4
58 2. Akteure und Strategien der internationalen Sicherheits- und Friedenspolitik 2.4 Beispiel Afghanistan: Ein Konflikt mit deutscher und internationaler Beteiligung Am 11. September 2001 ereigneten sich die weltweit schwersten Terroranschläge. Zwei Flugzeuge flogen in den Nord- bzw. Südturm des World Trade Centers in New York. Eine weitere Maschine beschädigte das amerikanische Verteidi- gungsministerium, das Pentagon, schwer. Ein viertes Flugzeug mit unbekanntem Anschlagsziel stürzte in der Nähe von Pittsburgh ab. Diese Anschlagsserie war vom islamistischen Terrornetzwerk El Kaida unter der Führung von Osama bin Laden geplant und durchgeführt worden. Die Anschläge forderten über 3 000 Todesopfer. Am 12. September be- schloss der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 1368. Am gleichen Tag stellte der Nordatlantikrat zum ersten und bisher einzigen Mal den Bündnisfall der NATO fest und präzisierte die Beistandspflicht am 4. Oktober 2001. Am 7. Oktober 2001 begann der amerika- nische Angriff – für die USA legitimiert durch die Resolution 1368 und den Artikel 51 der UN-Charta – auf das talibangeführte Afghanistan. Die militärische Umsetzung der Operation Enduring Freedom hatte begonnen. In der Vergangenheit hatte das Taliban-Regime islamistische Extremisten, u. a. für El Kaida, unterstützt: Afghanistan galt als Ausbildungs- und Rückzugsbasis. Im Dezember 2001 waren auch die Talibanhoch- burgen im Süden Afghanistans erobert. Am 7. November 2001 beschloss der deut- sche Bundestag mit zwei Stimmen Mehrheit den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen von „Enduring Freedom“. Nach dem Einsetzen einer afghanischen Übergangsregierung sollte ein demokra- tischer Wiederaufbau des Landes durchge- führt werden. Mit der Resolution 1386 vom 20. Dezember 2001 genehmigte der Sicher- heitsrat die ISAF (International Security As- sistance Force = Internationale Sicherheits- unterstützungsgruppe) für Afghanistan, an der u. a. auch Deutschland beteiligt ist. ISAF steht seit August 2003 auf Beschluss der UNO unter der Führung der NATO. ISAF unterteilt Afghanistan in fünf Regi- onen: In der Nordregion bildet Deutschland seit Juni 2006 die Führung. Insgesamt sind 26 ProvincialReconstruction Teams –PRT – in Afghanistan im Einsatz (Stand: 2008). Seit 2009 stellen die USA und die interna- tionale Gemeinschaft öffentlich fest, dass der Krieg in Afghanistan militärisch nicht zu gewinnen ist. Auf dem NATO-Gipfel in Lissabon 2010 sind der Abzug und die Been- digung ISAF bis 2014 auf den Weg gebracht worden. Bis zu diesem Zeitpunkt soll die Si- cherheit in den Händen primär in den Hän- den afghanischer Sicherheitskräfte liegen. Parallel laufen weitere Hilfsprogramme zur Unterstützung der afghanischen Bevölkerung. Keiner der Beteiligten zweifelt an einem weiteren, vornehmlich zivilen Engagement; im günstigsten Fall mit einem neuen UN-Mandat. Dieses Engagement ist. mindestens bis zum Jahr 2024 angedacht. Abb. 58.1: Die Bundeswehr in Afghanistan Abb. 58.2: Abzug aus Afghanistan Masar-i-Scharif seit 2006 Camp „Marmal“, logistisches Dreh- kreuz Termes (Usbekis- tan) seit 2002 Luftumschlagplatz für Truppen- versorgung Kundus 2003 - 2013 Regionales Wiederauf- bauteam Feisabad 2004 - 2012 Regionales Wiederauf- bauteam Kabul seit 2002 Teil der inter- nationalen Schutztruppe Die Bundeswehr in Afghanistan Quelle: Bundeswehr ohne zeitweilige Außenposten und Beratungsteams 19952 Kundus Kabul Feisabad Masar-i- Scharif Termes AFGHANISTAN USBEK. PAKISTAN 200 km 1 1 2 2 3 3 4 4 5 5 Ende 2014 soll die Bundeswehr ihren Kampfeinsatz in Afghanistan beenden. Rund 1 200 Fahrzeuge und 4 800 Container Material müssen zurück nach Deutschland. Das sind die wichtigsten Transportrouten: TÜRKEI LITAUEN LETTLAND RUSSLAND Umschlag- basis Trabzon Mittelmeer Atlantik Nordsee Klaipeda Masar-i-Scharif DEUTSCH- LAND AFGHANISTAN USBE- KISTAN KASACHSTAN Abzug aus Afghanistan sicherheits- relevantes Material (Waffen, bewaffnete Flugzeuge) Direktflug Landweg Türkei-Route 5 % Quelle: Bundeswehr schematische Darstellung 18869 Ausrüstung, Fahrzeuge 85 % des Materials Ausrüstung, Fahrzeuge 10 %

