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Wer wen wann in Indien wie führt von Waseem Hussain Zuerst erschienen in “Interkulturell führen. Diversity 2.0 als Wettbewerbsvorteil” Verlag Neue Zürcher Zeitung Wer wen führt, ist eine Frage, mit welcher der fremde Ankömmling in Indien unversehens kon- frontiert ist. Er steigt am Flughafen in ein Taxi, und bald fragt ihn der Fahrer: „Woher kommen Sie? Sind Sie zum ersten Mal in Indien? In wel- ches Hotel soll ich Sie bringen?“ Und später in der unausweichlichen Konversation, die eigent- lich ein Interview ist, will dieser noch wissen: „Wie viele Kinder haben Sie?“ Damit hat der indische Taxifahrer ein Profil des ausländischen Gastes beisammen und weiss die Antwort auf seine Kernfrage: führt der Gast den Chauffeur oder der Chauffeur den Gast? Kommt der ausländische Gast aus einem be- kannten, reichen westlichen Land? Ist er zum ersten Mal in Indien, hat er eine Zimmerreser- vation in einem Fünfsternehotel? Und ist er un- verheiratet und hat keine Kinder? Dann ist er ein Kunde mit hohem Umsatzpotenzial. Denn in Indien, einem Land, das erst zaghaft anfängt, sich an festgeschriebene Preise zu gewöhnen, passt der geschäftstüchtige Bürger seine Preise an die Kaufkraft und Verhandlungsmacht seines Kunden an: Der ausländische, in Indien unbe- darfte Fahrgast kann nicht beurteilen, welches der direkteste Weg zum Hotel ist. Er hat sicher genug Geld und – weil er unverheiratet, kinder- los und somit relativ lebensunerfahren ist – lässt sich vom ortskundigen Taxifahrer – ein lebens- und führungserfahrener Familienvater – wohl oder übel führen. Gehört der Fahrgast dagegen zu jenen, die be- reits mehrmals in Indien waren, während ihre Familie daheim in der Ferne auf sie wartet, weiss der Taxifahrer, dass er es mit einem Gast zu tun hat, den er nicht führen darf. Er fährt ihn auf direktem Weg zum Hotel und schaltet den Taxzähler an.

Indien: Chancen, Risiken & interkulturelle Herausforderungen für deutsche Unternehmen

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Wer wen wann in Indien wie führtvon Waseem Hussain

Zuerst erschienen in “Interkulturell führen. Diversity 2.0 als Wettbewerbsvorteil” Verlag Neue Zürcher Zeitung

Wer wen führt, ist eine Frage, mit welcher der fremde Ankömmling in Indien unversehens kon-frontiert ist. Er steigt am Flughafen in ein Taxi, und bald fragt ihn der Fahrer: „Woher kommen Sie? Sind Sie zum ersten Mal in Indien? In wel-ches Hotel soll ich Sie bringen?“ Und später in der unausweichlichen Konversation, die eigent-lich ein Interview ist, will dieser noch wissen: „Wie viele Kinder haben Sie?“ Damit hat der indische Taxifahrer ein Profil des ausländischen Gastes beisammen und weiss die Antwort auf seine Kernfrage: führt der Gast den Chauffeur oder der Chauffeur den Gast?

Kommt der ausländische Gast aus einem be-kannten, reichen westlichen Land? Ist er zum

ersten Mal in Indien, hat er eine Zimmerreser-vation in einem Fünfsternehotel? Und ist er un-verheiratet und hat keine Kinder? Dann ist er ein Kunde mit hohem Umsatzpotenzial. Denn in Indien, einem Land, das erst zaghaft anfängt, sich an festgeschriebene Preise zu gewöhnen, passt der geschäftstüchtige Bürger seine Preise an die Kaufkraft und Verhandlungsmacht seines Kunden an: Der ausländische, in Indien unbe-darfte Fahrgast kann nicht beurteilen, welches der direkteste Weg zum Hotel ist. Er hat sicher genug Geld und – weil er unverheiratet, kinder-los und somit relativ lebensunerfahren ist – lässt sich vom ortskundigen Taxifahrer – ein lebens- und führungserfahrener Familienvater – wohl oder übel führen.

Gehört der Fahrgast dagegen zu jenen, die be-reits mehrmals in Indien waren, während ihre Familie daheim in der Ferne auf sie wartet, weiss der Taxifahrer, dass er es mit einem Gast zu tun hat, den er nicht führen darf. Er fährt ihn auf direktem Weg zum Hotel und schaltet den Taxzähler an.

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In einem Land, wo man ohne Scham oder Scheu abklärt, wie es um die Rangordnung steht, ist es kaum erstaunlich, dass führende Per-sönlichkeiten zum kulturellen Inventar gehören. Personen, die sich im Verlaufe der nationalen Geschichte durch Führung und Heldenhaftig-keit verdient gemacht haben und nun als leuch-tende Vorbilder verehrt werden. Je nach Gele-genheit und Zweck werden sie zitiert, besungen und bemüht. Man findet ihre Statuen in den Strassen und Plätzen indischer Städte und Dör-fer. Zahlreiche Spitäler, Schulen und Flughäfen sind nach ihnen benannt, während ihre Bilder in Restaurants, Tante Emma-Läden und Büros gleich neben den Darstellungen hinduistischer Gottheiten hängen. In der Tat hat Indien viele Führer hervorge-bracht, die heute noch bewundert werden. Zu diesen zählt zum Beispiel Chandragupta Mau-rya (gestorben etwa 297 v. Chr.). Er herrschte fast über den gesamten indischen Subkontinent, indem er viele kleine und grosse Königreiche

und Fürstentümer zu einem zusammenhängen-den, grossen Reich zusammenfasste. Sein engs-ter Berater war Kautilya, von dem er das be-rühmte Werk Arthashastra verfassen liess. Dieses Lehrbuch beschreibt und rechtfertigt Macht und Wohlstand. Weil den Inderinnen und Indern die Einheit ihrer Nation viel bedeutet, sehen sie sich von Maurya beerbt.

