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E4542 1/2 2007 Demografischer Wandel Wir werden älter und wir werden weniger

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E4542

1/2 – 2007

Demografi scher WandelWir werden älter und wir werden weniger

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Zeitschrift für die Praxis der politischen Bildung

THEMA IM FOLGEHEFT

»Politik & Unterricht« wird von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB)herausgegeben.

HERAUSGEBERLothar Frick, Direktor

CHEFREDAKTEURDr. Reinhold [email protected]

REDAKTIONSASSISTENZSylvia Rösch, [email protected]

ANSCHRIFT DER REDAKTIONStaffl enbergstraße 38, 70184 StuttgartTelefon: 0711/164099-45; Fax: 0711/164099-77

REDAKTIONJudith Ernst-Schmidt, OberstudienrätinWerner-Siemens-Schule (Gewerbliche Schule für Elektrotechnik), Stuttgart Ulrich Manz, Rektor der Schillerschule (Grund- und Hauptschule mit Werkrealschule), EsslingenDipl.-Päd. Holger Meeh, Studienrat a. e. H.,Pädagogische Hochschule HeidelbergHorst Neumann, Ministerialrat, Umweltministerium Baden-Württemberg, StuttgartAngelika Schober-Penz, StudienrätinErich-Bracher-Schule (Kaufmännische Schule), Kornwestheim Karin Schröer, Reallehrerin i. R., Reutlingen

GESTALTUNG TITELBertron.Schwarz.Frey, Gruppe für Gestaltung, Ulmwww.bertron-schwarz.de

GESTALTUNG INNENTEILMedienstudio Christoph Lang, Rottenburg a. N., www.8421medien.de

VERLAGNeckar-Verlag GmbH, Klosterring 1, 78050 Villingen-SchwenningenAnzeigen: Neckar-Verlag GmbH, Anzeigenleitung: Peter WalterTelefon: 07721/8987-0; Fax: [email protected] gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 2 vom 1.5.2005.

DRUCKPFITZER Druck und Medien e. K., Benzstraße 39, 71272 Renningen

Politik & Unterricht erscheint vierteljährlich.Preis dieser Nummer: 5,60 EURJahresbezugspreis: 11,20 EURUnregelmäßige Sonderhefte werden zusätzlich mit je 2,80 EUR in Rechnung gestellt.

Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers und der Redaktion wieder. Für unaufgefordert eingesendete Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung.

Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion.

Titelfoto: mauritius images/Dolphin Productions

Aufl age dieses Heftes: 21.000 ExemplareRedaktionsschluss: 15. Februar 2007ISSN 0344-3531

Inhalt

Editorial 1Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport 2 Autorinnen dieses Heftes 2

Unterrichtsvorschläge 3–15

Einleitung 3Baustein A: Demografi scher Wandel – ein Überblick 7Baustein B: Deutschland braucht mehr Kinder (Fertilitätsaspekte) 7Baustein C: Deutschlands Bevölkerung wird älter (Mortalitätsaspekte) 11Baustein D: Demografi scher Wandel und Migration (Migrationsaspekte) 13 Literaturhinweise 15

Texte und Materialien 17–63

Baustein A: Demografi scher Wandel – ein Überblick 18Baustein B: Deutschland braucht mehr Kinder (Fertilitätsaspekte) 26Baustein C: Deutschlands Bevölkerung wird älter (Mortalitätsaspekte) 40Baustein D: Demografi scher Wandel und Migration (Migrationsaspekte) 54

Einleitung: Judith Ernst-Schmidt und Karin SchröerBausteine A und C: Karin SchröerBaustein B: Judith Ernst-SchmidtBaustein D: Judith Ernst-Schmidt und Sabina Inglese

Das komplette Heft fi nden Sie zum Downloaden als HTML- oder PDF-Datei unter www.politikundunterricht.de/1_2_07/demografi e.htm

Unterrichten im Fächerverbund EWG

HEFT 1/2 – 2007, 1. QUARTAL, 33. JAHRGANG

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EditorialDas Bewusstsein um den demografi schen Wandel unserer Bevölkerung hat die Gesellschaft erreicht: Fast täglich be-richten Medien darüber, Statistische Ämter und Forschungs-institute bieten laufend neue Berichte und Prognosen, Zu-kunftsszenarien werden beschrieben. Das Thema prägt auch die Politik, denn es geht um eine rechtzeitige Reaktion auf den Wandel, um die Zukunft der jungen Generation wie auch um die Konsolidierung und die Zukunftsfähigkeit unserer so-zialen Sicherungssysteme. Grundannahmen unserer Gesell-schaft wie der »Generationenvertrag«, der über fünfzig Jahre lang zur sozialen Stabilität der Bundesrepublik Deutschland beigetragen hat, geraten ins Wanken oder sind zumindest neu zu diskutieren und zu defi nieren.

Das vorliegende Heft von Politik & Unterricht bietet mit dem demografi schen Wandel ein geradezu paradeartiges Thema für den fächerverbindenden Unterricht an. Es liegt auf der Hand, dass dabei Lehrkräfte der Fächer Gemeinschaftskunde und Politik, Geschichte, Religion und Ethik wie auch Geogra-fi e angesprochen werden. Anhand dreier zentraler Faktoren der Demografi e bietet das Heft umfangreiches und metho-disch abwechslungsreiches Material für die Unterrichtspraxis aller Schularten und Klassenstufen, das durch zahlreiche Arbeitsvorschläge auch für den projektbezogenen Unterricht genutzt werden kann. Die drei Faktoren der Demografi e sind der Rückgang der Geburten, die steigende Lebenserwartung der Menschen sowie die Zuwanderung nach Deutschland. Sie strukturieren das Themenheft in drei Bausteine, denen ein Baustein als Überblick zu allen drei Faktoren voransteht: Fertilität, Mortalität, Migration.

Bei dem Thema »demografi scher Wandel« geht es um die Vergangenheit und um die gegenwärtige Situation, vor

allem aber auch um die Zukunft der heutigen Generation der Schülerinnen und Schüler. In vielerlei Hinsicht werden sie konkret angesprochen und sind ganz persönlich davon be-troffen: mit der eigenen Familiensituation, mit der eigenen Zukunfts- und eventuellen Familienplanung. Der Redaktion von Politik & Unterricht war es dabei wichtig, das Thema so zu konzipieren, dass der demografi sche Wandel nicht als »Horrorszenario« und den Lernenden kein durchweg nega-tives Bild ihrer eigenen Zukunft vermittelt wird. Vielmehr geht es uns darum, die einzelnen Faktoren auch in ihrer ge-genseitigen Vernetzung zu erkennen, zu analysieren, selbst Zukunftsszenarien zu entwerfen und ein Bewusstsein für die Problematik zu schaffen. Dass der demografi sche Wandel unserer Bevölkerung nicht nur ein scheinbar hochproble-matisches Phänomen ist, sondern dass er in zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen auch Chancen in sich birgt, wird in vielen der angebotenen Materialien immer wieder deutlich.

Lothar Frick Direktor der LpB

Dr. Reinhold WeberChefredakteur

Neue Organisationsstruktur der LpB Baden-WürttembergZum 1. Januar 2007 hat sich die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg eine neue Organisationsstruk-tur gegeben. Wir haben unsere Fachreferate abgeschafft und gliedern uns künftig in Abteilungen. Die bisherige Abteilung Marketing wird zur Stabsstelle, die Außenstellen werden wir ab Juli 2007 der Abteilung »Medien und Methoden« zuordnen. Die LpB mit ihren bisher 26 Referaten und sechs Abteilungen gliedert sich dann in nur noch vier Abteilun-gen: Zentraler Service, Haus auf der Alb, Demokratisches Engagement sowie Medien und Methoden inklusive unserer Außenstellen.

An den bestehenden fachlichen und sachlichen Aufgaben der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der LpB wurden nur geringfügige Änderungen vorgenommen. Allerdings mussten wir mit der Schließung unserer Außenstellen in Stuttgart und – noch folgend – Tübingen dem fortwährenden Per-sonalabbau in der LpB Tribut zollen. Dem stehen auf der

»Habenseite« die organisatorische Wiederverankerung der Landespolitik und Landeskunde sowie die noch kommende Modernisierung unseres immer stärker nachgefragten Inter-net-Angebots gegenüber. Auch unser Erscheinungsbild und Logo haben wir neu gestaltet – inklusive »Politik & Unter-richt«. Wir hoffen, dass Ihnen das »neue Gesicht« zusagt. Inhaltlich werden wir uns weiter bemühen, aktuelle Themen ansprechend und für die Unterrichtspraxis gut verwendbar zu präsentieren.

Wenn Sie über neue Publikationen, Veranstaltungsangebote und Bildungsreisen der LpB sowie über vieles andere mehr aus unserer Arbeit immer auf dem Laufenden sein wollen, dann abonnieren Sie einfach unseren Newsletter »Einblick« unter www.lpb-bw.de/newsletter.

Lothar Frick, Direktor der LpB

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Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und SportWerden die Ampeln künftig länger auf Grün stehen, weil mehr alte als junge Menschen die Straße überqueren wollen? Gibt es mehr Seniorenheime, weil sich nicht mehr so viele junge Menschen um die Älteren kümmern können oder wollen? Dominieren in den Hörsälen der Universitäten tatsächlich die agilen älteren Semester? Stehen bald Kindergärten und Schulen vor dem Aus, einfach weil sie nicht mehr alle ge-braucht werden? Oder erleben viele Städte und Gemein-den nach dem Boom der Neubaugebiete für Familien dann die Verwaisung ganzer Stadtviertel, weil weniger Bedarf an Wohnraum besteht und in den Vierteln die Infrastruktur für Senioren fehlt?

An diesen wenigen Gedankenspielen können Schülerinnen und Schüler bereits erkennen, was der demografi sche Wandel bedeuten kann. Vor allem aber wird deutlich, dass diese Thematik nicht nur eine Spielwiese für Bevölkerungsforscher oder eine Chance zur Profi lierung von Politikern unterschied-licher Couleur in den Medien ist. Mit dem demografi schen Wandel werden zwar »die Bevölkerung betreffende Verände-rungen« beschrieben und analysiert. Doch wie stark jeder Einzelne von uns – egal in welchem Lebensalter – im wahrs-ten Sinne des Wortes betroffen ist, soll im Unterricht mit dem vorliegenden Heft erarbeitet werden. Wie begeistern wir Jugendliche heute, sich die Frage zu stellen, wie wir mit diesem Wandel umgehen? Begreifen wir ihn als Chance oder als Bedrohung?

Betrachtet man die Ergebnisse der 15. Shell Jugendstudie (Stand 2006), so erfährt man, dass 72 Prozent der befragten 12- bis 25-Jährigen angeben, nur in einer eigenen Familie glücklich leben zu können. Dennoch wollen nur 62 Prozent der Jugendlichen selbst Kinder haben. Wie hängt die eigene Lebensplanung damit zusammen, ob die Seniorenzeit im Liegestuhl am Mittelmeer – dank privater Vorsorge – oder einsam und mittellos in einer womöglich zum Armenhaus vergreisenden Republik verbracht werden wird? Natürlich wissen wir alle, dass in Deutschland einerseits die Gebur-tenrate sehr niedrig ist und andererseits die Zahl der älteren

Menschen immer höher wird, so dass im Jahr 2030 jeder dritte Deutsche älter als sechzig Jahre ist und immer weniger junge Erwerbstätige für immer mehr Senioren aufkommen müssen. Wir stehen aber vor dem Problem, dass einerseits das Bild der traditionellen Kleinfamilie aus den 60er Jahren längst durch die gesellschaftliche Realität eingeholt ist und mit dem modernen Rollenverhältnis von Mann und Frau nicht mehr übereinstimmt, dass andererseits aber das idealisierte Familienbild noch im Bewusstsein verankert ist und auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für eine veränderte Gestaltung noch in den Kinderschuhen stecken. Ein Ziel des Heftes ist es, diese Polarität der neuen Bedürfnisse zu erkennen und die Relevanz der individuellen Entscheidung in Beziehung zu den politischen Entwicklungszielen hinsicht-lich des demografi schen Wandels zu setzen.

Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule kann sich deshalb auch nicht darauf beschränken, das nötige Wissen über Ursachen und Auswirkungen zu vermitteln. Entschei-dend ist vor allem auch der Zugang zum Thema, die emoti-onale Betroffenheit, die Art und Weise der Vermittlung, so dass die Lernenden auch die Handlungsmöglichkeiten erken-nen, die Chancen aktiv ergreifen können und eine positive Einstellung zur Zukunft gewinnen. Erfreulicherweise setzt das vorliegende Heft der Landeszentrale für politische Bil-dung gerade hier an und bietet den Lehrerinnen und Lehrern eine wertvolle Hilfe. Anknüpfend an die Erfahrungsbereiche der Jugendlichen wird das brisante Thema sachlich und me-thodisch abwechslungsreich aufbereitet und bietet so viele Ansätze, dass sich in den Köpfen der Menschen auch über die Schule hinaus etwas bewegt.

Gernot Tauchmann Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg

AUTORINNEN DIESES HEFTESKarin Schröer war bis zu ihrer Pensionierung Reallehrerin in Reutlingen. Seitdem arbeit das langjährige Redaktions-mitglied von P&U ehrenamtlich als Bewährungshelferin und beim Arbeitskreis Leben (AKL) als Krisenbegleiterin.Judith Ernst-Schmidt unterrichtet Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde am Technischen Gymnasium und in Berufsschulklassen der Werner-Siemens-Schule Stuttgart, wo sie auch als Ausbildungslehrerin die Studierenden wäh-rend des Schulpraktikums betreut. Sie ist seit vielen Jahren Redaktionsmitglied von P&U.

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●●● EINLEITUNG

»Das Problem ist nicht der demografi sche Wandel, sondern die demografi sche Ignoranz«, so der Wissenschaftler Herwig Birg Anfang des Jahres 2006. Inzwischen wird die Situation in der Öffentlichkeit erkannt. Die Medien berichten darüber, in Diskussionen, Reden, bei politischen Auseinandersetzun-gen und in Wahlkämpfen spielt das Thema eine wichtige Rolle. Auch Gesetze, die auf die Veränderungen unserer Ge-sellschaft reagieren, wurden bereits verabschiedet. Dazu gehören zum Beispiel die Pfl egeversicherung, die »Riester-Rente«, Ganztagesschulen, Rente mit 67 usw. Aber manche dieser Maßnahmen griffen zu kurz und waren schon wenig später wieder veränderungsbedürftig. Noch immer sehen viele Menschen diese Probleme des demografi schen Wan-dels als »vorübergehend« an und glauben, einige politische Maßnahmen könnten helfen, die Situation zu stabilisieren. Sie übersehen dabei, dass wir jetzt erst eine Entwicklung wahrnehmen, die schon vor ungefähr 150 Jahren begonnen hat.

Historischer RückblickDurch die Industrialisierung, die die Kleinfamilie her-vorgebracht hat, und durch die Fortschritte der Medizin veränderte sich langsam die Bevölkerungsstruktur. Zuerst schrumpfte allmählich die Geburtenzahl: Im Jahr 1860 gebar eine deutsche Frau durchschnittlich fünf Kinder. 1874 waren es vier, 1881 noch drei und um 1904 waren es nur noch zwei Kinder. Gleichzeitig sank die Mortalität, die Menschen wurden also älter. So konnte der Altersaufbau vorerst er-halten bleiben und die Bevölkerung wuchs weiter. Mit den Jahren des Ersten Weltkrieges ging die Geburtenhäufi gkeit allerdings noch weiter zurück. Durch Hitlers Bevölkerungs-politik stieg sie kurzfristig wieder an. Diese geburtenstarken Jahrgänge, die bis ungefähr 1965 im gebärfähigen Alter waren, brachten selbst wiederum viele Kinder zur Welt – es kam zum sogenannten Babyboom. Von da ab gab es die »Pille«, die Geburten planbar machte. Mit dem wachsenden Wohlstand veränderten sich auch die Werte: Emanzipation der Frau, selbstbestimmtes Leben, Karriere wurden propa-giert. So sank die Geburtenzahl bis heute auf 1,36 (bei

Demografi scher WandelWir werden älter und wir werden weniger

der deutschen Bevölkerung liegt sie bei 1,2 und bei den Einwohnern ausländischer Herkunft bei 1,9).

Gleichzeitig stieg die Lebenserwartung und damit das Durch-schnittsalter der Bevölkerung. Der Altersquotient – das Ver-hältnis der arbeitenden Bevölkerung zu den über 65-Jäh-rigen – verschiebt sich weiter. Um 1850 kamen 7,6 über 65-Jährige auf hundert 20- bis 64-Jährige, im Jahr 2050 werden es 54,4 sein. Außerdem hat die Lebensarbeitszeit abgenommen, u. a. aufgrund längerer Ausbildungszeiten, Perioden von Arbeitslosigkeit und früherer Austritte aus dem Erwerbsleben.

Im Jahr 1887 hatte Bismarck das in seinen Grundzügen noch heute gültige Rentensystem eingeführt. Dabei sollten Arbeiter vom 70. Lebensjahr ab (die durchschnittliche Le-benserwartung betrug damals 40 Jahre) zusätzlich zu ihrer familiären Versorgung ein »Taschengeld« vom Staat erhal-ten, das im Wesentlichen die arbeitende Generation er-wirtschaftete (Generationenvertrag). Durch die Ausweitung der Anspruchsberechtigten auf Hinterbliebene, Landwirte, Frauen, Angestellte, durch die Aufgabe der Kapitaldeckung, durch die Dynamisierung der Renten, die Herabsetzung des Bezugsalters auf 60 Jahre und durch die erhöhte Lebenser-wartung wurde die Finanzierung der Renten im Laufe des 20. Jahrhunderts immer schwieriger.

Die gegenwärtige SituationDie Bevölkerung nimmt kontinuierlich weiter ab und wird älter. Aus der Bevölkerungspyramide wurde ein Pilz oder eine Urne. Die Tatsache, dass rund ein Drittel der Frauen kinderlos bleibt und die anderen selten mehr als zwei Kinder zur Welt bringen, bedeutet, dass auch für die nächste Generation kein Bevölkerungswachstum zu erwarten ist.

Migration ist der dritte Faktor, der neben der Fertilität und der Mortalität die Bevölkerungsentwicklung bestimmt. Die Bundesrepublik Deutschland braucht die Zuwanderer, die meist mehr Kinder haben als die Einheimischen. Ohne diese Zuwanderung aus dem Ausland würden uns die negativen Auswirkungen einer schrumpfenden Bevölkerung noch viel schneller und härter treffen. Wollte man allerdings ver-suchen, durch Zuwanderung den Schrumpfungsprozess der Bevölkerung ganz aufzuhalten und gleichzeitig den Al-tersquotienten der Bevölkerung zu senken oder zu erhal-ten, müssten bis 2050 etwa 188 Millionen Menschen nach Deutschland einwandern.

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Blick in die ZukunftDie geschilderten Entwicklungen haben bereits stattgefun-den. Jetzt müssen sich viele politische Entscheidungen auch danach ausrichten, wie die Bevölkerungsentwicklung in den nächsten Jahrzehnten weitergehen wird. Deshalb sind Be-völkerungsprognosen wichtig. Die Vorausberechnungen sind kurz- und mittelfristig relativ genau, denn man kennt die Ist-Situation. Man geht davon aus, dass die Kinderzahl in absehbarer Zeit nicht über 1,4 steigen wird, da die Entwick-lung in allen vergleichbaren Industriestaaten gleich ver-läuft und sich die Kinderzahl in Deutschland seit längerem stabilisiert hat. Sicher ist, dass auch die Lebenserwartung weiter steigen wird. Unsicher ist die dritte Komponente, die Zuwanderung, deren Bedingungen sich relativ kurzfristig verändern können. Alle Berechnungen gehen aber von einer abnehmenden Bevölkerung bis 2050 aus.

Darauf müssen Gesellschaft und Politik reagieren. Einigkeit herrscht darüber, dass Familienpolitik besonders wichtig ist. Es müssen Bedingungen geschaffen werden, dass Frauen wieder mehr Kinder gebären wollen. Auch über die Notwen-digkeit von Zuwanderung und der Integration der Einwande-rer besteht weitgehend Einigkeit. Nur über die Maßnahmen, durch die sich die Ziele erreichen lassen, wird oft auch inner-halb der Parteien kontrovers diskutiert. Der größte Dissens besteht bei der zurzeit dringendsten Frage, der Finanzierung der Renten. Denn das entstehende Missverhältnis zwischen Beitragszahlern und Empfängern führt zu Forderungen nach Generationengerechtigkeit. Weitere Probleme, die auf Ent-scheidungen warten, sind:

◗ die abnehmende Zahl der erwerbsfähigen Bevölkerung◗ die Binnenwanderung zu Arbeitsplätzen (Nord-Süd- bzw. Ost-West-Wanderung)◗ die Schülerzahlen, die bis 2020 um 19 Prozent sinken werden◗ die starke Alterung der Stadtbevölkerung, da die jungen Familien ins Umland ziehen (ein veränderter Wohnungsbau wäre also nötig)◗ Migranten ziehen in die Städte (Gefahr von Ghettobil-dung)◗ die steigenden Gesundheitskosten durch mehr ältere und damit krankheitsanfällige Menschen◗ der vermehrte Pfl egebedarf durch die wachsende Zahl der Hochbetagten (dabei nimmt die Zahl der Familienmitglieder, die pfl egen könnten, weiter ab, so dass mehr Pfl egepersonal gebraucht wird).

Diese Entwicklungen wirken auf den ersten Blick bedrohlich. Aber sind sie es wirklich? Josef Joffe betitelte einen Beitrag in der »ZEIT« im März 2006 mit »Kinderschwund – na und? Deutschland ist überbevölkert«. Deshalb befi nden sich im vorliegenden Heft auch Materialien, die deutlich machen, dass der demografi sche Wandel auch Chancen für die Gesell-schaft, die Wirtschaft und für den Arbeitsmarkt eröffnet.

Ein Blick über die GrenzenDer demografi sche Wandel betrifft nicht nur Deutschland. Auch in den anderen europäischen Ländern ist die Kin-

Einleitung

derzahl gesunken, am weitesten in Italien und Spanien. In vielen osteuropäischen Staaten setzte diese Entwick-lung fast schlagartig mit dem Zerfall der Sowjetunion ein. In Frankreich und in den nordeuropäischen Staaten ist es dagegen gelungen, durch frühzeitig einsetzende politische Maßnahmen den Trend aufzuhalten.

Im Gegensatz zu den Industrieländern wächst die Weltbevöl-kerung weiterhin – und das besonders in den ärmsten Län-dern der Erde. Zwar greift der medizinische Fortschritt all-mählich auch hier – die Lebenserwartung beginnt zu steigen und je weiter entwickelt und industrialisiert die Länder sind, umso eher sinkt die Kinderzahl. Prognosen gehen davon aus, dass die Weltbevölkerung bis zum Ende dieses Jahrhunderts zu sinken oder wenigstens zu stagnieren beginnt.

Regionale UnterschiedeNicht in allen Regionen Deutschlands schrumpft die Bevöl-kerung in der gleichen Weise. Süddeutschland profi tiert von einer Binnenwanderung aus den neuen Bundesländern und auch aus Norddeutschland. Die höhere Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland und auch in einigen norddeutschen Regio-nen führt dazu, dass die mobilen Jüngeren dorthin abwan-dern, wo sie Arbeitsplätze erwarten. Sie sind in der Lebens-phase, in der sie Familien gründen und Kinder bekommen, so dass die Geburtenrate Baden-Württembergs und Bayerns immer noch höher liegt als in anderen Bundesländern. Be-sonders in den ostdeutschen Ländern hat seit der Wende die Geburtenzahl dramatisch abgenommen – in einigen Orten bis auf 0,8. (Das ist besonders auffällig, weil in der DDR die Geburtenrate signifi kant höher lag als in der Bundesre-publik.) Zusätzlich gewinnt Baden-Württemberg noch durch eine relativ hohe Zuwanderung aus dem Ausland. Daher wird die Bevölkerung im Süden bis 2020 wohl wachsen und die Geburtenrate auch voraussichtlich bis 2050 höher sein als in anderen deutschen Regionen.

Didaktische und methodische Hinweise zum ThemaDer demografi sche Wandel ist ein wichtiges Thema für den Unterricht aller Schularten. Denn die Jugendlichen sind ja diejenigen, die in Zukunft betroffen sein werden. Sie müssen einerseits die Folgen tragen, andererseits können sie aber durch ihre Lebensplanung Einfl uss nehmen auf die zukünftige Entwicklung. Deshalb ist das Thema auch in allen Bildungsplänen verankert. Schon in der Einführung zu den neuen Bildungsplänen von 2004 wird gefordert, die Lernenden »in der Urteilsfähigkeit zu üben, die die verän-derlichen komplexen und abstrakten Sachverhalte unseres Lebens fordern«. Das vorliegende Heft will den Lehrerinnen und Lehrern bei der Erfüllung dieser Bildungsplanvorgaben helfen. Die Texte und Materialien sind so ausgewählt, dass die Schüler sich inhaltlich über die Problematik orientie-ren können. Sie lernen sowohl die Fakten kennen als auch ein breites Meinungsspektrum, in dem die verschiedenen Standpunkte und Gewichtungen vertreten werden. Diese ab-wägend, können sich die Lernenden selbst ein Bild machen und eine eigene Meinung bilden.

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Einleitung

die Inhalte darzustellen, bieten sich verschiedene Möglich-keiten an:

◗ einen Film über Deutschlands Zukunft in fünfzig Jahren drehen◗ eine Fotomontage über unsere Stadt heute und in fünfzig Jahren herstellen◗ eine Präsentation mit Statistiken und Tabellen anfertigen◗ Collagen von Zeitungsmeldungen über die Vorschläge der verschiedenen Parteien zum Thema zusammenstellen◗ eine Aufklärungsbroschüre über die Rentenfi nanzierung und die Altersvorsorge jetzt und in Zukunft schreiben.

Nur wenige Themen bieten so viele Möglichkeiten bei der Recherche und bei der Darstellung. Deshalb werden die Schüler interessiert und motiviert an einem solchen Projekt arbeiten.

Das Thema demografi scher Wandel muss mit besonderem Fingerspitzengefühl unterrichtet werden. Da es die nach-wachsende Generation so direkt betrifft, so entscheidend verbunden ist mit deren Lebensplanung, werden bei der Bearbeitung auch Emotionen und Ängste entstehen. Er-fahrungsgemäß sind viele Schülerinnen und Schüler offen, interessiert, wollen möglichst viele Informationen. Andere dagegen »igeln sich ein«, wollen nichts hören, wollen sich ihre Zukunftsträume nicht »kaputtreden« lassen. Und einige können richtige Ängste entwickeln, wenn darüber diskutiert wird, wie die fi nanzielle Situation für sie, aber auch schon für ihre Eltern in Zukunft aussehen wird. Es geht ja bei-spielsweise nicht nur um die Rente, sondern auch um die hohe Belastung durch Abgaben für die Altersvorsorge schon während des Arbeitslebens.

Aber bei und trotz aller Vorsicht: Je gründlicher das Thema im Unterricht behandelt wird, je intensiver die Schüler die Entwicklungen und die Folgen kennen, umso besser und

Darüber hinaus sind die Materialien so angeordnet und mit Arbeitsaufträgen zu erschließen, dass sie die Schüler motivieren, möglichst selbstständig damit zu arbeiten. Es werden auch gezielt Materialien ganz unterschiedlicher Art und Aussageabsicht angeboten, denn die Lehrpläne aller Fächer betonen immer wieder, dass die Schüler besonders Methoden- und Medienkompetenz erweben sollen, um In-formationen zu fi nden, sie auszuwerten und mit ihnen in verschiedener Weise zu arbeiten.

In den Lehrplänen ist das Thema nicht einem bestimmten Fach zugeordnet. Unterschiedliche Aspekte tauchen teils an mehreren Stellen und in verschiedenen Fächern auf: in Ge-schichte bei der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, bei Hitlers Bevölkerungspolitik, bei den 60er und 70er Jahren in der Bundesrepublik; in Geografi e bei den Themen Welt-ernährung, Weltbevölkerung, Wanderungsbewegungen, In-frastruktur verschiedener Regionen und beim Thema Unsere Gemeinde/Probleme; in Wirtschafts- und Sozialkunde bei den Aspekten Arbeitsmarkt, Wirtschaftswachstum, Renten-fi nanzierung und Globalisierung; in Religion bzw. Ethik bei den Themen Wertewandel, Rolle der Familie, Umgang mit älteren Menschen, Arbeit und Freizeit; nicht zuletzt auch in Biologie bei den Themen Empfängnis, Geburt und Auf-klärung. Schließlich natürlich im Gemeinschaftskundeun-terricht: Sozialstruktur und Sozialstaatlichkeit im Wandel, Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland im Wandel, Leben in demokratischen Gemeinschaften und wirtschaftli-che Handlungsfelder sowie Herausforderungen in Deutsch-land und in der Europäischen Union.

Besonders auch für die neugeschaffenen Fächerverbünde eignen sich Thematik und Anlage des Heftes. Da sich die einzelnen Aspekte gut differenzieren lassen, können sie in Arbeitsgruppen recherchiert, zusammengestellt und präsen-tiert werden. Adressaten einer solchen Präsentation können Parallelklassen, Eltern oder auch die Öffentlichkeit sein. Um

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Lebensabschnitt, in den die Jugendlichen hineinwachsen. Es geht also um Entscheidungen, die sie bald selbst fällen müssen. Die Materialien regen zum Nachdenken an und können jungen Menschen zeigen, wo sie in ihrer eigenen Lebensplanung stehen. Die Materialien können auch ermuti-gen, den schwierigen Weg von Karriere und Familie zu gehen. Dabei wird die hiesige Situation auch mit der in anderen europäischen Ländern verglichen.

Die Inhalte von Baustein C (Mortalität) liegen dagegen scheinbar noch in ferner Zukunft. Was im Alter passiert, ist noch so weit weg. Daher gilt es hier erst einmal über die Probleme und Veränderungen, die eine alternde Gesell-schaft mit sich bringt, zu informieren und zu erklären, wie beispielsweise das Rentensystem funktioniert oder welche anderen Möglichkeiten der Altersvorsorge es gibt. Dann können die Schüler verstehen, dass auch für diesen Lebens-abschnitt bereits in der Jugend und in der »frühen Erwerbs-phase« nachgedacht werden sollte. Außerdem werden die jungen Menschen in ihrer Rolle als Kinder und Enkel auch in absehbarer Zeit mit der Frage konfrontiert werden, wo und wie ihre Großeltern (und später die Eltern) ihre letzten Lebensjahre verbringen werden und welche Hilfe sie dabei eventuell benötigen. Auch viele von denen, die Zivildienst oder ein Freiwilliges Soziales Jahr machen wollen, werden in der Arbeit mit älteren Menschen eingesetzt. Darüber jetzt schon nachzudenken, ist deshalb sicher sinnvoll.