2. Akteure und Strategien der internationalen Sicherheits ... · 2.4 Beispiel Afghanistan: Ein Konflikt mit deutscher und internationaler Beteiligung M 1 Was wollen die Taliban? Ziel

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: 2. Akteure und Strategien der internationalen Sicherheits ... · 2.4 Beispiel Afghanistan: Ein Konflikt mit deutscher und internationaler Beteiligung M 1 Was wollen die Taliban? Ziel

MF

58

2. Akteure und Strategien der internationalen Sicherheits- und Friedenspolitik

2.4 Beispiel Afghanistan: Ein Konflikt mit deutscher und internationaler Beteiligung

Am 11. September 2001 ereigneten sich die weltweit schwersten Terroranschläge. Zwei Flugzeuge flogen in den Nord- bzw. Südturm des World Trade Centers in New York. Eine weitere Maschine beschädigte das amerikanische Verteidi-gungsministerium, das Pentagon, schwer. Ein viertes Flugzeug mit unbekanntem Anschlagsziel stürzte in der Nähe von Pittsburgh ab. Diese Anschlagsserie war vom islamistischen Terrornetzwerk ➝ El Kaida unter der Führung von Osama bin Laden geplant und durchgeführt worden. Die Anschläge forderten über 3 000 Todesopfer. Am 12. September be-schloss der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 1368. Am gleichen Tag stellte der Nordatlantikrat zum ersten und bisher einzigen Mal den Bündnisfall der NATO fest und präzisierte die Beistandspflicht am 4. Oktober 2001.

Am 7. Oktober 2001 begann der ameri ka-nische Angriff – für die USA legitimiert durch die Resolution 1368 und den Artikel 51 der UN-Charta – auf das talibangeführte Afghanistan. Die militärische Umsetzung der Operation ➝ Enduring Freedom hatte begonnen. In der Vergangenheit hatte das ➝ Taliban-Regime islamistische Extremisten, u. a. für El Kaida, unterstützt: Afghanistan galt als Ausbildungs- und Rückzugsbasis. Im Dezember 2001 waren auch die Talibanhoch-burgen im Süden Afghanistans erobert.Am 7. November 2001 beschloss der deut-sche Bundestag mit zwei Stimmen Mehrheit den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen von „Enduring Freedom“.Nach dem Einsetzen einer afghanischen Übergangsregierung sollte ein demokra-tischer Wiederaufbau des Landes durchge-führt werden. Mit der Resolution 1386 vom 20. Dezember 2001 genehmigte der Sicher-heitsrat die ISAF (International Security As-sistance Force = Internationale Sicherheits-unterstützungsgruppe) für Afghanistan, an der u. a. auch Deutschland beteiligt ist. ISAF steht seit August 2003 auf Beschluss der UNO unter der Führung der NATO. ISAF unterteilt Afghanistan in fünf Regi-onen: In der Nordregion bildet Deutschland seit Juni 2006 die Führung. Insgesamt sind 26 ProvincialReconstruction Teams –PRT – in Afghanistan im Einsatz (Stand: 2008). Seit 2009 stellen die USA und die interna-tionale Gemeinschaft öffentlich fest, dass der Krieg in Afghanistan militärisch nicht zu gewinnen ist. Auf dem NATO-Gipfel in Lissabon 2010 sind der Abzug und die Been-digung ISAF bis 2014 auf den Weg gebracht worden. Bis zu diesem Zeitpunkt soll die Si-cherheit in den Händen primär in den Hän-den afghanischer Sicherheitskräfte liegen. Parallel laufen weitere Hilfsprogramme zur Unterstützung der afghanischen Bevölkerung. Keiner der Beteiligten zweifelt an einem weiteren, vornehmlich zivilen Engagement; im günstigsten Fall mit einem neuen UN-Mandat. Dieses Engagement ist. mindestens bis zum Jahr 2024 angedacht.