Ashoka (304–232 v. Chr.), Mauryas Enkelsohn, vergrösserte zunächst das Grossreich durch wei-tere Eroberungen und ging dabei äusserst brutal und rücksichtslos vor. Doch das Leid und Elend, das er durch seine Eroberungen verursachte, warf Ashoka in eine Sinnkrise. Er konvertiert zum Buddhismus und verzichtete auf weitere Eroberungen. Stattdessen widmete sich Kaiser Ashoka nun der Friedensförderung und der so-zialen Wohlfahrt. Er verbot die Kriegführung und verlangte von seinen Untertanen, auf jede Gewaltanwendung zu verzichten und empfahl ihnen, sich vegetarisch zu ernähren. Viele Inder sehen in Ashoka ein Beispiel dafür, dass der Weg

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der Gewaltfreiheit keineswegs Verzicht oder Erfolglosigkeit bedeutet, sondern im Gegenteil dem Menschen zu Achtung und Ruhm verhel-fen kann. Ein weiterer, angesehener Herrscher war Mo-gulkaiser Akbar der Grosse (1555 -1606). Er hatte verstanden, dass über Indien nur herr-schen kann, wer die Vielfalt und Komplexität seiner Einwohner achtet. Er schaffte politische und wirtschaftliche Privilegien ab, die auf Reli-gionszugehörigkeit beruhten und ermutigte sei-ne Untertanen, über kommunale Grenzen hin-weg zu heiraten. Er tat dies selber, indem er sich mit einer Hindu-Frau vermählen liess. Daher gilt Akbar als pragmatischer Herrscher. Mohandas Karamchand Gandhi (1869–1948), um ein weiteres Beispiel zu nennen, war nicht nur Anführer der politischen Unabhängigkeit

Indiens, sondern vor allem der mentalen Befrei-ung des Menschen. Gandhi propagierte die zu-tiefst spirituelle Erkenntnis, dass der Mensch seine materiellen Schwächen in spirituelle men-tale Stärke umwandeln muss, um frei und unab-hängig zu sein. Er entwarf Gandhi Satyagraha, eine Strategie der Gewaltlosigkeit. Der Mensch sollte lernen, Schmerz und Leid auf sich zu nehmen, um so aus einem Gegner einen Ver-bündeten zu machen. Gandhi war überzeugt, dass Gewalt immer noch mehr Gewalt nach sich zieht. Daher empfahl er, statt einem Gegner zu drohen, an dessen Herz und Gewissen zu appel-lieren. Gandhi gilt in Indien auch heute noch als Staatsheiliger, weil er Indien (gemeinsam mit anderen Persönlichkeiten) in die Freiheit von den europäischen Kolonialmächten führte. Sein Geburtstag wird als Nationalfeiertag begangen. Was diese vier beispielhaften indischen Füh-

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rungspersönlichkeiten verbindet ist, dass sie ge-wisse Kernelemente des indischen Glaubenssys-tems in sich vereinen. Dem indischen Menschen gelten sie daher nicht nur durch ihre Taten als heldenhaft, sondern vor allem dank den spiritu-ellen Werten, die sie verkörpern: Maurya schuf Einheit und Harmonie, was als die höchste Tu-gend in der indischen Philosophie bezeichnet werden kann. Ashoka steht für den Weg der Gewaltlosigkeit. Auch Akbar schuf Harmonie, indem er kommunale Grenzen überwand. Gandhi steht für Grundwerte wie Wahrheit, Gewaltfreiheit, Erleuchtung und Befreiung. Auch im modernen Indien sind diese und ähnli-che Werte aus der Philosophie und der spirituel-len Lehre lebendig. Sie sind Teil der zeitgenössi-schen Kultur Indiens, wo mehr als eine Milliar-de Menschen auf eine Kultur und Mentalitäts-geschichte zurückblickt, die über fünf Tausend Jahre alt ist. Ihr spirituelles Erbe wurde durch keine historischen Umwälzungen grundlegend verändert oder durch Schocks nachhaltig auf-

gewühlt. Es hat keine Revolution stattgefunden. Das kollektive Gedächtnis Europas dagegen erinnert sich an die Errungenschaften von Re-formation, Aufklärung und französische Revolu-tion. Die beiden Weltkriege bedrohten den eu-ropäischen Menschen zwar mit einem Rückfall in barbarische Zeiten, doch auch daraus hat er seine Lehren gezogen. Der Begriff der Führung ist seither mit Generalverdacht belegt, vor allem in der deutschen Sprache. Wie dankbar ist man für den englischen Begriff „Leadership“! Die Kultivierung der Volksrechte, die in der Schweiz durch die direkte Demokratie verstärkt wurden, haben vor allem aus dem deutschsprachigen Europäer einen Menschen gemacht, der hinter vorgehaltener Hand führt: unauffällig und un-aufdringlich. Er drängt weder sich noch seine Meinung, noch seinen Willen anderen auf. Er versucht, mit gekonnten Worten zu überzeugen und zu motivieren. Wann immer jemand offen-siver führt, weist er dies als ungebührliches Machtstreben zurück und prangert es nötigen-falls an. Wenn dann auch noch Gott ins Feld

