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Traut euch doch endlich! Der Konstruktivismus, das letzte aus der progressiven Pädagogik

Wenn Theorie und Wirklichkeitzusammenstoßen, und es stellt sichheraus, daß sie nicht zueinander passen,dann gibt es verschiedene Mög-lichkeiten, die Störung zu beheben: Eineher konventioneller Lösungsversuchwird die Theorie revidieren, um sierealitätstauglicher zu machen. In derPädagogik ist dieser Weg freilichunbeliebt. Sie läßt sich ihre Utopienvon der Neuschöpfung des Menschendurch die richtige Form von Erzie-hung und Unterricht nur ungerndurch kalte Empirie widerlegen. Sowehrt sich die Reformpädagogik seitJahren dagegen, ihr Scheitern mitMängeln ihrer Konzepte zu erklärenund identifiziert lieber den Staat, dieGesellschaft, die Lehrer, die Elternoder die Schüler als die Schuldigen.

Jetzt aber hat die pädagogischeSchwarmgeisterei einen Ausweg ge-funden, die die ärgerliche Einrede derWirklichkeit gegen die Blaupausenvom schönen neuen „Haus des Ler-nens" ein für alle Mal zum Schweigenbringen soll. Die pädagogischeVariante des „Konstruktivismus" istder einstweilen letzte Versuch, derUtopie Terrain zurückzugewinnenund den Widerstand der Realität zubrechen. Denn in konstruktivistischerPerspektive gibt es so etwas wie eineobjektiv vorhandene Wirklichkeitnicht mehr. Die Welt löst sich auf indie unendliche Vielzahl der indivi-duellen Welt-Anschauungen, dieWahrheitsfragen obsolet werden lass-sen. Was in akademischen Nischenohne Schaden esoterische Spekulationenin Gang hält und allenfalls Titanic-Überlebende provozieren kann, dieihre eigenen Vorstellungen von derObjektivität des Eisbergs habenmögen, gewinnt eine ganz andereQualität, wenn es die Klassenzimmererobert. Während selbst in rot-grünregierten Bundesländern die Kultus-minister „Qualitätssicherung" in ihrrhetorisches Arsenal aufnehmen, be-treiben zur gleichen Zeit die kon-struktivistischen Bildungsbastler dieDemontage sinnvollen Lernens und

die Verwandlung der Schule in einGehäuse der Ich-Hörigkeit.

Die Befreiung vom Bann der Be-griffe Wirklichkeit und Wahrheit er-scheint als die Rückkehr in ein Schul-Paradies. Jetzt endlich kann der päda-gogische Sündenfall der „Normie-rungsprozesse" rückgängig gemachtwerden, kann Unterricht wieder einFest der Vielfalt und Entgrenzungwerden: „Die Vielfalt durch kulturelleUnterschiede, durch leistungs-, ge-schlechts- und altersheterogene Lern-gruppen wird als Bereicherung, alsChance wahrgenommen.... Die Schulewird Werkstatt, Kommunikations-zentrum, Bühne", begeistert sich derErziehungswissenschaftler Rolf Wer-ning in der Zeitschrift „Pädagogik".

Überlebensgroß erscheint auf dieserBühne das Schülersubjekt. WährendBildung in einer heute fast schonvergessenen Tradition das Subjekt ge-rade in der Auseinandersetzung mitder Objektwelt sich formen lassenwollte, will der pädagogische Kon-struktivismus diese Spannung aufhebenund seine ganze Aufmerksamkeit aufden Subjektpol richten. Die Weltaußerhalb des Ichs kommt nur in denBlick als Quelle von Perturbationen,die den einzelnen zur Produktionimmer neuer Mutmaßungen veran-laßt. Diese „Konstruktionen" sind esnun, die im Vordergrund des didak-tisch-methodischen Interesses stehen.Zu beurteilen sind sie nicht in der Di-mension von „richtig" oder „falsch",sondern nach ihrer Brauchbarkeit undNützlichkeit („Viabilität"). Aufgabedes Lehrers im Unterricht ist es dannnur noch, die Schüler zu möglichstvielen viablen Konstruktionen anzu-stiften und den unendlichen Aus-tausch darüber zu organisieren. DiesesHaus des Lernens ist ein Asyl fürSolipsisten unter Bekenntniszwang.

Sehnsucht nach dem Unfug

Wer nun glaubt, eine solche Unter-richtspraxis sei allenfalls bei mu-sisch-ästhetischen Gegenständen

denkbar, der irrt. Ein Blick in die Ver-einigten Staaten zeigt, daß selbst sostrikt sachorientierte Fächer wie dieMathematik dem konstruktivistischenReform-Furor unterwerfen werdenkönnen. Dort hat eine doppelt neueNeue Mathematik eine Revolutionveranstaltet, die dazu geeignet ist,nostalgische Sehnsucht nach demUnfug der Mengenlehre zu wecken.Selbständige Schülerarbeit gilt alsoberstes Regulativ. Es kommt nichtdarauf an, möglichst sicher den Satzdes Pythagoras zu verstehen, er mußvon den Schülern selber geschaffenwerden, indem sie - zur Not tagelang -mit Papierschnipseln experimentieren.Eine korrekte Antwort zu finden istweniger wichtig als der Spaß bei derSache. Rechenoperationen dürfenvernachlässigt oder an den Taschen-rechner abgegeben werden. An dieStelle „entfremdeten" Rechnens tretenganz andere Unterrichtsinhalte. DasNachrichtenmagazin „US News andWorld Report" berichtet über dieerstaunlichen Entdeckungen, die eineMutter im Mathematikbuch ihrerTochter machte: „Das Buch enthältGedichte von Maya Angelou, Bildervon Präsident Clinton und von Holz-schnitzereien aus Mali, Belehrungendarüber, was wir doch alle für Um-weltsünder sind, und Photos vonSchülern mit Namen wie Taktuk undEsteban, die allgemeine Gedankenüber das Leben anbieten. Es enthältauch ein Lob der Frau des Pythagorasund fragt die Schüler nach der Lö-sung für solche Kopfzerbrecher wie„Welche Rolle sollten zoologischeGärten in unserer Gesellschaft spie-len?" Gleichungen tauchen vor Seite165 nicht auf, und die erste Lösungfür eine lineare Gleichung, die sichauf Seite 218 findet, wird durchRaten gefunden. Solche „Ethnoma-thematik" hat ihren Höhepunkt in derFeier phänomenaler Leistungen derwestafrikanischen Dogon, die ohneeuropäische Mathematik und Technikschon die Jupiter-Monde und Saturn-Ringe entdeckt haben sollen".