Abb. 58.1: Die Bundeswehr in Afghanistan

Abb. 58.2: Abzug aus Afghanistan

Masar-i-Scharifseit 2006Camp „Marmal“,logistisches Dreh-kreuz

Termes (Usbekis-tan) seit 2002Luftumschlagplatz für Truppen-versorgung

Kundus 2003 - 2013Regionales Wiederauf-bauteam

Feisabad2004 - 2012Regionales Wiederauf-bauteam

Kabul seit 2002Teil der inter-nationalenSchutztruppe

Die Bundeswehr in Afghanistan

Quelle: Bundeswehr ohne zeitweilige Außenposten und Beratungsteams 19952

Kundus

Kabul

FeisabadMasar-i-Scharif

Termes

A F G H A N I S TA N

USBEK.

PAKISTAN

200 km

1

1

2

2

3

3

4

4

5

5

Ende 2014 soll die Bundeswehr ihren Kampfeinsatz in Afghanistan beenden. Rund 1 200 Fahrzeuge und 4 800 Container Material müssen zurück nach Deutschland. Das sind die wichtigsten Transportrouten:

TÜRKEI

LITAUEN

LETTLANDR U S S L A N D

Umschlag-basisTrabzon

Mittelmeer

Atlantik

NordseeKlaipeda

Masar-i-Scharif

DEUTSCH-LAND

AFGHANISTAN

USBE-KISTAN

KASACHSTAN

Abzug aus Afghanistan

sicherheits-relevantesMaterial (Waffen, bewaffnete Flugzeuge)

Direktflug

Landweg

Türkei-Route

5 %

Quelle: Bundeswehr schematische Darstellung 18869

Ausrüstung,Fahrzeuge

85 % des Materials

Ausrüstung,Fahrzeuge

10 %

DO01-3-12-006363_001_072_3_Auflage.indd 58 03.07.2014 17:01:34 Uhr

Page 2: 2. Akteure und Strategien der internationalen Sicherheits ... · 2.4 Beispiel Afghanistan: Ein Konflikt mit deutscher und internationaler Beteiligung M 1 Was wollen die Taliban? Ziel

59

2.4 Beispiel Afghanistan: Ein Konflikt mit deutscher und internationaler Beteiligung

M 1 Was wollen die Taliban?

Ziel der Taliban ist es bis heute, Afghanistan in einen „Got-tesstaat“ nach dem Vorbild der islamischen Frühzeit zu ver-wandeln. 1996 wurde aus der „Islamischen Republik“ das „Islamische Emirat Afghanistan“. Die Gesetze der Scharia mit abschreckenden Strafen für bestimmte Vergehen (z. B. Steini-gung bei Ehebruch) wandten die Taliban rigoros an. Verbote gegen das Rasieren, Tanzen oder Musikhören, gegen Fotopor-träts und Fernseher entsprachen einer eigenwilligen Inter-pretation der religiösen Schriften. Leidtragende dieser Politik waren vor allem Frauen: Die Taliban verbannten sie durch die Pflicht des Ganzkörperschleiers (Burka), ein generelles Arbeitsverbot für Frauen und die Schließung der Mädchen-schulen aus dem öffentlichen Leben. Allerdings war die Sit-tenstrenge der Taliban weniger von den Moralvorstellungen der Scharia als vielmehr vom Ehrbegriff des paschtunischen Verhaltenskodex (Paschtunwali) geleitet. Die Verdrängung der Frau aus dem öffentlichen Leben, die Steinigung „be-fleckter“ Frauen und die Aufnahme der Blutrache in den gül-tigen Rechtskanon entsprachen Stammesvorstellungen und liefen teilweise sogar der Auslegung der Scharia zuwider.