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geführt wird, reagiert er misstrauisch, wenn nicht sogar wütend. Zu sehr ist er enttäuscht von den religiösen Institutionen. Der indische Alltag jedoch ist bevölkert mit hei-ligen Kühen, Bettelmönchen, Tempeln, Mo-scheen und Kirchen, Seite an Seite mit Shop-pingcentern, modernsten Flughäfen, gläsernen Geschäftshäusern und sterilen Mikrochipfabri-ken. Indien lebt mühelos mit einer schier un-überschaubaren Welt von Göttinnen und Göt-tern, Geld und Luxus, Armut und Wohlstand. Der indische Mensch pflegt einen direkten Draht zu seinen Lieblingsgottheiten und sucht bei ihnen Zuflucht, Trost und Führung. Die Art und Weise, wie Chef und Mitarbeiter zusammenarbeiten und kommunizieren, leitet sich von spirituellen Kernelementen der indi-schen Kultur ab. In der antiken indischen Tradi-tion stellte man sich vor, dass ein irdisches Leben in vier Lebensabschnitte mit jeweils eigenen Zielen und Aufgaben unterteilt sei. Man ging

davon aus, dass man etwa 84 Jahre alt wird, so dass jeder Lebensabschnitt rund 21 Jahre dauer-te. Mit dieser Unterteilung versuchte der Mensch, seinem Alter und seiner Lebenserfah-rung entsprechend sein Selbst zu verwirklichen. Das Selbst war in seiner Seele. Der Körper dien-te der Seele, damit diese sich im Weltlichen spi-rituell so weit entwickelt, dass sie erleuchtet wird. Selbstverwirklichung bedeutet für den indischen Menschen, dass er durch Yoga, Medi-tation und allgemein durch ein Leben auf dem „rechten Weg“ seine Seele vom Kreislauf der Wiedergeburt befreit, so dass sie ins Nirwana übertreten kann. Im ersten Lebensabschnitt, dem Schülerbe-wusstsein, sieht man sich als lernender Mensch. Man ist emotional, geistig und körperlich keusch und unerfahren. Eltern, Grossfamilie, Freunde der Familie, Lehrerinnen und Lehrer sowie Priester lehren diesen jungen Menschen Übung und Disziplin und zeigen ihm auf, wie spirituel-les, gesellschaftliches und familiäres Leben har-

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monisch zusammenwirken. Dieser junge Mensch erfährt von seinen Begleitern, dass ihm sowohl Wissen als auch Erfahrung fehlen, um eigenständige Entscheidungen fällen zu können. Daraus lernt er, dass Autorität etwas ist, das er bei Menschen suchen muss, die nicht mehr im Bewusstsein des Schülers leben, sondern fortge-schritten sind. Er versucht sich an ihnen zu ori-entieren, hört auf sie und lässt sich von ihnen führen. Von diesen Führungspersonen will der Schüler auf den „rechten Weg“ zur Verwirkli-chung seines Selbst gebracht werden. Dass man jungen Menschen bewusst macht, wie wichtig es ist zu beobachten, zu lernen, sich Wissen anzueignen und zu üben ist nichts, wo-durch Indien sich vom Rest der Welt unter-scheidet. Der Unterschied liegt in einem gesell-schaftlichen Vertrag: ‚Du bist noch ein Schüler. Wenn du jetzt geduldig, bescheiden und demü-tig annimmst, dass es immer jemanden gibt, der

dir sagt, was du im Leben zu tun hast und wie, glückt dir der Übertritt in dein nächstes Be-wusstsein‘. Im zweiten Lebensabschnitt dreht sich alles um das Verheiratetsein. Man ist mit den weltlichen und materiellen Dingen beschäftigt, zeugt und gebärt Kinder, ernährt sie, zieht sie auf und macht sie lebenstüchtig. Das Bewusstsein des verheirateten Menschen bedeutet, dass man Verantwortung übernimmt und junge Men-schen in ein Leben auf dem „rechten Weg“ führt. Man teilt mit ihnen sein Wissen, Wohler-gehen und seinen Wohlstand. Man sammelt Führungserfahrung. Und auch hier gibt es einen Vertrag: ‚Jetzt bist du wissend und hast etwas zu sagen. Dein Geist und dein Körper sind nicht mehr keusch. Du hast erfahren, wie Leben ent-steht. Zeige den jungen, unverheirateten, uner-fahrenen Menschen um dich herum, dass auch ihr Warten sich lohnt. Sei dir aber bewusst, dass

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auch du ja sagen musst zu deinen neuen Aufga-ben. Sieh dir deine Elterngeneration an. Sieh, wie zufrieden sie mit sich selbst sein können. Einst waren sie junge, unverheiratete, unerfah-rene Schüler. Dann waren sie wie du und er-wachten zu einem neuen Bewusstsein. Lass also auch du dich führen und sei demütig. Deine Führer erwarten dich bereits‘. Im Bewusstsein der verheiratet Person besteht keine Kluft zwischen den eigenen weltlichen Neigungen und den Pflichten, die man zu erfül-len hat. Zum Beispiel lebt man einerseits seine Sexualität aus, weil dies für eine gesunde, har-monische Entwicklung von Seele und Körper notwendig ist. Anderseits dient man seinem E-hepartner im gemeinsamen Liebesleben, damit dieser dasselbe für seine eigene Seele tun kann. Das Kamasutra dient unter anderem dazu, dass diese Kombination von Notwendigkeit und Lie-besdienst lustvoll sein darf. Der dritte Lebensabschnitt ist jener, wo der Mensch seine weltlichen und materiellen Pflich-

ten erfüllt hat und sich vermehrt den spirituellen Seiten des Daseins zuwendet. Er tritt ins Be-wusstsein des Rückzugs vom Materiellen ein. Die eigenen Kinder sind durch eigene Heirat ausgeflogen. Nun meditiert der Mensch mehr, betet und verfolgt aufmerksam, was in seinem Innenleben vorgeht. Er tritt bewusst mit seiner Seele in Verbindung. In diesem Abschnitt kop-pelt er sich aber keineswegs von den materiellen Dingen ab. Vielmehr geniesst er weniger Dinge, diese jedoch mit mehr Musse und Wertschät-zung. Gleichzeitig überprüft er, ob seine Gefüh-le, Gedanken und Handlungen in Einklang mit dem Göttlichen stehen. Die früheren beiden gesellschaftlichen Verträge werden hier durch einen neuen abgelöst: ‚Nun hast du vieles erreicht. Du hast das Leben wei-tergegeben, hast die unendlich vielen materiel-len Möglichkeiten genutzt, die dir geboten wur-den, damit du das Wesentliche vom Unwesentli-chen unterscheiden kannst. Diene jetzt den Jün-geren, damit auch sie ohne Hast und Eile ihr materielles Selbst verwirklichen können. Sieh

