gibt aber im
Zusammenhang mit Gl. (1.1) folgende Konvention:
νi < 0 für Reaktanden
νi > 0 für Produkte
In Gleichung (1.2) schreibt man konventionell auf die linke Gleichungsseite die Reaktanden und
auf die rechte Seite die Produkte. (−ν1, ), (−ν2) sind dann positive Zahlen, ebenso wie νm, νm+1,
etc.
Man kann auch schreiben:
|ν1|B1 + |ν2|B2 + ... = νmBm + νm+1Bm+1 + ... (1.3)
Beispiel:
F + CHF3 = HF + CF3 (1.4a)
oder
0 = HF + CF3 − F − CHF3 (1.4b)
oder
−HF − CF3 + F + CHF3 = 0 (1.4c)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
1.3. THERMODYNAMIK UND KINETIK 7
Die stöchiometrische Gleichung ist eine symbolische, keine algebraische Gleichung. Man kann
die stöchiometrische Gleichung chemischer Reaktionen als Erhaltungsgleichung für Elemente
oder auch für Atomkerne und Elektronen auffassen (das gilt aber nicht für Kernreaktionen).
Anmerkung: In einem tatsächlichen Reaktionsverlauf braucht es nicht immer eine einfache
Stöchiometrie zu geben.
1.3 Unterschiede und Beziehungen zwischen der Thermodyna-
mik und der Kinetik
Die Thermodynamik beschreibt Gleichgewichtseigenschaften, insbesondere die chemische Zu-
sammensetzung eines Systems im Gleichgewicht, unabhängig von der Zeit, nach der sich das
Gleichgewicht einstellt. Die Zeit kommt nicht als Parameter vor. Die Gleichgewichtskonstanten
der Thermodynamik sind definiert mit dem Standarddruck p
K ′p =∏i
(pi/p)νi (ideales Gas) (1.5)
Allgemeiner führt man die Aktivitäten ai ein und erhält damit den allgemeinen Ausdruck für
die Gleichgewichtskonstanten Ka
Ka =∏i
(ai)νi (allgemein) (1.6)
Die Kinetik untersucht, auf welchem Weg ein System in sein Gleichgewicht findet und wie schnell
es dies tut. Zentrale Untersuchungsobjekte der Kinetik sind also:
1. der Reaktionsmechanismus - Frage nach dem Reaktionsweg - (qualitativ)
2. die Reaktionsgeschwindigkeit - Frage nach der Reaktionszeit - (quantitativ)
1.4 Messung und Definition von Reaktionsgeschwindigkeiten
Es sind viele Messungen denkbar, die als Resultat eine ”Reaktionsgeschwindigkeit” liefern. Je
nach Wahl der Methode oder Messgrösse erhält man eine andere Definition dieser ”Reaktions-
geschwindigkeit” (Tab. 1.1). Wir können die folgenden Fälle unterscheiden:
(i) Für ein abgeschlossenes System (U, V konstant, weder Energie- noch Materialaustausch
mit der Umgebung) können wir eine Wandlungsgeschwindigkeit definieren
vS(t) =
(∂S
∂t
)U,V
≥ 0 (1.7)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
8 KAPITEL 1. PHÄNOMENOLOGISCHE KINETIK
Für ein System mit konstanter Temperatur (Thermostat) und konstantem Volumen (und
als massgebliche Funktion die Helmholtzenergie A = U − TS) definieren wir
vA(t) = −(∂A
∂t
)T,V
≥ 0 (1.8)
Das Gleichheitszeichen gilt im Gleichgewichtszustand. Diese Beschreibung ist in der Ki-
netik nicht gebräuchlich, kann aber sinnvoll sein für gewisse, sehr allgemeine kinetische
Phänomene.