Conrad Schetter, Die Taliban und die Neuordnung Afghanistans. In: Wegweiser zur Geschichte. Afghanistan. Im Auftr. des MGFA hrsg. von Bernhard Chiari, Paderborn: Schöningh (3., durchges. und erw. Aufl.) 2009, S. 83 – 99, hier: S. 84 f.

M 2 Afghanistan-Konzept der Bundesregierung

Es geht um die Ent wicklung einer Strategie zur Übergabe in Verantwor tung, und zwar einer gemeinsamen internatio-nalen Strategie. Übergabe in Verantwortung – daran müssen wir alles ausrichten: die Zahl der Soldaten und Ausbil der, die Grundsätze des Einsatzes, die regionalen Zu ständigkeiten. […]

Erstens. Wir werden die Ausbildung der afghani schen Armee stark forcieren. Sie wird nicht nur wie bis her in den Camps erfolgen; nein, in Zukunft sollen un sere Soldaten gemein-sam mit ihren afghanischen Kameraden für den Schutz der Bevölkerung in der Nord region sorgen. Diese Aufgabe wird künftig im Zentrum unseres Engagements stehen. Dazu wol-len wir – natür lich vorbehaltlich der Zustimmung des Deut-schen Bun destages – 500 Soldatinnen und Soldaten zusätz-lich nach Afghanistan entsenden. Sie sind für Ausbildung, für Be gleitung, für den Schutz der Bevölkerung sowie für Füh-rungsleistungen vorgesehen. […]

Zweitens. Wir werden die Zahl der deutschen Poli zeiausbilder in unserem bilateralen Projekt in diesem Jahr von 123 auf 200 und somit deutlich erhöhen. Damit können wir bis 2012 etwa ein Drittel der neuen Kräfte ausbilden, die laut Aufwuchsplan in die afghanische Poli zei aufgenommen werden sollen. Wir werden dabei nicht nur mehr afghanische Polizisten, sondern gezielt auch afghanische Polizeitrainer ausbilden und zusätz-liche Poli zeiinfrastruktur aufbauen. Darüber hinaus werden wir auch unseren Beitrag zur Europäischen Polizeimission, EUPOL, kurzfristig erhöhen, und zwar von 45 auf 60 Polizei-experten. Von 2002 bis 2009 haben wir bereits circa 30 000

5

10

15

20

5

10

15

20

25

afghanische Polizisten aus- und fortgebil det. 30 000 von insgesamt 97 000 afghanischen Polizis ten – dieser Beitrag Deutschlands kann sich wirklich se hen lassen. Er ist in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug einzuschätzen. […]

Drittens. Die Bundesregierung plant eine Entwick lungs-offen sive mit einem Schwerpunkt in unserem Ver antwor-tungsbereich, also im Norden Afghanistans. Unser finanzielles Engagement dazu wird nahezu verdoppelt. Konkret heißt das: Vorbehaltlich der Zustimmung der Haushaltsgremien des Deutschen Bundestages werden wir bis 2013 jährlich statt heute 220 Millionen Euro 430 Millionen Euro in den zivilen Wiederaufbau inves tieren.

Damit wollen wir ganz konkrete Ziele erreichen, zum Beispiel für 3 Millionen Menschen mehr Einkommen und Beschäfti-gung schaffen. Das sind drei Viertel der Bevölkerung in den Schwerpunktprovinzen unseres Ver antwortungsbereichs. Wir werden mit diesen Mitteln weitere Straßen bauen – insge-samt 700 Kilometer –, die ganzjährig befahrbar sind. Wir werden neue Lehrer aus bilden. Und wir werden zusätzlich 500 000 Schülern ei nen Schulbesuch ermöglichen. Das heißt nichts anderes, als dass statt heute 25 Prozent der Kinder zukünftig 60 Prozent der Kinder Zugang zu Schulen haben wer den. […]