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aber auch nach vorn. Sieh jene, die alt und wei-se werden. Erkenne das Ansehen, das sie bei Allen geniessen, wie sehr sie verehrt und geach-tet werden! Auch du wirst einmal so sein. Jetzt aber sei bescheiden und grosszügig‘. Am Übergang zum vierten Lebensabschnitt wird dem Menschen klar, dass das irdische Da-sein seines Körpers endlich ist. Vielleicht wird er krank und gebrechlich, oder einfach altersmüde. Nun lebt er im Bewusstsein, wo er das weltliche Leben widerruft. Er zieht sich zurück, wird langsamer und ruhiger und übt sich mehr und mehr in spiritueller Tätigkeit. In Gesellschaft jüngerer Personen tritt er als weiser, lebenserfah-rener Mensch auf. Jene, die in den drei voran-gehenden Abschnitten leben, achten ihn. Im vierten Lebensabschnitt tritt ein neuer Ver-trag in Kraft: ‚Diene allen jüngeren Menschen als leuchtendes Beispiel dafür, wie ein irdisches Leben gelingen kann. Biete deine Führung an, aber dränge dich nicht auf. Nutze die Gelegen-

heit, mit dir, deinem Dasein, deiner Berufung und deiner wichtigen Winzigkeit im Universum ins Reine zu kommen. Wenn dein Körper stirbt und Gott mit dir zufrieden ist, wird deine Seele erleuchtet und muss nicht mehr wiedergeboren werden. Sie tritt ins Nirwana über. Wenn du in jüngeren Jahren aber wichtige Lehren überse-hen oder ausgelassen hast, kommt deine Seele wieder und durchläuft erneut die vier Lebensab-schnitte‘. Dieses traditionelle Menschenbild wirkt auch in der Gegenwart. Es zeigt sich zum Beispiel dort, wo Inder und Westeuropäer zusammenarbeiten: Ein westeuropäischer Projektleiter fragt sein indisches Teammitglied: „Kannst du diese Ar-beit bitte bis nächsten Dienstag Abend fertig stellen?“. Worauf der indische Kollege – ein smarter, junger Ingenieur mit hervorragendem Hochschulabschluss – antwortet: „No problem.“ Der Projektleiter ist zufrieden. Denn sein west-europäisches Ohr übersetzt die indische Ant-wort wörtlich und geht davon aus, dass der indi-

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sche Kollege ebenso gut schlicht und einfach ‚ja‘ hätte sagen können. Am Donnerstag, also be-reits zwei Tage nach dem vermeintlich verein-barten Termin, wundert sich der Projektleiter, dass sein indischer Kollege weder die fertige Arbeit noch eine Verspätungsmeldung geschickt hat. Er fragt freundlich nach. Auch diesmal er-hält er dieselbe Antwort, aber der Tonfall des indischen Kollegen deutet darauf hin, dass der Satz noch nicht fertig ist: „No, there is no prob-lem,...“. „Aber?“, will er es nun genauer wissen und hört am anderen Ende der Telefonleitung: „Es ist nur so, dass mein Chef auf Geschäftsrei-se ist.“ Der Projektleiter ist verdutzt und verär-gert, verkneift sich eine Schelte und sagt noch, bevor er aufhängt: „OK, kein Problem.“ Natürlich ist der westeuropäische Projektleiter frustriert. Er hat einmal gelernt, Teammitglieder so zu führen, wie wenn es ihn selber gar nicht bräuchte, ausser um unangenehme Entschei-dungen zu fällen und das Team vor dem Mana-gement abzuschirmen. Jedes Teammitglied führt sich selbst, handelt eigenverantwortlich und

bringt das für die Arbeit nötige Wissen mit. Wenn man sich nicht gerade für die alle zehn Tage stattfindende Projektsitzung trifft, ist der Projektleiter ein Teammitglied wie jedes andere auch. Daher geht der Projektleiter davon aus, dass auch sein indisches Teammitglied sich so-fort und ohne nachzufragen melden würde, gä-be es irgendwo ein Problem. Doch der indische Kollege – jung, unverheiratet und im Schülerbewusstsein – empfindet den partizipativen Stil seines Projektleiters als Füh-rungsschwäche: ein angeblicher Chef, der sogar seine tiefste Entschlossenheit oder seinen Ärger immer nur mit einem freundlichen Gesicht zeigt, kann nichts anderes sein als ein einfaches Teammitglied: jung, unerfahren und ohne Auto-rität. Deswegen wartet das indische Teammit-glied darauf, dass sein zwar strenger, aber wohl-wollender Chef eine verheiratete Person und Vater oder Mutter von zwei Kindern von seiner Reise zurückkehrt und ihm den Weg durch Le-ben, Arbeit und Karriere weist. Oder ihm ganz einfach sagt: „Du kannst die betreffende Arbeit

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erledigen. Aber frag deinen Projektleiter in der Schweiz, wie du sie erledigen sollst. Und halte den Termin ein!“ Schüler, verheiratete Person, Rückzug vom Ma-teriellen, Widerruf des Weltlichen: In der indi-schen Vorstellung erhält der  Mensch Lernauf-gaben, Erfahrungen und Erkenntnisse, die der Reifung seines Selbst im gegenwärtigen Leben zu dienen. Es erscheint nicht nur unnötig, son-dern auch nicht zielführend, einen Menschen mit Dingen zu konfrontieren, für welche die Zeit noch gar nicht gekommen ist. Dies mag einer-seits die Freiheit des Einzelnen einschränken, selbstbestimmt zu arbeiten und zu leben. Ander-seits erspart es ihm den Druck, in Themen und Tätigkeiten kompetent und verantwortlich zu sein, über die er noch nicht genügend Bescheid weiss. Die traditionelle Art und Weise, indische Mitarbeiter zu führen, zielt zwar darauf ab, Arbeit zu delegieren. Das Weitergeben und Ein-fordern von Verantwortung und Rechenschaft dagegen sind Dinge, für die man sich deutlich länger Zeit lässt als in Westeuropa. 

