2013 02 Bericht Der Gesundheitskommission

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  • Heinrich-Bll-Stiftung Die grne politische Stiftung

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    Wie geht es uns morgen? Wege zu mehr Effizienz, Qualitt und Humanitt in einem solidarischen

    Gesundheitswesen

    Bericht der Fachkommission fr Gesundheitspolitik der Heinrich-Bll-Stiftung

    Berlin, Februar 2013

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    Impressum Herausgeberin: Heinrich-Bll-Stiftung

    V.i.S.d.P.: Annette Maennel

    Erscheinungsort: www.boell.de

    Erscheinungsdatum: 11. Februar 2013

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    Inhalt

    Vorwort 5

    1 (Fehl-) Anreize im deutschen Gesundheitssystem 9

    2 Zentrale Ansatzpunkte fr vernderte Anreizstrukturen:

    Wie erreichen wir eine Rahmensetzung, die den Gesundheitsnutzen belohnt? 13

    2.1 Der Gesundheitsfonds mit dem morbidittsorientierten Risikostrukturausgleich

    die zentrale Verteilungsstelle fr 190 Milliarden Euro in 2013 14

    2.2 Ergebnisse statt Versprechungen

    Qualittstransparenz von Versorgenden und Krankenkassen bzw. Versicherungen 15

    2.3 Krankenkassen im Wettbewerb untereinander

    fairen Wettbewerb um die besten Versorgungsergebnisse ermglichen 19

    2.4 Gesundheitsnetze knpfen ber regionale Versorgung und regionale Verantwortung 21

    2.5 Gesundheitsnutzen belohnen Vergtungssysteme ethisch weiterentwickeln 25

    2.6 Versicherten- und Patientenvertretung strken Vernderungsanstze fr die

    Selbstverwaltung der Krankenkassen und die Gemeinsame Selbstverwaltung 27

    2.7 Abschied vom Kapitnsprinzip Gesundheitsversorgung im Team 30

    2.8 Verbesserte Integration der Sozialversicherungssysteme 35

    Die Mitglieder der Fachkommission Gesundheitspolitik der Heinrich-Bll-Stiftung 37

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  • 5

    Vorwort

    Seit der zweiten Hlfte der 1970er Jahre wird die Gesundheitspolitik in Deutschland vom Ziel

    der Ausgabenbegrenzung dominiert. Seitdem gehren befristete Sparmanahmen genauso

    zum stndigen gesundheitspolitischen Instrumentarium wie die Regulierung der Zahl der

    Leistungserbringenden und die jhrlichen Ausgabengrenzen, die sich an der Entwicklung der

    beitragspflichtigen Einknfte orientieren. Um Anreize fr die Leistungserbringenden und

    Krankenkassen zu schaffen, sich aus eigenem Interesse an den Sparzielen zu orientieren,

    wurden ab den 1990er Jahren verstrkt wettbewerbliche Steuerungsformen in das System

    integriert. Am umfangreichsten im Krankenhaus- und Arzneimittelbereich. Auch diese vor-

    rangig mit dem Ziel, vorhandene Wirtschaftlichkeitsreserven zu erschlieen und so Ausga-

    ben zu begrenzen.

    Diese hohe Aufmerksamkeit fr die Kostenseite des Gesundheitssystems hat gute Grnde.

    Auch in einem solidarischen Gesundheitssystem, das den Zugang aller Brgerinnen und

    Brger zur notwendigen Gesundheitsversorgung gewhrleisten soll, sind die Ressourcen

    begrenzt. Zeit, Geld und Wissen, die fr die Behandlung des einen Patienten oder der ande-

    ren Patientin im berma investiert werden, knnen bei der Behandlung anderer, vielleicht

    schwerer erkrankter Patienten fehlen. Und auch die Auswirkungen auf andere gesellschaftli-

    che Bereiche sind zu beachten: So kann Geld, das in die Gesundheitsversorgung fliet, bei

    der Finanzierung anderer wichtiger gesellschaftlicher Aufgaben fehlen. Die Gesellschaft

    muss daher ausreichende Ressourcen fr eine gute gesundheitliche Versorgung aufbrin-

    gen und gleichzeitig die konomisch effiziente Verwendung der zur Verfgung stehenden

    Mittel organisieren.