Viertens. Deutschland beabsichtigt, für den neuen in-ternationalen Reintegrationsfonds jährlich 10 Millionen Euro für die kommenden fünf Jahre, also insgesamt 50 Mil-lionen Euro, zur Verfügung zu stellen. Dafür müs sen natür-lich die Voraussetzungen stimmen. Die Risiken eines solchen Fonds liegen ohne jeden Zweifel auf der Hand, aber ebenso die Chancen. Denn wenn es uns ge lingt, mit einem solchen Integrationsfonds mehr Kräfte in Afghanistan zu erreichen, die die Verfassung als Grundlage des politischen Handelns akzeptieren, und re gierungsfeindliche Kämpfer zu motivie-ren, die Waffen niederzulegen und die Gesetze zu respektie-ren, dann können wir auf diesem Wege Anreize geben, damit diese Menschen auch am Aufbau des Landes mitwirken. […]

Fünftens. (Es) müssen ganz konkrete Ziele ver einbart werden, damit wir gemeinsam mit der afghani schen Regierung präzise überprüfen können, wie weit wir auf dem Weg zu Sicherheit und Stabilität vorange kommen sind. Dazu gehört vor allem eine klare Verabre dung, welchen Umfang die afghanischen Sicherheits kräfte […] erreichen sollen. Wir gehen von insge-samt gut 300 000 Sicherheitskräften aus; […]

Wir haben keine Illusionen hinsichtlich bestimmter Demo-kratievorstellungen nach unseren Kriterien. Solche Vorstel-lungen wären angesichts der Geschichte und Tra dition des Landes wohl auch vermessen. Dennoch müs sen wir Min-destanforderungen an die Effizienz und die Legitimität der Institutionen stellen. […]

Regierungserklärung zum Afghanistan-Konzept der Bundes-regierung von Bundeskanzlerin Merkel vom 28. Januar 2010, http://www.bundesregierung.de/ContentArchiv/DE/Archiv17/Regierungserklaerung/2010/2010-01-28-merkel-erklaerung-afghanistan.html vom 16. Juni 2014

30

35

40

45

50

55

60

65

70

75

DO01-3-12-006363_001_072_3_Auflage.indd 59 03.07.2014 17:01:34 Uhr

Page 3: 2. Akteure und Strategien der internationalen Sicherheits ... · 2.4 Beispiel Afghanistan: Ein Konflikt mit deutscher und internationaler Beteiligung M 1 Was wollen die Taliban? Ziel

MF

60

2. Akteure und Strategien der internationalen Sicherheits- und Friedenspolitik

M 3 Warum nicht einfach Frieden schließen?

Die afghanische Regierung und die Internationale Gemein-schaft sehen sich nicht einem flächendeckend strukturierten, abgestimmt operierenden Gegner, sondern vielmehr einer Vielzahl sich permanent verändernder Interessengruppen ge-genüber. Diese umfassen vielfältige soziale und (schatten-)wirtschaftliche Strukturen, Milieus und Akteure, die zeit-weise und punktuell gemeinsame Interessen verfolgen, um sich wenig später gegenseitig zu bekämpfen.Versucht man die gewaltbereite Opposition zu strukturieren, so speist sich der Widerstand aus zwei Bereichen. […] Hinter den „illegalen Parallelstrukturen“, die in Afghanistan selbst Regierung und staatliche Verwaltung durchdringen, stehen Akteure wie Stammes- und Klanchefs oder Dorfälteste. Für ihre Klientel garantieren sie Sicherheit und ökonomisches Überleben. […] Die Tätigkeit der Machthaber vollzieht sich zum Teil abseits legaler Sicherheits-, Verwaltungs- und Re-gierungsstrukturen. Neben der Nachhaltigkeit traditioneller Verhältnisse wirkt sich hier auch die Zerstörung der ohnehin schwach ausgeprägten Staatlichkeit in den Jahren der sow-jetischen Besatzung und des Bürgerkriegs aus: Ihre Macht-stellung haben die „power brokers“ oft schon zu sowjetischen Zeiten als Mudschaheddin im Kampf erworben.Der Reichtum lokaler Machthaber und damit ihre Fähigkeit, den eigenen Einflussbereich durch die Vergabe materieller Vergünstigungen und den Einsatz bewaffneter Gewalt nach außen wie innen zu sichern, basiert nach westlichem Ver-ständnis überwiegend auf illegalen Machenschaften. Insbe-sondere in den Hochburgen von Mohnanbau und Opiumpro-duktion steht die Drogenwirtschaft im Vordergrund. Andere Felder der Organisierten Kriminalität wie Schmuggel und Waffenhandel treten hinzu. […] Die vergleichsweise niedrigen Gehälter innerhalb der staatli-chen Behörden begünstigen die weitverbreitete Bestechung. Nicht selten üben stark kompromittierte Lokalpotentaten parallel zu ihren Geschäften selbst staatliche Ämter aus. Ein Beispiel für die schwer zu durchschauenden Verbindungen zwischen den OMF, der Organisierten Kriminalität und loka-len bzw. regionalen „power brokern“ ist der RC North, wo häufig politisch motivierte Anschläge nicht von der in vielen Bereichen vorhandenen Alltagskriminalität zu unterscheiden sind. […] Stören internationale Kräfte das Umfeld lokaler Machthaber und gefährden damit deren Stellung und Verdienstmöglich-keiten, können oberflächliche Freundlichkeit und Akzeptanz jederzeit in offene Ablehnung bis hin zu gewaltsamen An-griffen umschlagen. Auch die massenhafte Rückkehr von Flüchtlingen stellt ein Problem dar. Seit 2001 kamen insge-samt weit mehr als fünf Millionen Menschen in ihre ange-stammte Heimat zurück – etwa 45 Prozent ließen sich in den städtischen Zentren Kabul und Nangarhar nieder –, die heute etwa 20 Prozent der afghanischen Gesamtbevölkerung aus-machen. […]Der Sammelbegriff für die zweite große Fraktion des Wi-derstandes, die OMF, umfasst seit dem Ende der Taliban-Herrschaft 2001 alle Gruppen, die mit asymmetrischen und terroristischen Methoden bis hin zu offenen militärischen Angriffen gegen die Zentralregierung vorgehen. Westliche Einflüsse in Afghanistan lehnen sie ab. Sie verfolgen das Ziel, einen Staat zu errichten, der auf den Gesetzen des Islams