(ii) Die Beschränkung auf Reaktionen mit fester Stöchiometrie führt zur Reaktionskinetik im
engeren Sinn. Die stöchiometrische Gleichung (1.1) erlaubt uns, eine Reaktionslaufzahl ξ,
zu definieren
dξ = ν−1i dni (1.9)
ni = ni0 + νiξ (1.10)
ξ =ni − ni0
νi(1.11)
ni bezeichnet die Stoffmenge des Stoffes Bi (Angabe in mol, ni0 ist die Anfangsstoffmenge),
NAdni = NAνidξ ist die Änderung der Zahl der Moleküle i, wenn die Reaktion um dξ
fortschreitet. Nach dieser Definition hat man dasselbe dξ, unabhängig davon, welche Art
von Molekülen i man im Reaktionsablauf betrachtet. Die konventionelle Definition der
Umsatzgeschwindigkeit vξ ist durch die folgende Gleichung gegeben :
vξ(t) =dξ
dt= ν−1i
dnidt
(1.12)
Auch in einem wohldefinierten, geschlossenen System brauchen aber Temperatur, Druck,
Konzentration ci etc. nicht notwendigerweise wohldefinierte einheitliche Werte zu besit-
zen. Insbesondere eignet sich die Definition von vξ auch für heterogene Reaktionen mit
verschiedenen ci in verschiedenen Phasen. vξ ist eine extensive Grösse. Sie ist additiv für
zwei unabhängige Teilsysteme I, II:
vξ(I + II) = vξ(I) + vξ(II) (1.13)
(iii) Die Beschränkung auf homogene Reaktionen führt zur Reaktionsgeschwindigkeit im enge-
ren Sinn. In einem Raumbereich mit dem Volumen V seien die Konzentrationen ci definiert:
ci =1
Vni (1.14a)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
1.4. MESSUNG UND DEFINITION VON REAKTIONSGESCHWINDIGKEITEN 9
Randbedingungen
extensiveGrö
sse
intensiveGrö
sse
“Reaktionsg
eschwindigkeit
”
U,V
=co
nst
Entr
op
ieS
loka
leE
ntr
opie
v S=
dS dt>
0;b
zw.v S
V=
dSV
dt
>0
adia
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sch
SV
=δS δV
(Ein
hei
t:J
K−1
s−1;
bzw
.J
K−1
s−1
cm−3)
T,V
=co
nst
Hel
mh
oltz
-En
ergi
elo
kale
Hel
mh
oltz
-En
ergi
evA
=−
dA dt>
0;b
zw.
vA
V=−
dAV
dt
isoth
erm
A=U−TS
AV
=δA δV
(Ein
hei
t:J
s−1;
bzw
.J
s−1
cm−3)
V=
con
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Kon
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nd
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stan
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dni
dt
(Ein
hei
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ols−
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isoth
erm
od
erad
iab
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sch
Sto
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engeni
c i=ni/V
dc i dt
(Ein
hei
t:m
olcm−3
s−1)
Tei
lch
enza
hlNi(
=N
Ani)
Ci
=Ni/V
dCi
dt
(Ein
hei
t:cm−3
s−1)
fest
eS
töch
iom
etri
e0
=∑ iν
iBi
Rea
kti
on
slau
fzah
lξ
dξ dt
(Ein
hei
t:m
ols−
1)
dξ
=ν−1
idni
δξ δV'
ξ V
1 V
dξ i dt
=1 ν i
dc i dt
(Ein
hei
t:m
olcm−3
s−1)
Tab
elle
1.1:
Die
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edin
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gen
.
PCII - Chemische Reaktionskinetik
10 KAPITEL 1. PHÄNOMENOLOGISCHE KINETIK
Die konventionelle Definition einer Reaktionsgeschwindigkeit vc ist durch folgende Glei-
chung gegeben :
vc(t) =1
Vvξ(t) =
1
νi
dcidt
(1.14b)
Diese Definition erweist sich als besonders nützlich in der Kinetik homogener Reaktionen.
Die Nomenklatur ist nicht einheitlich. In der älteren Literatur wird oft auch vξ als ”Reakti-
onsgeschwindigkeit” bezeichnet. Man soll sich deshalb stets vergewissern, welche Konven-
tion gewählt wurde. Tabelle 1.1 gibt einen Überblick über ”Reaktionsgeschwindigkeiten”.