In Baustein D (Migration) liegt der Schwerpunkt auf den Wanderungsbewegungen. Hier wird gezeigt, wie sich Wan-derungsgewinne und -verluste auswirken, wo und warum die Bevölkerung schrumpft oder wächst und welche Aus-wirkungen dies auf Städte und Gemeinden hat. Dabei wird zum einen die Binnenmigration betrachtet – etwa der Zuzug aus anderen Bundesländern –, aber auch die Zuwanderung von ausländischen Mitbürgern und die dadurch notwendigen Maßnahmen zur Integration.

sicherer können sie nach der Schulzeit während ihres Ar-beitslebens darauf reagieren und ihr eigenes Leben planen. Außerdem: Wer die Fakten kennt und gelernt hat, daraus Schlüsse zu ziehen und sich eigene Gedanken zu machen, ist weniger anfällig für anscheinend einleuchtende Verbes-serungsvorschläge und durchschlagende Parolen des links- oder rechtsextremen Parteienspektrums.

Zur Konzeption des HeftesDie skizzierten Probleme des demografi schen Wandels werden in vier Bausteinen genauer dargestellt und aufgearbeitet. Baustein A bietet einen kurzen Überblick über das Thema. Auf drei Doppelseiten wird den Schülern je eine Komponente des demografi schen Wandels mit motivierenden Materialien und Fragen vorgestellt. Das ermöglicht es ihnen, sich ihren Zugang zum Thema selbst zu wählen. Der Baustein bietet aber nur einige Fakten und Zahlen. Erklärungen, Begründun-gen, Zusammenhänge, politische Handlungsmöglichkeiten und Folgen werden dann in den drei weiteren Bausteinen ausführlich erörtert. Die letzte Doppelseite zeigt mit je einem längeren Text, wie unterschiedlich die demografi sche Entwicklung bewertet wird, wie entweder Zukunftsängste durch die Darstellung der Fakten geschürt oder die positiven Möglichkeiten, die eine Bevölkerungsabnahme haben kann, in den Mittelpunkt gestellt werden.

Die Bausteine B, C und D sind jeweils den drei Faktoren Fertilität, Mortalität und Migration zugeordnet, die den de-mografi schen Wandel bestimmen. In Baustein B (Fertilität) geht es um das Reproduktionsverhalten der Bevölkerung. Die Rolle der Familie, die Geburtenzahl, die Situation der Frauen bei der Entscheidung zwischen Kindern und Karriere, die Lebensplanung der Männer, die Einfl ussmöglichkeiten der Familiengesetzgebung und der Förderung der Kinder-betreuung durch Staat und Betriebe werden in den Mate-rialien vorgestellt. Das sind Probleme, die den Schülern direkt »auf den Nägeln brennen«, denn sie betreffen den

Einleitung

Fast ein Viertel der Kinder im Westen und 36 Prozent der Kinder im Osten Deutschlands wachsen in einer Ein-Kind-Familie auf. Fast die Hälfte in Ost und West hat einen Bruder oder eine Schwester. Die großen Familien dagegen sind selten geworden. Nur acht Prozent der Kinder im Westen und sechs Prozent im Osten haben drei oder mehr Geschwister.

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Baustein A

●●● BAUSTEIN A

DEMOGRAFISCHER WANDEL – EIN ÜBERBLICK

Mit Baustein A sollen die Schülerinnen und Schüler in die Thematik des Heftes eingeführt werden. Die drei Faktoren, die für die demografi sche Entwicklung zentral sind (Ferti-lität, Mortalität, Migration) werden auf je einer Doppel-seite durch verschiedene Materialien (Statistiken, Grafi ken, Berichte, Kommentare, Karikaturen, Bilder) vorgestellt. So erfahren die Lernenden auf einen Blick, worum es bei den jeweiligen Aspekten und auch in den folgenden Bausteinen des Heftes geht. Sie sollen das Problem erkennen, während die eingehende Beschäftigung damit den Bausteinen B – D vorbehalten bleibt. Die unter anderem auch wegen ihres pro-vokativen Gehaltes ausgewählten Materialien werden durch eine Reihe von Fragen ergänzt, die dadurch Interesse am Thema wecken, dass sie direkt auf die Umwelt- und Lebens-situation der Schüler zielen.

Die Lernenden sollen dadurch zuerst einmal neugierig und dann dazu motiviert werden, sich in ihrer näheren Um-gebung umzusehen und selbst festzustellen, was von den demografi schen Umwälzungen, von denen das Heft handelt, in ihrem Nahbereich wahrzunehmen ist. Außerdem sollen sie durch die ausgewählten Materialien dazu angeregt werden, sich genauer mit der Materie auseinanderzusetzen und sich beim Durcharbeiten der verschiedenen Bausteine das nötige Wissen über Bevölkerungswachstum, Alterungsprozesse und Wanderungsbewegungen anzueignen. Auch zur Vorberei-tung einer arbeitsteiligen Gruppenarbeit ist Baustein A mit seiner methodischen Aufbereitung geeignet.

Auf der letzten Doppelseite des Bausteins stehen sich zwei längere Texte gegenüber. Sie zeigen die beiden unterschied-lichen Möglichkeiten, mit dem Thema »demografi scher Wandel« umzugehen. Im ersten Text wird das Statistische Bundesamt kritisiert, das die ermittelten Zahlen angeblich so interpretiert, dass die abnehmende Bevölkerung als Ka-tastrophe und die Zukunft unseres Landes als gefährdet erscheinen könnte. Der zweite Text dagegen verweist auf die positiven Aspekte, die die demografi sche Entwicklung haben könnte. Die Schüler erfahren dadurch, dass es sich um Zukunftsszenarien handelt und dass auch eine Statistik nicht einfach für »die Wahrheit« gehalten werden muss, sondern immer genau anzusehen und zu hinterfragen ist.

An dieser Stelle gilt es auch darauf hinzuweisen, dass fast alle Materialien eine Wertung enthalten. Besonders gilt dies natürlich für die ausgewiesenen Meinungstexte wie C 8 – C 10 und für die Karikaturen. Aber auch scheinbar »objektive« Berichte und Fotos enthalten eine bestimmte Aussageabsicht, genauso wie auch Statistiken und Grafi ken nicht wertfrei sind. Baustein A soll insofern auch dazu dienen, die Lernenden für alle Arten von Manipulationen sensibel zu machen, seien sie beabsichtigt oder nicht (vgl. P&U Heft 1-2005: »Bilderwelten und Weltbilder«).

●●● BAUSTEIN B

DEUTSCHLAND BRAUCHT MEHR KINDER (FERTILITÄTSASPEKTE)

Begriffe der Demografi eFür den demografi schen Alterungsprozess unserer Gesell-schaft gibt es zwei Hauptursachen: Erstens das sinkende Geburtenniveau, zweitens die sinkende Sterblichkeit – und damit verbunden – die steigende Lebenserwartung. Bau-stein B wendet sich schwerpunktmäßig Aspekten zu, die im engeren und weiteren Sinn mit der Veränderung des Geburtenniveaus in Verbindung zu bringen sind. Der Begriff »Fertilität« (lat. fertilis = fruchtbar, ergiebig) steht im Be-reich der Biologie und der Medizin allgemein für die Frucht-barkeit, also für die Fähigkeit, Nachkommen zu zeugen. Er wird bezogen auf einzelne Personen, Paare, Gruppen oder auf die Bevölkerung eines Landes. Zusammen mit der Mortalität (vgl. Baustein C) und der Migration (vgl. Baustein D) be-stimmt die Fertilität die Entwicklung der Bevölkerungszahl, also das Bevölkerungswachstum. In der Demografi e wird mit der Gesamtfruchtbarkeitsrate (auch totale Fertilitätsrate = TFR) eine Maßzahl verwendet, die eine rechnerische Durch-schnittsgröße darstellt und darüber Auskunft gibt, wie viele Kinder eine Frau im Laufe ihres Lebens im Alter von 15 bis circa 45 – von der Pubertät bis zur Menopause – zur Welt bringt. Zunächst wird die altersspezifi sche Geburtenziffer errechnet, d. h. wie viele Lebendgeborene je 1.000 Frauen des gleichen Alters geboren werden. Hierfür wird auch von der kohortenspezifi schen Geburten- oder Fruchtbarkeitszif-fer gesprochen, die auf einen einheitlichen Geburtsjahrgang der Mütter bezogen ist. Die ermittelten altersspezifi schen Zahlen werden jedoch zur sogenannten zusammengefassten Geburtenziffer kumuliert. Für das Jahr 2004 lag diese in der Bundesrepublik Deutschland bei 1.360 Kindern pro 1.000 Frauen, d. h. die Gesamtfruchtbarkeitsrate lag bei 1,36 Kin-dern je Frau. Dies ist eine Durchschnittszahl, da nur 1,2 Geburten pro deutsche Frau und rund 1,9 Geburten bei zuge-wanderten Frauen die Geburtenrate von 1,36 ausmachen.

Die meisten Industrieländer unterschreiten die Zahl von 2,1 Kindern pro Frau erheblich, die notwendig wäre, um das sogenannte Bestanderhaltungsniveau einer Gesellschaft zu sichern. So entsteht ein Geburtendefi zit, d. h., die Sterbe-rate liegt über der Geburtenrate. Somit ist eine positive Bevölkerungsentwicklung nicht mehr gewährleistet, da kein Geburtenüberschuss erzielt wird. In Ländern allerdings, in denen die Kindersterblichkeit höher liegt als in den Indus-trieländern, ist eine höhere Fertilität erforderlich, um die Bevölkerungszahl stabil zu halten. Wenn also beispielsweise die Kindersterblichkeit nahezu 50 Prozent beträgt, so ist eine Fertilitätsrate von circa vier zur Erhaltung der Bevöl-kerung notwendig.

Dennoch nimmt die Weltbevölkerung seit den 1950er Jahren kontinuierlich zu. Allein in Indien ist der Bevölkerungszu-wachs in einem Jahr so groß wie die Bevölkerungsabnahme in Deutschland bis zum Jahr 2040! Fatal wäre es allerdings,

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Baustein B

wenn die Bevölkerungsschrumpfung in Deutschland als Kom-pensation zum Wachstum in den armen Ländern als positiv betrachtet würde. Denn die in den letzten drei Jahrzehnten nicht geborenen Kinder fehlen bei uns als potenzielle Eltern. Daher nimmt die jährliche Geburtenzahl in den kommen-den Jahrzehnten weiter kontinuierlich ab, auch wenn die Kinderzahl pro Frau in der Zukunft leicht zunähme. Dieses Phänomen gilt für die 15 alten Mitgliedsländer der EU vor der Erweiterung. In der Bundesrepublik Deutschland wird in der Zukunft eine weitere Bevölkerungsabnahme, damit auch eine Zunahme der Problemfelder für unsere Gesell-schaft stattfi nden: Der Anteil der Älteren wird weiter zu-, der Anteil der Jüngeren dagegen abnehmen. Die Frage nach der Zuverlässigkeit unserer sozialen Sicherungssysteme wird für viele Menschen beängstigend, denn der Generationenvertrag droht nicht mehr zu funktionieren. Neue Herausforderungen sind zu meistern.

Zu wenig Nachwuchs in Deutschland: Gründe für das generative VerhaltenDer Begriff »generatives Verhalten« wird in der Demografi e synonym zum vereinfachten Begriff »Geburtenverhalten« benutzt. Untersucht wird das Zusammenwirken verschiede-ner Faktoren, die auf die Anzahl der Kinder Einfl uss nehmen, wie z. B. das Alter bei der Eheschließung, das Alter der Erstgebärenden, die Familienplanung, die Lebensbedingun-gen, Wertvorstellungen u. a.m. Fragen hiernach müssen im Zusammenhang mit der Betrachtung der Fertilität zwingend gestellt werden, denn die Hauptursache für die Überalterung der Bevölkerung liegt im Geburtenverhalten – und dieses lässt seit Anfang der 1970er Jahre die Geburtenziffer unter den zur Bestanderhaltung notwendigen Wert sinken.

Der Trend des Bevölkerungsschwundes setzt mit Beginn der 1970er Jahre ein (»Pillenknick«; vgl. Grafi k S. 11). Seit-dem übertrifft die Sterberate die Geburtenrate. Einzig der Zeitpunkt der Wiedervereinigung lässt eine leichte, kurz an-

haltende Retardierung dieser Tendenz deutlich werden. Das Geburtenverhalten in der ehemaligen DDR ist kaum anders verlaufen als das in den alten Bundesländern, obwohl dort stets versucht wurde, durch familienpolitische Maßnahmen das Geburtenniveau hoch zu halten. Das durchschnittli-che Alter der Frauen zum Zeitpunkt der Geburt(en) lag in der Regel erheblich niedriger als in der Bundesrepublik. Allerdings hatte sich auch dort seit 1969 eine niedrigere Geburtenrate abgezeichnet, wie sie in den alten Bundes-ländern erst ab 1972 einsetzte. Alte und neue Bundesländer zusammen sind im europäischen Vergleich die Länder, in denen die Bevölkerungsschrumpfung infolge niedriger Ge-burtenrate am frühesten begann.

Warum aber kommt es zu dieser Entwicklung? Glaubt man den Befragungen junger Leute (z. B. 15. Shell Jugendstudie, 2006), so ist der Wunsch nach Kindern groß, aber dennoch verzichten immer mehr Paare auf den gewünschten Nach-wuchs. Vergleicht man die wirtschaftliche, politische und soziale Situation der heutigen Generation mit derjenigen früherer Generationen, besonders der jungen Nachkriegsge-neration, dann scheint es doch fast paradox, dass in Zeiten ohne Krieg und Not unsere »Wohlstandsgesellschaft« nicht mehr Nachkommen aufzeigt. Was ist jungen Leuten also wichtiger als der Wunsch nach Kindern?

Das individuelle generative Verhalten der jungen Generation hat vielerlei Gründe: Zunehmend stehen fi nanzielle Erwä-gungen im Vordergrund der Entscheidung für oder gegen ein Kind. Von einer Veränderung der Wertvorstellungen wird in diesem Zusammenhang häufi g gesprochen, die persönliche Bereicherung durch Anerkennung im Beruf, das Karriereden-ken, das Prestigedenken, die persönliche Freiheit. All dies ist in der Werteskala höher angesiedelt als der Wunsch nach Kindern, die solchen Zielen eher im Wege stehen. Neben den Wertvorstellungen innerhalb einer Gesellschaft ist die Frage des Zukunftsoptimismus – oder eher des Zukunftspessimismus

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Baustein B

– entscheidend. Mit einer ungewissen berufl ichen und damit fi nanziell unsicheren Zukunft wagen immer weniger junge Menschen den Schritt zur Familie. Der richtige Zeitpunkt für die Familiengründung hängt mit fi nanziellen Erwägungen auch deshalb zusammen, weil der Wunsch besteht, wenn schon an Kinder gedacht wird, dann den eigenen Kindern angenehme Lebensumstände und einen gewissen Lebens-standard bieten zu können. Eine abgeschlossene Ausbildung wenigstens eines Partners ist hierfür aber Voraussetzung. Bei der bekannten Situation auf dem Ausbildungsmarkt oder der Situation junger Menschen, die ein Studium absolvieren, ist es naheliegend, dass der Zeitpunkt für eine Familie immer weiter nach hinten verschoben wird. Mit einer abgeschlos-senen berufl ichen Ausbildung ist aber immer noch nicht die berufl iche Zukunft gesichert. Die Sorge um einen sicheren Arbeitsplatz, die Frage nach geeignetem Wohnraum, Abbau eventuell während der Ausbildung oder während eines Stu-diums entstandener Schulden und gleichzeitig die Sorge um die eigene Altersabsicherung – das sind einige der Ängste, die zu abwartendem Verhalten führen.

Von »Gebär- und Zeugungsstreik« wurde in der Vergangen-heit gesprochen. Junge Frauen sichern sich, bevor sie an Ehe und Kinder denken, eine eigene unabhängige Existenz-möglichkeit – angesichts der hohen Scheidungsraten ist dies auch nicht verwunderlich. Junge Männer bleiben häufi g möglichst lange im elterlichen Haushalt, nicht nur um »von Muttern« bekocht – und damit als Muttersöhnchen belä-chelt – zu werden, sondern auch um sich ein fi nanzielles Polster zu schaffen, um irgendwann den Weg zum Eigentum (Wohnung oder Haus) zu ebnen. Häufi g wird durch diese Warteposition der Anschluss verpasst und es fi ndet sich nicht der gewünschte Partner oder die »Traumfrau«, wenn dann der Wunsch nach Ehe und Kindern endlich besteht. Andererseits: Ist der Wunschpartner gefunden, so zögert manches Paar dennoch, möglichst schnell an Nachwuchs zu denken. Die fi nanzielle Unabhängigkeit und der beginnende »Wohlstand« wären dadurch unter Umständen gefährdet; Armutsrisiko wird befürchtet. Denn so viel steht fest: Wird ein bestehender Kinderwunsch erfüllt, so ist damit noch lange nicht sicher, dass beide Partner weiterhin ihren Beruf ausüben können, fehlt es doch nach wie vor an Betreuungs-angeboten in ausreichender Anzahl. So werden die Partner zum Zeitpunkt der Heirat und der Geburt des Kindes oder der Kinder immer älter. Statistisch gesehen lässt sich dieses Sze-nario anhand der Eheschließungs- und der Ehescheidungs-zahlen sowie der Erhebungen über die Altersdurchschnitte der Mütter bei der Geburt des ersten Kindes belegen.

Auch der am 24. April 2006 von Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen vorgelegte, 600 Seiten umfassende Familienbericht kommt zu keinem wesentlich anderen Er-gebnis, das die sogenannte »Verweigerungshaltung« junger Menschen erklärt. Dort wird gefolgert, dass einzig die Erhö-hung der ökonomischen Unabhängigkeit junger Menschen langfristig die demografi sche Entwicklung in Deutschland positiv beeinfl ussen könnte. Das zum Januar 2007 in Kraft getretene Elterngeld soll ein erster Schritt in diese Richtung sein; Erfolgsergebnisse stehen noch aus. Im Vergleich zu

anderen europäischen Ländern wie Frankreich oder Schwe-den hat Deutschland in der außerfamiliären Kinderbetreu-ung Nachholbedarf. Von der Leyens Fazit, »Geld, ein gutes Betreuungssystem und Zeit« seien die Orientierungspunkte für die Politik, wird nur dann erfolgreich sein, wenn Bund, Länder, Kommunen und Arbeitgeber bereit und willens sind, mitzuziehen. Familienpolitik ist eine gesellschaftli-che Aufgabe. Die Weichen für mehr Kinderbetreuung, Fa-milienförderung z. B. durch Wohnungsbau, infrastrukturelle Anpassungen und fi nanzielle Anreize müssen entsprechend gestellt werden. Nicht nur die staatlichen Einrichtungen sind gefragt, auch von Seiten der Unternehmen müssen Beiträge geleistet werden. Aber auch die gesamte Gesell-schaft ist in der Bringschuld: Die von den Eltern erbrachten Erziehungsleistungen müssen mehr Anerkennung erfahren, die Bevölkerung muss über die wirtschaftlichen und die gesellschaftlichen Folgen des individuellen demografi schen Verhaltens aufgeklärt werden.

Bevölkerungsentwicklung lässt sich am besten mit statisti-schen Daten belegen. Statistiken sind jedoch mit Vorsicht zu genießen. So werden Grafi ken oftmals verzerrt dargestellt und suggerieren damit bessere oder schlechtere Entwicklun-gen, als sich dies in der Realität zeigt. Was derzeit allerdings mehr ins Blickfeld rückt, ist die Tatsache, dass die auch hier im Heft benutzten Statistiken Fortschreibungen aus den letzten Erhebungen der Volkszählung im Jahr 1987 sind. Damit liegen veraltete oder zumindest ungenaue Zahlen vor. Die Bundesregierung plant deshalb mit großer Zustimmung aus fast allen politischen Lagern, sich an der 2010/2011 europaweit geplanten Bevölkerungszählung zu beteiligen.

Die Schüler von heute werden und sollen die Eltern von morgen sein. Sie tun sich jedoch schwer damit, sich als Teil der Gesellschaft zu sehen, auf den es in der Zukunft ankommt, damit die derzeitige demografi sche Entwicklung gestoppt und eventuell in Zukunft positiver sein wird. Bekannt ist, dass besonders die nach 1960 geborenen Frauenjahrgänge – die Elternjahrgänge unserer heutigen Schüler – in Deutsch-land zu einem Drittel zeitlebens kinderlos bleiben und so der Anteil von weniger Kindern den Grund ausmacht für den niedrigen, langjährigen Durchschnitt im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts. Gerade die Geburtsjahrgänge der heute 10- bis 17-Jährigen aus den 1990er Jahren sind daher als potenzielle Eltern eher schwach vertreten. Wenn sich junge Menschen betroffen und angesprochen fühlen, wenn sie mit ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen, aber auch mit ihren Ängsten ernstgenommen werden, kann hier der Ansatz liegen, sie für die Notwendigkeit einer Problembetrachtung aus unterschiedlichsten Positionen zu sensibilisieren und sich mit dem Thema zu befassen.

Wer weiß, vielleicht wird den Schülerinnen und Schülern auch bewusst, welch persönlicher Gewinn mit Kindern ver-bunden sein kann, denn letzten Endes macht Geld allein nicht glücklich.

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Baustein B

UNTERRICHTSPRAKTISCHE HINWEISE

Um den Überblick zu bewahren, empfi ehlt sich die Anlage einer Mind Map mit Hauptästen zu den Bausteinen A – D.Bei gruppenteiligem Vorgehen können diese wiederum zu eigenständigen Mind Maps ausgearbeitet und in der Schluss-runde präsentiert werden. Eine Fotodokumentation und/oder eine Wandzeitung dokumentieren parallel dazu die Lernfortschritte.

In der Beschäftigung mit Aspekten der Fertilität erfahren die Lernenden Wissenswertes über verschiedene Typen des Altersaufbaus einer Bevölkerung und über die Konsequen-zen daraus. Sie lernen wichtige Fachbegriffe der Demo-grafi e kennen und werden sich ihrer eigenen Einbindung in das demografi sche System bewusst. Die Altersstruktur der Bevölkerung zeigt ihnen geschichtlich nachvollziehbare Erklärungen für demografi sche Veränderungen des »Bevöl-kerungsbaumes« auf (B 1 – B 2). Für diesen Lernschritt ist eine Kooperation mit dem Fach Geschichte wünschenswert. Dort kann die Entwicklung der Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert mit den Folgen der »Sozialen Frage«, der Weg zum Ersten Weltkrieg, die Folgen des Versailler Vertrags, der Weimarer Republik und der Weg in die NS-Diktatur mit dem Zweiten Weltkrieg betrachtet werden.

Ausgehend von der Grafi k B 2 sollen die Lernenden zunächst ihre eigene Altersposition, die der Eltern, der Großeltern und gegebenenfalls der Urgroßeltern im Bevölkerungsbaum mar-kieren. Wichtig ist es, darauf hinzuweisen, dass die Grafi k aus dem Jahr 2005 ist. Das heißt, ein Vierzehnjähriger war 2005 erst zwölf Jahre alt (Stand 2007), muss sich also entsprechend weiter unten eintragen. Veränderungen in der heutigen Form des Lebensbaums im Vergleich zu dem Lebensbaum aus dem Jahr 1900 werden hinterfragt und historisch eingeordnet. Dazu helfen die gesondert an-gegebenen Begriffe (Erster Weltkrieg, Weltwirtschaftskrise, Zweiter Weltkrieg, Babyboom, Pillenknick, Wiedervereini-gung Deutschlands), die in die Grafi k eintragen werden. Das Schaubild B 1 kann zur Verdeutlichung der Begriffe »Baby-boom« und »Pillenknick« herangezogen werden. Darüber hinaus kann von der Lehrkraft deutlich gemacht werden, warum sich der Lebensbaum seit den 1940er Jahren von der Pyramiden- zur Urnenform hin verändert hat.

Die Beschreibung von Grafi ken zur Veränderung der Famili-enzusammensetzung in Deutschland veranschaulicht die ge-wonnenen Erkenntnisse (B 3). Der Generationenfragebogen (B 4) hilft, Verständnis für Lebensentscheidungen in der eigenen Familie und – im Austausch während des Unterrichts – in Familien mit eventuell völlig unterschiedlichen Hin-tergründen (z. B. Migration) zu entwickeln. Der vorgeschla-gene Fragebogen wird dabei um Aspekte, die den Lernen-den relevant erscheinen, ergänzt und um Fragen erweitert, etwa: Wie sehen die Familien daheim aus? Alleinerziehende? Patchworkfamilie? Klein- oder Großfamilien? Was wissen die Schüler und Schülerinnen über die Familiensituationen ihrer eigenen Eltern, Großeltern und eventuell Urgroßeltern? Wie viele Tanten, Onkel usw. gibt es? Die Frage nach der Anzahl

der Kinder in den Familien aller Schüler kann im Durch-schnitt berechnet eventuell ergeben, dass dieser über oder unter dem Geburtenniveau von 1,36 Kindern pro Frau in der Bundesrepublik liegt. Nun kann hinterfragt werden, wie viele Kinder pro Familie wohl erforderlich wären, um die Bevölke-rung unseres Landes immer auf demselben Niveau zu halten. Ganz automatisch werden die Lernenden von alleine auf die Idee kommen, dass nicht nur die Anzahl der Kinder, sondern auch die alter Menschen den Bestand einer Gesellschaft ausmacht. Damit wird Baustein C tangiert.

Im Folgenden wird eine neue Themenrunde eröffnet: Der Generationenvertrag stimmt nicht mehr, aber wie können die verschiedensten Ursachen dafür in der Gesellschaft ver-deutlicht werden, um in Zukunft die Geburtenrate zu er-höhen? B 5 ermöglicht den Einstieg in unterschiedlichste Betrachtungsweisen zum Thema Einstellung zum Kind und persönliche Prioritäten. Der Begriff »Generationenvertrag« wird mit B 6 eingeführt und in den Gesamtzusammenhang gestellt.

Anschließend werden mit den Materialien B 7 – B 14 frauen- und männerspezifi sche Vorbehalte gegen, aber auch Wünsche für Kinder aufgezeigt, die die Lernenden durch eigene Bei-spiele ergänzen. Monetäre und persönliche Unterstützungs-möglichkeiten für junge Familien werden mit B 15 – B 21zur Diskussion gestellt. Dabei wird der Blick auch in unsere Nachbarländer gelenkt, in denen die Geburtenrate höher liegt. Die Ursachenforschung dafür dürfte den Lernenden besonders per Internetrecherche Spaß bereiten. Vergleiche werden grafi sch verdeutlicht (z. B. Wandzeitung).

Weiterführende UnterrichtsvorschlägeAlternative Möglichkeiten für eine Abrundung des Themas könnten eine Zukunftswerkstatt oder ein Filmprojekt sein. Die Zukunftswerkstatt könnte davon ausgehen, dass sich in unserer Gesellschaft am Status quo nichts ändert. Ausgehend vom derzeitigen Lebensbaum und seiner folgerichtigen Fort-schreibung, versetzen sich die Schülerinnen und Schüler ins Jahr 2050. Sie selbst stehen im Arbeitsleben, betreuen ihre alten Eltern und versorgen ihre Kinder, die sich gerade in der Ausbildung befi nden. Welches Zukunftsszenario ergibt das? Welche Gruppe stellt das überzeugendste Szenario vor?

Zum Filmprojekt: Man stelle sich vor, unsere Gesellschaft altert in der Tat immer stärker, junge Menschen sind im Alltag eher die Ausnahme als die Regel. Hierzu einige Stummfi lm-szenen (eventuell auch als Umsetzung aus der Zukunftswerk-statt) zu entwerfen, macht sicherlich Spaß und fördert den Teamgeist! Wenn dann die Filme auch noch beim »Tag der offenen Tür« oder beim Sommerfest einem breiteren Publi-kum gezeigt werden können und auf positives Echo stoßen, ist die Freude groß und die Last der Arbeit vergessen.

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Baustein C

●●● BAUSTEIN C

DEUTSCHLANDS BEVÖLKERUNG WIRD ÄLTER (MORTALITÄTSASPEKTE)

Mortalität, der zweite wichtige Faktor der Demografi e, be-fasst sich mit der Lebenserwartung der Bevölkerung und dem Altersquotienten, dem Zahlenverhältnis von jüngeren Menschen im Erwerbsalter zu Älteren, die nicht mehr im Ar-beitsleben stehen. Die Materialien dieses Bausteins zeigen, was es für den Staat, die Gesellschaft und den Einzelnen bedeutet, wenn in Deutschland der Altersquotient weiter steigt, weil die Lebenserwartung zunimmt und durch den Geburtenrückgang immer mehr Ältere immer weniger jungen Menschen gegenüberstehen werden.

Die Zusammenstellung der Materialien folgt nicht dem Prin-zip der Vollständigkeit, was bei diesem Thema wohl auch gar nicht möglich ist. Die Auswahl der Texte und Bilder, der Statistiken und Karikaturen soll einerseits einen Einstieg in die Problematik gewährleisten, andererseits aber auch den Schülern besonders typische Beispiele zeigen und treffende einleuchtende Argumente nahe bringen. »Typisch« bedeu-tet, dass sie nichts Zufälliges oder Einmaliges dokumentie-ren, sondern so ausgewählt sind, dass sie den Schülerinnen und Schülern die Augen öffnen für das, was sie selbst in ihrer Umgebung auch wahrnehmen und erfahren können, wenn sie durch die Arbeit mit den Materialien des Bausteins gelernt haben, darauf zu achten.

UNTERRICHTSPRAKTISCHE HINWEISE

Der Materialteil beginnt mit einer Statistik über die Zu-nahme des Anteils der über 60-Jährigen in der Bevölkerung. Die Schüler können dabei auf einen Blick die Situation

erfassen. Sie sollen auch dazu ermuntert werden, ihre Ge-fühle und Gedanken zu formulieren, sich eventuell auch über bestehende Ängste und Vorurteile klar zu werden und miteinander ins Gespräch zu kommen. Die folgenden Mate-rialien illustrieren dann die verschiedenen Facetten und das Ausmaß des Problems.