In Indien ist Zeit ohnehin in schier uner-schöpflichem Masse vorhanden. Der indische Mensch lernt von Kindesbeinen an, dass das schlussendliche Ziel seiner Seele es ist, einen Bewusstseinszustand wie Brahman zu erlangen. Brahman entspricht in der hinduistischen Philo-sophie der höchsten Gottesvorstellung. Sie ist die kosmische Weltenseele, formund zeitlos, ohne Anfang und Ende, der Urgrund allen Seins. Sie ist absolute Harmonie. Dem indischen Kind wird mit auf den Lebensweg gegeben, dass es in allem, was es fühlt, denkt und tut, nach Harmo-nie streben soll. Seine Seele ist aus spiritueller Sicht eigentlich identisch mit Brahman, muss dies aber durch viele irdische Leben erleben. Dafür stehen ihr theoretisch rund 311 Billionen Jahre zur Verfügung. Ein Zeitbudget, welche kulturübergreifendes Projektmanagement zu einer echten Herausforderung machen kann! Projekte müssen oft in kleinere Arbeitspakete und in kürzere Zeitabschnitte unterteilt werden, damit das Projekt nicht wie ein abstraktes, in seiner Grösse unendliches und daher unerreich-bares Ziel erscheint. 

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Ausserdem lernt das indische Kind, dass jedes seiner Gefühle, jeder Gedanke und jede Hand-lung unweigerlich etwas bewirkt, und zwar im gegenwärtigen oder in einem späteren Leben. Zum Beispiel stellt man sich vor, dass negative Gefühle für eine andere Person sich negativ für denjenigen auswirken werden, der diese Gefühle jetzt gerade hat. Dasselbe gilt für Gedanken und Handlungen, wobei Gefühle die stärkste Wir-kung haben, Gedanken die zweitstärkste und Handlungen die am wenigsten starken. Das heisst, dass der indische Mensch versucht, mög-lichst nur positive Energie und positiv besetzte Begegnungen und Beziehungen zu schaffen. Er strebt nach Harmonie im Hier und Hetzt, damit seiner Seele in späteren Wiedergeburten Har-monie zuteil wird. Die Kunst indische Mitarbeiter zu führen bes-teht daher oft darin, ihnen mit Suggestionen es zu ermöglich, mit einem Ja zu antworten. Nicht: „Wo liegt das Problem?“, denn hier verlangt man vom indischen Mitarbeiter, dass er auf etwas Unharmonisches hinweist. Als Ausweg

würde er versuchen, vom Problem abzulenken („no problem“). Aber: „Nicht wahr, hier stossen wir auf ein Problem, welches wir gemeinsam lösen sollten.“ Hier kann gerade der junge, un-verheiratete indische Mitarbeiter antworten: „Ja, Sie haben recht“, und damit Harmonie zwi-schen sich und dem Vorgesetzten schaffen. Denn es ist ihm gelungen, auf etwas Gemein-sames, etwas Verbindendes hinzuweisen. Um Harmonie durch gesellschaftliche und spiri-tuelle Ordnung geht es theoretisch (und theolo-gisch) auch im Kastensystem. Es ist zweifelsohne eines der am häufigsten diskutierten Themen über die indische Gesellschaft und Kultur. Ob-wohl die vier Hauptkasten (Brahmanen, Kshatriyas, Vaishyas, Shudras) ursprünglich die Entwicklung und das Reifen einer Seele be-schreiben, hat der Mensch ihre Lehre zu einem Instrument gemacht, mit welchem er einer selbst ernannten Elite eine Machtfülle verleiht, mit welcher er jene, die in den tieferen Kasten sind, dominiert. Wie bei den vier Lebensabschnitten gilt auch hier: jedem Segment die ihr entspre-

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chenden Aufgaben, Rollen und Pflichten; alles zu seiner Zeit; nichts überstürzen, die universelle Vorsehung nicht herausfordern, die gesellschaft-liche Ordnung nicht durcheinander zu bringen, sonst könnte einen das Glück verwehrt werden. Das Kastensystem wird zwar allgemein dem hinduistischen Glauben zugeordnet. Doch es ist grösser, denn es ist Teil der indischen Kultur, die alle Glaubensgemeinschaften umfasst. So ist es möglich, dass auch indische Muslime und Chris-ten davon überzeugt sind, dass manche Men-schengruppen in ihrer Glaubensgemeinschaft zu einer höheren Kaste gehören, die anderen zu tieferen Kasten. Die Vorstellung der vier Lebensabschnitte und der vier Kasten unterstreicht den hierarchischen Führungsstil, den man in den meisten indischen Firmen heute noch antrifft. In einer Gesell-schaft, die sich hierarchisch organisiert und sich nach diesen Strukturen verhält, folgen Vorge-setzte und Untergebene denselben Grundsätzen. Führen und folgen, sich überund unterordnen

ist normal, notwendig und zweckdienlich. Der Mitarbeiter meidet es, dem Chef zu widerspre-chen, sonst könnte der Chef sein Gesicht verlie-ren. Das hätte zur Folge, dass der Mitarbeiter das Wohlwollen seines Chefs verliert, der aber seine wichtigste Orientierungsfigur im Beruf ist. Indische Mitarbeiter neigen oft dazu, sich die-sem hierarchischen System nicht nur anzupas-sen, sondern sich sogar überanzupassen. Dies wird von westeuropäischen Geschäftsleuten zu-weilen als “yes culture” beschrieben. Es wird zwar zu allem ja gesagt, doch die darauf folgen-den Handlungen stehen dazu nicht in Einklang. Wenn eine Anweisung oder gar ein Befehl von oben weiter unten mit einem willfährigen Ja erwidert wird, entwickelt sich leicht eine gegen-seitige Abhängigkeit. Der Mitarbeiter macht sich, sein Weiterkommen, sein Ansehen und seinen Selbstwert vom Wohlwollen des Chefs abhängig, der Chef seinen Status, seine Autori-tät und mithin seine Macht vom Mitmachen seiner Mitarbeiter.