Völlig analog kann man auch eine Reaktionsgeschwindigkeit vC mit der Teilchenzahldichte
Ci definieren, die sich durch Multiplikation mit der Avogadrokonstante berechnen lassen
Ci = NA × ci (1.14c)
vC =1
νi
dCidt
(1.14d)
vc und vC sind intensive Grössen und (falls definierbar) für jeden Ort (”Punkt”) des
Reaktionssystems definiert.
1.5 Beispiele
1.5.1 Zerfall von Chlorethan
Ein einfaches Beispiel zur Veranschaulichung der verschieden definierten ”Reaktionsgeschwin-
digkeiten” ergibt sich für die homogene Gasreaktion:
C2H5Cl = C2H4 + HCl (1.15)
Man findet einen einfachen Verlauf dieser Reaktion bei 800 K in einem Überschuss von N2
(1 mol).
pN2 = 1 atm
xC2H5Cl(t = 0) = 1× 10−4
c0 = cC2H5Cl(t = 0) = 1.5× 10−9 mol cm−3
∆S = 0.0127 J K−1
V = const , U = const
∆T = −0.284 K (' isotherm)
Die Funktion S(t) in Bild 1.1 ist quantitativ, aber nicht qualitativ verschieden von den Pro-
duktkonzentrationsfunktionen ci(t). Dies ist aber nur bei solch einfachen Reaktionen der Fall
(einfache Kinetik). Ein komplizierter zeitlicher Verlauf ist jedoch ebenso möglich, wie das zweite
PCII - Chemische Reaktionskinetik
1.5. BEISPIELE 11
a600 8004002000
i
hc g
f
e0
d
b
j
c(t)c0
c0/2
t / s
[C2H4]t=[HCl]t
[C2H5Cl]t
S(t) Sm
S0
(Sm+S0)/2
Abbildung 1.1: Relative Konzentrationen und Entropie als Funktion der Zeit für Reaktion (1.15).
Sm ist der Maximalwert der Entropie und S0 der Anfangswert.
Beispiel zeigt.
1.5.2 Belousov-Zhabotinsky-Reaktion: ”Oszillierende” Reaktionen
Es ist keine genaue Stöchiometrie bekannt. Man stellt eine wässerige Lösung folgender Zusam-
mensetzung her:
[CH2(COOH)2] = 0.032 mol dm−3
[KBrO3] = 0.063 mol dm−3
[KBr] = 1.5×10−5 mol dm−3
[Ce(NH4)2(NO3)5] = 0.001 mol dm−3
[H2SO4] = 0.8 mol dm−3
Bild 1.2 zeigt die Konzentration von[Br−
]und das Konzentrationsverhältnis
[Ce4+
]/[Ce3+
]in
logarithmischer Auftragung als Funktionen der Zeit. Man erkennt das charakteristische ”oszillie-
rende” Verhalten dieser Grössen. Dies kann durch einen Farbumschlag der Lösung von blau nach
rot und zurück in einem Schauversuch sichtbar gemacht werden. Die Periodizität ist allerdings
nur scheinbar.
Allgemein kann man den Konzentrationsverlauf einer ”oszillierenden” Reaktion durch gedämpfte
Schwingungen charakterisieren, wie in Bild 1.3 gezeigt ist. Die Geschichte oszillierender Reak-
tionen kann in einem Artikel von Zhabotinsky [Zhabotinsky 1991] nachgelesen werden.
PCII - Chemische Reaktionskinetik
12 KAPITEL 1. PHÄNOMENOLOGISCHE KINETIK
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10- 7
10- 6
10- 5
10- 4 0- 1- 2
[Br-
]/M
300 600 900 1200 1600t / s
012
log10([Br-]/M)
log10([Ce4+]/[Ce3+])log
10 ([Ce
4+]/[Ce
3+])
Abbildung 1.2: Konzentrationen in logarithmischer Auftragung als Funktion der Zeit für die
Belousov-Zhabotinsky Reaktion (nach [Field et al. 1972]).
c t( )
t
Abbildung 1.3: Konzentration als Funktion der Zeit für eine oszillierende Reaktion (schematisch).