Die Materialien C 2 – C 7 beschäftigen sich mit dem Renten-system. Sie zeigen, wie sich Rentenalter und -höhe unter dem Druck der demografi schen Entwicklung verändern. Sie vermitteln den Schülern auch einen Eindruck davon, was sie eventuell selbst später erwarten können. Die Geschichte des Rentensystems, seine Entstehung, Bismarcks Intentionen, die Erweiterungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-derts und die Veränderungen in der »Wirtschaftswunderzeit« werden hier nicht dokumentiert. Der Lehrer kann darüber ein Referat anfertigen lassen; die Informationen aus Geschichts-büchern und aus dem Lehrerteil bieten dafür Grundlagen.

Die Schülerinnen und Schüler beschäftigen sich mit dem Widerspruch, der daraus entsteht, dass einerseits das Ren-tenbezugsalter erhöht wird, andererseits aber ältere Arbeit-nehmer – manchmal schon ab dem 50. Lebensjahr – von ihren Firmen in die Rente geschickt werden. Die Schüler erarbeiten, wodurch diese Situation entstanden ist, welche Vorurteile, aber auch welche Arbeitsgesetze dabei eine Rolle spielen, und natürlich auch, durch welche Maßnahmen die Arbeitgeber dazu gebracht werden sollen, wieder mehr ältere Arbeiter einzustellen (vgl. C 11). Weitere Informationen dazu können bei den Arbeitsämtern und aus den Medien ein-geholt werden. Interessant wären auch Interviews mit den Eltern oder Familienangehörigen über deren Erfahrungen zu diesem Problem an ihrem Arbeitsplatz.

Die folgenden Materialien C 8 – C 10 bieten nicht nur Infor-mationen, sondern sie fordern auch zu eigener Stellungnahme und Wertung heraus. Sie zeigen den Generationenkonfl ikt

FAZ-

Grafi

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Die Grafi k zeigt deutlich die mit dem »Pillenknick« in den 60er Jahren einsetzende Entwicklung des Geburtendefi zits seit Beginn der 70er Jahre.

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Baustein C

aus verschiedener Sicht. Die jüngere Generation fühlt sich betrogen und wirft den Älteren den leichtsinnigen Umgang mit den Ressourcen und auch Verschwendung und Blindheit vor den Erfordernissen der Realität vor. Diese wehren sich und verweisen auf ihre Lebensleistung und kritisieren bei den Jungen Bequemlichkeit und mangelnden Arbeitseinsatz. Die Schüler sollen die einzelnen Argumente aus den Texten und Karikaturen herausarbeiten, in einer Tabelle gegen-überstellen, in der Klasse diskutieren und sich selbst eine Meinung bilden.

Die nächste Gruppe der Materialien (C 12 – C 15) zeigt die Auswirkungen, die die alternde Gesellschaft besonders auf die Kommunen hat. Ihnen stehen schwierige Entschei-dungen bevor. Viele Bereiche des städtischen Lebens sind durch den Wandel der Bevölkerungsstruktur so betroffen, dass Veränderungen nicht nur für die Zukunft geplant, son-dern bereits jetzt in Angriff genommen werden müssen. Die Schüler sollen die Materialien nur als Ausgangspunkt benutzen. Wichtig ist, dass sie sich über die Verhältnisse in ihrer Heimatgemeinde informieren und beim Rathaus, beim Gemeinderat, bei der örtlichen Tageszeitung usw. Erkundi-gungen einziehen, welche Pläne es gibt, auf die sinkenden Kinderzahlen zu reagieren und die Stadt für eine alternde Bevölkerung »fi t« zu machen. Das Ergebnis der Recherchen kann dann als Präsentation, beispielsweise auch bei einem Elternabend, vorgeführt werden.

Da die Bereitstellung von Wohnungen mit zum Aufgabenkreis der Gemeinde gehört, schließt sich eine Aufstellung von Wohnmöglichkeiten im Alter an. Auch sie soll nur eine Anre-gung zu eigenen Beobachtungen und Umfragen der Schüler sein: Wie und wo leben ihre Großeltern, Großtanten, eventu-ell auch Urgroßeltern? Wo und wie möchten sie ihre letzten Lebensjahre verbringen? Wie sieht es in den Altersheimen, Seniorenresidenzen oder anderen Wohnprojekten ihrer Um-gebung aus? Wie ist die mobile Altenhilfe organisiert? Was wird an häuslicher Altenbetreuung im Ort angeboten? Wer sind jeweils die Träger? Dabei werden die Jugendlichen auch darauf stoßen, dass Zivildienstleistende und junge Menschen, die ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren, in die Arbeit mit den alten Menschen eingebunden sind. Das ist sicherlich deshalb interessant, weil einige Schüler bestimmt selbst mit dem Gedanken spielen, vor der Berufsausbildung ein Jahr in einer sozialen Einrichtung zu arbeiten oder ihren Zivildienst dort abzuleisten. Es sollte auch untersucht werden, wie Wohnungen beschaffen sein müssen, damit alte und behinderte Menschen darin möglichst lange selbststän-dig leben können. Welche Hilfsmittel sind dazu nötig? Die Schüler können dann ihre eigenen Ergebnisse und Erfahrun-gen mit den Aussagen der abgedruckten Texte vergleichen. Sie können auch eine eigene kleine Dokumentation über Seniorenwohnungen ihrer Heimatstadt anfertigen.

Womit die Senioren ihr oft langes Leben nach der Berufstä-tigkeit ausfüllen, zeigen die Materialien C 16 und C 17: Sie genießen ihr Leben, kümmern sich um ihre Gesundheit, sie bilden sich weiter und sie sorgen für kranke Verwandte oder betreuen die Enkel. Und sie engagieren sich bei diversen

Ehrenämtern. Auch hier können die Schüler selbst erkun-den, wie viele Vereine, Sportgruppen, soziale Hilfsdienste, Bibliotheken, Dritte-Welt-Läden usw. ihrer Gemeinde auf die ehrenamtliche Mithilfe von Senioren angewiesen sind. Sie werden dabei auch erfahren, welche Fragen und Probleme auftreten können (C 17).

Je älter die Menschen werden, desto höher ist der Pro-zentsatz der Kranken und Pfl egebedürftigen (C 18 – C 19).Viele werden in den Familien mit ambulanter Hilfe gepfl egt. Durch die zunehmende Zahl alleinlebender Menschen werden auch immer mehr Pfl egeheime und viel Personal benötigt – ein wachsender Arbeitsmarkt entsteht. Die Schülerinnen und Schüler sollten sich die Pfl egeeinrichtungen ihres Hei-matortes ansehen, vielleicht auch im Rahmen eines Unter-richtsprojektes dort mitarbeiten. Das fördert nicht nur die soziale Kompetenz, sondern verschafft ihnen auch einen Eindruck in ein Berufsspektrum mit guten Zukunftsaussich-ten. Die Kosten der Kranken- und Pfl egekassen steigen, denn der medizinische Fortschritt verhilft auch Schwerkranken zu einem immer längeren Leben. Eine Diskussion über Ster-behilfe und darüber, ob der Einsatz teurer medizinischer Mittel auf Kosten der gesetzlichen Krankenkassen an eine bestimmte Altersgrenze geknüpft werden soll wie etwa in England, hängt vom Interesse der Schüler ab. Es wäre auf jeden Fall ein wichtiges Thema für den Ethikunterricht.

Die Materialien C 20 – C 23 dokumentieren, dass der demo-grafi sche Wandel nicht nur beängstigende Auswirkungen hat, sondern eine Fülle von Chancen für neue Entwicklungen birgt. Durch die lange Lebensspanne, die den Menschen nach der Arbeitszeit bleibt, entstehen neue Bedürfnisse, ebenso durch die häufi ger werdenden gesundheitlichen Beschwer-den. So bildet sich ein neuer Markt mit großer Kaufkraft, den Industrie und Wirtschaft bedienen müssen. Dadurch ent-stehen auch wieder neue Arbeitsplätze. Die Schüler sollen auch hierzu wieder ergänzende Beispiele aus ihrem Umfeld suchen und beobachten, wo typische Angebote für Ältere gemacht werden oder in Geschäften ganze Abteilungen für Senioren eingerichtet werden. Vielleicht fi nden sie auch in einem Unterrichtsprojekt selbst noch weitere Marktlücken und entwickeln Ideen für diesen neuen Markt.

Auch die Werbebranche und das Fernsehen müssen sich auf die veränderte Marktsituation einstellen (C 21) und ihre Werbekonzepte und Programme so umstellen, dass sich auch Senioren als Käufer und Nutzer angesprochen fühlen. Die Schüler können zum Beispiel aufl isten, wie viele Werbespots im Fernsehen auf Produkte zielen, die für Senioren gedacht sind und zum Teil auch von älteren Models vorgeführt werden. Interessant ist auch die Frage, wann diese jeweils gesendet werden. Gleichermaßen können Werbeplakate beobachtet werden: Wofür wird mit jungen Menschen als Werbeträger ge-worben? Welche Werbebotschaft vermitteln ältere Gesichter? Wie viele davon gibt es bereits? Die Jugendlichen könnten sich auch das Fernsehprogramm daraufhin ansehen, welche Sendungen in der Hauptsendezeit, dem Abendprogramm, eher auf die Interessen von Senioren ausgerichtet sind. Zum Vergleich könnten sie sich ein Programm zusammenstel-

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Baustein D

len, das ausschließlich ihre Generation als Zielgruppe hätte – dann fallen die Unterschiede deutlich auf.

C 24, der letzte Text dieses Bausteins, schlägt eine Brücke von der Jugend zum Alter. Wenn Jugendliche durch den Alterssimulator selbst ausprobieren, wie man sich als Älte-rer fühlt und welche alltäglichen Situationen zum Problem werden können, dann weckt das Verständnis, Geduld und Toleranz. Die Jugendlichen spüren die Notwendigkeit, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, buchstäblich »am ei-genen Leibe«.

●●● BAUSTEIN D

DEMOGRAFISCHER WANDEL UND MIGRATION (MIGRATIONSASPEKTE)

Neben der Fertilität (Baustein B) und der Mortalität (Bau-stein C) ist die Migration die dritte Komponente bei der Betrachtung der demografi schen Bevölkerungsentwicklung. Die in Baustein B dargestellten Aspekte der Fertilität und des Geburtenverhaltens sowie die in Baustein C aufgezeigte Tatsache der Alterung der Bevölkerung und des Sterbeüber-schusses machen deutlich, dass der Trend zum Rückgang der Bevölkerung, damit der Erwerbstätigenzahlen und der Sicherung des Sozialversicherungssystems, nur abgemildert werden kann, wenn Arbeitskräfte zuwandern. Das Maß der Zuwanderung, Nettozuwanderung genannt, ergibt sich aus dem Wanderungssaldo, der Differenz also von Zu- und Ab-wanderung (Beispiel für das Jahr 2005: Zuzüge insgesamt: 707.352; Fortzüge insgesamt: 628.399; Wanderungssaldo insgesamt: 78.953).

Die Statistik unterscheidet zwischen Ausländern, die nicht Deutsche im Sinne des Grundgesetzes sind und keinen deut-schen Pass besitzen, Asylsuchenden, Spätaussiedlern und Menschen, die neben der deutschen auch eine ausländi-sche Staatsbürgerschaft besitzen und als Deutsche gezählt werden. Personen, die durch Einbürgerung die deutsche Staatsbürgerschaft erworben haben, wurden in der Vergan-genheit statistisch nicht als Menschen mit Migrationshin-tergrund erfasst. Mit dem neuesten Mikrozensus (kleine Volkszählung) des Bundesamtes für Statistik im Jahr 2005 wurden jedoch Erhebungen gemacht, die ein genaueres Bild der Vielfalt der Bevölkerung in Deutschland liefern. Danach lebten 2005 circa 15,3 Millionen Menschen mit Migrations-hintergrund in Deutschland. Das entspricht einem Anteil von 19 Prozent der Gesamtbevölkerung und liegt fast doppelt so hoch wie der Anteil der erfassten Ausländer an der Gesamt-bevölkerung von neun Prozent. Somit ist festzustellen, dass fast jeder fünfte Einwohner in Deutschland ausländischer Herkunft ist und sich damit die Bevölkerung Deutschlands multikultureller gestaltet, als man dies bislang wahrgenom-men hat.

Seit fast 50 Jahren ist Zuwanderung von verschiedenen Gruppen von Zuwanderern für Deutschland prägend, obwohl Deutschland nicht zu den klassischen Einwanderungsländern gehört. Knapp 6,7 Millionen Menschen ohne deutschen Pass lebten 2005 in Deutschland. Ist Deutschland also schon längst ein Einwanderungsland, wie oft behauptet wird? Ja, Deutschland gilt de facto als Einwanderungsland. Das zeigt sich auch im politischen Handeln: Das Bundesministerium des Innern fördert zusammen mit dem Bundesamt für Mig-ration und Flüchtlinge die zur Integration für Zuwanderer notwendigen Maßnahmen.

Die Alterspyramide der deutschen Bevölkerung profi tiert von der Zuwanderung: Ohne die Menschen mit Migrationshinter-grund wäre diese Pyramide noch viel kopfl astiger, der Alte-rungsprozess noch eklatanter. Deutlich wird daran, dass man nicht über den demografi schen Wandel sprechen kann, ohne den Blick auch auf das Thema Migration zu lenken. Daher wird die Veränderung im Altersaufbau der deutschen Bevöl-kerung derzeit nicht ausschließlich durch familienpolitische Maßnahmen zu stoppen versucht. Immer mehr wird auch diskutiert, inwiefern zuwanderungspolitische Maßnahmen gefördert werden müssen. Ein Blick in die Vergangenheit macht die wirtschaftlich und politisch bedingten Schwan-kungen der Wanderungen deutlich.

Seit wann und warum kommen Migranten nach Deutschland?Migration hat auch in Deutschland eine lange Geschichte. Die Gründe für Migration liegen im Streben nach einem besseren Leben für sich selbst und die Nachkommen, in der Furcht vor politischer, ethnischer oder religiöser Verfolgung oder in gewaltsamer Vertreibung. Hier sollen die verschie-denen Ursachen für die Zuwanderung nach Deutschland in der jüngeren Vergangenheit nur kurz umrissen werden: In den 1960er und 70er Jahren wird dem konjunkturbedingten Arbeitskräftemangel durch die Anwerbung von sogenannten »Gastarbeitern« begegnet. Vier Millionen Menschen werden bis 1973 auf diese Art gewonnen, viele leben noch heute mit der bereits zweiten und dritten Generation in der Bundesre-publik. Durch Familiennachzug stieg die Zahl der Ausländer bis 1985 auf 4,4 Millionen an. Aus Krisen- und Kriegsge-bieten wurden die Wanderungen im letzten Viertel des ver-gangenen Jahrhunderts bestimmt, durch die Änderung des Asylgesetzes 1998 wurde der Asylbewerberzugang deutlich verringert, jedoch kam nach dem Fall des eisernen Vorhangs Ende der 80er Jahre eine Vielzahl von Aussiedlern, bis 1999 etwa 2,7 Millionen Spätaussiedler. Insgesamt stieg die Zahl der Ausländer bis 1996 auf 7,3 Millionen an.

Kann höhere Zuwanderung die demografi sche Alterungsentwicklung aufhalten?Die Frage ist natürlich, inwiefern und ob überhaupt eine stärkere Zuwanderung den künftigen Rückgang der Bevöl-kerung aufhalten kann. Status quo ist: Die Fertilitätsraten sind gering, die Lebenserwartung steigt, die gesamte Be-völkerung altert. Prognosen gehen davon aus, dass ohne Zuwanderung im Jahr 2050 statt wie heute etwa 83 Millionen nur noch rund 59 Millionen Menschen in der Bundesrepublik

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Deutschland leben werden. Dabei schreitet die Alterung weiter zügig voran, der Anteil der Jungen an der Bevölke-rung im erwerbsfähigen Alter sinkt stark. Die Unbekannte bei demografi schen Rechenexempeln ist die Migration. Diese kann die Altersstruktur der Bevölkerung positiv beeinfl us-sen. So kommen beispielsweise mit den Zuwanderern in der Regel mehr junge Menschen, die das Durchschnittsalter senken. Die Fertilitätsrate ausländischer Frauen liegt zu-nächst eher über der von deutschen Frauen, jedoch wird beobachtet, dass die jungen Frauen ihr generatives Verhal-ten an das hiesige anpassen und damit sowohl das Alter der Erstgebärenden ebenfalls steigt als auch die Anzahl der Kinder geringer wird. Bei der Prognose für das Jahr 2050 kommt hinzu, dass ältere ausländische Zuwanderer oft in ihre Heimatländer zurückwandern. Damit sinkt der Alters-durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Ein Verjüngungseffekt ergäbe sich des Weiteren beispielsweise dadurch, dass einer weiteren Prognose zufolge im Wanderungssaldo ein Über-schuss von 200.000 Menschen bliebe. Dabei wird auch davon ausgegangen, dass Zuwanderer im Schnitt jünger sind als Auswanderer.

Bei allen Mutmaßungen steht jedoch fest: Der Bevölkerungs-rückgang und das demografi sche Altern kann durch mehr Zuwanderer mittelfristig nicht aufgehalten werden. Neben Deutschland müsste in den meisten EU-Ländern dieselbe Entwicklung stattfi nden, denn die demografi sche Entwick-lung verläuft nahezu identisch. Aufhalten kann man also den Trend der Alterung der Bevölkerung nicht. Ob und wie viele Menschen nach Deutschland zuwandern werden, hängt von Faktoren ab wie der Nachfrage nach ausländischen Arbeits-kräften, der Verlagerung der Arbeitsplätze in Niedriglohn-länder, den Flüchtlingszahlen aus Krisengebieten, der Zu-wanderung aus den neuen EU-Ländern ab 2011 (vollständige Freizügigkeit für Arbeitskräfte) und der Lohnentwicklung in den neuen EU-Ländern. Kontroverse Debatten sind wenig hilfreich: Im Zeitalter der Globalisierung, in dem weltweite Wanderungsbewegungen zugenommen haben – circa 200 Millionen Menschen leben als Migranten in einem Staat, der nicht ihre Heimat ist –, müssen die Chancen, die sich für die Industriestaaten durch die Migration ergeben können, durch internationale Zusammenarbeit ergriffen werden. Wegen der bestehenden Vorbehalte gegen »Ausländer« wird die große Herausforderung für die Zukunft sein, wie die Integrations-politik vorankommt. Mit Sprach- und Integrationskursen allein ist dies nicht getan. Gleichwohl ist es für Ein- und Zuwanderer unabdinglich, dass sie die kulturellen Beson-derheiten ihres Aufnahmelandes kennen und anerkennen, dass sie selbst lernen, mit den Augen der Einheimischen zu sehen. Das heißt nicht, dass sie ihre eigene Identität auf-geben müssen. Jedoch ist es erforderlich, dass sie sich auch mit der Kultur ihres Aufnahmelandes identifi zieren.

Bei allen Überlegungen, ob die Problemlösung des Bevöl-kerungsrückgangs durch Zuwanderung gelöst werden kann, ist von der Tatsache auszugehen, dass die Zahl der jüngeren und mittleren Altersgruppen bei gleichzeitigem Anstieg der Zahl der Älteren in der sozialen Sicherung schwerwiegende Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt und beim Wirtschafts-

wachstum haben wird. Renten- und Krankenversicherungen sind gleichermaßen Indizien für fehlende Arbeitskräfte. Ebenso bewirkt die Arbeitslosigkeit eine Wirtschaftsstagna-tion und eine Minderung der Steuereinnahmen. Vor diesem Szenario kann die Zuwanderung allein nicht die Lösung der Probleme sein.

Eine verbindliche Antwort auf die zahlreichen offenen Fragen gibt es nicht. Bei der Vielzahl von Zahlenspielen über die demografi sche Zukunft kann damit dieser Baustein D auch nicht den Anspruch erheben, sie gefunden zu haben. Was aber wichtiger als verbindliche Fakten ist, nämlich einen Impuls zur Auseinandersetzung mit dem Thema zu geben, damit Aufmerksamkeit und Verständnis bei unseren Schüle-rinnen und Schülern zu wecken, das ist mit dem Angebot dieses Bausteins möglich.

UNTERRICHTSPRAKTISCHE HINWEISE

Aus der Beschäftigung mit den Themen der Bausteine A bis C ergibt sich fast zwangläufi g die Frage nach weiteren Lösungsstrategien, wenn die deutsche Bevölkerung aus ei-gener Kraft aus dem Dilemma der demografi schen Alterung nicht herausfi ndet. Kann am Geburtenverhalten nur wenig Einfl uss ausgeübt werden, so liegt es politisch doch im Rahmen des Machbaren, durch gezielte Zuwanderung den Bevölkerungsbestand erhalten zu können und eventuell eine Verjüngung der Gesellschaft zu erreichen.

Ein beträchtlicher Anteil unserer Schülerinnen und Schüler kommt selbst aus einer Familie mit Migrationshintergrund und lebt in der zweiten und dritten Generation in Deutsch-land. So liegt es nahe, den Lernenden einen Einblick in historische Eckdaten der Zuwanderung nach Deutschland zu geben. Der Materialteil beginnt deshalb mit einem histori-schen Überblick über die Zuwanderung nach Deutschland. D 1 könnte mit eigenen Daten der Schülerinnen und Schü-ler ergänzt und erweitert als Zeitstrahl im Klassenzimmer gestaltet werden. Die Materialgruppe D 2 – D 5 ermöglicht eine Vertiefung der Betrachtung. So erfahren die Lernenden, wie Zuwanderung Einfl uss auf Bevölkerungsschwund oder -zunahme haben kann und wie viele Menschen verschiede-ner Nationalitäten schon wie lange in der Bundesrepublik leben. Je nach Zusammensetzung der Klassen ergeben sich unter Umständen interessante Gespräche über die familiären Situationen betroffener Schüler. Eventuell wird auch aus der Klasse heraus bereits zwischen mehreren Formen der Zuwan-derung unterschieden, die in D 4 dargestellt sind. Wie sich die Zuwanderungsraten einzelner Bundesländer unterschei-den und die Suche nach Gründen dafür führt die Lernenden an die Betrachtung wirtschaftlicher Aspekte heran. Den Ar-beitsanweisungen folgend erfahren sie die Hintergründe und Motive für Zuwanderung. Ein Nebeneffekt aus der Arbeit mit D 5 ist sicherlich, dass das Thema Binnenmigration in Deutschland angesprochen werden kann.

Die Beschäftigung mit den Materialien D 6 – D 8 kann in gruppenteiliger Arbeit entsprechend den Arbeitsanweisun-

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Beruf UND Familie – wie gestalten wir das UND? Ein Leitfaden für Praktiker und Praktikerinnen aus Unter-nehmen und Kommunen, Stuttgart 2005.

Birg, Herwig: Die demographische Zeitenwende. Der Be-völkerungsrückgang in Deutschland und Europa, 4. Aufl . München 2005.

Demografi scher Wandel – eine Herausforderung für alle Ge-nerationen. in: Im Blick. Informationen vom Landesse-niorenrat Baden-Württemberg, Heft Januar/März 2006.

Deutschland altert: Die demographische Herausforderung, Köln 2004.

Die demografi sche Lage der Nation. Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen?,hrsg. vom Berlin Institut für Be-völkerung und Entwicklung, München 2006.

Familie ja, Kinder nein. Was ist los in Deutschland?, hrsg. vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2005.

Familiengründung und Beruf. Aus Politik und Zeitge-schichte Nr. B 44/2003, Bonn 2003.

Informationen zur politischen Bildung, Heft 282: Bevölke-rungsentwicklung, Bonn 2004.

Meier-Braun, Karl-Heinz/Weber, Reinhold (Hrsg.): Kultu-relle Vielfalt. Baden-Württemberg als Einwanderungsland, 2. Aufl . Stuttgart 2005.

Opaschowski, Horst W.: Blick in die Zukunft: Wie leben wir in 20 Jahren?, in: Leitbilder einer nachhaltigen Entwicklung, hrsg. vom Ministerium für Umwelt und Verkehr Baden-Württemberg, Stuttgart 2002.

Roloff, Juliane: Demographischer Faktor, Hamburg 2003.Schirrmacher, Frank: Das Methusalem-Komplott, München

2004.Schirrmacher, Frank: Minimum. Vom Vergehen und Neuent-

stehen unserer Gesellschaft, München 2006.

LITERATUR

Schmid, Josef/Heigl, Andreas/Mai, Ralf: Sozialprognose, München 2000.

Schwentker, Björn: Deutschland ohne Kinder? Eine Serie in vier Folgen, in: Die Zeit Nr. 24–27/2006.

Shell Deutschland Holding (Hrsg.): 15. Shell Jugendstudie Jugend 2006, Frankfurt/M. 2006.

Spiegel Spezial: Jung im Kopf. Die Chancen der alternden Gesellschaft, Nr. 8/2006.

Walla, Wolfgang/Eggen,Bernd/Lipinski, Heike: Der demo-graphische Wandel. Herausforderungen für Politik und Wirtschaft, Stuttgart 2006.

Wingen, Max: Die Geburtenkrise ist überwindbar: Wider die Anreize zum Verzicht auf Nachkommenschaft, Grafschaft 2004.

Zuwanderung und Integration, in: Der Bürger im Staat, Heft 4/2006, Jg. 56, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg.

Online zum Themawww.bib-demographie.de/info/bib_bruschuere2.pdfwww.bmfsfj.dewww.bmi.bund.dewww.bundesregierung.de www.demografi sche-forschung.orgwww.destatis.dewww.exilliteratur.dewww.faznet.dewww.migration-info.dewww.statisik-bw.dewww.zdwa.dewww.zuwanderung.de

gen geschehen. Die Ergebnisse können von den Gruppenex-perten vorgetragen werden. Am Ende steht die Einsicht, dass Deutschland auch in Zukunft Zuwanderung braucht und dass den in den Texten angesprochenen Problemen politische Maßnahmen entgegengesetzt werden müssen. Die Karikatur D 9 gibt einen Anstoß zur Klärung der eventuell im Arbeits-auftrag zu D 1 noch nicht recherchierten Details.

Im folgenden Materialteil D 10 – D 13 wird ein Blick in die Ausbildungs- und Arbeitsplatzsituation von Zuwande-rern geworfen. Authentische Berichte jüngerer Zugewan-derter ermöglichen Verständnis und Betroffenheit bei den Schülerinnen und Schülern zu wecken, was auch mit den erweiternden Arbeitsaufträgen vertieft wird.

Ein Einblick in Spaniens Einwanderungspolitik (D 14) rundet die Betrachtung des Bausteins Migration mit einem gelunge-nen Beispiel ab. Kann am Ende gesagt werden: Deutschland ist fi t für die Einwanderung? Eine Abschlussdiskussion in der Klasse oder eine klassenübergreifende Podiumsdiskussion können zu einer Abstimmung über diese Frage führen.

Baustein D

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A • Demografischer Wandel – ein Überblick

Demografi scher WandelWir werden älter und wir werden weniger

Baustein A Demografi scher Wandel – ein Überblick

A 1 – A 5 Deutschland braucht mehr Kinder (Fertilitätsaspekte) 18A 6 – A 10 Die deutsche Bevölkerung wird älter (Mortalitätsaspekte) 20A 11 – A 15 Demografischer Wandel und Migration (Migrationsaspekte) 22A 16 – A 17 Demografische Entwicklung: Katastrophe oder Chance? 24

Baustein B Deutschland braucht mehr Kinder (Fertilitätsaspekte)

B 1 – B 4 Familie gestern und heute 26B 5 – B 6 Keine Zukunft ohne Kinder 30B 7 – B 11 Frauen für Kind und Karriere 32B 12 – B 14 Karriere statt Kind? Männerwünsche 34B 15 – B 16 Arbeitgeber in der Pflicht 35B 17 – B 21 Staatliche Familienpolitik 36

Baustein C Deutschlands Bevölkerung wird älter (Mortalitätsaspekte)

C 1 – C 7 Probleme für Rente und Rentenversicherung 40C 8 – C 11 Generationenkonflikte 44C 12 – C 19 Das Leben in den Kommunen verändert sich 47C 20 – C 24 Neue Chancen für die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt 51

Baustein D Demografi scher Wandel und Migration (Migrationsaspekte)

D 1 – D 5 Warum Deutschland schon Einwanderungsland ist – ein Überblick 54D 6 – D 9 Warum wir Zuwanderer brauchen 58D 10 – D 12 Zuwanderung hat viele Gesichter 60D 13 – D 14 Deutschland: Fit für Zuwanderung? 62

Texte und Materialien für Schülerinnen und Schüler

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A • Demografischer Wandel – ein Überblick

A • Demografi scher Wandel –ein ÜberblickMaterialien A 1 – A 17

A 1 In Deutschland werden weniger Kinder geboren

Die Bevölkerung in Deutschland nimmt ab.

A 2 Familie verändert sich

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A • Demografischer Wandel – ein Überblick

◗ Was sagen die Materialien A 1 – A 3 über die Geburtenent-wicklung in Deutschland aus? Notiert offene Fragen.◗ Welche Veränderungen von Familie dokumentiert A 2?

◗ Auf welche Folgen des Geburtenrückgangs verweisen die Satire A 4 und die Karikatur A 5?

ARBEITSAUFTRÄGE ZU A 1 – A 5

A 4 Deutschland im Jahr 2060?

Deutschland im Jahr 2060. Schon seit längerer Zeit gibt es keine Pampers mehr im Supermarkt; der Absatz war zu gering. Wo früher Babynahrung, Babyfl aschen, Babyschnuller und Babycremes ganze Regale füllten, sind jetzt Inkontinenz-Hilfen, Bettpfannen, Krücken und Kukident im Angebot. Die Eltern der wenigen Kinder, die noch geboren werden, müssen die Ausstattung ihrer Sprösslinge via Internet aus Frankreich

oder Skandinavien bestellen. Die Spielzeugkonzerne Mattel und Lego reduzierten schon 2023 ihre Verkaufsstellen in der Bundesrepublik wegen geringer Nachfrage um 80 Prozent; im Jahr drauf verlegte die Firma Playmobil ihren Sitz von Nürnberg auf die Philippinen.

Stern vom 30. Juni 2005

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A 5 Ein »neuer« Blick auf Kinder

A 3 Geburtenzahlen im Vergleich

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DURCHSCHNITTLICHE KINDERZAHL PRO FRAUin ausgewählten Ländern der Erde 2003Quelle: Eurostat 2005

© 8421medien.de

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A • Demografischer Wandel – ein Überblick

A 6 Lebenserwartung

A 7 Leben nach der Berufstätigkeit

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Ein Junge, der 1901 geboren wurde und den Ersten Weltkrieg als Jugendlicher erlebte, hatte eine rechnerische Lebenser-wartung von 45 Jahren. Ein Mädchen dieses Geburtsjahr-gangs konnte im Durchschnitt 48 Jahre alt werden. Heute

hat ein neugeborenes Mädchen eine Lebenserwartung von fast 82 Jahren, ein Junge von rund 76 Jahren. In den hundert Jahren dazwischen verbesserten sich Ernährung, Medizin, Arbeitsbedingungen und Wohnverhältnisse.