Abgesehen von solchen Tollheiten dermultikulturellen Korrektheit denkenkonstruktivistische Mathematik-Didaktiker auch hierzulande schon inderselben Weise: „Viele Lernendefassen Mathematik als eine Disziplinauf, bei der man zeigen kann, daßman mit einem als .äußerlich erlebtenDenksystem erfolgreich operieren kann.Einige Schüler können das. Derüberwiegende Teil aber glaubt, esnicht zu können; die Lernenden ver-stricken sich in Autoritätskonflikteund beginnen die Mathematik zuhassen. Was fehlt ihnen? Es fehltihnen das Selbstvertrauen beim 'Er-finden'". Das ganze Syndrom kon-struktivistischer Unterrichtswahrneh-mung ist hier ablesbar: Lerninhaltesind bloß äußerlich. Das Nach-Den-ken gegebener Strukturen und vor-gängig definierter Operationen er-scheint als etwas Fremdes, das demEigenen als eine Zumutung gegen-übertritt. Um mit dieser Zumutungfertig zu werden, soll Schule die Kindernicht primär mit passenden intel-lektuellen und methodischen Strategienausstatten, sondern vor allem Ich-Stärkung betreiben. Ihr müßt euch nurtrauen, die Mathematik neu zuerfinden, lautet die beruhigendeBotschaft.

Schaudern vor der Ignoranz

Niemand wird bestreiten, daßSelbstvertrauen und andere Gefühleden Lernerfolg entscheidend beein-flussen können. Hier aber werden dieempirischen Randbedingungen vonUnterricht zur Hauptsache erklärt.Die Psychologie der „Ich-will-mein-Magnum-jetzt"-Generation gilt nichtmehr als eine zu verändernde Ein-gangsbedingung von Lernen, sondern alsregulative Idee. Die Folge ist nicht nurein illusionäres Selbstbild derSchüler, sondern auch ein Weltzugriff,der im Medium selbstgewissen,endlosen Meinens alles für kommen-surabel hält. An die Stelle der „Re-konstruktion kultureller Leistungen"möchte der Kölner Pädagoge KerstenReich lieber die „Dekonstruktion ver-festigter Wege, die Kritik der Norma-lisierung von gewohnten Erkennt-

chen, mit der konstruktivistische Au-toren vor dem düster gemaltenHintergrund der gegenwärtigen Schuleden Himmel ihrer Träume illumi-nieren: Statt reproduktiver Welterklä-rung die kreative Erfindung, stattengführendem, kaltem Denken diekraftvolle Selbstdarstellung, statttotem Wissen der handelnde Umgangmit praktisch Bedeutsamem.

Wo jetzt noch gequälte Schüler,vielfach sortiert, pauken müssen,werden sich Jüngere und Ältere, Be-hinderte und Nichtbehinderte, Klugeund Dumme als gleichberechtigte undselbstbewußte Egos begegnen undgebannt ihren Ich-Geschichten lau-schen, während von der Welt draußennur ein leises, ganz fernes Grundrau-schen hereindringt. Alles ist erlaubt,nichts ist abwegig. Und dazwischensitzt der Lehrer als milder Moderator,der mit sanftem Nachdruck die Teil-nehmer in die Endlosschleifen ihrerSelbstenthüllungen einfädelt - manerkennt: Wo jetzt noch Unterricht ist,soll Talkshow werden. Auf wundersameWeise vermählen sich hier dieTraditionen und Illusionen der Re-formpädagogik mit der zeitgenössi-schen und mediengängigen Apotheoseder Subjektivität. Die Individuali-sierung ist pädagogischer Lifestylegeworden, die „Tyrannei der Inti-mität" kolonisiert das Klassenzimmerund verwandelt soziale Realität in tri-viale Psychologie.

Ausgerechnet am Ende eines Jahrhunderts, das die Schwäche des Sub-jekts wie keins zuvor in Szene gesetzthat, setzt der pädagogische Konstruk-tivismus alles auf seine Karte. In Zei-ten, in denen die Fähigkeit, Distanzund Fremdheit auszuhalten und sichdennoch zivilisiert zu benehmen,immer notwendiger wird, versprichter das Blaue vom Himmel der Näheund Authentizität und bannt die Kin-der in den Käfig ihres Selbst. Als ein-ziges Mittel gegen die völlige Belie-bigkeit bleibt die politisch-morali-sche Korrektheit. Das wäre der Tri-umph der Erziehung über die Idee derBildung. HERIBERT SEIFERT

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom

12. Oktober 1998

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