Für die Konzentration gilt:
dc
dt
> 0 → ”vorwärts”
= 0
< 0 → ”rückwärts”
(1.16)
Für die globale Zustandsfunktion Entropie gilt stets:
dS
dt≥ 0 (U, V = const) (1.17)
Im abgeschlossenen System, U , V = const, ist also nur die Richtung ”vorwärts” möglich, offen-
bar ist dies sinnvoller (Bild 1.4).
Für einfache kinetische Systeme haben jedoch die Definitionen von vc und vξ grosse Vortei-
le, wie zum Beispiel die häufig einfache Abhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit von den
Konzentrationen der beteiligten Stoffe.
PCII - Chemische Reaktionskinetik
1.6. REAKTIONSORDNUNG 13
t
Seq
S(t)
Abbildung 1.4: Entropie als Funktion der Zeit (schematisch).
1.6 Die Konzentrationsabhängigkeit der Reaktionsgeschwindig-
keit homogener Reaktionen: Reaktionsordnung
Die Konzentrationsabhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit spielt in der Reaktionskinetik
eine grosse Rolle. Auf die theoretische Begründung für gewisse einfache Fälle werden wir in Kap.
?? eingehen. Zunächst wollen wir aber nur einige rein empirische Befunde zusammenfassen.
Es gilt manchmal a in praktisch wichtigen Sonderfällen
vc(t) =1
νi
dcidt
= kcm11 cm22 c
m33 ... = k
∏i
cmii (1.18)
wobei ci für die Konzentrationen der betreffenden Stoffe steht. Diese ci müssen nicht unbedingt
alle in der stöchiometrischen Gleichung erscheinen. So wird ein Katalysator (oder Inhibitor) in
der Stöchiometrie nicht vorkommen. Trotzdem beeinflusst er die Reaktionsgeschwindigkeit. Der
Exponent mi heisst Reaktionsordnung bezüglich des Stoffes Bi. Die Reaktionsordnungen sind
häufig einfache Zahlen, ganz oder halbganz (allgemein aber beliebig reell). Die Summe über alle
mi heisst Reaktionsordnung (total) oder Gesamtordnung der Reaktion :∑i
mi = m =̂ Reaktionsordnung (1.19)
k nennt man Geschwindigkeitskonstante. Sie ist keine Funktion der Konzentrationen. k wird
normalerweise als zeitunabhängig angenommen, kann aber auch von der Zeit abhängen. Von
Parametern wie der Temperatur hängt k in der Regel sehr stark ab. k wird auch Geschwin-
digkeitskoeffizient genannt. Tabelle 1.2 enthält einige Beispiele für Geschwindigkeitsgesetze vom
Typ (1.18). Diese gelten jeweils unter speziellen experimentellen Bedingungen (nicht allgemein!).
ad.h. für gewisse Klassen von Reaktionen - allgemein ist es eher die Ausnahme (siehe Kap. ?? und ??).
PCII - Chemische Reaktionskinetik
14 KAPITEL 1. PHÄNOMENOLOGISCHE KINETIK
Die Dimension von k ist allgemein durch die Dimensionsgleichung (1.20) gegeben
dim(k) = Konzentration1−m Zeit−1 (1.20)
Eine Reaktionsordnung kann nur bei Gültigkeit des Ansatzes (1.18) definiert werden. Die Dif-
ferentialgleichung (1.18) ist das Zeitgesetz für die Zeitabhängigkeit der Konzentrationen ci. Sie
wird gelegentlich auch als Geschwindigkeitsgesetz (rate law) oder Bewegungsgleichung bezeich-
net. Es stellen sich hier zwei Fragen:
1. Frage: Was macht man, wenn das einfache Zeitgesetz (1.18) nicht gilt? Das ist eher die Regel
als die Ausnahme. In den Kapiteln ??, 4 und ?? wird gezeigt, dass meist ein Zeitgesetz aus
mehreren Termen der Struktur (1.18) zusammengesetzt werden kann. Ein einfaches Beispiel ist
die Isomerisierung, wenn die Rückreaktion wichtig ist.