    Bei diesem Bemhen wurden von der Gesundheitspolitik aber andere wichtige gesundheits-

    politische Ziele vernachlssigt. Das renommierte Institute fr Healthcare Improvement (IHI)

    in den USA geht davon aus, dass sich eine nachhaltige Gesundheitspolitik drei miteinander

    eng verbundenen Zieldimensionen (Triple Aim) stellen muss: (1) der Senkung der erforder-

    lichen Versorgungsausgaben pro Kopf, (2) der Verbesserung der Versorgung und (3) der

    Verbesserung der Gesundheit der Bevlkerung.

    Blickt man auf die deutsche Gesundheitspolitik der letzten Jahrzehnte, so lsst sich resmie-

    ren: Die Verbesserung der Versorgung durch die Weiterentwicklung der Versorgungsstruktu-

    ren war bis in die zweite Hlfte der 1990er Jahre berhaupt kein Thema. Zwar sind seitdem

    neue Versorgungsformen auch auf die gesundheitspolitische Tagesordnung geraten, doch

    spielen diese in der gesundheitspolitischen Auseinandersetzung und in der Gesetzgebung

    nach wie vor nur eine Nebenrolle. Insbesondere von der allseits als dringend notwendig er-

  • 6

    achteten strkeren Integration der Versorgungssektoren sind wir in den meisten Regionen

    und Leistungsbereichen noch meilenweit entfernt. Darber hinaus ist auch die Qualittssi-

    cherung der sogenannten Regelversorgung in einer tiefen Krise. Substantielle Verbesserun-

    gen der Patientensicherheit und der Qualittstransparenz finden trotz bekannter schwerwie-

    gender Defizite viel zu wenig statt. Und die Auseinandersetzung mit den physischen, psychi-

    schen, sozialen und kologischen Voraussetzungen von Gesundheit und Krankheit werden

    in den Gesundheitswissenschaften zwar seit ber zwanzig Jahren intensiv thematisiert, doch

    in der praktischen Politik hat dieser integrative Ansatz auerhalb von einigen Leuchtturmpro-

    jekten und Bevlkerungskampagnen nur wenig Beachtung gefunden.

    Die Gesundheitspolitik hat sich mit der Ausgabenbegrenzung zu sehr nur auf eine Seite des

    Zieldreiecks konzentriert. Der Kostenanstieg konnte durch wiederholte Sparpakete und Aus-

    gabenobergrenzen sowie durch die strkere Belastung der Versicherten zwar verlangsamt

    werden, die einseitige Anlage der Politik hat aber zu erheblichen Fehlanreizen gefhrt, die

    sogar die Erreichung des Kostenbegrenzungsziels selbst gefhrden. So sind fr die Leis-

    tungserbringenden zustzliche Anreize entstanden, die Menge der erbrachten Leistungen zu

    steigern bzw. sich Einnahmen jenseits der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu er-

    obern. Und zwar auch dann, wenn damit kein zustzlicher Gesundheitsnutzen verbunden ist

    oder sogar Gefahren fr die Patientinnen und Patienten entstehen knnen.

    Kreatives Codieren, um mglichst hohe Vergtungen und Risikozuschlge auszulsen, er-

    weist sich fr die Leistungserbringenden und auch fr die Krankenkassen oft wichtiger als

    zeitaufwndige Patientengesprche und genaues Diagnostizieren. Die Versicherten fhlen

    sich zunehmend in einem System verloren, in dem die Politik auf die von ihr selbst verur-

    sachten Fehlanreize mit immer neuen Gegenregulierungen antwortet. Um diese Interventi-

    onsspirale zu beenden und bessere Ergebnisse im Sinne der Patientinnen und Patienten zu

    erzielen, wre es aber wichtig gewesen, neben den Kosten auch die beiden anderen Zieldi-

    mensionen des Triple Aim auf die Agenda zu setzen: Verbesserungen bei Versorgungs-

    strukturen und -qualitt durch vernderte Anreizsysteme und Steuerungsinstrumente sowie

    mehr Gesundheit fr alle durch eine engagierte Prventions- und Public-Health-Politik. Re-

    formschritte in diese Richtungen aber sind weitgehend ausgeblieben bzw. zu kurz geraten.