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

55

basiert. Motivlage und Zusammensetzung sind jedoch selbst innerhalb einzelner Gruppierungen vielschichtig. Neben re-ligiöse oder ideologische Überzeugungen treten positive Anreize wie Einfluss oder Geld, aber auch Zwangsmittel wie Druck und Einschüchterung. Eine trennscharfe Unterschei-dung zwischen OMF und den bereits dargestellten „illegalen Parallelstrukturen“ ist häufig nicht möglich. […]Neben religiöser Überzeugung fördern die meist desolate wirtschaftliche und soziale Situation der Flüchtlinge, aber auch Verpflichtungen gegenüber Familie und Stamm oder persönliche Rachemotive den Zulauf. […] Den militanten Wi-derstand dominieren die Taliban (Singular talib, eigentlich Koranschüler in der Ausbildung zum Mullah), die Afghanistan zwischen 1996 und 2001 mittels radikal-islamischer Gesetze beherrschten und heute erneut zu einer wichtigen Kraft vor allem im Süden und Osten des Landes geworden sind. […]Die aktuelle Aufstandsbewegung umfasst zum einen Anhän-ger des alten Taliban-Regimes. Zahlenmäßig weit stärker sind zum anderen Personen vertreten, welche die Gotteskrieger weniger aus religiösen und politischen, sondern eher aus wirtschaftlichen Gründen oder aus einer allgemein anti-westlichen Haltung heraus unterstützen. Finanzielle Zuwen-dungen islamistischer Kreise aus der ganzen Welt sowie die landesüblichen Einnahmen aus Mohnanbau und Drogenhan-del ermöglichen den Taliban Waffenkäufe, die großzü gige Besoldung von Kämpfern und auch die Einflussnahme im innerafghanischen Machtpoker.

Bernhard Chiari, Grenz¸berschreitende Sicherheit? ISAF, Afgha-nistan und Pakistan. In: Wegweiser zur Geschichte. Auslands-einsätze der Bundeswehr. Im Auftr. des MGFA hrsg. von Bernhard Chiari und Magnus Pahl, Paderborn: Schöningh 2010, S. 133 –151, hier: S. 137 ff.

M 4 Konzept gescheitert?