cis(C2H2Cl2) = trans(C2H2Cl2) (1.21)
− d [cis]dt
= ka [cis]− kb [trans] (1.22)
insgesamt ist dies nicht von der Form (1.18), obwohl es sich offensichtlich aus zwei Summanden
dieser Form ergibt. Kompliziertere Fälle werden wir noch kennenlernen. Ein Beispiel ist die
Bromwasserstoffbildung aus den Elementen (Kap. ??) mit der stöchiometrischen Gleichung der
“Bildungsreaktion”1
2H2 +
1
2Br2 = HBr (1.23)
Die Reaktionsgeschwindigkeit wird durch die Gl. (1.24) gegeben:
d[HBr]
dt= ka[H2][Br2]
1/2
(1 + kb
[HBr]
[Br2]
)−1(1.24)
Das ist offenbar nicht von der Form der Gl. (1.18), es gibt also keine Reaktionsordnung.
2. Frage: Warum sind die mi manchmal einfache Zahlen (ganzzahlig, halbganzzahlig etc.)? Das
liegt daran, dass manche einfache Mechanismen und insbesondere Elementarreaktionen streng
auf solche Geschwindigkeitsgesetze führen (siehe Kapitel 2 und 5). Die Tabelle zeigt allerdings
auch Beispiele mit allgemein reellen, im Rahmen der Messgenauigkeit rationalen Zahlen, z.B.
m = 2.02.
Anmerkungen: Wenn ein Stoff Bi nicht in dem Geschwindigkeitsgesetz Gl. (1.18) vorkommt, so
ist wegen c0i = 1 offenbar mi = 0. Gleichung (1.18) gilt mit konzentrationsunabhängigem k, wenn
überhaupt, meist nur in einem Konzentrationsmass, welches zur Teilchenzahldichte proportional
ist. Hierfür verwendet man auch das Symbol [A] ≡ cA (chemische Spezies A, Einheiten z.B.
PCII - Chemische Reaktionskinetik
1.6. REAKTIONSORDNUNG 15
Reaktion
Geschwindigkeitsg
esetz
Ord
nung
Dim
ension
vonk
Isom
eris
ieru
ng:
CH
3N
C=
CH
3C
N−
d[C
H3N
C]
dt
=k
[CH
3N
C]
1.O
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H3N
CZ
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Ord
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sfer
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CH
F3
=H
F+
CF3
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[F]
dt
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[F][
CH
F3]
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Kon
zentr
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CH
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HO
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1.2:
aB
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eten
Kon
zentr
atio
nsm
assc i
od
erCi
ab.
PCII - Chemische Reaktionskinetik
16 KAPITEL 1. PHÄNOMENOLOGISCHE KINETIK
mol/m3, mol/dm3 oder “Moleküle”/cm3, eigentlich “Molekülzahl”/cm3 oder einfach cm−3 etc.).
Gl. (1.18) gilt nicht, wenn man als Konzentrationsmass z.B. kg-Molalität oder gar die Stoffmenge
ni einsetzt (ausser in Sonderfällen). Man überlege sich das am einfachen Beispiel der Reaktion
F + CHF3 in einem grossen Überschuss von N2 bei fester kg-Molalität aber zwei Volumina V1
und V2 (dementsprechend cA1 und cA2).
Wenn k konzentrationsunabhängig ist, kann man die Differentialgleichung (1.18) in einfacher
Weise integrieren. Das ist nicht möglich, wenn man ein Konzentrationsmass verwendet, das zu
einem konzentrationsabhängigen k′ führt.
Gleichung (1.18) berücksichtigt nur die Konzentrationsänderung durch Reaktion. Hinzu kommen
in realen Systemen noch Konzentrationsänderungen durch Transport. Man kann also schreiben
(für ein Volumenelement V )(dcidt
)total
=
(dcidt
)Reaktion
+
(dcidt
)Transport
(1.25)
Der Transportanteil lässt sich noch weiter aufgliedern in Diffusion, Konvektion, etc. Ansonsten
wird hier der Reaktionsanteil isoliert betrachtet, was auch experimentell meist in hinreichend
guter Näherung erreicht werden kann (andernfalls kann man für den Transportanteil in einfacher
Weise korrigieren).