    Ein Reformversagen, dessen negative Auswirkungen sich durch die begrenswerte Verln-

    gerung der Lebenserwartung bei gleichzeitiger Verringerung der jngeren Altersgruppen wei-

    ter zuspitzen werden.

    Dieses ist der Hintergrund, vor dem die Heinrich-Bll-Stiftung zu Beginn des letzten Jahres

    eine gesundheitspolitische Kommission eingerichtet hat. Bei der Zusammenstellung der Mit-

    glieder wurde auf einen breiten Erfahrungshorizont Wert gelegt. So wurde darauf geachtet,

    dass sich zivilgesellschaftliches mit gesundheitswissenschaftlichem Know-how verband,

  • 7

    dass sich gesundheitskonomisches Wissen mit rztlich-heilkundlichem, psychotherapeuti-

    schem, pflegerischem und pharmazeutischem Wissen ergnzte und dass Erfahrungen aus

    Patientenvertretungen, der Selbsthilfe, der Prvention und Gesundheitsfrderung und der

    Selbstverwaltung von Krankenkassen mit dem konkreten Handeln von Praxen, Medizini-

    schen Versorgungszentren, Krankenhusern, Integrierten Systemen, Krankenkassen und

    Serviceeinrichtungen und dem von Kammern und Verbnden komplettiert wurden.

    Wie muss das Gesundheitssystem gestaltet werden, welche Anreize sind erforderlich, damit

    Versorgungseinrichtungen, Krankenkassen und auch Versicherte dazu bewegt werden, sich

    aus eigenem Antrieb am Nutzen fr die Versicherten und an Gesundheitszielen auszurich-

    ten? Wie kann ein Gesundheitssystem aussehen, das aus sich selbst heraus mehr Gesund-

    heitseffizienz hervorbringt? Welche Reformschritte sind dafr von Seiten der Gesundheitspo-

    litik vor dem Hintergrund der bestehenden Strukturen erforderlich?

    Das waren die Ausgangsfragen, die uns die Heinrich-Bll-Stiftung gestellt hat. Bei der Arbeit

    an diesen Fragen haben wir uns zwar mit etlichen Themen auseinandergesetzt. Trotzdem

    knnen wir nicht den Anspruch erheben, ein umfassendes Reformprogramm entwickelt zu

    haben. Wir hoffen allerdings, einige Anste fr die Diskussion im begonnenen Wahljahr und

    die Gesundheitspolitik der nchsten Jahre geben zu knnen, damit die Angehrigen der

    Gesundheitsberufe konomische, rechtliche und strukturelle Rahmenbedingungen erhalten,

    die sie in ihren ethischen Einstellungen bei der gesundheitlichen Frsorge fr die Menschen

    untersttzen und nicht behindern.

    Die Kommission hat im Rahmen ihres Arbeitsprozesses eine Vielzahl von Gesprchen ge-

    fhrt und durch diese wichtige Anregungen erhalten. Besonders bedanken wir uns bei:

    - Stefan Grf (Kassenrztliche Bundesvereinigung),

    - Dr. Matthias Gruhl (Behrde fr Gesundheit und Verbraucherschutz Hamburg),

    - Prof. Dr. Petra Kolip (Universitt Bielefeld),

    - Dr. Karl-Heinz Schnbach (AOK-Bundesverband),

    - Prof. Dr. Michael Simon (Hochschule Hannover, Lehrgebiet Gesundheitssystem und

    Gesundheitspolitik),

    - Dr. Dominik Graf von Stillfried (Zentralinstitut fr die kassenrztliche Versorgung in

    Deutschland),

    - Dr. Christoph Straub (Barmer GEK),

    - Prof. Dr. Jrgen Windeler (Institut fr Qualitt und Wirtschaftlichkeit im Gesundheits-

    wesen).