Die Lebenserwartung in der Bundesrepublik Deutschland steigt weiter an.

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A • Demografischer Wandel – ein Überblick

A 10 Generationenvertrag?

Eurer Familie oder im Bekanntenkreis bereits Erfahrungen mit alten Menschen und eventuelle Schwierigkeiten bei der Betreuung? ◗ In welcher Weise sind auch junge Menschen direkt von der demografi schen Entwicklung betroffen? Interpretiert A 8und A 10.

◗ Wertet die Zahlen und Altersangaben in A 6 und A 8 aus. Was erfahrt Ihr über den Altersaufbau der deutschen Bevöl-kerung? Errechnet, wie alt Ihr selbst – statistisch gesehen – werden könnt.◗ Auf welche Folgen der Alterungsprozesse verweisen A 7und A 9 – A 10? Notiert weitere Probleme, die entstehen, wenn immer mehr Menschen immer älter werden. Gibt es in

ARBEITSAUFTRÄGE ZU A 6 – A 10

A 8 Bevölkerung altert weiter

Die Bevölkerung in Baden-Württemberg wird immer älter. Nach Angaben des Statistischen Landesamts nimmt die Zahl der bis zu 18-Jährigen bis 2020 weiter ab. Dagegen wächst die Zahl der über 40-Jährigen. Waren 2005 noch 1,67 Mil-lionen Menschen im Alter unter 15 Jahren, so werden es 2020 voraussichtlich nur noch rund 1,47 Millionen sein. Die Gruppe der 15- bis 18-Jährigen verringert sich von 2005 um

rund 3,8 Millionen auf 3,1 Millionen im Jahr 2020. Gleich-zeitig steigt die Zahl der 65-Jährigen und noch älteren Menschen von 1,9 Millionen Menschen 2005 auf gut 2,3 Millionen.

dpa-Meldung vom 15. März 2006

A 9 Demografi scher Wandel als Chance

Der demografi sche Wandel birgt aus Sicht aller Fraktionen des [baden-württembergischen] Landtags nicht nur Risiken, sondern eröffnet auch neue Chancen für die Gesellschaft. Lebenslanges Lernen und generationenübergreifendes bür-gerschaftliches Engagement eröffnen neue Möglichkeiten. Allerdings kritisieren SPD und Grüne, das Land habe in vielen Bereichen gekürzt, die ein selbstbestimmtes Leben im Alter ermöglichen sollen. Dazu zählen die Pfl egeheimförderung

oder Hilfe für Demenzkranke. CDU und FDP betonten, es sei mehr bürgerschaftliches Engagement nötig.

dpa-Meldung vom 2. Februar 2006

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A • Demografischer Wandel – ein Überblick

A 11 Einwanderungsland Deutschland

A 12 Bevölkerungsentwicklung und Zuwanderung

Deutschland ist de facto ein Einwanderungsland.

Erstmals seit 1990 sind im Jahr 2005 weniger als 600.000 Ausländer nach Deutschland gekommen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes zogen 2005 knapp 580.000 Aus-länder nach Deutschland. Außerdem kamen 128.000 weitere Personen – darunter viele Spätaussiedler – nach Deutsch-

land, so dass die Gesamtzahl der Zuwanderer rund 707.000 erreichte. 628.000 Männer und Frauen – darunter 145.000 Deutsche – verließen das Land. Insgesamt ergab das einen sogenannten Wanderungsüberschuss von 79.000 Menschen.

82,5 Mio.

81,3 Mio.

75,1 Mio.

67,1 Mio.

58,6 Mio.

Zuwanderung pro JahrZuwanderung pro Jahr

2003 2010 2020 2030 2040 2050

300.000300.000

200.000200.000

100.000100.000

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GeschätzteBevölkerungsentwicklung in Deutschland

bei unterschiedlichen Zuwanderungsannahmenund gleichbleibender Geburtenrate von ca. 1,4

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A • Demografischer Wandel – ein Überblick

◗ Erarbeitet aus A 11 – A 13 die Bedeutung der Zuwanderung für die Bevölkerungszahl Deutschlands in Vergangenheit und Zukunft. Warum gibt es unterschiedliche Prognosen? ◗ Überlegt, was es in Eurer Gemeinde alles nicht gäbe, wenn keine Zuwanderer gekommen wären. Skizziert nach dem Vor-bild von A 14 ein Bild Eurer Klasse.

◗ Welche Probleme müssen gelöst werden, damit viele Men-schen aus unterschiedlichen Herkunftsländern in Deutsch-land gut zusammenleben können?◗ Vergleicht die Aussagen in A 13 und A 15. Was könnt Ihr daraus über die Situation in verschiedenen deutschen Bundesländern schließen?

ARBEITSAUFTRÄGE ZU A 11 – A 15

A 13 Land mit Einwohnerplus

Baden-Württemberg wächst: Wie das Statistische Landes-amt mitteilte, stieg die Bevölkerungszahl von 2004 auf 2005 um 18.300 Menschen (0,2 Prozent) auf 10,7 Millionen Einwohner. Damit setzte sich der Bevölkerungsanstieg zwar fort, verlangsamte sich nach Angaben der Statistiker jedoch

spürbar. Das Einwohnerplus im Jahr 2005 ergab sich im Vergleich zum Vorjahr vor allem aus Zuwanderungen. Die Geburtenentwicklung sei rückläufi g gewesen.

dpa-Meldung vom 25. Juli 2006

A 14 Deutschland ohne Einwanderer!

A 15 Junge verlassen den Osten

Auch eineinhalb Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung wandern jedes Jahr zehntausende Ostdeutsche aus ihrer Heimat ab. Die neuen Länder verloren dadurch 2005 rund 49.000 Menschen, teilte das Statistische Bundesamt mit. Die Zahl ging im Vergleich zum Vorjahr etwas zurück, als der Saldo noch 57.000 betrug. Das Hauptzielland war Bayern (29.666). Nach Baden-Württemberg kamen 21.700 Men-schen.

Die bevorstehenden demografi schen Probleme in Ostdeutsch-land werden mit der Abwanderung noch verschärft: Zwar ent-spricht der Abwanderungsverlust von 49.000 Menschen nur

0,4 Prozent der Gesamtbevölkerung. Jedoch waren 25.300 von ihnen zwischen 18 und 25 Jahren alt, was zwei Prozent der Altersklasse entspricht.

AP-Meldung vom 29. September 2006

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A • Demografischer Wandel – ein Überblick

A 16 Schwarzmalen nach Zahlen

Schien uns die demografi sche Zukunft bisher nur düster, so müssen wir sie jetzt wohl gänzlich schwarz sehen. Das ist zu-mindest der Eindruck, den die neuesten Bevölkerungsvoraus-berechnungen hinterlassen, die das Statistische Bundesamt für die Jahre 2006 bis 2050 vorgelegt hat. Worum es geht, machte Vizepräsident Radermacher unmissverständlich klar: um den demografi schen Wandel als »Problem«. Zwar sei ihm wichtig, »keine Panik zu verbreiten«, aber die Zahlen seien schon »dramatisch«. Vielleicht ist es diese Sichtweise, die dafür sorgte, dass das Bundesamt seine große Chance verpasste: Die demografi schen Daten tatsächlich frei von jeder Panikmache endlich einmal neutral darzustellen. Was die Statistiker für die Öffentlichkeit aufbereitet haben, liest sich hingegen gar nicht wertfrei. War etwa in der letzten Vo-rausberechnung noch die Rede von der »Differenz zwischen Lebendgeborenen und Gestorbenen«, hat man den techni-schen Terminus jetzt durch einen griffi geren Begriff ersetzt: »Geburtendefi zit«. Die Botschaft zwischen den Zeilen ist klar: Momentan erfüllen die deutschen Frauen den Sollwert an Geburten nicht. Die Bevölkerung schrumpft, und das darf wohl nicht sein.

Dabei verkennt das Bundesamt allerdings seinen eigentli-chen Auftrag. Und der lautet, für die öffentliche Diskussion die Fakten zu liefern, und zwar in neutraler Form. Ob die Tatsache, dass es einen demografi schen Wandel gibt, nur negativ zu sehen ist oder auch große Chancen für Wirtschaft, Staat und Gesellschaft bietet, soll und kann das Bundesamt nicht beurteilen. In der Debatte nämlich mehren sich in letzter Zeit die positiven Stimmen. Nun kann natürlich kein Statistiker etwas dafür, wenn die Bevölkerung tatsächlich schrumpft und altert. Aber er muss die ganze Palette an möglichen Entwicklungen zeigen. Und nicht die optimis-tischsten so gut es geht verstecken. Doch genau das tut das Statistische Bundesamt: Nur noch 69 bis 74 Millionen Menschen werden 2050 in Deutschland leben, heißt es in der Mitteilung. Nachsatz: Wenn das demografi sche Verhalten

so bleibt wie heute. Für die nächsten 44 Jahre. Und wenn nicht? Erstmals seit Jahren berechneten die Statistiker auch ein Szenario mit steigender Kinderzahl pro Frau. Bis 2025 erhöht sich die Geburtenrate dabei von jetzt etwa 1,4 auf 1,6. Für Radermacher ist das »optimistisch« und nur unter günstigen familienpolitischen Bedingungen zu erreichen. Eine typisch deutsche Sicht. Bei der UNO sieht man es anders. In deren Bevölkerungsberechnungen steigt hierzu-lande die Geburtenrate bis 2050 auf 1,85 – im mittleren Szenario. Doch wer wissen will, was allein eine durchschnitt-liche Kinderzahl von 1,6 für Deutschland hieße, sucht die entsprechende Kurve in der schönen farbigen Präsentation der Wiesbadener vergeblich. Man muss sich schon die Mühe machen und die Zahlenkolonnen ganz hinten im Tabellenteil auseinanderdröseln, dann fi ndet man schließlich doch eine Antwort: 77,5 Millionen Menschen würden nach dieser opti-mistischeren Prognose 2050 in Deutschland leben.

Wer noch mehr Energie investiert, entdeckt schließlich, dass das aufgearbeitete Pressematerial über ein Szenario gar keine Daten enthält: Die Variante, die eine steigende Ge-burtenrate bei einem gleichzeitigen hohen Anstieg der Le-benserwartung berücksichtigen würde, fehlt völlig. Welche Bevölkerungsgröße das Land unter diesen Bedingungen zu erwarten hätte, erfährt nur, wer die richtige Excel-Tabelle aus dem Internet lädt, das richtige Datenblatt und dort die richtige Spalte erwischt: 2050 könnte es 79,5 Millionen Deutsche geben. Das sind fast so viele wie heute – falls sich nichts anderes ändert. Den jährlichen Einwanderungssaldo haben die Statistiker vorsichtshalber auf 200.000 pro Jahr begrenzt. Eine Variante mit 300.000 Zuwanderern, die es vor drei Jahren noch gab, existiert nicht mehr. Sonst hätten die fl eißigen Rechner aus Wiesbaden womöglich noch über eine vielleicht wachsende Bevölkerung berichten müssen. Und das passt ja nun überhaupt nicht zum Zeitgeist.

ZEIT online vom 7. November 2006 (Björn Schwentker)

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A • Demografischer Wandel – ein Überblick

A 17 Mehr Wohlstand für alle

In beiden Teilen Deutschlands war die Verkehrs- und Infra-strukturpolitik jahrzehntelang nur auf Wachstum ausge-richtet. Weil es in Ballungsräumen zu wenig preiswerten Wohnraum gab, half der Staat mit Pendlerpauschale und Eigenheimzulage, die Stadtgrenzen auszuweiten. Die west-deutschen Politiker gewöhnten sich daran, dass Wachstum die Lösung von Verteilungskonfl ikten einfacher macht – beim Straßenbau, bei der Ausweisung von Bauland, bei der Denk-malpfl ege. Und in Ostdeutschland wurde nach der Einheit alles überdimensioniert geplant: Gewerbegebiete und Wohn-viertel, Kläranlagen und Straßen. Die Stadtverwaltungen entwarfen und investierten, als müssten sie ihren Glauben an eine bessere Zukunft auf den Reißbrettern beweisen. In einigen ostdeutschen Städten kann man die Folgen heute riechen. In Cottbus, Stadtteil Sachsendorf, liegt oft ein fau-liger Geruch in der Luft. Der Druck in den Abwasserleitungen ist zu schwach, weil es zu wenige Anlieger gibt. Die Rohre verkeimen und wachsen zu. Kein Wunder: Die Siedlung wurde für 30.000 Menschen angelegt, heute leben noch 16.000 hier. Die Kosten für die Umrüstung der Kanalisation werden auf 12 Millionen Euro geschätzt. Das ist nur ein Beispiel für eine Infrastruktur, die zu einer schrumpfenden Bevölkerung nicht mehr passt. Manchmal kostet es Geld, weniger zu werden.

Die meisten Ökonomen allerdings gehen davon aus, dass Schrumpfung auch mehr Wohlstand und mehr Lebensqualität bedeuten kann. »Für die Wirtschaft werden schrumpfende Bevölkerungen und entleerte Regionen keine wirklichen He-rausforderungen verursachen«, sagt Thomas Straubhaar, Prä-sident des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs. »Nicht die Schrumpfung, sondern die Alterung ist die demogra-fi sche Herausforderung.« Auch der Darmstädter Volkswirt-schaftsprofessor Bert Rürup ist sicher, dass Wirtschaft und Wohlstand trotz demografi schen Wandels wachsen können: »Wir werden vermutlich etwas weniger Geld für Autos oder Immobilien ausgeben und mehr für Pfl ege und Gesundheits-leistungen – aber für die Wachstumsraten einer Volkswirt-schaft ist das letztlich egal.« Für die Höhe des Bruttosozial-produkts macht es keinen Unterschied, ob ein Unternehmen Schaukelpferde oder Schaukelstühle produziert. ...

Um den Optimismus der Ökonomen zu verstehen, hilft ein Gedankenexperiment: Man stelle sich vor, eine Stadt wie Hamburg würde über Nacht die Hälfte ihrer Einwohner ver-

lieren. Alle Häuser, Schulen, Autos, Parkplätze und Bäume blieben unverändert stehen, nur viele Menschen wären verschwunden. Was wäre die ökonomische Konsequenz? So zynisch es klingen mag: Das Pro-Kopf-Einkommen der Ver-bleibenden würde zunächst deutlich steigen. Rein rechne-risch könnte jeder über die doppelte Zahl an Kühlschränken, Fernsehern und Wohnfl äche verfügen. Er hätte mehr Geld und Platz und würde auf dem Weg zur Arbeit weniger Zeit im Stau verbringen.

Andere Effekte kämen hinzu: Das Angebot an Waren, die Zahl der Arbeitgeber und der Konsumenten verschieben sich und damit die gesamte ökonomische Struktur. Insofern sind die endgültigen Folgen pro Person schwer zu erfassen. Aber das Beispiel zeigt, dass eine Gesellschaft allein durch den Rück-gang ihrer Bevölkerung nicht automatisch ärmer wird, im Gegenteil. Zunächst verfügen weniger Menschen über mehr Ressourcen. Wenn Eltern nicht drei oder vier Kinder, sondern nur ein Einzelkind oder zwei Geschwister erziehen, können sie ihrem Nachwuchs mehr Aufmerksamkeit widmen und eine bessere Ausbildung fi nanzieren – auch wenn das Leben von Einzelkindern seine negativen Seiten hat. »Dadurch sind die Voraussetzungen günstig, dass künftig die Kinder gebil-deter sind, was die langfristigen Wachstumschancen einer Volkswirtschaft vergrößert«, sagt Straubhaar. Eine Besser-stellung von Familien ist deshalb nicht überfl üssig, auch nicht aus Sicht von Ökonomen: Natürlich ist es aus vielerlei Gründen besser, wenn eine Nation weniger stark altert und schrumpft.

Dass der Wohlstand eines Landes durch eine sinkende Ein-wohnerzahl gefährdet werden kann, ist eine vergleichsweise neue Sicht der Dinge. Die Geschichte lehrt eher das Gegen-teil. Ein besonders drastisches Beispiel sind die Pestepi-demien des ausgehenden Mittelalters. Ganze Landstriche wurden entvölkert, Hunderttausende starben. Grundstücke und Ackerfl ächen verteilten sich auf weniger Köpfe, pro Person wurde mehr Kapital gebildet, der Lebensstandard in Europa stieg.

Die ZEIT vom 14. Oktober 2004 (Elisabeth Niejahr)

◗ Warum wird die Veröffentlichung des Statistischen Bun-desamtes zum demografi schen Wandel in A 16 so scharf kritisiert? Worauf weist der Karikaturist hin?◗ Untersucht, welche Aspekte der Bevölkerungsentwicklung die Autorin in A 17 in den Vordergrund stellt und wie sie ihre Sichtweise begründet.

◗ Vergleicht die beiden Texte und stellt in einer Tabelle die Unterschiede dar. Sammelt aus Medienberichten, die sich mit der Bevölkerungsentwicklung befassen, die jeweils ver-wendeten Begriffe und Beschreibungen. Untersucht nun, ob sie positive oder negative Bewertungen enthalten. Überlegt, was die Verfasser mit ihrer Wortwahl erreichen wollen.

ARBEITSAUFTRÄGE ZU A 16 – A 17

Politik & Unterricht • 1/2-2007

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B • Deutschland braucht mehr Kinder (Fertilitätsaspekte)

B 1 Altersaufbau der Bevölkerung: Die Pyramide verliert ihre Form

B • Deutschland braucht mehr Kinder (Fertilitätsaspekte)Materialien B 1 – B 21

D e f i n i t i o n : D e m o g r a f i e

Demografi e (griechisch démos = das Volk, graphé = Schrift, Beschreibung) ist eine Wissenschaft, die sich mit dem Leben, Werden und Vergehen menschlicher Bevölkerungen befasst, mit ihrer Zahl und Verteilung im Raum und mit den für Ver-änderungen verantwortlichen Faktoren. Die Erforschung der Regel- und Gesetzmäßigkeiten erfolgt mit Hilfe der Statistik aus Stichproben und Volkszählungen. Neben verschiedenen statistischen Kennziffern wie Geburten-, Fruchtbarkeits-, Sterbe-, Migrationsrate und Lebenserwartung werden auch

grafi sche Darstellungen (z. B. Alterspyramide) verwendet. Demografi e beschreibt, analysiert und erklärt natürliche Be-völkerungsbewegungen (Geburten und Sterbefälle) und Ver-haltenskomplexe (z. B. Heirats- und Scheidungsverhalten), aber auch Bevölkerungsentwicklungen (z. B. Veränderung der Bevölkerung nach Zahl und Altersstruktur), die aus Aus-gangsbestand, Alters- und Geschlechtsstruktur der Bevölke-rung sowie den Bevölkerungsbewegungen resultieren.

D e f i n i t i o n : F e r t i l i t ä t

Fertilität bedeutet in der Biologie die Fähigkeit der Lebewe-sen, Nachkommen zu erzeugen. In der Medizin bedeutet sie Fruchtbarkeit, geschlechtliche Vermehrungsfähigkeit – beim Mann von der Pubertät bis ins hohe Alter, bei der Frau von der Menarche bis zur Menopause. In der Demografi e versteht man unter Fertilität die Anzahl der Kinder, die eine Frau im Laufe ihres Lebens zur Welt bringt. In Deutschland liegt die

Fertilität derzeit bei 1,36, d. h., 1.000 Frauen bringen in ihrem Leben 1.360 Kinder zur Welt. Damit die Bevölkerung in einem Land konstant bleibt, muss eine Frau rund 2,1 Kinder zur Welt bringen. Sie ersetzt damit sich selbst und ihren Partner. Dazu kommt ein »Sicherheitszuschlag« für Kinder, die sich später selbst nicht fortpfl anzen.

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B • Deutschland braucht mehr Kinder (Fertilitätsaspekte)

◗ Beschreibe die drei verschiedenen Formen, die den Alters-aufbau der Bevölkerung darstellen (B 1). Wie verändern sich die drei Grafi ken? Wie könnte man die Formen bezeichnen?◗ Welche Aussagen kannst Du aus diesen drei Formen zur Bevölkerungsentwicklung machen? Betrachte dabei die ein-zelnen Altersgruppen. ◗ Versuche, in eigenen Worte die Begriffe Demografi e und Fertilität zu defi nieren. ◗ Markiere auf dem Lebensbaum in B 2, wo Du Dich selbst befi ndest. (Bedenke dabei, dass die Grafi k aus dem Jahr 2005 ist.)◗ Markiere auch die Position Deiner Eltern, Großeltern und Urgroßeltern.

◗ Warum hat der Lebensbaum »Dellen« und »Ausbuch-tungen«? Was weißt Du über historische Ereignisse in der Kindheit und Jugend Deiner Familie? Ordne die folgenden Begriffe dem Lebensbaum zu: Erster Weltkrieg, Weltwirt-schaftskrise, Zweiter Weltkrieg, Babyboom, Pillenknick, Wiedervereinigung Deutschlands.◗ Recherchiere im Internet (www.destatis.de in der Rubrik »Bevölkerung«) die absoluten Zahlen von Geburten und Sterbefällen seit 1946. Erstelle daraus ein Liniendiagramm (x-Achse = Geborene/Gestorbene mit Jahreszahlen in 5er-Jahresabschnitten; y-Achse = Zahlen in Tausend beginnend mit 700 bis 1.400). Was sagen die Kurven über die Bevölke-rungsentwicklung aus?

ARBEITSAUFTRÄGE ZU B 1 – B 2

B 2 Altersaufbau der Bevölkerung

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B • Deutschland braucht mehr Kinder (Fertilitätsaspekte)

B 3 Deutschlands Familien gestern und heute

Im Lauf der letzten hundert Jahre hat sich die Familie in Deutschland verändert.

Heute dominiert in Deutschland die Kleinfamilie.

Wer passt kurz auf die lieben Kleinen auf? Wer kümmert sich um die kränkelnde Oma? Vor hundert Jahren war es nicht so kompliziert, diese Aufgaben zu organisieren, denn meist war jemand in der Nähe, der sie übernehmen konnte. In 44 Pro-zent der Haushalte lebten fünf oder mehr Personen. Heute sieht das ganz anders aus. Die Ein-Personen-Haushalte do-

minieren mit einem Anteil von 37 Prozent (1900: sieben Prozent). Gerade einmal vier Prozent der Privathaushalte zählen noch fünf und mehr Personen. Die durchschnittliche Haushaltsgröße hat sich während der letzten hundert Jahre mehr als halbiert.

Mehr als die Hälfte aller Ehepaare lebt heute ohne Kinder. Teilweise sind die Kinder schon aus dem Haus und haben ihre eigene Familie oder ihren eigenen Hausstand gegrün-det. Andere Paare entscheiden sich bewusst gegen Kinder. Wieder andere leiden unter ihrer ungewollten Kinderlosig-

keit. Insgesamt gibt es in Deutschland 9,8 Millionen Ehe-paare, die ohne Kinder im Haus leben. Die 20,7 Millionen Kinder wiederum leben in ganz verschiedenen Familien-konstellationen.

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B • Deutschland braucht mehr Kinder (Fertilitätsaspekte)

B 4 Generationenfragebogen: »Wie war das damals bei Euch ...?«

◗ Überlegt, wie Ihr selbst auf die Fragen antworten würdet.◗ Wie alt sind heute im Durchschnitt die Männer und Frauen, wenn sie heiraten? Wie alt sind die Mütter, wenn sie ihr erstes Kind bekommen? Recherchiert dazu im Internet (www.destatis.de).

◗ Beschreibe die Schaubilder in B 3 und fasse ihre zentralen Aussagen zusammen. ◗ Diskutiert in der Klasse darüber, wo die Gründe für die festgestellten Veränderungen liegen könnten.◗ Befragt Eure Eltern und Großeltern (Urgroßeltern) mit dem Fragebogen B 4 nach ihren Lebensplanungen und nach den Umständen für ihre Entscheidungen. Fügt weitere Fragen hinzu, wenn sie sich in Euren Interviews ergeben.

ARBEITSAUFTRÄGE ZU B 3 – B 4

Fragen an ...

Lebensdaten von ...

... Eltern(Vater/Mutter)

... Großeltern(Oma/Opa)

... Urgroßeltern(Uroma/Uropa)

... mich selbst/mir

◗ Wie viele Geschwister hast oder hattest Du?

◗ Ab welchem Alter hast Du Geld verdient? Wie viel Geld hast oder hattest Du zur Verfügung?

◗ Wie alt warst Du, als Du Deinen Mann oder Deine Frau kennenlerntest?

◗ Wie alt wart Ihr bei Eurer Hochzeit?

◗ Wer hat Euren Wohnort bestimmt? Wie habt Ihr gewohnt?

◗ Wie alt wart Ihr, als Euer erstes Kind zur Welt kam? Wer hat denn das Geld verdient? Wie viel Geld hattet Ihr zur Verfügung?

◗ Wie viele Kinder wolltet Ihr und wie viele habt Ihr dann tatsächlich bekommen?

◗ Wart Ihr mehrmals verheiratet, z. B. wegen Tod des Partners oder Scheidung?

◗ Würdet Ihr wieder alles so machen wie damals? Warum? Oder: Warum nicht?

◗ Welchen Wert hat Familie für Euch?

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B • Deutschland braucht mehr Kinder (Fertilitätsaspekte)

B 5 Familienplanung – aber wie?

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B • Deutschland braucht mehr Kinder (Fertilitätsaspekte)

◗ Beschreibe und analysiere die Karikaturen in B 5. Welche Probleme im Zusammenhang mit der demografi schen Ent-wicklung thematisiert der Zeichner? Diskutiert in der Klasse Eure Ergebnisse.◗ Lest das Interview in B 6 mit verteilten Rollen. Unter-streicht in jeder Antwort die wichtigsten Informationen. Fasst am Ende das Interview in eigenen Worten zusammen.

◗ Welche der angesprochenen Probleme kannst Du verste-hen, welche sind Dir fremd? Diskutiert darüber.◗ Welche Gründe sprechen für Euch für oder gegen Kinder? Schreibt sie auf und versucht, sie nach verschiedenen As-pekten zu ordnen.

ARBEITSAUFTRÄGE ZU B 5 – B 6

B 6 »Wir brechen den Generationenvertrag«

Für Reiner Klingholz vom Berlin-Institut für Bevölkerung ist es klar: Wir brauchen mehr Kinder. Die wichtigste Voraussetzung: die Gleichstellung von Mann und Frau.

Herr Klingholz, was kann man tun, damit in Deutschland wieder mehr Kinder geboren werden?Wir müssen alle jene jungen Menschen unterstützen, Männer wie Frauen, die einen Kinderwunsch hegen, diesen Wunsch aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht verwirkli-chen wollen oder können. Mir ist bewusst, dass die Frage, ob man Kinder hat oder nicht, eine sehr persönliche Frage ist, in die sich eigentlich von außen niemand einmischen sollte. … Ziel muss es aber sein, es denjenigen leichter zu machen, die einen Kinderwunsch haben, ihn aber zum Beispiel vor sich herschieben.

Dann hat Deutschland eben weniger Einwohner – was soll’s?Das ist nicht der Punkt. Es gibt keinen grundgesetzlichen Anspruch auf 83 Millionen Menschen in Deutschland. Wir können auch mit 80 oder 70 Millionen Menschen hier leben. Aber durch den abrupten Einbruch der Kinderzahlen ver-schiebt sich das Altersgefüge der Gesellschaft. In etwa zehn Jahren werden die geburtenstarken Jahrgänge nach und nach in Rente gehen. Das ergibt einen großen Überhang an Menschen, die auf eine Versorgung in Form von Pensionen und Renten angewiesen sind. Dem steht eine sehr geringe erwerbstätige Bevölkerung gegenüber …

… die sich schwer tut, diese Lasten zu tragen …… die diese Lasten kaum wird schultern können, ja. Wir brechen damit einen Generationenvertrag. Wir schieben der

Generation, die jetzt in die Erwerbstätigkeit kommt, eine unverantwortliche Last zu.

Was ist zu tun, um den individuellen Kinderwunsch zu verstärken oder überhaupt erst hervorzurufen?Zunächst ist der Wunsch nach Kindern defi nitiv höher als die tatsächliche Kinderzahl. Und genau da sollten wir an-setzen.

Heißt das, verzagte Menschen fröhlicher zu stimmen, den Zukunftsängsten der Deutschen entgegenzuwirken?Die Deutschen pfl egen eine eigenartige Diskussionskultur, wenn es um Kinder geht. Kinder machen entweder Lärm oder sie kosten Geld. Jeder, der Kinder hat, weiß, dass beides richtig ist. Unterschlagen wird in der Diskussion, dass Kinder für die Eltern, aber auch für alle anderen Menschen ein großes Geschenk, ein großes Glück sind. Leider ist es bei uns fast schon unnormal, Kinder zu haben. Das ist in Frankreich oder in den skandinavischen Ländern nicht so.

Was könnten wir uns denn von diesen Ländern abgucken?Das Wichtigste ist die Gleichstellung von Frau und Mann. Dort, wo die Gleichstellung am weitesten fortgeschritten ist, sind die Kinderzahlen am höchsten. In den Ländern, wo die Frau traditionell am Herd steht und der Mann das Geld nach Hause bringt, sind die Kinderzahlen am niedrigsten. Dort, wo die Einkommensunterschiede zwischen Mann und Frau am geringsten sind, sind die Kinderzahlen am höchsten. Das alte Modell »Je moderner eine Gesellschaft, desto niedriger die Kinderzahl« stimmt nicht mehr.

Sonntag aktuell vom 21. November 2005 (Andreas Braun)

D e f i n i t i o n : G e n e r a t i o n e n v e r t r a g

Der Generationenvertrag bezeichnet die gesellschaftliche Übereinkunft zwischen den Generationen, nach der die mitt-lere Generation der Erwerbstätigen sowohl für den Unterhalt der noch nicht erwerbsfähigen Kinder (Nahrung, Kleidung, Schule, Ausbildung) als auch der nicht mehr erwerbstäti-gen Älteren (besonders über die Rentenversicherung) sorgt.

Dafür soll diese Generation dann im Alter entsprechend von der dann mittleren Generation versorgt werden. Derzeit wird die Frage nach der Generationengerechtigkeit immer lauter, denn durch die demografi sche Veränderung gibt es immer mehr Rentenbezieher, während die Beitragszahler immer weniger werden.