Neben den zeitabhängigen Konzentrationen enthält Gl. (1.18) drei Typen von Konstanten, deren
Definition sorgfältig beachtet werden muss: Die νi werden durch die stöchiometrische Gleichung
der Reaktion definiert, die mi ergeben sich experimentell oder theoretisch aus der Konzentrati-
onsabhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit und k ist eine für die Reaktionsgeschwindigkeit
charakteristische Konstante. Die Koeffizienten νi ergeben sich aus der Konvention, die für die
stöchiometrische Gleichung gewählt wird. Dementsprechend sind auch die Geschwindigkeitskon-
stanten k Gegenstand dieser Konvention. Unter gegebenen experimentellen Bedingungen ist ja
die Ableitung einer Konzentration dci/dt bestimmt. Aus Gl. (1.18) folgt dann, dass das Pro-
dukt (k νi) bestimmt ist. Der Wert von k hängt also von dem experimentell (oder theoretisch)
festgelegten Produkt (k νi) ab und von der Konvention für die stöchiometrische Gleichung, wel-
che den Wert von νi festlegt. Ein einfaches Beispiel mag dies erläutern. Wir haben schon die
Methylradikalrekombination angeführt mit der möglichen stöchiometrischen Gleichung
2 CH3 = C2H6 (1.26)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
1.6. REAKTIONSORDNUNG 17
Reaktion
Geschwindigkeitsg
esetz
Ord
nung
Dim
ension
vonk
Oxid
ati
on
von
NO
:
2NO
+O
2=
2N
O2
−d
[O2]
dt
=−
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ng
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3]
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ng
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nu
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D]
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Ord
nu
ng
ist
0.38
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erCi
ab.
PCII - Chemische Reaktionskinetik
18 KAPITEL 1. PHÄNOMENOLOGISCHE KINETIK
Das empirische Geschwindigkeitsgesetz für die Reaktionsgeschwindigkeit ist in Gl. (1.27) ange-
geben, wobei der Faktor 1/2 aus der stöchiometrischen Gleichung (1.26) folgt.
− 12
d[CH3]
dt= k[CH3]
2 (1.27)
Wir hätten aber auch eine andere stöchiometrische Gleichung zugrunde legen können, z. B.
CH3 =1
2C2H6 (1.28)
Die Reaktionsgeschwindigkeit ist dann definiert durch
− d[CH3]dt
= k′ [CH3]2 (1.29)
Da die beobachtbare Änderung der Konzentrationen offenbar von den Konventionen unabhängig
ist, muss gelten
2k = k′ (1.30)
Genau wie Reaktionsenthalpien oder Reaktionsentropien in der Thermodynamik ist auch die Re-
aktionsgeschwindigkeit Gegenstand einer Konvention, die durch die stöchiometrische Gleichung
festgelegt ist. Die angegebenen Werte hängen demnach von der stöchiometrischen Gleichung ab.
Die Angabe eines Wertes der Geschwindigkeitskonstanten ist nur bei gleichzeitiger Angabe der
stöchiometrischen Gleichung oder der Geschwindigkeitsgleichung (1.18) mit den νi eindeutig.
Prinzipiell kann man allgemeine empirische Ausdrücke für die Zeitabhängigkeit der Konzentra-
tionen in beliebigen Reaktionssystemen zulassen, mit N Konzentrationen und M Konstanten:
dcidt
= fi(c1, ..., cN ; k1, ..., kM ) (1.31)
Ein weiteres Detail in der Nomenklatur der Mathematik bei der Einteilung der Differentialglei-
chungen sollte hier erwähnt werden. Als Ordnung n einer Differentialgleichung bezeichnet man
die höchste in der Gleichung vorkommende Ableitung, dny/dxn. Gl. (1.18) entspricht also einer
Differentialgleichung erster Ordnung. Das hat offensichtlich nichts mit der Reaktionsordnung m
in Gl. (1.19) zu tun.
PCII - Chemische Reaktionskinetik
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