Eine brisante Studie des US-Senats stellt die gesamte Afgha-nistan-Strategie der Regierung Obama in Frage: Milliarden Dollar versickern, der Erfolg bleibt aus, die Zahlen sind alar-mierend. Selbst Parteifreunde des Präsidenten sprechen vor einer brandgefährlichen „Kriegs-Ökonomie“.Die Afghanistan-Strategie von USA und Nato, mittels mas-siver Wirtschaftshilfe den Rückhalt für die Taliban-Rebellen zu brechen und am Hindukusch ein befriedetes Land auf-zubauen, droht zu scheitern. „Unsicherheit, bittere Armut, schwache einheimische Kapazitäten und weit verbreitete Korruption“ blockierten vielerorts den Einsatz westlicher Hil-fe, heißt es in einem Report, den Mitarbeiter des Auswärtigen Ausschusses des US-Senats nach zweijähriger Recherche am Mittwoch in Washington veröffentlichten.Die Analyse erscheint zu einem heiklen Zeitpunkt: Noch in diesem Monat will Präsident Barack Obama entscheiden, wie viele Tausend der derzeit 100 000 US-Soldaten demnächst heimkehren sollen.Die Senatsstudie stellt im Kern die gesamte US-Strategie der Aufstandsbekämpfung in Frage, die die Obama-Regierung seit 2009 verfolgt. Demnach sollen US-Soldaten nach der Eroberung afghanischer Dörfer sofort mit dem Aufbau von Hilfsprojekten beginnen und so die Zivilbevölkerung mit konkreten Fortschritten beeindrucken. Dazu verfügen Of-fiziere der US-Armee, Diplomaten des State Departments sowie Entwicklungsexperten der Hilfsbehörde USAID über

60

65

70

75

80

85

5

10

15

20

25

DO01-3-12-006363_001_072_3_Auflage.indd 60 03.07.2014 17:01:34 Uhr

Page 4: 2. Akteure und Strategien der internationalen Sicherheits ... · 2.4 Beispiel Afghanistan: Ein Konflikt mit deutscher und internationaler Beteiligung M 1 Was wollen die Taliban? Ziel

61

üppig ausgestattete Fonds. Jeden Monat stehen den US-Hel-fern 320 Millionen Dollar zur Verfügung, von 2002 bis 2010 flossen 18,8 Milliarden Dollar ziviler US-Aufbaumittel nach Afghanistan.In der Praxis, so der Report, versickere ein Großteil der Mittel. Viele Projekte seien zu kurzfristig angelegt, die von außen strömende „Flutwelle von Geld“ würde die lokalen Gemein-schaften überfordern. Häufig fließe die Hilfe in Vorhaben, die nach Rückzug der US-Soldaten schnell aufgegeben würden, weil der afghanische Staat nicht in der Lage sei, die Neuin-vestitionen zu verwalten. […]

Christian Wernecke: Report enthüllt gescheiterte US-Politik am Hindukusch, in: Süddeutsche Zeitung vom 8.6.2011

M 5 Afghanistaneinsatz der Bundeswehr: Teurer Fehlschlag?

55 gefallene Soldaten, tausende Verletzte, davon rund 2 500 Traumatisierte und geschätzte Kosten von rund zwölf Milli-arden Euro: Hat sich der Ende dieses Jahres zu Ende gehende Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan gelohnt? „Das Glas ist zu 51 Prozent voll, zu 49 Prozent leer“, sagt Brigadegeneral a. D. Johann Berger. […] Er weiß, wovon er spricht: Berger war mehrere Monate lang Kommandeur der Deutsch-Fran-zösischen Gruppe in Rajlovac beim SFOR-Einsatz in Bosnien und Herzegowina, danach Kommandeur der Infanterieschule in Hammelburg und bis November 2013 Kommandeur des Landeskommandos Bayern.

Die Ziele wurden nicht erreicht[…]. Heute räumt Berger ein, dass es nicht gelungen sei, die angestrebten demokratischen Strukturen zu schaffen, was in dem „brutal-patriarchalischen Land mit einem korrupten Re-gierungssystem“ von Anfang an illusorisch gewesen sei.Demgegenüber stehe aber, dass während der Herrschaft der Taliban gerade einmal 650 000 ausschließlich männliche Af-ghanis Zugang zu Bildungsmöglichkeiten hatten, während heute 7,3 Millionen junge Menschen, darunter 3,5 Millionen Frauen, zur Schule gehen und studieren könnten. „Wenn diese in die Gesellschaft Afghanistans hineinwachsen, könnte es zu deutlichen strukturellen Änderungen kommen“, sagte Berger. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“.