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Oft hört man, dass die vielen Arbeitsplätze, die in den wissensbasierten Branchen in Indien ge-schaffen werden, den indischen Führungsstil. Indien sei längst nicht mehr so hierarchisch wie vor wenigen Jahren noch und gleiche sich be-züglich Führung und Management mehr und mehr dem Westen an. Wenn jedoch die Anzahl Menschen, die laut indischer Regierung in die-sen Branchen arbeitet, tatsächlich nur 5% oder 23,5 Millionen der insgesamt 470 Millionen Erwerbstätigen ausmacht, kann von einem grundlegenden Wandel keine Rede sein. 

Und dennoch: Indiens selbsterklärtes Ziel ist es, eine der führenden Nationen der Welt zu wer-den. Ein Ziel, welches genau so in den vedischen Schriften – der Grundlage der indischen Philo-sophie und des Glaubenssystems – verankert ist wie die spirituellen Kernelemente. Wird Indien in seinem Versuch im Aussen Führung zu über-nehmen, im Innern seine Prinzipien ändern? Wird dort in Zukunft weniger hierarchisch ge-führt und gefolgt werden? – Darauf kann man zwar nur spekulativ antworten. Wer wen führt, bleibt aber die entscheidende Frage.

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Hindus haben einen Gott.

Sie haben auch 330 Millionen Götter: männliche Götter, Göttinnen, persönliche Götter, Familiengötter, Götter nur für einen bestimmten

Haushalt, Dorfgottheiten, Raum- und Zeitgötter, Götter für bestimmte

Kasten und gewisse Berufsgruppen, ausserdem Götter, die in Bäumen wohnen, in Tieren, Steinen, in geometrischen Mustern sowie in

Dingen, die von Menschenhand gemacht sind.

Und es gibt Heerscharen von Dämonen.Jedoch keinen Teufel.

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Fallen der «Yes Cul-ture»von Waseem Hussain

Immer mehr Firmen greifen heute auf das unerschöpfliche Reservoir an gut ausgebildeten und hochmotivierteren indischen Arbeitskräften zurück. Im Alltag zeigt sich, dass die Führung von Indern manchen Westeuropäer vor grosse Probleme stellt. Nur wer die spezifischen kulturel-len Eigenheiten der indischen Mitarbeiter kennt, wird diese auch führen können.

«Kannst du diese Arbeit bitte bis nächsten Dienstag fertig stellen?», fragt der Schweizer Projektleiter sein indisches Teammitglied. «No problem», antwortet der indische Kollege – ein junger Ingenieur mit hervorragendem Hoch-schulabschluss. Der Projektleiter ist zufrieden. Zwei Tage nach dem vereinbarten Termin, wundert sich der Projektleiter, dass sein indi-scher Kollege weder die fertige Arbeit noch eine Verspätungsmeldung geschickt hat. Er fragt

freundlich nach. Es gebe kein Problem, deutet ihm der Inder an, es sei nur so, dass sein Chef auf Geschäftsreise sei. Der Projektleiter ist ver-dutzt und verärgert, verkneift sich eine Schelte und sagt noch, bevor er aufhängt: «Ok, kein Problem.»

Natürlich ist der Projektleiter frustriert. Er hat einmal gelernt, Teammitglieder so zu führen, wie wenn es ihn selber gar nicht bräuchte, aus-ser um unangenehme Entscheidungen zu fällen und das Team vor dem Management abzu-schirmen. Jedes Teammitglied führt sich selbst, handelt eigenverantwortlich. Daher geht der Projektleiter davon aus, dass auch sein indisches Teammitglied sich sofort melden würde, gäbe es irgendwo ein Problem.

Doch der indische Kollege empfindet den parti-zipativen Stil seines Projektleiters als Führungs-schwäche: ein angeblicher Chef, der sogar seine tiefste Entschlossenheit oder seinen Ärger immer nur mit einem freundlichen Gesicht zeigt, kann nichts anderes sein als ein einfaches Teammit-glied: jung, unerfahren und ohne Autorität.

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Ein Schweizer Chef hat die Wahl: Entweder markiert er den unerbittlichen Chef, der seinem indischen Untergebenen den Platz zuweist. Er lässt nicht mit sich diskutieren, sondern erwartet die Ausführung seiner Befehle. Weit erfolgrei-cher ist der Chef aber, wenn er sich als mitfüh-lend-väterlicher, jedoch gestrenger Vorgesetzter zeigt. Das Teammitglied vertraut darauf, dass sein Chef – eine verheiratete Person und Vater oder Mutter von zwei Kindern – von seiner Rei-se zurückkehrt und ihm den Weg durch Leben, Arbeit und Karriere weist. Oder ihm ganz ein-fach sagt: «Du kannst die betreffende Arbeit erledigen. Aber frag deinen Projektleiter in der Schweiz, wie du sie erledigen sollst. Und halte den Termin ein!»