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B • Deutschland braucht mehr Kinder (Fertilitätsaspekte)

B 7 Ein Tag im Leben einer berufstätigen Mutter

Felicitas Flink, 35, ist Büroangestellte in Teilzeit und ar-beitet von 8.30 bis 12.30 Uhr. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder: Franziska (7 Jahre) und Fabian (4 Jahre). Ihr Ehemann ist Ausbilder in einem großen Automobil-betrieb und arbeitet fünf Tage die Woche.

Der Montag fällt uns immer am schwersten. Nach zwei Tagen ausschlafen müssen wir früh raus, ich schon um 5.30 Uhr. So habe ich für die Morgentoilette Zeit. Zusammen mit meinem Mann wird dann Frühstück und Vesper gerichtet. Um 6.00 Uhr wecken wir die Kinder auf, was nicht immer so einfach ist. Manchmal fl ießen Tränen. Da wir ein Abkommen haben, dass am Abend vorher schon entschieden wird, was jedes Kind anziehen möchte, bleiben die Diskussionen darüber am Morgen aus. Das spart Zeit.

6.30 Uhr: Frühstück. Jetzt sind alle richtig wach. Auch wenn die Laune nicht immer die beste ist, wird doch schon munter draufl osgeplappert. Zähneputzen, Schuhe, Jacken, Schul-ranzen und Rucksäckchen werden gepackt und um 7.15 Uhr geht es los. Da wir nur ein Auto haben, wird mein Mann an der S-Bahn-Haltestelle abgesetzt. Jetzt sind es noch knappe zehn Minuten zur Grundschule. Natürlich hat Franziska in der ersten Klasse nicht zur ersten Stunde schon Unterricht, aber zum Glück gibt es die Kernzeitenbetreuung, so dass die Kinder schon ab 7.30 Uhr kommen dürfen. Am Mittag ist 13.30 Uhr Abholzeit – eine glückliche Lösung! Wie haben die Mütter das früher bloß alles gemacht?

Kurz vor 8.00 Uhr am Kindergarten. Obwohl Fabians Freunde ihn fröhlich begrüßen, kommt bei Fabian keine große Freude auf. Montag eben. Es hilft nichts: Abschiedskuss, Winken, tief durchatmen … Jetzt ist es Zeit, die Gedanken auf die

Arbeit zu lenken. 8.20 Uhr: Pünktlich am Schreibtisch. Na, wer sagt‘s denn!

12.30 Uhr: Unterwegs zur Schule rasch ein Kurzeinkauf: fri-sches Brot, Obst und Gemüse. Montag und Mittwoch nehme ich Franziskas Freundin Annette mit zu uns. Dienstag und Donnerstag darf dann Franziska zu Annette. Zum Glück ver-stehen sich die beiden so gut. Zu dritt kochen wir das Mittagessen und anschließend bleibt Zeit zum Lernen und Spielen. Nebenher laufen die »Helfer« der Familie: Wasch-maschine, Trockner, Spülmaschine.

15.30 Uhr: Abfahrt. Annette wird nach Hause gebracht und Fabian abgeholt. Der Kindergarten ist aus einer Elterninitia-tive entstanden. Die Väter oder Mütter kochen abwechselnd, und die Kinder werden bis 16.00 Uhr betreut. Fabian möchte noch bleiben!

17.30 Uhr: Die Familie ist wieder komplett. Was im Haushalt noch zu erledigen ist, teilen wir uns auf. Die Kinder spielen – heute sogar ausgesprochen friedlich.

20.00 Uhr: Ein erster Versuch, die Kinder durch Vorlesen müde zu machen. Franziska darf danach noch selbst ein bisschen schmökern. Um 20.30 Uhr schlafen beide. Jetzt haben mein Mann und ich noch etwas Zeit für uns.

Ich habe Glück: Meine Kinder sind gut versorgt, während ich arbeite. Nur wenn mal eines krank ist, dann wird es schwierig, aber bisher haben wir noch alles gemeistert. Toi, toi, toi!

Die gut ausgebildete Frauen-generation misst dem eigenen Berufsleben große Bedeutung zu, was häufi g zu Lasten der Familien-planung geht. Von den 40 bis 44 Jahre alten Frauen, die eine Fach-hochschule oder Hochschule abge-schlossen haben, ist fast ein Drittel (29 Prozent) kinderlos. Bei den Frauen mit Hauptschul-abschluss oder mittlerer Reife verzichtete dagegen im bundes-weiten Durchschnitt nur etwa jede vierte Frau auf Nachwuchs.

B 8 Kind oder Karriere?

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B • Deutschland braucht mehr Kinder (Fertilitätsaspekte)

B 9 Spätes Glück

Frauen entscheiden sich immer später für Kinder. Viele wollen sich erst berufl ich verwirklichen, bevor sie, oft mit viel Hingabe, in die Mütterrolle schlüpfen.

Mit 20 Jahren waren Kinder für sie überhaupt kein Thema. Mit 25 Jahren dachte sie, wenn schon, dann keinesfalls vor dem 30. Lebensjahr. Als sie 30 wurde, sagte sie sich, das geht auch noch mit 35 Jahren. Mit 35 Jahren hatte sie eine Stelle, um die sie viele Frauen beneideten. Als Schuheinkäu-ferin bei Hugo Boss jettete sie zwischen Mailand, Paris und London hin und her. Die Stuttgarterin Sabine Lerch war fast 40 Jahre alt, als sie ihre Tochter Annelie zur Welt brachte.

So wie Sabine Lerch zögern immer mehr Frauen den Lebens-abschnitt Familie hinaus. Innerhalb von 13 Jahren hat sich

in Deutschland die Zahl der Geburten von Müttern über 35 von jährlich 70.000 auf mehr als 140.000 verdoppelt. Vor allem in Ballungsräumen, wo die Quote der erwerbstätigen Frauen hoch ist, fi ndet das Lebenskonzept der späten Mut-terschaft zunehmend Anhängerinnen. Die Spitzenreiter in der Region Stuttgart sind der Landkreis Böblingen und die Landeshauptstadt, wo jeweils 22,5 Prozent der geborenen Kinder von Müttern stammen, die das 35. Lebensjahr hinter sich gelassen haben. Im ländlicheren Kreis Göppingen liegt der Anteil bei nur 17,3 Prozent. Auffällig ist, dass knapp die Hälfte aller späten Mütter Akademikerinnen sind und weitere 40 Prozent zumindest Berufe mit mittlerer Qualifi -kation ausüben.

Stuttgarter Zeitung vom 18. Februar 2006 (Akiko Lachenmann)

◗ Kommt Dir der Tagesablauf in B 7 bekannt vor? Was müsste sich ändern, damit es die Mutter etwas einfacher hat? ◗ Welche Gründe werden in B 8 dafür genannt, dass Mütter bei der ersten Geburt immer älter werden? Recherchiere unter www.destatis.de, wie alt die Mütter in Deutschland im Schnitt bei der ersten Geburt sind. Welchen Trend kannst Du über die Jahre hinweg erkennen? Macht eine Umfrage: Wie alt waren Eure Mütter im Schnitt, als das erste Kind kam? Deckt sich das mit der Statistik?

◗ Vergleicht die Ergebnisse mit den Aussagen in B 8 und B 9. Listet auf, warum Frauen oft erst spät Kinder bekom-men.◗ Felicitas Flink hätte es sicher einfacher, wenn auch ihre Firma oder der Betrieb ihres Mannes einen Kindergarten hätte. Welche Vorteile hätte das? Gäbe es auch Nachteile?◗ Welche Aussagen macht die Grafi k B 10? Welche Rück-schlüsse könnt Ihr aus den Angaben aus Frankreich und Schweden ziehen? Diskutiert darüber in der Klasse.

ARBEITSAUFTRÄGE ZU B 7 – B 10

Bei Familienplanung denken die Deutschen an Kleinst-familien. Auch wenn die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu Frankreich und Schweden die niedrigste Geburtenrate aufweist, geben hierzulande 64 Prozent der befragten Mütter an, dass sie mit der Zahl ihrer Kinder glücklich sind. Die Familienrealität der Französinnen und Schwedinnen weicht mehr von den Wunschvorstellungen ab. In Frankreich wünschen sich 36 Prozent der befrag-ten Mütter eine größere und 16 Prozent eine kleinere Familie. Die Schwedinnen hätten sogar zu 43 Prozent am liebsten eine noch größere Familie, als sie tatsächlich haben.

B 10 Wunsch und Wirklichkeit

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B • Deutschland braucht mehr Kinder (Fertilitätsaspekte)

B 11 Es fehlt »der« Partner

Das Fehlen eines geeigneten Partners, die Zufriedenheit mit einem Leben ohne Kinder, höhere Lebenshaltungskosten und die Sorge um den Arbeitsplatz sind die wichtigsten Motive, warum sich immer mehr Frauen und Männer in Deutschland gegen die Gründung einer Familie entscheiden. Fehlende Betreuungsmöglichkeiten spielen hingegen nur eine unter-geordnete Rolle bei der Entscheidung, ohne Kinder zu leben. Das ist das Ergebnis einer bundesweiten Umfrage unter 40.000 Männern und Frauen im Alter zwischen 18 und 49 Jahren.

44 Prozent der befragten Kinderlosen verzichten demnach auf Nachwuchs, weil ihnen der geeignete Lebenspartner fehlt. Genauso viele wollen keine Familie gründen, weil sie auch ohne Kinder mit ihrem Leben zufrieden sind. Fast 40 Prozent der Kinderlosen und 45 Prozent der befragten Eltern

verzichten auf (weitere) Kinder, »weil man heute nicht mehr wissen kann, ob man seinen Arbeitsplatz behält und sich (weitere) Kinder leisten kann«. Nur neun Prozent der Kin-derlosen und 21 Prozent der Eltern wollen keine (weiteren) Kinder, weil es an Krippen- und Kindergartenplätzen fehlt.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Januar 2005

B 12 Karriere statt Kind: Väter wollen keine Elternzeit nehmen

Kind oder Karriere? Nur wenige Männer entscheiden sich laut einer Umfrage des Frauenmagazins »Woman« fürs Kind und eine damit verbundene Berufspause. Theorie und Praxis klafften in Deutschland weit auseinander, heißt es in der repräsentativen Studie des Meinungsforschungsinstituts Forsa für das Magazin. 73 Prozent der Männer sind dem-nach grundsätzlich bereit, zu Hause zu bleiben, aber nur fünf Prozent tun es tatsächlich. Und nur drei Prozent aller deutschen Väter mit Kindern unter 18 Jahren arbeiten in Teilzeit. Als Grund, keine Elternzeit zu nehmen, geben 53 Prozent einen möglichen Arbeitsplatzverlust an. 46 Prozent führen das höhere Gehalt im Vergleich zur Partnerin an.

Jeder Dritte hat Angst vor einem Karriereknick. Und 13 Pro-zent aller Männer nehmen keine Elternzeit, weil sie Angst davor haben, die ganze Woche zu Hause zu verbringen. Die Mehrheit der Männer ist jedoch davon überzeugt: Der Einsatz der Väter für die Familie wird in der Bundesrepublik generell unterschätzt.

dpa-Meldung vom 20. September 2004

B 13 Der Schlabberhosentyp will Vater werden

Familie? So was Spießiges. Dazu noch Kinder, Haus, schickes Auto? Das kann warten. So denkt die Jugend. Denken die anderen. Von diesen Werten träumt die Jugend aber eben doch, wie die Teenager offen zugeben.

»Ich möchte mal Verantwortung tragen.« Auch wenn der junge Typ in Schlabberhose und cooler Brille gar nicht danach aussieht – er sieht sich als Familienvater. »In zehn Jahren oder so, das reicht.« Bis dahin »genieße ich meine Jugend«, kündigt der 19-jährige Yasin Kandil an. So denken viele seines Alters. Von wegen Spaßgesellschaft, Egoisten oder Feierwütige. »Kein Kumpelurlaub kann mir eine Familie ersetzen.« Das klingt ganz schön erwachsen. »Was soll ich mit 40 alleine in der Stadt rumgammeln?«, fragt sich auch Jessica Müller.

Damit liegt sie voll im Trend, sagt der Leiter der Beratungs-stelle für Familie und Jugend des Landkreises Heilbronn, Helwig Niklasch. »Irgendwo wollen die jungen Leute aufge-hoben sein.« Und dieses Gefühl überwiege vor dem Streben nach Selbstbestimmung. Das war nicht immer so ausge-

prägt wie heute, weiß der 59-jährige Experte. Auch wenn er keine gesicherten wissenschaftlichen Belege dafür hat, seine Erfahrung in der Arbeit mit jungen Leuten zeigt ihm: »Der Wunsch nach Harmonie ist besonders ausgeprägt, wenn die Beziehung der Eltern gescheitert ist.« Und das passiert immer häufi ger. Daher erklärt sich Helwig Niklasch die Suche nach dem Sinn des Lebens, die immer öfter im Wunsch nach Mann, Frau und Kindern endet. Und er hat noch eine Erklä-rung: »Die Jugendlichen sind heute mehr abgesichert. Mit der Zeit machen sie die Erfahrung: Es muss noch mehr im Leben geben als Wohlstand.«

Heilbronner Stimme vom 25. August 2003 (Katja Feiler)

Politik & Unterricht • 1/2-2007

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Urheberrecht Text
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B • Deutschland braucht mehr Kinder (Fertilitätsaspekte)

◗ Jede Bankreihe nimmt sich einen Text aus B 11 – B 14 vor. Fasst die Aussagen der Texte mit eigenen Worten zusammen. Schreibt die Ergebnisse auf und stellt sie vor. Die Mädchen und die Jungen in Eurer Klasse bereiten eine gegenseitige Befragung vor. »Sag mal, stimmt es, dass…?«; »Denkst du auch so?«; »Warum …?«

◗ Zu welchem Gesamtergebnis kommt Ihr? Deckt es sich mit den Texten hier im Heft oder ist es anders?

ARBEITSAUFTRÄGE ZU B 11 – B 14

B 14 Kinderwunsch bei Männern

Beim Kinderwunsch ticken Männer und Frauen unterschied-lich. Das zeigt eine Studie von Forschern aus Rostock, die untersuchten, welche Einstellungen und Überlegungen bei Männern das Eingehen einer Vaterschaft fördern. Aus frü-heren Untersuchungen ist bekannt, dass bei Frauen eine große Herkunftsfamilie, eine schlechte Ausbildung und ein geringes Bildungsniveau der Eltern eine frühe Mutterschaft begünstigen. Die Rostocker Studie zeigt, dass bei Männern andere Faktoren eine Rolle spielen. Demnach fördern ein früher Berufsabschluss und ein zeitiger Auszug aus dem Elternhaus die Entscheidung für eine Vaterschaft in jungen Jahren. Aber auch die Persönlichkeit ist wichtig. So haben Männer, die früh eine Familie gründen, weniger Ängste, ein großes Maß an Optimismus, ein starkes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und in eine gute Partnerschaft.

Für eine genauere Analyse befragten die Wissenschaftler Männer mit und ohne Kinderwunsch nach ihren Erwartungen

und Einstellungen. Die Ergebnisse zeigten, dass der männ-liche Wunsch nach Kindern komplexer ist als vielfach ange-nommen wird. Die Forscher konnten zwei Muster unterschei-den, aus denen sich ein Kinderwunsch ableiten lässt. Zum einen die Vorstellung von persönlichem Wachstum und der Selbstfi ndung als Mann durch eine Vaterschaft, zum anderen eine Kombination aus bestimmten Einstellungen, Werten und Interessen. Dazu gehört etwa die positive Einstellung zu Familie und den Zielen der Partnerin, das Hochhalten von Werten wie Rücksichtnahme, Fürsorglichkeit und Reife, und das Interesse, Kindern das Leben zu zeigen.

Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografi schen Wandels (www.zdwa.de/zdwa/artikel)

B 15 Firmen bemühen sich um die Kleinsten

Die Unternehmen im Land sind zunehmend um die Kleinsten bemüht – dabei geht es nach einer dpa-Umfrage keineswegs nur um den klassischen betriebseigenen Kindergarten. »Der Trend geht zu fl exiblen und individuellen Lösungen«, sagte ein Sprecher des Statistischen Landesamtes.

Zugenommen hat nicht nur die Zahl der Betriebskindergärten. Es wächst auch der Wille der Betriebe, in Kindergärten Plätze für die Mitarbeiterkinder zu reservieren oder Tagesmütter zu vermitteln. Viele öffentliche oder kirchliche Kindergärten

haben Öffnungszeiten, die schwer mit einer Berufstätig-keit der Eltern vereinbar sind. Selbst Ganztageskindergärten haben oft viel zu frühe Abholzeiten. Betriebskindergärten sind fl exibler, auf die Arbeitszeiten der Mitarbeiter einge-stellt und haben weniger oder gar keine Schließzeiten wäh-rend der Ferien wie die Einrichtung »Nanos« des Karlsruher Forschungszentrums mit 25 Plätzen oder der Betriebskin-dergarten »Sterntaler« des Autokonzerns DaimlerChrysler in Stuttgart, der 140 Kinder bis 18 Uhr betreut. Das als fami-lienfreundlich ausgezeichnete Textilunternehmen Rösch in Tübingen verfügt seit 1972 über einen Kindergarten.

Die Betriebskindergärten machen zwar nicht einmal ein Pro-zent der rund 7.400 Kindergärten im Land aus. Nicht erfasst werden aber die vielen fl exiblen Lösungen, mit denen sich Unternehmen um ihre Mitarbeiter bemühen. »Familienorien-tierte Politik zahlt sich für Firmen aus«, sagte Familienmi-nisterin Monika Stolz.

Ludwigsburger Kreiszeitung vom 11. November 2006

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B • Deutschland braucht mehr Kinder (Fertilitätsaspekte)

B 16 Familienfreundliche Unternehmen – was sie tun könnten

Zu wenig Geld vom Staat kann es nicht sein, was die Deutschen davon abhält, Kinder in die Welt zu setzen. Bei der fi nanziellen Unterstützung liegt Deutschland im europäischen Vergleich ganz vorne. Geringer fallen hierzulande im Ländervergleich Dienstleistungsangebote wie Kinder-betreuung aus, so dass Deutschland bei der Familienförderung insgesamt im Mittelfeld liegt.

B 17 Staatliche Unterstützung für Familien

Maßnahme

fl exible Arbeitszeiten

Arbeitsunterbrechung bei Krankheit der Kinder

Kantinenessen für Mitarbeiterkinder

Jobsharing

Familienservice (z. B. Ferienprogramme)

Eltern-Kind-Zimmer im Betrieb

Plätze in Kindertagesstätten bereitstellen

Väterförderung

Telearbeit

Teilzeitarbeit

Wie könnte das aussehen? Pro/Contra?

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B • Deutschland braucht mehr Kinder (Fertilitätsaspekte)

B 18 »Kinder müssen in unserem Land wieder ein Wert sein«

Die demografi sche Entwicklung Europas alarmiert die Po-litiker. Doch damit wieder mehr Kinder geboren werden, braucht es viele politische Veränderungen. In den letzten 40 Jahren ist die Lebenserwartung um acht Jahre gestiegen; doch nicht, dass die Menschen immer älter werden, ist das Problem, sondern dass viel zu wenig Kinder geboren werden. Die Zielrichtung der familienpolitischen Maßnahmen ist klar: 80 Prozent der Befragten unterstützen Maßnahmen auf den Feldern Arbeitsmarkt, familiennahe Dienstleistungen, Ein-kommensunterstützung, steuerliche Erleichterungen, Woh-nung und Bildung. Einen Königsweg gibt es allerdings nicht. Dazu sind die Voraussetzungen in den Ländern und die Anschauungen in der Bevölkerung zu unterschiedlich. Die Botschaft lautet: Es geht nicht um eine Politik, sondern um ein ganzes Bündel.

Einig sind sich die Experten, dass vordringliche Aufgabe sei, den Arbeitsmarkt zu fl exibilisieren. »Wir brauchen viel fl exiblere Arbeitszeiten«, sagt Ingrid Hamm von der Robert Bosch Stiftung, »aber nicht fl exibel im Interesse der Ar-

beitgeber, sondern im Hinblick auf die Erfordernisse der Familien.« Denn ob man sich den Kinderwunsch erfülle oder nicht, habe viel mit dem Zutrauen zu tun, »dass man das Leben auch mit Kindern in sicheren Bahnen weiterführen kann.« Der Bosch-Aufsichtsratsvorsitzende Hermann Scholl sagte, man müsse daran arbeiten, dass Kinder wieder als Wert betrachtet würden. Charlotte Höhn, die Leiterin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, stimmte ihm zu. »Kinder haben in Deutschland keinen Wert an sich. Wir haben verlernt, Kinder zu bekommen.« Nirgendwo in Europa wollen so viele Menschen kinderlos bleiben oder allein leben. Den Einfl uss der Politik auf die Geburtenrate schätzt Höhn – anders als in Osteuropa, wo Kinderwünsche häufi ger aus Geldmangel unerfüllt bleiben – in Westeuropa deshalb eher gering ein: »In Skandinavien sind Kinder selbstverständlich, bei uns bekommt man diese Selbstverständlichkeit nicht so leicht zurück.«

Stuttgarter Zeitung vom 17. November 2005 (Barbara Thurner-Fromm)

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◗ Fasst die zentralen Aussagen von B 15 zusammen. StelltEuch vor, Felicitas Flink (B 7) hätte einen Arbeitsplatz, der das bietet, was B 16 aufführt. Macht Vorschläge, wie Ihr jede einzelne Maßnahme gestalten würdet. Diskutiert dann das Pro und Contra aus Sicht der Eltern und der Unternehmen.◗ Reicht der Maßnahmenkatalog aus? Habt Ihr weitere Vor-schläge für Maßnahmen, die in einem Unternehmen einge-führt werden könnten, damit es den Eltern leichter fällt, Arbeit und Kinder besser miteinander zu vereinen?◗ Beschreibt die Grafi k B 17. Welche Aussagen macht sie für die Länder Deutschland, Frankreich und Schweden? Gibt das eine Erklärung für B 10?

◗ Recherchiert, wie viel Geld Eltern in Deutschland bekom-men, wenn sie Kinder haben. Fragt Eure Eltern, wie viel Geld sie im Monat für Euch tatsächlich brauchen. Fragt sie auch, ob das Geld eine große Rolle spielt/e, als sie beschlossen, Kinder haben zu wollen. Gab es auch andere Gründe bei der Entscheidung zum Kind? ◗ Vergleicht die Ergebnisse mit den Aussagen aus B 18.Überlegt, was mit »Werte« gemeint ist, und ergänzt, was für Euch wichtig ist, wenn man Kinder haben will.◗ Wie ist die Aussage der Karikatur in diesem Zusammen-hang zu deuten?

ARBEITSAUFTRÄGE ZU B 15 – B 18

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B • Deutschland braucht mehr Kinder (Fertilitätsaspekte)

B 19 Blick zu den Nachbarn

Wer in Deutschland ein Kind bekommt, muss verrückt sein. Der Lebensstandard sinkt, die Karriere steht auf dem Spiel und bei der Rente stehen Ehepaare schlechter da als Kin-derlose. Und doch gibt es diese Verrückten hierzulande, ja es gibt genauso viele Menschen, die sich ein Kind wünschen wie in Skandinavien. Die Zahl der tatsächlichen Geburten in Deutschland bleibt aber weit hinter den Wünschen zurück. Warum?

Während die Skandinavier 72 Prozent ihrer Familienförde-rung in Schulen und Betreuung investieren und nur ein Drittel an die Eltern auszahlen, verkehren die Deutschen diese Unterstützung ins Gegenteil: Zwei Drittel der Familien-förderung bekommen die Familien als direkte Geldleistung und nur 38 Prozent gehen an Schulen und Betreuungsstät-ten. Deutschland hat zu wenig Infrastruktur für Kinder und zu viele direkte Zuwendungen an Familien.

Nehmen wir Frankreich: Obwohl das Land 22 Millionen we-niger Einwohner als Deutschland hat, bringen die Franzö-sinnen jedes Jahr mehr Kinder zur Welt als die deutschen Frauen. Dort ist die Ganztagsschule immer schon die Re-gelschule, eine Schulart, die in Deutschland gerade aus dem Dornröschenschlaf erwacht. In Frankreich gehen fast alle Kinder ab drei Jahren in eine kostenlose Vorschule, die sogenannte »école maternelle«. Grundschullehrer kümmern sich hier um die Kleinsten, so dass in Frankreich 80 Prozent der Frauen zwischen 25 und 50 Jahren berufstätig sind, 70 Prozent davon sogar in Vollzeitjobs. In Schweden erhält ein Elternteil ein Jahr nach der Geburt 80 Prozent seines vorherigen Gehalts vom Staat. Auch dort besuchen mehr als 80 Prozent der Kinder eine Betreuungseinrichtung, und das, bevor sie zwei Jahre alt sind. So gibt es für die Hälfte der

Kleinkinder einen Krippenplatz, in Westdeutschland für nur 2,7 Prozent.

Das über Jahrzehnte zementierte Modell vom Vater als Er-nährer der Familie und von der Mutter als Hausfrau und Erzieherin der Kinder hat sich bei uns zu lange gehalten und spukt immer noch in so manchem Kopf. Im Durchschnitt meinen 40 Prozent der Deutschen, dass Kinder sich weniger gut entwickeln, wenn ihre Mütter arbeiten gehen. Finnland liefert den Gegenbeweis: Dort arbeiten die meisten Mütter und doch haben sie mehr Zeit für Kinder und Haushalt als deutsche Mütter. Die Lösung ist einfach: Finnische Eltern können über längere Zeit Teilzeit arbeiten und sich die Er-ziehung ihrer Kinder teilen. In Schweden gibt es sowohl für Väter wie für Mütter die Möglichkeit, ihre Arbeitszeit um 25 Prozent zu reduzieren, bis das Kind acht Jahre alt ist. Die Beispiele Finnland und Schweden belegen, dass Ehepaare, die beide arbeiten, besser verdienen und sich in der Freizeit nur mit ihren Kindern beschäftigen.

Langsam beginnt in Deutschland ein Umdenken. Jahrzehnte hatte man sich in Sicherheit gewiegt, man genoss die 80er und 90er Jahre, in denen Urlaub und Freizeit sehr wichtig für die Menschen waren. Kinder sollten die bekommen, die es wollten. Kinder waren Privatsache. Viel zu spät hat man erkannt, dass Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Familienpolitik eng zusammmengehören.

Südkurier vom 31. August 2005 (Birgit Hofmann)

B 20 Elterngeld nun auch in Deutschland

Der Bundestag hat den Weg für ein Elterngeld freigemacht und damit einen grundlegenden Wechsel in der Familienförderung angestoßen. Die Große Koalition stimmte im September 2006 der Einführung der Lohnersatzleistung nach der Geburt eines Kindes vom 1. Januar 2007 an zu. Die Bundes-regierung hofft, damit die Familien zu mehr Kindern zu ermutigen.

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B • Deutschland braucht mehr Kinder (Fertilitätsaspekte)

B 21 Die »vaterlose Gesellschaft« verändern

Familienministerin Ursula von der Leyen über Eltern-geld, Gleichberechtigung am Arbeitsplatz und deutsche Diskussionen:

Frau Ministerin, ... warum sollte sich denn die Politik überhaupt darum kümmern, ob Menschen Kinder bekom-men oder nicht?Weil wir heute die Weichen dafür stellen, wie wir in Zukunft leben werden. Ob wir in einer erstarrten Gesellschaft mit immer weniger Kindern leben werden – und damit auch ohne Innovationen, ohne Risikobereitschaft, ohne Unternehmer-tum, Entdeckerfreude, Neugierde. Ob wir in einer Gesell-schaft leben werden, die nur noch den Mangel verwaltet. Gar nicht zu sprechen von der seelischen Verarmung einer Gesellschaft, in der es keine jungen Menschen mehr gibt, die bereit sind, Verantwortung für die Alten zu übernehmen und sie am Lebensende zu begleiten.

Wie groß ist der Einfl uss des Familienministeriums auf diese Weichenstellungen?Die Akzente und Themen, die wir setzen, können entschei-dend dazu beitragen, dass wir den Übergang von der In-dustriegesellschaft in eine Wissensgesellschaft schaffen und zugleich Raum und Zeit für Kinder ermöglichen. Dieses Thema haben wir bisher nicht bewältigt. Es ist jedoch von zentraler Bedeutung für Wachstum und Wettbewerbsfähig-keit dieses Landes. Gemeinsam mit Mitstreitern in Wissen-schaft, Wirtschaft und Gesellschaft können wir hier um-steuern. Politik ganz allein kann nicht die Weichen für ein kinderfreundliches Klima und kinderzentriertes Handeln in unserer Gesellschaft stellen. Dazu braucht es eben alle. Es geht uns ja auch alle etwas an.

In welche Richtung sollte es denn gehen?Wir sollten uns eng an anderen Ländern orientieren, die erfolgreich eine Trendwende geschafft haben. In Europa sind das beispielsweise die skandinavischen Länder, England und Frankreich. Diese Länder haben gemeinsam, dass dort mehr Kinder geboren werden. Außerdem wird dort Vätern und Müttern bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie mit einer sehr viel positiveren Haltung begegnet. Diese Gesellschaften bemühen sich, die Struktur so einzurichten,

dass auch Zeit für Kinder vorhanden ist – und zwar nicht im Gegensatz zur Erwerbstätigkeit, sondern in Verbindung mit Erwerbstätigkeit. Das ist auch bei uns die Fragestellung der Zukunft.

Wie wollen Sie zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen?Meine drei Schwerpunkte hierbei sind: Einkommen für junge Familien, wenn die Kinder und die Einkommen klein sind – also beispielsweise das Elterngeld und die Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten –, Ausbau der familienentlas-tenden Infrastruktur – vor allem der Kindertagesstätten und Kindergärten gekoppelt mit dem Thema frühe Bildung für Kinder –, und die Arbeitswelt: Wir müssen in Wirtschaft und Wissenschaft zu familienbewussten Arbeitsstrukturen kommen und in den Unternehmen ein Bewusstsein dafür schaffen, wie wichtig das ist. ...