30

35

5

10

15

20

Ob die Afghanistan-Mission nun ein Erfolg war oder nicht, ist selbst unter Militärexperten heftig umstritten. Bereits vor zweieinhalb Jahren hat der ehemalige Bundeswehr-Gene-ralinspekteur Harald Kujat den deutschen Militäreinsatz am Hindukusch als vergeblich bezeichnet. Der Einsatz Deutschlands habe zwar den politischen Zweck, Solidarität mit den Vereinigten Staaten zu zeigen, erfüllt. Wenn man aber das Ziel zum Maßstab nehme, ein Land und eine Region zu stabilisieren, „dann ist dieser Einsatz geschei-tert“, so Kujat. Seine Befürchtung: „Wenn wir Ende 2014 aus Afghanistan raus sind, dann werden die Taliban die Macht binnen weniger Monate wieder übernehmen“.[…]Beim Versuch, heuer im Frühjahr eine Bilanz des Afghanistan-Einsatzes zu ziehen, kamen die Fraktionen des Bundestages zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Während der Vorsit-zende der Linksfraktion, Gregor Gysi, von einem „Desaster“ sprach, betonte Bundesaußenminister Frank-Walter Stein-meier (SPD), dass Afghanistan nicht mehr die „Ausbildungs-zentrale des islamischen Terrors“ sei. Damit habe man schon viel erreicht. Gleichzeitig gebe es Verbesserungen bei der Gesundheitsversorgung, der Bildung, der Stromversorgung und der Infrastruktur. Das müsse vor allem von den Afgha-nen selbst für die Zukunft gesichert werden. Deutschland sei bereit, zu helfen, dafür müssten die Sicherheitsrahmenbedin-gungen aber gegeben sein.

Für die Taliban kalkulierbarBerger zeigte sich skeptisch, dass dies klappt. „Ob der ange-kündigte Rückzug aus politischen Gründen Ende 2014 richtig ist, darf bezweifelt werden“, sagte er. Mit der Nennung eines genauen Abzugsdatums sei man für die Taliban kalkulier-bar geworden. „Alle Nachhutoperationen der vergangenen 2000 Jahre sind desaströs gescheitert“, sagte er. Das könne auch der Bundeswehr passieren, wenn sie wie geplant mit kleinen Nachfolgekontingent im Land bleibt. Experten sind sich einig: Solange die Regierung korrupt ist, die Warlords nicht entwaffnet sind und kein funktionierendes staatliches Gewaltmonopol besteht, wird Afghanistan alleine keine Zu-kunft haben.

Fritz Winter: Afghanistan-Einsatz: Teurer Fehlschlag?, Mittelbaye-rische Zeitung vom 14. Juni 2014

25

30

35

40

45

50

55

60

2.4 Beispiel Afghanistan: Ein Konflikt mit deutscher und internationaler Beteiligung

A R B E I T S A U F T R AG Konfliktanalyse

Konfliktparteien: Wer sind die Konfliktparteien?•

Konfliktursache: Was ist die Ursache des Konflikts und worin besteht der Konflikt?•

Konfliktinteressen: Welche Interessen und Inhalte (Ziele) werden von den jeweiligen Konfliktparteien verfolgt?•

Konfliktargumente: Welche Argumente und Begründungen bringen die Konfliktparteien vor?•

Mittel zur Durchsetzung: Welche Mittel haben die Konfliktparteien zur Durchsetzung ihrer Interessen?•

(Kompromiss-)Lösung: Besteht die Möglichkeit eines Kompromisses? Welche Ziele sind unabänderlich, welche Abstriche •bei den eigenen Zielen sind möglich?

Internationale Organisationen: Können internationale Organisationen helfen den Konflikt zu entschärfen •(z. B. durch Diplomatie, Sanktionsbeschlüsse, militärisches Eingreifen)?

Reflektion: Was folgt aus der Bearbeitung dieses politischen Konflikts für mein eigenes Verhalten und •meine Persönlichkeit?

DO01-3-12-006363_001_072_3_Auflage.indd 61 03.07.2014 17:01:34 Uhr