In einem Land, wo man ohne Scham oder Scheu abklärt, wie es um die Rangordnung steht und wo der Mensch von Kindesbeinen an lernt, dass das Ziel seiner Seele es ist, die absolute Harmonie zu erreichen, ist Zeit im Überfluss vorhanden. In der indischen Vorstellung erhält der Mensch die Aufgabe, zu reifen. Es erscheint deshalb nicht zielführend, einen Menschen mit Dingen zu konfrontieren, für welche die Zeit noch gar nicht gekommen ist.

Der indische Mitarbeiter widerspricht dem Chef nicht, sonst könnte dieser sein Gesicht verlieren. Das hätte zur Folge, dass der Mitarbeiter das Wohlwollen seines Chefs verliert. Dies führt zu einer Haltung, die von westeuropäischen Ge-schäftsleuten zuweilen als «yes culture» bezeich-net wird. Es wird zwar zu allem ja gesagt, doch die darauf folgenden Handlungen stehen dazu nicht in Einklang.

Die Kunst, indische Mitarbeiter zu führen, bes-teht daher oft darin, ihnen es mit Suggestionen zu ermöglich, mit einem Ja zu antworten. Nicht: «Wo liegt das Problem?», denn hier verlangt man vom indischen Mitarbeiter, dass er auf etwas Unharmonisches hinweist. Als Ausweg würde er versuchen, vom Problem abzulenken («no problem»). Aber: «Nicht wahr, hier stossen wir auf ein Problem, welches wir gemeinsam lösen sollten.» Hier kann gerade der junge, un-verheiratete indische Mitarbeiter antworten: «Ja, Sie haben recht», und damit Harmonie zwi-schen sich und dem Vorgesetzten schaffen. Denn es ist ihm gelungen, auf etwas Gemein-sames, etwas Verbindendes hinzuweisen.

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In Indien verhandelt man nichtvon Waseem Hussain

In Hindi gibt es einen Begriff, in welchem das gesamte Universum der indischen Kunst zu ver-handeln verdichtet ist: Tol-mol. Wenn die indi-sche Hausfrau beim Einkauf auf dem Frisch-markt um jede Rupie feilscht, ist es tol-mol. Wenn der Leiter Beschaffung eines indischen Industrieunternehmens mit seinem Rohstofflie-feranten über Rabatte und Zahlungsziele strei-tet, ist es auch tol-mol. Und wenn der indische Taxifahrer einen Fahrgast abweist, obwohl er eine Leerfahrt macht, ebenso. Dass die meisten westlichen Manager es schwie-rig finden, mit indischen Geschäftspartnern zu verhandeln, ist kein Wunder. Denn Tol-mol be-deutet gar nicht „verhandeln“. Sondern ein nach westlichen Begriffen chaotisches Abwägen von Preis und Leistung.

Wobei in Indien der Drang besteht, gleichzeitig maximale Leistung zum Nulltarif zu erhalten. Aber kaum ist der Verkäufer bereit, sein Produkt kostenlos zu geben, ist es auch wieder nicht recht! Jeder Inder, jede Inderin kann damit problemlos umgehen. Aber ausländische Ge-schäftsleute?

Die Anliegen, Bedürfnisse oder Interessen des ausländischen Verhandlungspartners spielen scheinbar eine untergeordneter oder gar ver-nachlässigbare Rolle. Aus indischer Sicht ist es aber ganz einfach: ich bin für meine Ziele ver-antwortlich, du für deine. Mit der Harvard-Me-thode des Verhandelns, wo win-win die Maxime ist, kommt man da nicht weit. Peter Spenger, CEO des schweizerischen Ultraschall-Technolo-gieherstellers Telsonic AG, bestätigt aus eigener Erfahrung: „Indische Geschäftspartner sind sehr gut vorbereitet und haben eine klare Vorstellung über die Zielsetzung in einer Verhandlung. Es fällt auf, dass der indische Partner stets sehr ge-duldig ist, jedoch nicht ausgesprochen kompro-missbereit.“ 

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Dies mag einerseits daran liegen, dass noch viele indische Geschäftsleute von sich das Selbstbild einer armen, unvermögenden Nation haben. Die Wohlstandsentwicklung in den letzten Jah-ren konnte in der breiten indischen Bevölkerung noch nicht viel an diesem Selbstbild ändern. Immer wieder schimmert in Gesprächen mit indischen Unternehmern die Meinung durch, sie dürften nicht nur auf Goodwill und finan-zielle Unterstützung aus dem Westen hoffen, sondern hätten eigentlich ein legitimes Recht darauf. Dies, weil die rund 500 Jahre währende Kolonisierung einen Teil des indischen Natio-nalvermögens weggenommen hatte.

Der indische Wirtschaftswissenschaftler Rajesh Kumar hat sich eingehend mit der für seine Landsleute typischen Verhandlungstaktik be-fasst. Seine Erkenntnisse hat er in einem Kon-zept zusammengefasst, das er „brahmanischer Idealismus“ nennt. Laut Kumar gehört es zu den Grundprinzipien des hinduistischen Men-schen- und Weltbilds, dass der einzelne Mensch durch die Reinkarnation seiner Seele zu höhe-ren Weihen aufsteigt. Der Mensch, so Kumar, entwickelt sich von einer auf alles Irdische, Pro-

fane und Morbide bezogenen Seele in der Bau-ernkaste zu einem erleuchteten Wesen in der Brahmanenkaste. Brahmanisch zu sein bedeutet, den Idealzustand der transzendierten Seele er-reicht zu haben.

Das Streben nach der idealen Lösung ist tief in den Vedischen Schriften verankert. Diese Schrif-ten zählen zu den grundlegenden Quellen des indischen Glaubenssystems. Dieses ist die Quelle der indischen Leitkultur. Bedenkt man ausser-dem, dass „vedisch“ vom Stammwort „Veda“ kommt und unter anderem mit „Wissenschaft“ übersetzt wird, erhält dieser Aspekt eine beson-dere Bedeutung. Tatsächlich werden die Vedi-schen Schriften als wissenschaftliches Werk an-gesehen. Demzufolge ist das indische Glaubens-system eine Wissenschaft, und nicht etwa Göt-zenanbetung, Tempeltanz und Räucherstäb-chen.