Was empfi nden Sie an der Familiendiskussion als spezi-fi sch deutsch?Wir diskutieren immer noch sehr stark darüber, was nicht geht, was unmöglich ist. Wir halten uns damit auf, »Ra-benmütter« gegen »Heimchen am Herd« auszuspielen, Ein-verdienerfamilien gegen Zweiverdienerfamilien zu stellen. Das ist irrwitzig, denn damit stellen wir die wenigen in Konkurrenz, die noch Kinder bekommen. Die Diskussion da-rüber, was nicht geht und wer schuld ist oder wer sich nicht adäquat verhält, ist zerstörerisch. Wir müssen darüber dis-kutieren, wie wir es gemeinsam schaffen wollen, dass junge Menschen mit Kindern in dieser Welt leben können. Junge Menschen sind mobil. Wenn wir diese Rahmenbedingungen nicht schaffen, dann gibt es zwei Möglichkeiten, die wir längst beobachten können: Entweder sie bekommen keine Kinder – oder sie gehen über die nächste Grenze in die Nie-derlande, nach Skandinavien, nach Frankreich, wo sie arbei-ten und die Kinder haben können, die sie sich wünschen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. April 2006 (Interview: Alexander Schneider)

◗ B 19 stellt zusammen, welche Hilfen in Schweden und in Frankreich für Eltern mit Kindern angeboten werden. Legt eine Tabelle an für die drei Länder Deutschland, Frankreich und Schweden. Tragt ein, was in jedem Land zur Förderung der Kinder getan wird.◗ Ergänzt die Tabelle nach Euren Vorstellungen um weitere Aspekte oder Länder, über die Ihr Euch im Internet infor-miert.

◗ Seit dem 1. Januar 2007 gibt es in Deutschland das Eltern-geld (B 20). Wie sieht die neue Elternunterstützung genau aus? Glaubt Ihr, dass wegen des Elterngeldes mehr Kinder geboren werden? Diskutiert darüber in der Klasse.◗ Lest das Interview mit der Bundesministerin in B 21.Vergleicht die Aussagen mit dem, was Ihr bisher schon alles erfahren habt. Beurteilt abschließend, ob in Deutschland die Weichen für mehr Kinder gestellt sind.

ARBEITSAUFTRÄGE ZU B 19 – B 21

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C • Deutschlands Bevölkerung wird älter (Mortalitätsaspekte)

C 1 Altersstruktur der Bevölkerung im Wandel

C • Deutschlands Bevölkerung wird älter(Mortalitätsaspekte)Materialien C 1 – C 24

D e f i n i t i o n

Mortalität (Sterblichkeit) bezeichnet die Höhe und Struk-tur des Risikos der Bevölkerung eines Landes, in einem bestimmten Zeitraum zu sterben. Das einfachste Maß der Mortalität ist die Sterbeziffer, die Zahl der Gestorbenen auf 1.000 der mittleren Bevölkerung eines Jahres. Diese Sterbeziffer ist von der Altersgliederung der Bevölkerung abhängig. Ein hoher Anteil alter Menschen hat eine hohe Sterbeziffer zur Folge.

Die in aller Regel ermittelte Lebenserwartung ist die ab dem Zeitpunkt des Eintritts in das Leben, bei Menschen also die Lebenserwartung bei der Geburt. Diese Lebenser-wartung bei der Geburt ist bestimmt durch die Anzahl der Jahre, die ein Neugeborenes durchschnittlich leben würde, wenn die bei seiner Geburt herrschenden Lebensumstände und Sterblichkeitsraten während seines gesamten Lebens konstant blieben.

MORTALITÄT UND LEBENSERWARTUNG

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Über 59 Jahre

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unter 20 Jahre

ALTERSSTRUKTUR DER BEVÖLKERUNG in Prozent der Gesamtbevölkerung

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C • Deutschlands Bevölkerung wird älter (Mortalitätsaspekte)

C 2 Veränderungen in der Rentenversicherung

Natürlich ist der Rentner an seinem Popularitätsschwund selber schuld: Das liegt an seiner aufreizend guten Form, seiner in früheren Dekaden undenkbaren Fitness. Als er 1881 als Protagonist der einschlägigen Versicherung das Licht der Welt erblickte, konnte er als klassischer Fall des Subsidiaritätsprinzips durchgehen. Eine Existenz, die sich aufgrund körperlicher und geistiger Schwäche nicht mehr selber helfen kann und daher der Unterstützung der So-lidargemeinschaft bedarf. Für den ökonomischen Verwer-tungsprozess war er ohnehin verloren, und so fand es die arbeitende Gesellschaft, halb aus Mitleid, halb aus Berech-nung, akzeptabel, ihm die wenigen verbleibenden Jahre zu fi nanzieren; die durchschnittliche Lebenserwartung lag damals weit unter dem Renteneinstiegsalter, nämlich bei 45 Jahren. Heute aber erreicht sie bei Männern 75, bei Frauen 81 Jahre, und sie nimmt jedes Jahr um einen Monat zu. Die jungen Senioren, wie das Marketing die neue Zielgruppe nennt, sind nicht weniger dynamisch, vergnügungslustig, gefühlsbetont als die arbeitende Bevölkerung, oft sogar mehr. Ihr einziger Unterschied ist: Sie arbeiten nicht. Wer hätte damit rechnen können?

Der real existierende Rentner hat damit dem ökonomischen System, das ihm bloß ein Gnadenbrot gewähren wollte, ein Schnippchen geschlagen. Er führt ein Leben, wie es sich nur die Sozialutopisten und die Konsumgüterindustrie vorstellen konnten: selbstbestimmt, aktiv, genießerisch, soweit die Rente das zulässt. Kein Wunder, dass das System da sauer ist. Der Rentner, der als nicht zu vermeidendes Anhängsel der Arbeitsgesellschaft vorgesehen war, hat sich aus dem Verwertungskreislauf emanzipiert und als lebendiges Wesen erwiesen. Das verzeihen wir ihm nicht.

Ein Prinzip der Sozialgesetze war, dass kein Mensch in seiner ökonomischen Funktion aufgeht. Heute, da der Mensch die Funktion zu fressen scheint und die Finanzierung des Sys-tems neu bedacht werden muss, schlägt das Pendel in die entgegengesetzte Richtung aus. In den Verteilungskämpfen dieser Zeit spielen Prinzipien keine Rolle mehr.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Oktober 2003 (Mark Siemons)

Eine immer älter werdende Bevölkerung verursacht Kosten. Gleichzeitig sinken die Renten.

Die Rentenversicherung hat über viele Jahrzehnte hinweg relativ gut funktioniert. Gerade deshalb ist die Einsicht schwer, dass das System dringend reformiert werden muss. Die Gewichtung in der Rentenkasse hat sich verschoben: Früher hatte man Sorge, dass die Alten nicht genug vom wachsenden Wohlstand profi tieren. Heute sehen die Jungen ihr Einkommen durch steigende Beiträge schwinden. 1960 lag das Rentenniveau bei 63 Prozent der Nettoverdienste, heute erhalten die Rentner 69 Prozent. Zudem wurden die Renten 1960 durchschnittlich zehn Jahre lang gezahlt, heute sind es bereits fast 17 Jahre. Gewichtigen Einfl uss

hat auch, dass die Arbeitnehmer 1960 mit durchschnittlich 65 Jahren in Rente gingen – heute jedoch bereits mit 63. In den nächsten Jahrzehnten wird die Schiefl age der Renten-versicherung weiter zunehmen: In dreißig Jahren müssten bei unverändertem Rentensystem jeweils zwei Beitragszah-ler einen Rentner versorgen.

C 3 Renten früher und heute

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Urheberrecht Text
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C • Deutschlands Bevölkerung wird älter (Mortalitätsaspekte)

C 4 Mehrheitsverhältnisse

Das gesetzliche Renteneintrittsalter soll steigen. In 23 Jahren sollen die Deutschen erst mit 67 Jahren in Rente gehen statt wie heute mit 65. Die Arbeitgeber jubeln … Ein Anheben des Rentenalters sei unverzichtbar, um den Beitragssatz in der Rentenversicherung dauerhaft unter 20 Prozent halten zu können. Je früher das geschehe, desto eher würden die Beitragszahler entlastet – also auch sie selbst, die Arbeitgeber.

Dabei lassen doch gerade die Unternehmer Zweifel daran aufkommen, ob die Rente mit 67 überhaupt eine realisti-sche Option ist oder es sich faktisch nicht vielmehr um eine Rentenkürzung handelt. … So sind in den vergangenen Jahren oft und gern die Möglichkeiten zur Frühverrentung in Anspruch genommen worden. Wie das gewerkschaftsnahe Wirtschaftsinstitut WSI ermittelte, wollen gut drei Viertel der deutschen Arbeitnehmer vor ihrem 65. Geburtstag in den Ruhestand treten. Nur vier Prozent würden gerne länger arbeiten.

»Das ist tatsächlich eine Misere«, sagt Claudia Heise vom WSI. Doch die Expertin nimmt an, dass die zu erwartende Be-völkerungsentwicklung die Rente mit 67 realistischer werden lässt. »Dass die Bevölkerung schrumpft und altert, wird vo-raussichtlich im Jahr 2020 spürbar sein«, so Claudia Heise. Dann würden auch die Chancen für Ältere besser werden. Unternehmen könnten es sich in der Zukunft gar nicht mehr leisten, nur auf junge Mitarbeiter zu setzen, weil es davon schlichtweg nicht mehr genug geben werde.

»Das Problem ist nur«, sagt Christiane Flüter-Hoffmann vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft in Köln, »dass vielen Unternehmen das noch gar nicht klar ist«. Sie würden immer noch Ältere in die Frühverrentung schicken, statt sie konsequent weiterzubilden, um auch in zehn oder

15 Jahren Mitarbeiter zu haben, die auf dem aktuellen Stand sind. Noch immer herrscht offenbar das Denken vor, dass sich die Fortbildung älterer Mitarbeiter nicht lohnt, weil niemand weiß, wie lange sie im Unternehmen bleiben.

Stuttgarter Zeitung vom 3. Februar 2006 (Carolin Leins und Carola Pigisch)

C 5 Die Chancen der Älteren werden wachsen

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C • Deutschlands Bevölkerung wird älter (Mortalitätsaspekte)

C 6 Renten schrumpfen

◗ Auf welches Problem weist die Karikatur C 4 hin. Disku-tiert über die Lösungen, die in C 5 angeboten werden.◗ Erkundigt Euch auf dem Arbeitsamt oder sammelt bei Euren Eltern und in den Medien weitere Informationen, warum die Rente in Zukunft geringer ausfallen wird. Ver-sucht herauszubekommen, wie die Rente berechnet wird und welche Rente Ihr, wenn Ihr Euren Wunschberuf ergreift, später einmal zu erwarten habt. Informiert Euch auch, wie Ihr Euch zusätzlich fi nanziell absichern könnt.

◗ Beschreibt, wie sich der Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland verändert und welche Gründe dafür maßgeblich sind. ◗ Stellt anhand der Materialien C 2 und C 3 zusammen, durch welche Veränderungen die Rentenversicherung in Schwierig-keiten geraten ist. Tragt in eine Tabelle ein, wodurch sich die Rentner von früher von denen von heute unterscheiden.◗ Erarbeitet aus den Materialien C 3 – C 7, warum die fi -nanzielle Absicherung dieses Lebensabschnittes schwierig geworden ist. Welche Lösungen werden bereits angedacht oder sind schon gefunden?

ARBEITSAUFTRÄGE ZU C 1 – C 7

Die künftige Rentnergeneration wird über ein deutlich ge-ringeres Einkommen verfügen als bislang angenommen. Nach Berechnungen der Dresdner-Bank-Volkswirte können die künftigen Altersbezüge in der Spitze um bis zu zwanzig Prozent niedriger ausfallen. Eine Tatsache, die den heutigen Beitragszahlern wohl so nicht bekannt ist.

»Der seit dem 1. Januar 2005 geltende Nachhaltigkeitsfaktor bringt für die künftigen Rentner deutliche Einschnitte«, so Michael Heise, Chefvolkswirt der Dresdner Bank und Allianz. Beschäftigte, die jetzt am Anfang ihres Berufslebens stehen, werden eine deutlich niedrigere gesetzliche Rente erhalten als heutige Ruheständler. Also: Wer 1960 ins Berufsleben gestartet ist und jetzt nach 45 Beitragsjahren in Rente geht, dem steht mehr Geld aus der staatlichen Altersversorgung zum Leben zur Verfügung als jemandem, der 2005 anfängt und 2050 aufhört zu arbeiten.

Ein Postbote zahlt in den kommenden 40 Jahren ohne Unter-brechung in die staatliche Rentenkasse ein und erreicht in dieser Zeit ein durchschnittliches Bruttomonatseinkommen von 2.500 Euro. Zurückgerechnet blieben diesem Rentner nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge heute netto rund 970 Euro im Monat, in 40 Jahren entspräche dieser Wert 820 Euro – mögliche Steuerabzüge sind hier noch gar nicht berücksichtigt.

Reutlinger Generalanzeiger vom 13. August 2005

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C 7 Vorsorge treffen

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C • Deutschlands Bevölkerung wird älter (Mortalitätsaspekte)

C 8 Die Alten schulden nichts

Klaus Harpprecht ist 1927 geboren und arbeitete viele Jahre als Journalist. Er war Leiter eines großen Buchver-lages und Berater von Bundeskanzler Willy Brandt.

Roland Koch, der Kommende, sagt es mit einem frommen Beben in der Stimme: Wir, die Eltern, die Großeltern, hätten »diese Erde nur von unseren Kindern geliehen«. Wie das? Mit gleichem Recht könnte festgestellt werden, dass die Gören diese Erde von uns erben, womöglich ein wenig freundlicher, als sie uns 1945 zugefallen ist. Von der Erbschaft wird die Rede sein.

Nun schreibt aber ein Schnösel, noch nicht trocken hinter den Ohren, heute schon fi nanzierten hundert Junge etwa vierundvierzig Alte. Den Teufel tun sie. Wie die meisten meiner Generationsgenossen habe ich für meine Rente mehr als vier Jahrzehnte lang brav gezahlt; der Arbeitgeber legte das Seine dazu – ein Teil unserer Entlohnung. Die BfA war unsere Sparkasse. Jetzt zahlt sie das Kapital zurück, mit dem sie wirtschaften durfte.

Die Jungen arbeiten in Wahrheit für sich. Sie glauben, mit 35 Wochenstunden würden sie genug für ihre Vorsorge leisten. Wenn sie hernach die Suppe auslöffeln, werden sie merken, wie dünn sie ist. Sie sollten beizeiten darüber ein Wörtchen mit Frank Bsirske von [der Gewerkschaft] ver.di reden, der sich aufführt, als brächten die Bürokraten ein Opfer, wenn sie eine Stunde mehr pro Woche ihre Bürostühle drücken.

»Generationengerechtigkeit«, das neuteutonische Begriffs-monster lässt sich nach zwei Seiten auslegen. Nicht zu vergessen, dass die Alten die Fundamente des Sozialstaates gelegt haben, die der jungen Demokratie ihre Stabilität garantierten: den Lastenausgleich, den sozialen Wohnungs-bau, die dynamische Rente, das Betriebsverfassungsgesetz, die Mitbestimmung. Sie hatten mit dem Aufbau Europas

begonnen. Sie hatten die Bundesrepublik rasch zum dritt-größten Exportland emporgewuchtet. Mit anderen Worten: Die Eltern und Großeltern haben ihre Rente redlich verdient. Sie brauchen sich nicht zu genieren, achtzig oder gar neun-zig zu werden.

Apropos Erbmasse: Zwischen den Jahren 2001 und 2010 werden in Deutschland zwei Billionen Euro zu erben sein, die 15 Millionen Haushalten zugute kommen, in unterschiedli-chen Dimensionen. Die Geld- und Immobilienmasse insge-samt ist nach 50 Jahren Frieden überwältigend – größer, als sie es in der Geschichte jemals war. Uns, den Alten und Erblassern, für die es einst nichts zu erben gab, schulden die Jungen wenigstens ein paar Zinsen. Oder?

Sonntag aktuell vom 5. Oktober 2003 (Klaus Harpprecht)

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C • Deutschlands Bevölkerung wird älter (Mortalitätsaspekte)

C 9 Die junge Not mit dem Erbe

Alexander Bonde, geboren 1975, ist Bundestagsabge-ordneter der Grünen und beschäftigt sich nicht nur im Haushaltsausschuss mit der Finanzierung der Renten.

Wer erbt, sollte prüfen, ob die Erbschaft nicht faul ist und besser ausgeschlagen werden sollte. Denn für die Erbmasse wird persönlich gehaftet. Die undankbare Jugend! Setzt sich ins gemachte Nest und missachtet die Leistung der Alten. Doch vielleicht liegt dies nicht nur daran, dass meine Gene-ration nicht bibelfest ist und das vierte Gebot nicht kennt – vielleicht erweist sich die Erziehung zum selbstständigen Denken (und Rechnen!) auch als Bumerang.

Ich möchte den in Ehren Ergrauten nicht ihre Lebensweisheit absprechen. Aber die BfA ist eine Sparkasse? Weit gefehlt, denn deren bismarcksche Konstruktion arbeitet nicht mit Einlage, sondern mit Umlage. Ein kleiner Unterschied, der sich jetzt rächt. Während eine Sparkasse jedem die eigenen Beiträge verwahrt und verzinst ausbezahlt, stellt das Umla-geverfahren eine Art Schneeballsystem dar. Die Beiträge der einen werden sofort weiterverwendet für die Ausschüttung der anderen. Dies funktioniert, so lange immer mehr Spieler oder immer Schneebälle zur Verfügung stehen. Schneit es nicht mehr, kollabiert das System.

Im Klartext: Irgendwann haben die alternden Generationen versäumt, das auf stetigem Wachstum basierende System zu stabilisieren, indem auch die nötigen Racker gezeugt wurden, die ihre Rentenbeiträge dann brav bei der BfA-Spar-kasse verspielen. Die (zu wenigen) jungen Stöpsel, die es noch gibt, tragen also nun ihr Sparschwein zum Schlachten, und sie beschleicht der Gedanke, dass am Weltspartag nur Knöpfe und Büroklammern aus der Dose fallen. Der wär-mende Gedanke an ein aufgebautes Land mit Autobahnen, Demokratie und gepfl egten Reihenhäusern vertreibt nicht das Frösteln beim Grübeln über den eigenen Lebensabend.

Das System der BfA-Sparkasse knirscht. Die Frage für meine Generation lautet doch längst nicht mehr: »Wie viel verdiene ich netto?«, sondern: »Habe ich einen Job?«. Lohnneben-kosten sind wichtige Fragen für die Arbeitsmarktchancen meiner Generation. Kam damals jemand auf die Idee, nega-tive Arbeitsmarkteffekte in die Rentensteigerung einzube-ziehen? Nein, denn Harpprecht und Genossen lebten ja im ewigen Wirtschaftswunderland.

Auf einen in die Pleite gesteuerten Staat können wir nicht setzen. Die Jungen müssen eigenverantwortlich genug bei-seite legen. Dafür brauchen wir den nötigen Spielraum. Denn »private Zusatzversorgung« bedeutet doch letztend-lich: Die Rentenbeiträge bleiben mit 20 Prozent hoch, und zusätzlich legen wir dann noch bis zu 20 Prozent für uns beiseite. Rechnen haben wir dank oder besser trotz des Bildungssystems unserer Vorgängergeneration gelernt: Zwei-mal zwanzig ergibt vierzig, nicht zwanzig. Es stimmt: Viele heutige Rentner haben in den vergangenen sechzig Jahren in Deutschland vieles geleistet. Dafür sind wir dankbar und zahlen auch gerne Zinsen.

Aber auch die junge Generation ist leistungsbereit – in ihr gibt es sicher weit weniger Besitzstandswahrer à la Bsirske als in jeder anderen Generation zuvor. Deshalb brauchen wir ein System, das uns nicht ausnimmt und dann nackt stehen lässt. Denn auch unsere Leistung muss sich irgendwann auszahlen – von Zinsen ganz zu schweigen.

Sonntag aktuell vom 5. Oktober 2003 (Alexander Bonde)

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C • Deutschlands Bevölkerung wird älter (Mortalitätsaspekte)

C 10 Ewig jung, endlich alt

Mann/Frau verlangt von anderen gern, was er/sie selber niemals geleistet hat. Zum Beispiel soll die junge Genera-tion uns künftig die Rente zahlen, obwohl wir es sträfl ich versäumten, überhaupt Arbeitsplätze für sie zu schaffen. Wir erwarten, dass unsere Nachkommen uns liebevoll pfl egen, wenn wir gebrechlich werden. Aber wir wissen zugleich, dass Arbeitsplatzsuche und Globalisierung die Jungen in die Ferne treiben, so dass sie später weder in unserer Nachbar-schaft wohnen noch Beiträge in ein Sozialversicherungssys-tem einzahlen, an das sich in 20 Jahren ohnehin niemand mehr erinnern wird.

Wir mokieren uns täglich in irgendeiner Zeitungsspalte, dass unsere Nachkommen noch mit dreißig bei Muttern wohnen (vielleicht sind die Mieten zu teuer) und dass sie nicht den Mut aufbringen, frühzeitig Kinder zu kriegen. Na und, sollen sie wider ihr besseres Gewissen handeln. Wir stopfen sie, bis sie achtzehn sind, in Klassenzimmer und verordnen ihnen anschließend streng geregelte Studiengänge, in denen ein paar Praktika die Praxis ersetzen. Mit etwas Glück und Mitte zwanzig haben sie vielleicht einen Job – aber wer weiß, wie lange. Sollen sie, gerade der Hochschulbank entronnen, sofort eine Familie gründen und Kinder zeugen? Bevor sie anderen ein Lebensversprechen geben, erwarten sie erst einmal von uns, dass wir gegebene Versprechen halten: nämlich Arbeit und eine Chance für jeden.

Im Gegensatz zu anderen fi nde ich es gar nicht komisch, wenn heute immer mehr 40-Jährige Mütter und 50-Jährige Väter werden. Die Lebenserwartung steigt. Es gibt keine na-türliche Altersgrenze. Wer Anfang des letzten Jahrhunderts schon mit vierzig ausgelaugt war, ist heute mit sechzig noch fi t und kann seinen Kindern vielleicht ein besserer Vater sein als ein von Existenzsorgen umgetriebener junger Erzeuger. Es war doch ein kluger Sinnspruch, den unsere Eltern uns mit auf den Weg gegeben haben: erst Beruf, dann Hochzeit, dann Kinder. Damals verhieß ein Beruf sicheres Einkommen und, wenn man nicht allzu viel falsch machte, auch lebens-lange Karriere. Alle zwei Jahre stieg das Gehalt und der Gürtel wurde ein Loch weitergestellt. In einer Gesellschaft der Jobhopper, der Mobilität und der ständigen Anpassung an die Erfordernisse des Arbeitsmarkts wird keiner mehr sicher wissen, wie viel er morgen verdient und ob überhaupt. Da empfehlen sich Hosenträger. Das enthebt den Geringver-diener des peinlichen Gefühls, den Gürtel enger schnallen zu müssen.

Die Älteren müssen wohl künftig vieles noch selber machen: Kinder mit fünfzig, arbeiten über sechzig. Auch mit siebzig müssen wir uns noch etwas einfallen lassen und mit achtzig den lieben Nächsten pfl egen.

Sonntag aktuell vom 12. Juni 2005 (Ernst Elitz)

Optimale Ausgangsbasis: Noch nie waren 50-Jährige so fi t und rege wie heute. Die heute 60-Jährigen sind geistig und körperlich besser drauf als die 55-Jährigen der voran-gegangen Generation. Triste Wirklichkeit: Bis auf wenige Ausnahmen haben das die deutschen Unternehmen noch nicht begriffen. In mehr als 40 Prozent aller Betriebe gibt es keine Beschäftigten mehr, die älter als 50 Jahre sind, ermittelte eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). In der Altersgruppe der 60- bis 65-Jährigen ist nur noch ein Fünftel erwerbstätig.

»Weil ich aufgrund meiner Erfahrung rasch erkenne, ob sich bestimmte Teile besser aus Kunststoff oder aus Edelmetall anfertigen lassen, bin ich seit kurzem hier Teamcoach«, erzählt Walter Neumann aus der Forschungs- und Entwick-lungsabteilung bei der Firma Bürkert in Ingelfi ngen an der schwäbischen Weinstraße eine seiner Aufgaben. Das Unter-nehmen stellt Systeme zum Messen, Steuern und Regeln von Flüssigkeiten und Gasen her. Je nach Geometrie erfordern die Bauteile verschiedene Werkstoffe – der 58-jährige Neumann hat den nötigen Blick dafür. Zudem kann er abschätzen,ob Ideen realisierbar sind, und denkt dabei auch an die Kosten.

Apotheken Umschau 08/2005 (Wort & Bild Verlag)

C 11 Kein »altes Eisen«: Die Generation »50 plus«

SO VIEL PROZENT DER 55- BIS 65-JÄHRIGEN ARBEITEN NOCH:

71,1Norwegen

69,0Schweden

65,8Schweiz

62,4Japan

60,0USA

44,8Niederlande

39,0Deutschland

36,8Frankreich

30,6Italien

29,1Österreich

Quelle: OECD 2004© 8421medien.de

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C • Deutschlands Bevölkerung wird älter (Mortalitätsaspekte)

C 12 In Zukunft viele Hundertjährige

◗ Was wirft der Autor in C 8 den jungen Menschen vor? Welche Verdienste seiner eigenen Generation betont er?◗ Der Autor in C 9 vertritt die junge Generation. Welche Rechnung macht er auf? ◗ Erläutert anhand der beiden Texte, was man unter »Ge-nerationenkonfl ikt« versteht? Hört Euch in Eurer eigenen Umgebung um: Wie reden die Älteren und die Jüngeren übereinander? Welche Vorwürfe machen sie sich gegensei-tig? Welche Vorurteile behindern eventuell ein konstruktives Miteinander? ◗ Wodurch unterscheidet sich die Ansicht des Autors von C 10 von der des Autors in C 8? Wie begründet er seine Meinung und welche Schlüsse zieht er für die Zukunft?◗ Durch welche Fähigkeiten zeichnen sich ältere Mitarbeiter aus? Wie können sich die Betriebe darauf einstellen? Über-

legt anhand C 11, warum in anderen Ländern wohl andere Bedingungen herrschen.◗ Welche Zukunftsvorstellungen werden in C 12 beschrie-ben? Überlegt, was das für Eure Zukunft bedeuten könnte.◗ Welche Konsequenzen hat es für die Kommunen, wenn die Bevölkerung immer älter wird? Was müsste sich in Eurer Stadt verändern, damit ältere Menschen bequem leben können? Denkt z. B. an Einkaufsmöglichkeiten, Busfahrpläne, Trep-pen usw. Befragt dazu ältere Mitbürger.◗ Stellt für Eure Gemeinde eine Liste zusammen, was für Se-nioren getan wird. Fragt im Rathaus, bei Kirchengemeinden, bei der VHS oder bei Seniorentreffs. Welche Sozialen Dienste gibt es für Ältere? Welche Freizeitangebote? Gestaltet einen Leitfaden für Senioren in Eurer Stadt.

ARBEITSAUFTRÄGE ZU C 8 – C 13

C 13 Konsequenzen aus steigender Lebenserwartung und sinkender Bevölkerungszahl

Die Hälfte der Neugeborenen in hochentwickelten Ländern wie Deutschland, Frankreich oder Japan wird nach Einschät-zung des Rostocker Bevölkerungsexperten James Vaupel ihren 100. Geburtstag feiern. Eine biologische Altersgrenze gebe es nicht, sagte der Direktor am Max-Planck-Institut für Demografi e in Rostock. Innerhalb der vergangenen 160 Jahre stieg die Lebenserwartung in jeder einzelnen Dekade um 2,5 Jahre, meinte Vaupel. Ein Ende sei nicht in Sicht: »Es gibt keine Indizien, dass sich der Anstieg der Lebenserwartung abfl acht.« Der Demografi e-Experte fügte hinzu: »Das Leben ist wie ein Haus – wenn man es sorgfältig pfl egt und immer repariert, kann es sehr, sehr alt werden.« Vor einem Pfl ege-heim »Bundesrepublik« hat er jedoch keine Angst. Denn der

Rostocker Forscher ist sicher: Die Menschen werden »gesund altern«. James Vaupel forderte drastische Reformen, darun-ter eine längere Lebensarbeitszeit und eine Anpassung der Aus- und Fortbildung. »Ältere Arbeitskräfte müssen neue Fertigkeiten lernen oder einen ganz neuen Beruf.«

Reutlinger Generalanzeiger vom 4. Mai 2005

Senioren brauchen Bildungsangebote

Neue Schwerpunkte in der ärztlichen Versorgung

Sorgfältige Planung der Pfl egeinfrastruktur unabdingbar

Zu viel Stadt bei weniger Bevölkerung

Bedarf an Trinkwasser geht zurück

Sportstättenentwicklungsplanung notwendig

Umbau von Wohnungen: Stichwort „Generationenhaus“

Schülerzahlen gehen zurück: Kooperationen benachbarter Schulen prüfen

Abbau der existierenden Kindergartenplätze

Einkaufszonen und Nahverkehrsnetz altersgerecht planen

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C • Deutschlands Bevölkerung wird älter (Mortalitätsaspekte)

C 14 Die Älteren kehren in die Städte zurück

Die jüngeren Alten streben aus den grünen Umlandgemein-den, in denen sie ihre berufl ich aktive Zeit mit den Kindern zubrachten, in großer Zahl wieder zurück in die Städte, ins-besondere in die lebendigen Zentren. Kein Wunder, gibt es hier doch leicht zu Fuß zu erreichende Läden, Theater, Kinos und alle Dienstleistungen, die man gerade im Alter gern nah bei sich hat. Fußgängerzonen locken zum autofreien Flanieren und Bummeln, Konditoreien und Lokale bieten auf engstem Raum kulinarische Angebote. Die Wege zum Bahn-hof und Flughafen sind kurz; Start und Heimkehr von einer Reise sind von der Stadt aus problemlos zu meistern.

Dieser neue Trend bleibt nicht ohne Folgen für den Woh-nungsmarkt in der Stadt. Die urbanen Alten verfügen meist über beträchtliche Kaufkraft. Die Konkurrenz um Innenstadt-wohnungen für Singles und Paare verschärft sich, große Wohnungen, ursprünglich gedacht für Familien mit Kindern, werden in kleine Einheiten zerschnitten oder – der neueste Trend – für Haus- und Wohngemeinschaften älterer Menschen umgenutzt. Solche WGs für ältere Menschen sind rein zah-lenmäßig noch kein großes Segment des Wohnungsmarktes, aber es wächst. Untersuchungen zeigen, dass viele Ältere in dieser neuen Lebensform des Miteinanderwohnens im Alter große Vorzüge sehen. Kommunen und Wohnungswirtschaft sind hier gefordert. Neue und passgenaue Angebote für verschiedenste Gruppen und Bedürfnisse müssen entwickelt und bereitgestellt werden, die Kommune ist planend und

steuernd und mit ihrem gesamten fachlichen Know-how beratend stets in der Pfl icht. Das klassische Altenheim als Lebens- und Wohnform ist Geschichte. So will inzwischen niemand mehr wohnen. Stattdessen sind heute und mehr noch in Zukunft altengerecht umgebaute Wohnungen, mög-lichst fl ächendeckend im ganzen Stadtraum gefragt sowie betreute Wohnungen und fl ankierend dazu ein breites An-gebot ambulanter und teilstationärer Dienstleistungen. Erst ganz am Ende, wenn sonst nichts mehr geht, soll nach dem Willen der heute 50- bis 60-jährigen Menschen das Pfl ege-heim stehen.

Aus einem Vortrag von Prof. Dr. Sylvia Greiffenhagen auf dem 3. Schwäbischen Städtetag am 29. September 2006

C 15 Wohnmodelle im Alter

Eigene WohnungEs gibt viele Möglichkeiten, sich in der eigenen Wohnung unterstützen zu lassen: organisierte Nachbarschaftshilfe, mobile soziale Dienste, ambulante Pfl egedienste, Tages- und Nachtpfl ege und ehrenamtliche Helfer.

SiedlungsgemeinschaftenBei den quartiersbezogenen Wohnformen geht es darum, Wohnen, Betreuung, soziale Kontakte eines ganzen Wohn-gebietes zu organisieren. Ziel ist es, viele Angebote in der Nähe zu haben und Generationen zusammenzubringen.

Haus- und WohngemeinschaftEs gibt bundesweit Modellprojekte, bei denen verschiedene Wohnungstypen und oft auch mehrere Generationen ge-mischt sind und auf Nachbarschaftshilfe setzen. Die Be-wohner helfen sich gegenseitig, zur Not werden ambulante Dienste geholt. Das ist billiger, familiär und beugt der Ein-samkeit vor.

Betreutes WohnenDie Wohnung ist altersgerecht und man kann bestimmte Leis-tungen in Anspruch nehmen wie Beratung und Betreuung. Es gibt ein Notrufsystem, wer will, kann sich die Wohnung putzen und sich verköstigen lassen. In manchen Einrichtun-gen macht ein Hausmeister kleinere Reparaturen.

Integriertes WohnenBewohner aus verschiedenen sozialen Schichten und Alters-gruppen leben in größeren Wohnkomplexen zusammen. Da-durch hat der Einzelne mehr Platz für sich, andererseits geht es nicht so familiär zu. Das Zusammenleben funktioniert nur, wenn die Beteiligten sich gegenseitig helfen.

Betreute WohngemeinschaftEine Gruppe von vier bis zwölf Personen lebt zusammen. Jeder hat einen eigenen Wohn- und Schlafbereich und teilt die übrigen Räume. Manche Wohngemeinschaften haben eine zentrale Bezugsperson – wie Hauswirtschafterin oder Sozialarbeiter, bei anderen Häusern übernehmen ambulante Dienste die Versorgung.

Autonome WohngruppeIn den Niederlanden gibt es häufi ger Wohngruppen, die zwischen 20 und 30 Wohnungen besitzen und mindestens 60 Quadratmeter groß sind, während die Küche geteilt wird. Man darf beim Einzug nicht älter als 70 Jahre alt sein, weil hier auf dynamische Senioren gesetzt wird, die sich an den gemeinsamen Aktivitäten beteiligen.

Ministerium für Arbeit und Soziales Baden-Württemberg

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C • Deutschlands Bevölkerung wird älter (Mortalitätsaspekte)

◗ Welche Wohnwünsche der Senioren werden in C 14 und C 15 genannt? Erarbeitet dazu Interviews mit älteren Ver-wandten und Nachbarn.◗ Recherchiert in Immobilienanzeigen, welche Wohnungen für Senioren angeboten werden. Vergleicht Eure Ergebnisse mit den Interviews. Erarbeitet dann selbst Vorschläge, wie Wohnungen für ältere Menschen aussehen könnten. ◗ Womit füllen Senioren nach C 16 ihren Tag aus?

◗ Erkundigt Euch, welche Ehrenämter in Eurer Gemeinde, in den Kirchengemeinden, Vereinen, in Büchereien, beim Theater und im sozialen Bereich (Krankenhäuser, Senioren-heime usw.) existieren. Welche werden von älteren Menschen ausgefüllt?◗ Diskutiert in der Klasse über den Inhalt des Textes C 17.Was spricht für, was gegen das ehrenamtliche Engagement von Senioren?

ARBEITSAUFTRÄGE ZU C 14 – C 17

C 16 Junge Alte im Ehrenamt

»Anfangs war es für mich auch schwierig, weil ich dachte, ich nehme jemand die Arbeit weg.« Marie-Rose Schoppmann repariert in der Tübinger Stadtbücherei Bücher – freiwillig und unentgeltlich. Auch bei der Aufsicht der Unibibliothek und bei der Wohnberatung des Kreisseniorenrats arbeiten Tübinger Senioren. Wie Marie-Rose Schoppmann sind viele ältere Menschen verunsichert, ob sie durch ihr ehrenamtli-ches Engagement bezahlte Arbeitsplätze gefährden.

Bei einer Diskussion haben Kreisseniorenrat und die Volks-hochschulen Tübingen und Rottenburg jetzt diese Sorgen thematisiert. »Nach dem Koalitionsvertrag sollen genera-tionsübergreifende Freiwilligendienste aufgebaut werden, aber es fehlen fünf Millionen Arbeitsplätze.« Für den Vor-sitzenden des Kreisseniorenrats Hans-Jürgen Stiller öffnet sich dadurch ein Konfl iktfeld. Deshalb fi ndet er es wichtig,

dies auch öffentlich zu diskutieren: »Es kann nicht sein, dass sich ältere Menschen ehrenamtlich engagieren und dann hören müssen: Jetzt kommen die Jobkiller.«

Reutlinger Generalanzeiger vom 18. April 2006 (Raphaela Weber)

Das Ehrenamt und das Engagement für die Familie sind unter den älteren Mit-bürgern weit verbreitet. Sehr aktiv ist die Altersgruppe der 55- bis 69-Jähri-gen. Sie haben aufgehört zu arbeiten oder stehen kurz vor dem Schritt in den Ruhestand, sind aber dennoch körper-lich und geistig fi t und beweglich.

C 17 Senioren wollen keine Jobkiller sein

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C • Deutschlands Bevölkerung wird älter (Mortalitätsaspekte)

C 18 Pfl ege älterer Menschen wird wichtiger

C 19 Pfl egepersonal wird gebraucht

◗ Welcher Aspekt der alternden Bevölkerung wird in C 18 und C 19 gezeigt? Analysiert und interpretiert die Grafi k und die Fotos.◗ Besucht ein Pfl egeheim in Eurer Nähe. Erkundigt Euch nach den Pfl egekosten sowohl in den Heimen als auch bei den mobilen Diensten, die bei der Hauspfl ege helfen. Macht ein Interview mit den Pfl egerinnen und Pfl egern. ◗ Erkundigt Euch beim Arbeitsamt nach den Berufsaussich-ten im sozialen Bereich und sammelt Berufsfelder.

◗ Viele Zivildienstleistende und junge Menschen, die ein Freiwilliges Soziales Jahr leisten, sind im Pfl egebereich ein-gesetzt. Erfragt, welche Erfahrungen sie bei ihrer Arbeit machen. Welche Arbeiten könnten gar nicht geleistet werden, wenn es sie nicht gäbe? Was würde passieren, wenn die Zahl der Dienstleistenden weiter sinken würde?◗ Beobachtet, wie in den Medien über die Altenpfl ege in Heimen oder zu Hause berichtet wird. Sammelt solche Be-richte als Wandzeitung und diskutiert in der Klasse.

ARBEITSAUFTRÄGE ZU C 18 – C 19

Die Zahl der pfl egebedürftigen Menschen in der Bundes-republik Deutschland steigt.

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C • Deutschlands Bevölkerung wird älter (Mortalitätsaspekte)

C 20 Lebensqualität und Alter

Menschen wollen im Alter nicht auf Lebensqualität ver-zichten. Sie wünschen sich altersgerechte Lebensformen und Komfort. Darin liegen große Chancen für Gesellschaft und Wirtschaft. Ältere und ihr Konsum sind ein bedeu-tender Wirtschaftsfaktor. Europaweit wird die Kaufkraft der Seniorinnen und Senioren mit mehr als 30 Milliarden Euro monatlich kalkuliert, für Deutschland sind es allein sieben Milliarden Euro Monat für Monat.

Der »Silbermarkt« ist ein Wachstumsmarkt. Seniorinnen und Senioren sind eine wachsende Alters-, aber auch Konsumen-

tengruppe. Sie achten mehr auf Qualität, Bedienungsfreund-lichkeit und Langlebigkeit. Deutschland kann Vorreiter auf diesem Markt werden, wenn Unternehmen rechtzeitig ihre Produkte und Dienstleistungen an den Bedürfnissen älte-rer Menschen ausrichten. Für ältere Menschen entwickelte Produkte und Dienstleistungen sind häufi g auch für Jüngere attraktiv. Denn Komfort kennt keine Altersgrenzen.

www.bmfsfj.de

C 22 Generation über 50: Lockender Markt

Die Wirtschaft tut sich mit der alternden Gesellschaft noch immer schwer. Natürlich kennen auch die Unternehmen all die neuesten Studien, die die Generation ab 50 als durchaus lukrative Käuferschicht ausweisen. Doch Klischees sind zäh: Nach wie vor geistert in vielen Köpfen bei den Gedanken ans Alter die einsame Witwe mit ihrer kargen Rente herum. Sicher gibt es nach wie vor viele ältere Menschen, die den Cent zweimal umdrehen müssen. Doch zeigen besagte Stu-dien, dass ein großer Teil der über 50-Jährigen eher zu den gutsituierten Bundesbürgern zählt, der bereit ist, Geld aus-zugeben, etwas zu erleben und es sich gutgehen zu lassen. Und ihre Zahl wird immer größer. Die Automobilbranche hat schon seit langem begriffen, was für ein Geschäft da lockt. Sie bietet zahlreiche Modelle an, die – ob Bequemlichkeit oder Bedienungsfreundlichkeit – den Bedürfnissen älterer Menschen entsprechen. Auch die Tourismus-Industrie hat die über 50-Jährigen mittlerweile für sich entdeckt. Mit Kreuzfahrten, Studienreisen oder Wellness-Urlauben hat sie sich längst auf die neuen Herausforderungen und Chancen des Marktes eingestellt.

Ansonsten sieht es in der deutschen Wirtschaft mit entspre-chenden Angeboten aber noch ziemlich schlecht aus. Obwohl es inzwischen fast schon eine Binsenweisheit ist, dass viele Menschen ab 50 mit einem Handy lediglich telefonieren

wollen, locken die Hersteller nach wie vor vornehmlich mit ausgefallenen Klingeltönen und vielfältigem Schnickschnack – und das auf einer Tastatur, die nur mit kniffl iger Feinmoto-rik zu bedienen ist. Ein Mobiltelefon, das diesen schlichten Namen auch wirklich verdient, fi ndet man nur selten in den Regalen. Ähnlich sieht es mit anderen Dingen des täglichen Lebens aus. Wer kauft schon gerne einen Joghurt oder ein Tiefkühlgericht, dessen Zutaten, Haltbarkeitsdatum oder gar Preis ohne eine – in der Regel nicht griffbereite – Lupe zu lesen ist? Oder ein Reinigungsmittel, das zwar kindersicher, aber nur mit großer Kraftanstrengung zu öffnen ist? Oder ein Paar Schuhe, die bequem sind, aber jeglichen modischen Chic vermissen lassen?

Zugegeben: Die ältere Kundschaft macht es den Unterneh-men nicht gerade leicht. Es scheint in der Natur des Men-schen zu liegen, dass mit den Jahren das gefühlte Alter deutlich niedriger ist als das reale. Die Werbebranche kann davon ein bitteres Lied singen. Alle Produkte, die sie mit dem Wort »Senior« anpreist, bleiben wie Blei in den Geschäf-ten liegen. Derzeit versuchen die Marketing-Strategen, die Kundschaft mit Prädikaten wie »Silver Ager«, »50plus« oder »Best Ager« zu locken.

Südkurier vom 19. August 2006 (Hildegard Linssen)

C 21 Ein Gespräch mit einem Werbefachmann

Wie verändert die alternde Gesellschaft Inhalte und Spra-che von Werbung?Das wird sich noch zeigen. Aber es ist Trugschluss anzuneh-men, ältere Verbraucher wollen in der Werbung – außer bei speziellen Produkten – als Alte angesprochen werden. Gerade heute empfi nden sich doch Ältere als vital und jünger. Also keine Ghettoisierung, auch nicht in der Werbung.

Das heißt, die Werbung muss sich nicht der alternden Gesellschaft anpassen?Nein, das heißt es nicht. Das öffentliche Leben wird sich ver-ändern, wenn die demografi sche Veränderung in 20 Jahren richtig zu wirken beginnnt. Welche Schnittfolgen in TV-

Spots sind noch erträglich, wenn ein Drittel der Bevölkerung über sechzig ist? Welche Typografi e brauchen wir dann? Die ganze Gesellschaft wird sich ändern, deshalb wird sich auch zwangsläufi g die Kommunikation ändern.

DB mobil vom 1. Februar 2005 (Krisztina Koenen)

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C • Deutschlands Bevölkerung wird älter (Mortalitätsaspekte)

C 23 Motorradkäufer werden immer älter: Die Industrie reagiert!

◗ Das Altern der Bevölkerung hat auch wirtschaftliche As-pekte: Über welche Kaufkraft verfügt die ältere Generation? Welche Bedürfnisse hat sie? Welche Arbeitskräfte werden dafür gebraucht? Welche neuen Berufe entstehen?◗ In welchen Bereichen hat sich die Wirtschaft schon auf die Wünsche der Senioren eingestellt? Welche Produkte sind dagegen noch nicht altersgerecht gemacht (C 22 – C 23)?Könnt Ihr die Liste durch eigene Beobachtungen oder Be-fragungen ergänzen? Macht Verbesserungsvorschläge für einzelne Produkte.◗ Verfolgt die Werbung in den Medien, sammelt Werbetexte und Werbebilder, die an Senioren gerichtet sind. Mit welchen Argumenten wird geworben? Für welche Produkte werben (prominente) ältere Menschen?

◗ Wie berücksichtigt das Fernsehen die Bedürfnisse der äl-teren Zuschauer? Untersucht das Programmangebot nach typischen Sendungen für ältere Menschen. Beachtet dabei Inhalte, Sendezeiten usw. Befragt z. B. Eure Großeltern nach deren Fernsehgewohnheiten.◗ Erarbeitet aus dem Text C 24, unter welchen Beeinträch-tigungen ein alter Mensch im Alltagsleben leidet. Sammelt weitere Beispiele, wo die Bedürfnisse älterer Menschen nicht berücksichtigt werden. Vielleicht könnt Ihr selber an einem solchen Experiment mit einem »Age Explorer« teilnehmen. Oder macht einen Streifzug durch Eure Innenstadt und über-legt, wo und warum das Alltagsleben für alte Menschen erschwert wird.

ARBEITSAUFTRÄGE ZU C 20 – C 24

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C • Deutschlands Bevölkerung wird älter (Mortalitätsaspekte)

C 24 Leben als Senior: Mein »alter« Ego – sich fühlen wie 70

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Der Alterssimulator (»Age Explorer«) ähnelt der Kopf-bedeckung eines Astronauten.

»So was würde ich mir ja nicht antun! Das erlebe ich noch früh genug.« Das war die Standardreaktion, als ich von meinem Plan erzählte, nach Saarbrücken zu fahren, um den Age Explorer auszuprobieren. Ein Anzug, den die Firma Meyer-Hentschel entwickelt hat. Mit ihm kann man einen Eindruck bekommen, wie das ist, wenn man alt ist.

»Wer will denn so was überhaupt?« Zum Beispiel Firmen, die Produkte für ältere Menschen herstellen. Oder Seniorenein-richtungen. Oder eben neugierige Journalisten. Age Explo-rer klingt nach virtueller Welt und elektronischem Schnick-schnack. Doch es sind eigentlich recht simple Komponenten, mit denen typische Alterserscheinungen simuliert werden: Bänder an Ellbogen und Knien schränken die Bewegungs-freiheit ein. Gewichte in Ärmel und Beinen des Overalls lassen die Glieder schwer werden. Ohrenschützer sorgen für »Schwerhörigkeit«. Ein Helm mit einem gelblichen »Visier« simuliert die Vergilbung des Glaskörpers, zugleich ist das Bild nur punktuell scharf. Auch ist das Gesichtsfeld ein-geschränkt. Stoffhandschuhe setzen die Sensibilität der Finger herab. In die Innenseite der Handschuhe eingenähte Klett-Oberfl ächen verursachen bei Druck ein schmerzhaftes Stechen an den Fingern. So spüre ich die »Arthritis« meines Senioren-Egos.

Zum Teil sind diese Simulationen wahrscheinlich gar nicht »gefühlsecht«: Eine Arthritis in den Fingern fühlt sich sicher anders an als eine Klettverschluss-Oberfl äche. Doch ent-scheidend sind die Einschränkungen, die das Alter mit sich bringt. Und die sind wohl schon realistisch.

Nicht bei Rot über die Straße Als erstes ein kleiner Rundgang durch die Stadt. Ein schöner, sonniger Wintertag. Leider blendet die Sonne. Schuld daran ist mein Visier. Es bricht die Sonnenstrahlen so, dass sich meine Augen schlecht auf die Helligkeit einstellen können. Das Sichtfeld ist eingeschränkt, ich höre den herannahenden Verkehr nur schlecht. Meine intuitive Reaktion: Bei Rot gehe ich bestimmt nicht über die Straße.

Tippen schwer gemacht Unglaublich, wie oft man im Alltag kleine Schriften lesen muss. Ich muss oft nah rangehen, ständig die Augen und den Kopf bewegen, um Details zu fokussieren. Das strengt an. Zum Beispiel beim Ausfüllen eines Lottoscheines. Da müssen meine schlechten Augen und meine unsensiblen Finger zu-sammenarbeiten, um in ein kleines Kästchen ein kleines Kreuzchen zu machen – eine anspruchsvolle Aufgabe.

Der Überblick geht verloren Das eingeschränkte Gesichtsfeld und das unscharfe Sehen haben auch einen psychologischen Effekt. Ich fühle mich unsicherer im Raum. Mir geht der Überblick über alles ver-loren, im Nahen wie im Fernen. Hinter einer verschmutzten Glasscheibe sind die Fahrpläne der Straßenbahn. Ich kann sie lesen, aber ich brauche Zeit, bis ich die für mich wichtige Spalte gefunden habe. Es fällt mir schwer, meine Umgebung als Ganzes zu erfassen, ich muss sie mir viel stärker als sonst Punkt für Punkt erschließen.

Am Fahrkahrtenautomaten der Straßenbahn fällt es mir schwer, aus den vielen schwer zu lesenden Angaben he-rauszufi nden, welches die richtige Taste für mich ist. Neben mir steht jemand und will auch eine Fahrkarte lösen. Und dann tue ich etwas, was ich an einem Fahrkartenautoma-ten noch nie getan habe. Ich sage: Gehen Sie erstmal vor. Leute sprechen mich an, aber wenn sie nicht direkt zu mir reden und ich sie nicht sehe, verstehe ich in dem Gewühl am Bahnsteig nur Bruchstücke. Hilfl os sage ich nur: Ich bin nicht von hier!

Im Einkaufszentrum überfordert Nächste Station: Das Einkaufszentrum. Abteilung »Unterhal-tungselektronik«. Meine Schultern sind leider etwas »einge-rostet«, deshalb komme ich mit meinen Armen nicht an die oberen Regale. Da ich nicht gut sehe, verliere ich schnell die Orientierung. In welchem Gang steht was? Mit der Viel-zahl der Produkte bin ich einfach überfordert. Ich muss genau aufpassen, um nicht zum falschen Produkt zu greifen. Denn Produkte, die sich »normalerweise« gut unterscheiden lassen, sind aus vergilbter Alterssicht zum Verwechseln ähn-lich. Als alter Mensch werde ich noch viel stärker als heute darauf angewiesen sein, Kleingedrucktes zu lesen – seien es die Inhaltsstoffe von Nahrungsmitteln oder auch die Beipackzettel von Medikamenten.

Unsicherheit und Hilfl osigkeit Das Interessanteste am Age Explorer sind eigentlich weniger die körperlichen Veränderungen, als ihre psychologischen Wirkungen: Die Unsicherheit, das Gefühl, immer weniger mitzubekommen, was sich um einen herum abspielt. Die Hilfl osigkeit, wenn man nicht versteht, was Leute einem sagen. Die Unübersichtlichkeit; die Energie, die alles kostet. Man ist froh, wenn man Dinge überhaupt irgendwie hinkriegt – damit ist der Kopf völlig ausgelastet.

SWR2 (Gábor Paál) (www.swr.de)

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D • Demografischer Wandel und Migration (Migrationsaspekte)

D • Demografi scher Wandel und Migration(Migrationsaspekte)Materialien D 1 – D 14

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1964: Der Portugiese Armando Rodriguez, der einmilli-onste »Gastarbeiter« wird auf dem Bahnhof Köln-Deutz mit einem Moped als Geschenk willkommen geheißen.

D 1 Historische Eckdaten der Zuwanderung nach Deutschland

◗ 1950–1955: Die junge Bundesrepublik ist ein Wirt-schaftswunderland. In der westdeutschen Landwirtschaft, im Baugewerbe und in Teilen der Industrie fehlen Arbeits-kräfte, weil viele deutsche Arbeitnehmer unter den dort herrschenden harten Bedingungen nicht arbeiten möchten.

◗ Dezember 1955: Als Reaktion auf den Arbeitskräfteman-gel schließt die BRD mit Italien einen Anwerbevertrag ab.

◗ 1960–1968: Anwerbeabkommen mit Griechenland und Spanien (1960), der Türkei (1961), Marokko (1962), Por-tugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). Schwerpunkte der Zuwanderung sind die Länder Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Bayern und Hessen. Viele Deutsche steigen aufgrund der »Gastarbeiter« in bessere berufl iche Positionen auf. Der Aufbau der Sozialsysteme in Deutschland profi tiert von den »Gastarbeitern«.

◗ 10. September 1964: Die Bundesrepublik begrüßt den einmillionsten »Gastarbeiter«.

◗ 1973: Als Reaktion auf die Ölkrise und auf die sich ver-schlechternde Wirtschaftslage erlässt die Bundesregierung einen Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte außer-halb der Europäischen Gemeinschaft (EG). Die Folge: Die Zahl der ausländischen Beschäftigten sinkt, die Wohnbevölkerung

wächst, denn für viele »Gastarbeiter« ist dies der Anstoß, ihre Familie nachzuholen. Zum Zeitpunkt des Erlasses leben rund vier Millionen ausländische Staatsangehörige in West-deutschland. 2,6 Millionen Ausländer sind erwerbstätig.

◗ 1978: Die Bundesregierung richtet das Amt eines »Beauf-tragten für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen« ein.

◗ 1983: Das »Rückkehrförderungsgesetz« wird verabschie-det. Die fi nanziellen Hilfen für Ausländer, die in ihre Heimat-länder zurückkehren, zeigen nicht die erhoffte Wirkung.

◗ 1987–1999: Der Höhepunkt der Aufnahme von Spät-aussiedlern aus Osteuropa wird erreicht (insgesamt ca. 2,7 Mio. Menschen). Sie sind Deutsche im Sinne des Grundge-setzes. Bereits nach 1945 hat Westdeutschland mehr als 12 Mio. Heimatvertriebene und Flüchtlinge aufgenommen. Nach 1999 gehen die Spätaussiedlerzahlen zurück.

◗ 1991: Das neu verabschiedete Ausländergesetz erwei-tert die Möglichkeiten zur Einbürgerung und schafft mehr Rechtssicherheit für Zuwanderer.

◗ 2000: Die Bundesregierung startet die »Green-Card-Initi-ative«. Für ausländische IT-Experten außerhalb des Europäi-schen Wirtschaftsraums wird der Anwerbestopp aufgehoben. Allerdings kommen nicht so viele Fachkräfte wie erwartet.

◗ 1. Januar 2005: Nach jahrelanger Diskussion tritt das Zu-wanderungsgesetz in Kraft. Rund sieben Millionen Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit leben in Deutschland (ca. 9 % der Bevölkerung). Jeder Fünfte davon ist hier ge-boren, fast jeder Dritte lebt schon mehr als 20 Jahre hier. Es handelt sich hierbei vor allem um »Gastarbeiter« oder deren Familienangehörige. Insgesamt aber leben 15,3 Millionen Menschen oder fast 20 % der Bevölkerung mit Migrations-hintergrund in Deutschland. Das sind Ausländer, die selbst eingewandert sind, ebenso deren in Deutschland geborene Kinder und Enkel ohne deutschen Pass. Dazu gehören aber auch Deutsche mit Migrationshintergrund, also zugewan-derte Spätaussiedler und eingebürgerte Deutsche, die im Ausland geboren sind, sowie deren Kinder.

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D • Demografischer Wandel und Migration (Migrationsaspekte)

D 2 Bevölkerungsentwicklung in Deutschland

D 3 Ausländer in Deutschland

Ende 2005 lebten rund 6,7 Millionen Menschen mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit in Deutschland. Die wichtigsten Herkunftsländer der hier lebenden Personen mit ausschließlich ausländischer Staatsangehörigkeit sind die Türkei mit einem Anteil von 26 Prozent, Italien mit acht Prozent, Polen und Griechenland mit jeweils fünf Prozent sowie Serbien und Montenegro mit vier Prozent. Im Durch-

schnitt hielten sich die Ausländer bereits fast 17 Jahre in Deutschland auf. Mehr als ein Drittel wohnt schon mehr als 20 Jahre hier. Etwa jeder fünfte Ausländer wurde in Deutsch-land geboren – vor allem Männer und Frauen beziehungs-weise Jungen und Mädchen mit türkischer, italienischer und niederländischer Staatsangehörigkeit.

Mehr als ein Drittel der in Deutschland lebenden Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit wohnt schon mehr als 20 Jahre hier.

1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005

0

BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG IN DEUTSCHLAND1991 – 2005

200.000

400.000

600.000

800.000

Bevölkerungszunahme

Zuwanderungsüberschuss

Sterbefallüberschuss

-200.000

Quelle: Statistisches Bundesamt Wiesbaden, 2006

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D • Demografischer Wandel und Migration (Migrationsaspekte)

D 4 Formen der Zuwanderung nach Deutschland

Jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen UdSSR

Spätaussiedler

Saisonarbeitnehmer

Werkvertragsarbeit-nehmer sowie weitere Formen der Arbeits-

migration

IT-Fachkräfte

Ehegatten und Familiennachzug aus

Drittstaaten

Rückkehr deutscher Staatsangehöriger

EU-Binnen-migration

AusländischeStudierende

Asylbewerber

Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (www.bamf.de)© 8421medien.de

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D • Demografischer Wandel und Migration (Migrationsaspekte)

wandert sind? Warum kamen sie nach Deutschland? Recher-chiert, wie lange die Zuwanderer durchschnittlich schon hier leben. Sucht Gründe dafür, weshalb sie oft schon so lange in Deutschland leben. Dazu müsst Ihr Euch auch über die Lebensbedingungen ihrer Herkunftsländer informieren.◗ Vergleicht die statistischen Zahlen der ausgewählten Bun-desländer in D 5. Überlegt, warum manche Bundesländer mehr Bevölkerungsgewinn haben als andere. Sucht dazu bei www.destatis.de nach den aktuellen Wirtschaftsdaten (z. B. Arbeitslosenquote, Bruttoinlandsprodukt, Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer usw.).

◗ Zuwanderung nach Deutschland gibt es schon lange, nicht erst seitdem das Thema »demografi scher Wandel« in aller Munde ist. Einige Eckdaten der Zuwanderung fi ndet Ihr in D 1. Legt mit den Informationen einen Zeitstrahl an, den Ihr ergänzen könnt um weitere historische und wirtschaftliche Daten. Unter www.zuwanderung.de fi ndet Ihr dazu mehr. Er-fahrungen aus Euren eigenen Familien (z. B. Interviewtexte) und Fotos machen den Zeitstrahl anschaulicher.◗ Informiert Euch im Internet auch über Bestimmungen des Ausländergesetzes, die Green Card, das Bleiberecht und das Zuwanderungsgesetz.◗ Welche Schlussfolgerungen zur Entwicklung der Bevölke-rung zieht Ihr aus den Angaben in D 2? Kann Zuwanderung Eurer Meinung nach die demografi sche Lücke schließen? Warum? Warum nicht? Diskutiert das Thema.◗ Beantwortet anhand von D 3 – D 4 die folgenden Fragen: Woher kommen die Menschen, die nach Deutschland zuge-

ARBEITSAUFTRÄGE ZU D 1 – D 5

D 5 Statistik deutscher Bundesländer im Jahr 2005

Bundesländer(Auswahl)

Einwohnerin Mio.

AusländischeBevölkerung

in %

Wirtschafts-kraft

in Mrd. Euro

Arbeitslosen-quote in %(Jahres-

durchschnitt)

Zuzüge über die Grenzen Deutschlands (Ausländer/

innen)

Zuzüge aus einem anderen Bundesland

Überschuss der Zu- (+) bzw. Fortzüge (-) insgesamt

Baden-Württemberg

10,7 11,9 330,2 7,0 105.736 18.631 +12.316

Bayern 12,5 9,5 403,0 7,8 103.125 16.890 +17.665

Berlin 3,4 13,7 79,5 19,0 37.048 9.288 +17.741

Brandenburg 2,6 2,6 48,4 18,3 7.537 2.933 –136

Hessen 6,1 11,4 197,7 9,7 53.152 14.584 +7.810

Niedersachsen 8,0 6,7 188,6 11,6 58.668 10.194 +4.956

Nordrhein-Westfalen

18,1 10,7 487,5 12,0 114.136 22.311 +15.166

Rheinland-Pfalz

4,1 7,7 97,7 8,8 24.281 9.289 +5.968

Sachsen 4,3 2,8 85,7 18,3 14.657 3.348 +1.884

Sachsen-Anhalt 2,5 1,9 48,3 20,3 7.273 2.165 –435

Quellen: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Bundesministerium der Finanzen, Arbeitskreis »Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder«

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D • Demografischer Wandel und Migration (Migrationsaspekte)

Die Bevölkerung Deutschlands nimmt ab und das durch-schnittliche Alter der Bevölkerung steigt. Kann eine ver-stärkte Zuwanderung diesen Prozess aufhalten? Neben der Geburtenrate und der Zahl der Sterbefälle beeinfl usst auch die Einwanderung die demografi sche Entwicklung. Durch die Zuwanderung aus dem Ausland ist in den vergangenen Jahr-zehnten die Bevölkerungszahl in Deutschland angestiegen. Seit 1954 sind jährlich durchschnittlich 125.000 Personen mehr nach Deutschland gekommen als weggezogen sind: Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit, aber auch Deutschstämmige aus Ost- und Südosteuropa. Die Einwan-derer sind durchschnittlich jünger als die ansässige Bevöl-kerung. Daraus ergibt sich ein Verjüngungseffekt für die Gesamtbevölkerung. Die Zuwanderung hat somit das Altern der Gesellschaft verlangsamt.