Mit anderen Worten, wenn ein indischer Ge-schäftsmann tol-mol anwendet, folgt er einem Ruf, den er seit seiner Kindheit und auch schon in früheren Inkarnationen immer und immer wieder gehört hat. Er versucht, mit wissenschaft-

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licher Strebsamkeit eine ideale Lösung herbeizu-führen, mit der er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen will: einen guten Deal abschliessen und seiner seelischen Erleuchtung näher kommen. Er sorgt dafür, dass sein irdisches Tun und seine spirituelle Orientierung in Einklang stehen.

Dabei stellt er enorm hohe Ansprüche an sich selbst und möchte sicher sein, möglichst alle relevanten Informationen zu kennen. Laut Wirt-schaftswissenschaftler Rajesh Kumar sammelt der indische Verhandler Informationen aus un-terschiedlichsten Quellen und „unterzieht diese einer ausgedehnten intellektuellen wie intuitiven Analyse“. Weil er ausgesprochen grosse Ambiti-onen hegt und sich an Hierarchien orientiert, verlaufen Verhandlungen in Indien nie beson-ders schnell.

Der fremde westliche Manager ist oft überwäl-tigt oder gar hingerissen, wenn er in Indien auf Schritt und Tritt der allgegenwärtigen Spirituali-tät und Religiosität begegnet. Er sieht die vielen hinduistischen Gottheiten auf öffentlichen Plät-zen, an Hotelrezeptionen oder gar auf dem Schreibtisch seines indischen Geschäftspartners;

er sieht all die Tempel, Moscheen, Kirchen und Häuser anderer Religionsgemeinschaften; mit-ten im Finanzdistrikt von Mumbai sieht er eine schrille Prozession an ihm vorbeiziehen. Viel-leicht hat er einst Goethes Gedicht „Der Gott und die Bajadere“ oder Hesses „Siddharta“ ge-lesen. Und nun denkt er sich: „Diese Menschen musst du mit Samthandschuhen anfassen“. Was in den meisten westlichen Betrachtungen zu Indien jedoch fehlt ist, dass der indische Mensch durch seine vedische Lehre dazu angehalten wird, Probleme wissenschaftlich, mithin analy-tisch und rational anzugehen. Indien ist mit Bestimmtheit nicht das Land von einer Milliarde Gandhis! 

Um seine Verhandlungsziele zu erreichen, be-dient sich der indische Geschäftsmann eines weiteren, für den westlichen Manager irritieren-den Mittels: dem freien und unverbindlichen Aussprechen von zum Teil widersprüchlichen Ideen und Meinungen. Mit dieser Art zu debat-tieren lernt das indische Kind seinen Glauben und sein Wissen zu prüfen und festigen. Später, als Manager, stellt er sowohl seine eigenen Ar-gumente als auch jene seiner Gegenpartei auf

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die Probe. Der westliche Manager verliert dabei oft den Faden, weil er die Verhandlung als chao-tisch empfindet. Und später verliert er die Ner-ven, weil er je länger, je stärker den Eindruck hat, dass es seinem indischen Verhandlungs-partner nur um den Preis geht und darum, wer recht hat.

Geschäftsverhandlungen in Indien stellen alle sechs Sinne auf die Probe. Das haben wir schon etliche Male mit unseren europäischen Kunden in Indien erlebt. Einmal zum Beispiel haben wir folgendes erlebt: Der indische Kunde hatte den Schweizer Lieferanten zur letzten Verhand-lungsrunde um 14 Uhr aufgeboten. Die Schwei-zer Firma hatte noch wenig Erfahrung in Indien und bat uns unterstützend dazu.

Zuvor waren sämtliche technischen Einzelheiten mehrfach abgefragt, geprüft und für gut befun-den worden. Als wir dort ankamen, wartete auch unsere Konkurrenz im Vorzimmer auf ihren Termin. Während den kommenden 4 Stunden Wartezeit, wurden wir und die Kon-kurrenz mit reichlich Tee, Kaffee und Snacks versorgt. Um 18 Uhr informierte man uns, dass die technischen Einzelheiten doch noch einmal besprochen werden. Alles, was wir zuvor schon mehrfach präsentiert und erklärt hatten, muss-ten wir in den kommenden zwei Stunden erneut

tun. Nun war es Zeit fürs Abendessen, welches wir gemeinsam mit der Konkurrenz in einem nahe gelegenen Restaurant einnahmen. Um 22 Uhr begann die erste Preisverhandlung, gefolgt von drei weiteren.

Schliesslich, um 2 Uhr nachts, hat man uns er-klärt, dass der Entscheid später gefällt würde. Als wir uns am nächsten Morgen telefonisch erkundigten, hiess es, der Entscheid sei längst gefallen. Die Schweizer Firma erhielt den Zu-schlag, der Konkurrenz wünschte man alles Gu-te und viel Glück. Später am gleichen Tag rief man uns wieder zum Kunden. Diesmal, um die Bestellung gemeinsam zu formulieren. 

In dieser letzten Runde musste der Preis erneut optimiert werden. Nachdem der Schweizer Lie-ferant ein letztes Mal einen Nachlass gewährt hatte, geschah etwas weiteres, das bezeichnend ist für Geschäftsverhandlungen in Indien: erst jetzt schaltete sich der eigentliche indische Ent-scheidungsträger ein. In einer Gesellschaft, die sich nach wie vor hierarchisch organisiert, ist das folgerichtig. Würde ein indischer Topmanager sich früh in eine Verhandlung einbringen, würde er seinen wichtigsten Trumpf vergeuden: sich selbst. Schliesslich ist er die verkörperte Ver-handlungsmacht. Er hat das letzte Wort.