Doch die Wanderungsgewinne können die sinkenden Ge-burtenzahlen in Deutschland nicht dauerhaft ausgleichen. Selbst bei einer jährlichen Zuwanderung von 200.000 bis 300.000 Personen wird die Bevölkerung abnehmen. Bereits in den Jahren 2003 und 2004 ist die Bevölkerungszahl in Deutschland gesunken, weil die Zuwanderung niedriger ausgefallen ist als erwartet. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass Wanderungsbewegungen Schwankungen unter-worfen sind. Wie viele Menschen einwandern, hängt oft von wirtschaftlichen und politischen Faktoren ab.

Die Vereinten Nationen haben fünf Szenarien entwickelt, die mit unterschiedlichen Zahlenspielen untersuchen, wie das Altern der Gesellschaft zu vermeiden sein könnte. Dem-nach sähen die Prognosen bis 2050 für Deutschland nur dann positiv aus, wenn eine »Bestanderhaltungsmigration«

von 18 Millionen Zuwanderern bis zum Jahr 2050 erreicht würde. Das entspräche einer jährlichen Nettozuwanderung von 324.000 Menschen. Doch selbst damit wäre das Arbeits-kräftepotenzial nicht auf heutigem Niveau zu erhalten. Die dafür benötigte Zahl von Zuwanderern läge so hoch, dass selbst die Vereinten Nationen dieses Szenario als unrealis-tisch bezeichnen.

Die Folge einer Zuwanderungsbewegung, die beinahe dop-pelt so hoch sein müsste wie die heutige gesamte Be-völkerungszahl, wäre nicht zuletzt mit einem massiven Integrationsproblem verbunden. Zudem müssten sich die Einwanderer überwiegend aus jungen Frauen mit einem überdurchschnittlichen Geburtenverhalten zusammenset-zen. Und woher sollen diese Einwanderer kommen? Da die meisten EU-Länder – auch die jungen Mitgliedstaaten in Osteuropa – eine ähnliche demografi sche Entwicklung vor-weisen, sind auch sie selbst auf Zuwanderung angewiesen. Hunderte Millionen Menschen müssten dann von außerhalb der europäischen Grenzen einwandern.

Eine verstärkte Zuwanderung kann also einerseits den Rück-gang der Bevölkerung abschwächen. Andererseits kann die Integration der Zuwanderer nur gelingen, wenn deren Le-bensunterhalt gesichert ist (z. B. Arbeitsplätze) und wenn die Integrationsbereitschaft auf beiden Seiten vorhanden ist.

D 6 Kann Zuwanderung die demografische Entwicklung umkehren?

D 7 Warum wir Ausländer brauchen

Das Magazin »stern« sprach mit Prof. Dr. Thomas Straub-haar, dem Chef des Hamburgischen Weltwirtschaftsinsti-tuts, über Einwanderung und Ausländer.

Deutschland hat 4,5 Millionen Arbeitslose. Ist die Angst vor ausländischen Billigarbeitern nicht berechtigt?Nein. Denn viele Deutsche wollen bestimmte Arbeiten ein-fach nicht machen. Sei es, weil sie ihnen zu gefährlich, zu schmutzig oder zu schlecht bezahlt sind. Schon allein des-wegen wäre es sehr dumm, den Arbeitsmarkt abzuschotten. Die simple Gleichung, dass Zuwanderer den Deutschen Jobs wegnehmen, geht nicht auf.

Wie viele Zuwanderer braucht Deutschland pro Jahr?Das kann niemand sagen. Aber das befreit uns nicht davon, Quoten festzulegen.

Was läuft bei der bisherigen Zuwanderungspolitik falsch?Wer hierher kommen will, muss gewaltige bürokratische Hürden nehmen. Fast jeder Einzelfall wird unter der Frage

»Ist das wirklich notwendig?« geprüft. Das macht die Zu-wanderung schwierig. Sinnvoller wäre es, die Zuwanderung durch eine Quote zu begrenzen und die Berechtigten durch ein einfaches Verfahren auszuwählen.

Sie favorisieren ein Punktesystem für die Zuwanderung. Was ist das?Das Punktesystem basiert darauf, Einwanderungswillige nach einfachen Kriterien zu bewerten. Dazu gehören Sprachfähig-keiten, Bildungsgrad und Beruf. Man könnte auch Jüngere gegenüber Älteren bevorzugen, um die demografi sche Alte-rung in Deutschland abzumildern. Wer nach diesem System gut abschneidet, könnte einwandern. Wer sich einige Jahre nichts Strafrechtliches zu schulden kommen lässt, kann sich danach auf einfache Weise einbürgern lassen.

Stern vom 15. November 2006 (stern.de)

Politik & Unterricht • 1/2-2007

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D • Demografischer Wandel und Migration (Migrationsaspekte)

D 8 Deutschland fällt die geordnete Zuwanderung schwer

Das Thema Migration ist eng mit anderen zukunftsrelevanten Fragen verbunden. Es geht um den Bevölkerungsschwund, um Integrationsschwierigkeiten, um den Flüchtlingsdruck aus Afrika, den vermeintlichen Kampf der Kulturen, um Frem-denangst und Ausländerfeindlichkeit sowie als Unterthema auch um den islamischen Terror. In diesem Spannungsfeld versucht Deutschland seit 2005 mit dem umstrittenen neuen Zuwanderungsgesetz die Integration zu verbessern, den Status der Ankommenden zu vereinfachen und ihre Motive mit den Interessen des Gastlandes zu vereinbaren.

Die Gruppe der Immigranten ist uneinheitlich. Klar ist nur eines: Die Zuwanderung nimmt seit Jahren ab, wegen des Asylkompromisses, wegen des gebremsten Familiennachzugs, wegen des Kriegsendes im ehemaligen Jugoslawien, wegen der höheren Sprachanforderungen an Spätaussiedler, wegen der sinkenden Attraktivität Deutschlands als Wirtschafts-standort. Kritiker halten die Öffnung der Arbeitsmärkte für unzureichend. Es müssten deutlich mehr ausländische Kräfte gewonnen werden, um Deutschland wettbewerbsfähig zu halten, fordern die Ökonomen von Deutsche Bank Research.

Konsens besteht darüber, dass die gesteuerte Immigrations-politik der Zukunft andere Berufs- und Bildungsgruppen im Auge haben muss als bisher. Schon deshalb lassen sich die Effekte des Zuzugs für die Steuer- und Wohlfahrtssysteme nicht unverändert fortschreiben. Bislang fällt diese Bilanz durchwachsen aus. Wegen unterdurchschnittlicher Qualifi -kation kommen gerade die jüngeren Ausländer in den an-spruchsvollen Arbeitsmärkten immer schlechter unter. …

In der Diskussion um die Migration geht unter, dass Deutsch-land immer stärker auch ein Auswanderungsland ist. Über-durchschnittlich mobil sind die Hochqualifi zierten. Skepti-ker stellen nicht in Frage, dass Deutschland für ausländische Arbeitseliten interessanter werden müsste. …

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. August 2006 (Christian Geinitz)

◗ Organisiert eine Podiumsdiskussion mit festen Regeln zum Rederecht, wie z. B. Zeitlimit: Befürworter und Kritiker der Zuwanderung kommen zu Wort.◗ Welche Aussage macht in diesem Gesamtzusammenhang die Karikatur in D 9?

◗ Lest die Texte D 6 – D 8 nach der Fünf-Schritt-Methode aufmerksam durch. Legt danach eine Tabelle mit zwei Spal-ten an. In die erste Spalte schreibt Ihr die Gründe, die für die Zuwanderung nach Deutschland sprechen, auf. In die zweite Spalte fügt Ihr ein, welche Probleme in den Texten angesprochen werden.◗ Macht Euch kundig über die Zahlen der Auswanderungen aus Deutschland und über die Gründe dafür.

ARBEITSAUFTRÄGE ZU D 6 – D 9

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D 9 Erwünscht? Ja, aber ...

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Urheberrecht Text
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D • Demografischer Wandel und Migration (Migrationsaspekte)

D 10 Ohne Zuwanderer und ausländische Arbeitskräfte – undenkbar!

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D 11 Ausbildung in ausländischen Betrieben

Sein eigenes handwerkliches Rüstzeug als Koch hat Nico Papageorgiou von seiner Mutter gelernt. Doch jetzt hat der gebürtige Grieche, der in Tübingen eine Weinstube betreibt und selbst nie eine Lehre absolviert hat, erstmals eine Auszubildende eingestellt. »Dana ist hoch motiviert«, lobt Papageorgiou die angehende Köchin. Schon nach wenigen Wochen schätzt er die junge Frau als »eine der besten Kräfte, die jemals hier gearbeitet hat«. Er selbst könne von ihr noch lernen. Von alleine wäre der Grieche trotzdem nicht auf die Idee gekommen, die Rumänin einzustellen. Da hat Ali Sevinc vom Caritas-Regionalverband kräftig nachgeholfen. Immer wieder machte Sevinc, der das Projekt »Abba – Aus-ländische Betriebe bilden aus« betreut, Papageorgiou den Ausbildungsplatz schmackhaft. »Man muss direkt in die Be-triebe gehen und mit den Zuständigen reden«, erklärt Sevinc sein Erfolgsrezept. Der Erfolg spricht für sich: 132 neue Ausbildungsplätze in 64 ausländischen Betrieben können die Tübinger Abba-Leute bereits vorweisen.

»Unternehmer ausländischer Herkunft kennen die Vorteile der betrieblichen Ausbildung nicht oder nur unzureichend«, weiß Wirtschaftsminister Ernst Pfi ster (FDP). In Baden-Württemberg bilden nur 3.600 von 24.000 Betrieben in ausländischem Besitz aus. Aber auch auf der anderen Seite

gibt es Nachholbedarf: Fast die Hälfte der Ausländer in der Altersgruppe von 30 bis 35 Jahren hat keine Ausbildung. »Wir können es uns nicht leisten, das Potenzial der Migran-ten nicht zu nutzen«, sagt Pfi ster.

Abba-Projekte hat die Caritas in mehreren Regionen aufge-legt. In Stuttgart kooperiert jetzt der katholische Sozialver-band mit der Industrie- und Handelskammer (IHK). »Unsere Erfahrungen zeigen, dass sich die ausländischen Betriebe um einiges schwerer tun, Lehrlinge auszubilden«, berichtet IHK-Hauptgeschäftsführer Andreas Richter. In der Region Stuttgart haben sich die Experten von IHK und Caritas das Ziel gesetzt, im laufenden Ausbildungsjahr 70 neue Lehr-stellen in ausländischen Betrieben aufzutun. Für Richter lohnen sich der Aufwand und die eingesetzten 250.000 Euro dennoch. Denn: »Wer einmal ausgebildet hat, wird es wieder tun.« Dem pfl ichtet der Neu-Ausbilder Papageorgiou aus Tübingen bei. Schon nach wenigen Wochen ist er überzeugt, dass »Dana nicht meine letzte Auszubildende sein wird«.

Heilbronner Stimme vom 30. November 2006 (Peter Reinhardt)

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D • Demografischer Wandel und Migration (Migrationsaspekte)

D 12 Zuwanderung hat viele Gesichter

Als Agu Agustian vor sieben Jahren ein Ange-bot eines führenden deutschen Unternehmens erhielt, fi el die Entscheidung, seine Doktor-arbeit in Deutschland zu schreiben, schnell. Nach seinem Studium in Indonesien hatte er sich auf Produktionsmanagement spezialisiert und in verschiedenen Projekten als Manager in der Industrie gearbeitet. Jetzt entwickelt Agustian am Fraunhofer Institut in Berlin als Forschungsingenieur Softwarelösungen für große und kleinere Unternehmen.

»Man muss Geduld im Verstehen haben«, emp-fi ehlt Agu Agustian allen, die sich mit einer fremden Kultur vertraut machen. Durch seine Lust am Zuhören hat er so viel über die deut-sche Mentalität erfahren. Deutschland ist für ihn zu einem wirklichen Zuhause geworden. Neben berufl ichen Herausforderungen in der Forschung binden ihn heute auch familiäre Gründe an Deutschland. Zuhören ist ebenso im Kreis seiner Kollegen wie auch für das Zurecht-fi nden im Alltag wichtig. Von der Forschungs-arbeit erholt sich Agustian, wenn er abends einen Blues auf seiner Gitarre zupft.

Arfasse Gamada fl oh 1979 aus politischen Gründen mit ihrer Familie aus Oromia/Äthi-opien nach Deutschland. Hier hatte sie zuvor schon durch verschiedene Stipendien sechs Jahre gelebt. Heute arbeitet die Diplom-Psy-chologin als Referentin der Heinrich-Böll-Stif-tung in Berlin.

»Für mich ist Deutschland wie ein Haus mit unterschiedlichen Räumen«, erklärt Arfasse Gamada. »In einigen Räumen fühle ich mich respektiert und herausgefordert. Dort ist inter-kulturelles Zusammenleben selbstverständlich und keine Ausnahme.« In anderen Räumen hingegen fühlen sich Menschen auf Grund ihrer Herkunft und Hautfarbe verunsichert. Diese annehmbarer und sicherer zu gestalten, hat sich Arfasse Gamada zur politischen Auf-gabe gemacht. Ihr Engagement gehört der Un-terstützung von Selbstorganisationen und der Förderung von Empowerment und Partizipa-tion von Migrantinnen und People of Colour.

Eine richtige Heimat haben die Wolgadeut-schen in Russland seit ihrer Verfolgung im Zweiten Weltkrieg nicht gefunden. Als auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs eine si-chere Zukunft für die Minderheit nicht abzu-sehen war, empfand es Alexander Reiser als »das Vernünftigste, einen anderen Platz zu fi nden«. 1996 verließ der gelernte Journalist Wladiwostok und lebt seitdem zusammen mit seiner Familie in Deutschland.

In Berlin arbeitet er als Quartiersmanager in Marzahn, einem Stadtteil, in dem viele Spät-aussiedler und Migranten leben. Mit seiner Hilfe entstehen hier kulturelle Angebote und soziale Treffpunkte. Damit erleichtert Alexan-der Reiser anderen Zuwanderern die Integra-tion, die ihm schon gelungen ist. Die Brücken zwischen seiner Vergangenheit in Russland und seinem Leben in Deutschland sind aber nicht völlig abgebrochen: Demnächst will er seiner Tochter, die »wunderbar berlinert«, Russisch beibringen und plant eine Reise nach Wladiwostok.

Deutsche Sprache und Kultur waren für Sandra Carreras durch ihr wissenschaftliches Inte-resse an deutscher Geschichtsphilosophie nicht völlig neu. Dennoch dachte die Argen-tinierin nie daran, einmal in Deutschland zu leben – bis sie ihren Mann kennen lernte, der damals als Gastdozent in Buenos Aires lehrte. Seit ihrer Ankunft 1987 in Deutschland arbei-tet Sandra Carreras an verschiedenen Univer-sitäten.

Ihre Bindung zu Deutschland ist mit den Jahren intensiver geworden: »Es gab einzelne Aha-Erlebnisse, wie zum Beispiel der Moment, in dem ich anfi ng, mich mit deutschen Proble-men zu beschäftigen.« Inzwischen hat Sandra Carreras die deutsche Staatsbürgerschaft an-genommen und kann sich kaum vorstellen, in ihre Heimat zurückzukehren. Einmal im Jahr jedoch ruft Südamerika: Dann zieht sie die Nostalgie für ein paar Wochen nach Argen-tinien.

Aus: www.zuwanderung.de (Bundesministerium des Innern)

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D • Demografischer Wandel und Migration (Migrationsaspekte)

D 13 Fit für Zuwanderung?

Deutschland braucht Zuwanderung, denn der demografi sche Wandel hält Einzug. Fakt ist: Die Bevölkerung wird immer älter. Damit geht auch die Zahl der Erwerbsfähigen zurück. Dieser Trend ließe sich unter anderem durch die verstärkte Einwanderung von Arbeitskräften abfedern. Aber ist das einstige Wirtschaftswunderland überhaupt noch attraktiv für Zuwanderer? In den 1950er Jahren stellte sich diese Frage niemand. Damals lief der Wirtschaftsmotor im jungen Nachkriegsdeutschland auf Hochtouren.

Heute nimmt die Zahl der Einwanderer von Jahr zu Jahr stetig ab. Experten sind sich einig: Nur eine geregelte Zuwande-rung von Fachkräften könnte den demografi schen Wandel zwar nicht rückgängig machen, aber zumindest abschwä-

chen. Ausländische Spezialisten und Arbeitskräfte sind aber nur zu gewinnen, wenn das Umfeld stimmt. Wirtschaftlicher Wohlstand, Erwerbsquote, Zuwanderung und Integration bilden einen Regelkreis. Vereinfacht gesagt: Eine stabile Wirtschaftslage ist Voraussetzung für die Eingliederung der Migranten ins Erwerbsleben und in die Gesellschaft. Eine gelungene Integration wirkt sich wiederum positiv auf den Standort aus. Folglich wandern mehr qualifi zierte Fachkräfte ein. Dadurch werden die Sozialsysteme gesichert, weil die Zahl der Erwerbstätigen stabil bleibt. In Zukunft werden nur wirtschaftsstarke Regionen in Deutschland für Einwanderer attraktiv sein. Darüber hinaus ist es aber auch wichtig, ein positives und weltoffenes Image, ein ausländerfreundliches Umfeld und ein attraktives Bildungssystem zu schaffen.

rigkeiten beschreiben sie? Eine großartige Ergänzung fi ndet Ihr unter www.exilclub.de. Dort erfahrt Ihr mehr über Exil, Fremdsein und Migration.◗ Ist Zuwanderung wirklich ein Mittel, die demografi sche Lücke zu schließen? Kann durch Zuwanderung der für die Zu-kunft absehbare Fachkräftemangel gedeckt werden? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein? Wertet zur Beantwortung D 13 aus.◗ Spanien boomt. Welche Aussagen zum Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Zuwanderung macht der Text D 14? Diskutiert mit diesen Ergebnissen abschließend den Themenbereich Zuwanderung auch für Deutschland.

◗ Welche Aussage macht D 10 zu den Arbeitsplätzen und den Arbeitsbedingungen von Zuwanderern? Möchtet Ihr auch einmal an einem solchen Arbeitsplatz arbeiten? Sucht noch nach weiteren Beispielen dafür, in welchen Bereichen Zuwanderer oft Arbeit fi nden.◗ Wusstet Ihr, dass seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ita-lienische Eisdielen in Deutschland existieren (in Frankreich wurde die erste Eisdiele 1660 eröffnet!)? Dadurch wurde unser Leben sicherlich bereichert. Sucht nach anderen Be-reicherungen durch zugewanderte Bevölkerungsgruppen.◗ Welche Vorteile werden in D 11 für den deutschen Aus-bildungs- und damit auch Arbeitsmarkt aufgezeigt? Findet Zahlen solcher Angebote für Eure Gemeinden.◗ Was hat die vier Interviewten in D 12 dazu bewegt, Deutschland zu ihrem Zuhause zu machen? Welche Schwie-

ARBEITSAUFTRÄGE ZU D 10 – D 14

Standortattraktivität,Migration qualifi zierter Arbeitskräfte

Erhalt der Erwerbsquote undder sozialen Sicherungssysteme

Gesellschaftliche Integrationder Migranten

Wirtschaftliche Prosperität

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D • Demografischer Wandel und Migration (Migrationsaspekte)pi

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Mai 2005: In Barcelona warten Ausländer ohne Aufent-haltsberechtigung darauf, ihre Anträge auf Bleiberecht abgeben zu können. Spanien braucht Arbeitskäfte.

D 14 Migration nach Maß: Das Wachstum macht Spanien zum Einwanderungsland

In den Parks und auf den Straßen der spanischen Städte sieht man zunehmend mehr Menschen mit indianischem Aus-sehen, welche alte Spanier im Rollstuhl begleiten oder beim Spaziergang stützen. Es sind Mestizen, die aus den süd-amerikanischen Andenstaaten Ecuador, Bolivien und Peru auf Arbeitsuche nach Spanien gekommen sind. Die Alters-fürsorge, die privatfi nanzierte wie die staatliche, ist in Spa-nien zum großen Teil den südamerikanischen Einwanderern anvertraut; ohne diese würde sie zusammenbrechen. Doch auch bei den Kellnern in den Restaurants und Cafés machen Südamerikaner etwa die Hälfte aus.

Die Hälfte der in Spanien lebenden Ausländer kommt aus dem spanischsprechenden Amerika. Gleich nach ihrer An-kunft sind sie einzusetzen in Berufen, in denen man mit den Kunden sprechen muss, und das bietet in einem Land mit vielen Millionen Touristen zahlreiche Beschäftigungen. Den Zuwanderern aus Iberoamerika fällt es auch nicht schwer, sich in Spanien zu integrieren. Die Kultur und die Lebensfor-men in ihren Heimatländern sind stark spanisch geprägt.

Vier Millionen der über 44 Millionen in Spanien lebenden Menschen sind heute Ausländer, das sind 9 Prozent der Be-völkerung. Das ist zwar nicht der höchste Ausländeranteil in den Ländern der EU, doch sind in den vergangenen beiden Jahren mehr Einwanderer nach Spanien gekommen als in jedes andere europäische Land. 2004 lag die Einwanderer-zahl in Spanien mit knapp einer Million nur wenig unter der in den USA. An der Zunahme der Einwohnerzahl innerhalb der EU ist Spanien mit 30 Prozent beteiligt, obwohl die Geburtenrate eine der niedrigsten in Europa ist.

Für die Beliebtheit als Einwanderungsland gibt es mehrere Gründe: Einmal hat Spanien mit 3 bis 4 Prozent im Jahr das höchste Wirtschaftswachstum innerhalb der EU. Die beiden wichtigsten Säulen des Wachstums – Bauwirtschaft und Fremdenverkehr – können viele nicht besonders qualifi zierte Arbeitskräfte brauchen. Zudem ist Spanien Südgrenze der EU,

damit für arme Auswanderer aus Afrika das am nächsten ge-legene Tor zu Europa. In Spanien erhalten auch illegal Zuge-reiste Zugang zur Gesundheitsfürsorge und die Möglichkeit, ihre Kinder in Schulen zu schicken. Die staatliche Gesund-heitsfürsorge ist großzügig und akzeptiert auch Kranke, die nie in die spanische Sozialversicherung eingezahlt haben.

2005 hat die Regierung die illegal in Spanien arbeitenden Ausländer legalisiert. Etwa eine dreiviertel Million Ausländer erhielten gültige Aufenthalts- und Arbeitspapiere und wurden so auch vor Ausbeutung geschützt. Die illegal in Spanien le-benden Ausländer mussten vor allem in der südspanischen Landwirtschaft häufi g zu untertarifl ichen Löhnen und unter schlimmen Bedingungen arbeiten. Sie akzeptierten das, weil sie fürchteten, denunziert und ausgewiesen zu werden. Obwohl die Zahl der Immigranten ohne Papiere zurückgegan-gen ist, sind es nach offi ziellen Statistiken noch immer eine Million. Die spanische Regierung weiß natürlich auch, dass nicht wenige der von südlich der Sahara kommenden Immig-ranten gern weiter nach Frankreich ziehen möchten. Spanien bemüht sich um Unterstützung der Europäischen Union, um die Zuwanderung aus Afrika einzuschränken. …

Mit einem sogenannten »Afrika-Plan« zur Unterstützung der westafrikanischen Länder will Spanien versuchen, es diesen Ländern zu ermöglichen, Arbeitsplätze für die zur Auswande-rung entschlossenen Menschen zu schaffen. Viele von denen kommen allerdings auf einem Weg, der bis zu zwei Jahre dauern kann, aus noch weiter südlich gelegenen Staaten nach Mauretanien und Senegal. Es sind besonders unterneh-mungsfreudige, häufi g auch gut ausgebildete Afrikaner, die das Abenteuer des Sprungs nach Europa wagen.

Spanien ist allerdings ein junges Einwanderungsland. Die Immigranten sind erst in der ersten Generation in Spanien und wollen vor allem Arbeit fi nden und Geld verdienen. Die Probleme kommen meistens erst mit der zweiten Generation. … Die Einwanderer haben in Spanien die gleichen Rechte auf Sozialleistungen wie die Einheimischen. An Quoten und Einladungen an bestimmte Berufsgruppen hat man bisher noch nicht gedacht. Die meisten Einwanderer sind in Beru-fen tätig, in denen das Angebot größer als die Nachfrage ist, und verrichten Arbeiten, um die sich die Spanier nicht gerade reißen.

Nach Umfragen glauben zwar immer noch viele Spanier, die Immigration sei eines der großen Probleme des Landes. Regierung und Wirtschaftsführer meinen hingegen, dass die Zuwanderung Spanien mehr Vor- als Nachteile bringt. Will-kommen ist auch die demografi sche Verjüngung der Bevöl-kerung; die Zuwanderer bekommen nun mal mehr Kinder als die Einheimischen. Solange Spaniens Wirtschaft weiter so schnell wächst, sind die Zuwanderer willkommen, denn sie werden gebraucht.

Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ.NET) vom 14. August 2006 (Walter Haubrich)

Politik & Unterricht • 1/2-2007

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Urheberrecht Text
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Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und Centrum für angewandte Politikforschung (Hrsg.): „Europa sind wir!“ - Methoden für die europapolitische JugendbildungBausteine, Stuttgart 2007, 88 Seiten

Wie kann Europa jugendgerecht vermittelt werden? Der vorliegende Materialienband bietet sowohl bekannte Methoden der politischen Bildungsarbeit, die speziell für das Thema Europa adaptiert wurden, als auch neue Methoden, die im Rahmen der Juniorteam - Arbeit entwickelt wurden. Insgesamt liegt mit dieser Zu-sammenstellung ein bunter Strauß von Materialien und Modellen vor. Die Methoden sind dabei so konstruiert, dass sie an aktuelle Entwicklungen angepasst und damit problemlos auch weiterentwickelt werden können.

Inhalt: 1. Warming up und Kennenlernen2. „Setting the Stage“ - Hinführung

zum Thema3. Inhaltliche Grundmodule 4. Auswertung und Reflexion5. Literatur

Kostenlos erhältlich (Einzelexemplare)per Fax 0711.164099-77, über [email protected] oderWebshop: www.lpb-bw.de/shop

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Staffl enbergstraße 38, 70184 Stuttgart Telefon 0711/164099-0, Service -66, Fax [email protected], www.lpb-bw.de

Direktor: Lothar Frick -60Referentin des Direktors: Dr. Jeannette Behringer -62Stellvertretender Direktor: Karl-Ulrich Templ -40

Stabsstelle MarketingLeiter: Werner Fichter -63Öffentlichkeitsarbeit: Joachim Lauk -64

Stabsstelle ControllingChristiane Windeck -11

Abteilung Zentraler ServiceAbteilungsleiter: Günter Georgi -10Haushalt und Organisation: Gudrun Gebauer -12Personal: Ulrike Hess -13Information und Kommunikation: Wolfgang Herterich -14

Abteilung Demokratisches EngagementAbteilungsleiter/Gedenkstättenarbeit: Konrad Pfl ug* -30Landeskunde und Landespolitik: Dr. Iris Häuser* -20Jugend und Politik: Wolfgang Berger -22Schülerwettbewerb des Landtags: Monika Greiner* -25Stefan Paller* -26Frauen und Politik: Beate Dörr/Sabine Keitel -29/-32Freiwilliges Ökologisches Jahr: Steffen Vogel* -35Anke Schütze*/Friederike Mühlherr* -36/-37Charlotte Becher* -34

Abteilung Medien und MethodenAbteilungsleiter/Neue Medien: Karl-Ulrich Templ -40Politik & Unterricht/Schriften zur politischen Landes-kunde Baden-Württembergs: Dr. Reinhold Weber -42Deutschland & Europa: Jürgen Kalb -43Der Bürger im Staat/Didaktische Reihe: Siegfried Frech -44Politische Bildung online/E-Learning: Susanne Meir -46Internet-Redaktion: Klaudia Saupe -49

Abteilung Haus auf der Alb Tagungsstätte Haus auf der Alb,Hanner Steige 1, 72574 Bad UrachTelefon 07125/152-0, Fax -100www.hausaufderalb.de

Abteilungsleiter/Natur und Kultur: Dr. Markus Hug -146Schule und Bildung: Robert Feil -139Internationale Politik und Friedenssicherung: Wolfgang Hesse -140Europa – Einheit und Vielfalt: Dr. Karlheinz Dürr -147 Bibliothek/Mediothek: Gordana Schumann -121Hausmanagement: Erika Höhne -109

* Bürositz: Paulinenstraße 44-46, 70178 Stuttgart Telefon: 0711/164099-0, Fax -55

Abteilung Regionale ArbeitRegionale ArbeitPolitische Tage für Schülerinnen und SchülerVeranstaltungen für den Schulbereich

Außenstelle Heidelberg Plöck 22, 69117 HeidelbergTelefon: 06221/6078-0, Fax -22Abteilungsleiter/Leiter: Dr. Ernst Lüdemann -14Angelika Barth -13Peter I. Trummer -17

Außenstelle FreiburgBertoldstraße 55, 79098 FreiburgTelefon: 0761/20773-0, Fax -99Leiter: Dr. Michael Wehner -77Sabina Wilhelm -33 Außenstelle TübingenHaus auf der Alb, Hanner Steige 1, 72574 Bad UrachTelefon: 07125/152-0, Fax -145 Leiter: Rolf Müller -135Klaus Deyle -134

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Bad Urach Hanner Steige 1, Telefon 07125/152-0 Montag bis Freitag 8.00–12.00 Uhr und 13.00–16.30 Uhr

Freiburg Bertoldstraße 55, Telefon 0761/20773-10 Dienstag und Donnerstag 9.00–17.00 Uhr

Heidelberg Plöck 22, Telefon 06221/6078-11 Dienstag, 9.00–15.00 Uhr Mittwoch und Donnerstag 13.00–17.00 Uhr

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Page 68: 1/2 – 2007 - Zeitschrift POLITIK UND UNTERRICHT ... · PDF fileZeitschrift für die Praxis der politischen Bildung THEMA IM FOLGEHEFT »Politik & Unterricht« wird von der Landeszentrale

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