  • 8

    Darber hinaus hat die Kommission eine Online-Befragung zu Anreizen und Fehlanreizen im

    deutschen Gesundheitswesen durchgefhrt. Die eingegangenen Antworten, z.T. auch in

    Briefen an die Stiftung, lieferten der Kommission u.a. viele aufschlussreiche Fallbeispiele fr

    Fehlanreize und ihre Auswirkungen. Gleichzeitig konnte sie sich vieler Vorschlge fr Vern-

    derungen bedienen. Insgesamt beteiligten sich 267 Personen aus den verschiedensten Be-

    reichen des Gesundheitswesens sowie aus der Politik und der Wissenschaft an der Befra-

    gung. Auch bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser Befragung mchte sich die

    Kommission herzlich bedanken.

    Und unser groer Dank gilt nicht zuletzt Luzia Leifert von der Heinrich-Bll-Stiftung, die mit

    groem Engagement fr die organisatorische Begleitung der Kommission gesorgt hat.

    Alle Mitglieder der Kommission haben sich im Sinne des o.g. Auftrags an der intensiv gefhr-

    ten Diskussion beteiligt und ihre Erfahrungen und Vorschlge eingebracht. Die folgenden

    Diskussionsergebnisse sind vielfach einstimmig zustande gekommen, z.T. zeigen sie aber

    auch Mehrheitspositionen der Kommission. Einzelne Aspekte tragen einzelne Mitglieder nur

    zum Teil mit, bzw. sie haben ihre Vorbehalte und Kritik deutlich gemacht. Die redaktionelle

    Letztverantwortung wurde in die Hnde der beiden Co-Vorsitzenden Andreas Brandhorst

    und Helmut Hildebrandt gelegt.

    Mit dem Abschlussbericht und der Tagung Wie geht es uns morgen? Wege zu mehr Effizi-

    enz, Qualitt und Humanitt in einem solidarischen Gesundheitswesen am 11. Februar

    2013 wollen die Stiftung und die Kommission einen Diskussionsprozess anstoen. Daher

    freuen wir uns ber Stellungnahmen, Einladungen zu Diskussionen und eine intensive ffent-

    liche Debatte.

    Berlin, im Februar 2013

    Andreas Brandhorst, Helmut Hildebrandt, Ulrike Hauffe, Dr. Bernd Kppl, Dr. Ilona Kster-

    Steinebach, Prof. Dr. Andrea Morgner-Miehlke, Manfred Rompf, Dr. Almut Satrapa-Schill,

    Prof. Dr. Jonas Schreygg, Peter Sellin, Dr. Johannes Thormhlen, Dr. Christina Tophoven

    und Prof. Dr. Jrgen Wasem

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    1 (Fehl-) Anreize im deutschen Gesundheitssystem

    In dem von starken Selbstverwaltungsstrukturen geprgten deutschen Gesundheitssystem

    knnen allenfalls kurzfristig wirkende Kostendmpfungsmanahmen von oben vorgegeben

    werden. Vernderungen in den Versorgungsstrukturen und Steuerungsanstzen, die nach-

    haltige Wirkungen auf die Gesundheitseffizienz und ffentliche Gesundheit haben sollen,

    brauchen den Sachverstand und die Zustimmung der Beteiligten.

    Eine zielgerichtete politische Steuerung muss in einem solchen System vor allem ber An-

    reize und das Setzen von Rahmenbedingungen erfolgen. Dabei sind angesichts der wirt-

    schaftlichen Bedeutung des Gesundheitssystems die richtigen finanziellen Anreize fr die

    Gesundheitsberufe, Versorgungseinrichtungen und Kostentrger besonders wichtig.

    Aber die finanziellen Anreize sind vielfach falsch gesetzt. Sie sind nicht an den Gesundheits-

    nutzen fr die Patientinnen und Patienten sowie die Versicherten gekoppelt. Stattdessen wir-

    ken sie viel zu hufig in die genau entgegengesetzte Richtung: die Produktion von mglichst

    vielen medizinischen Interventionen, die wiederum neuen Behandlungsbedarf induzieren

    knnen. Andere Anreize wiederum wirken in Richtung einer Vorenthaltung von Leistungen,

    ohne Bezug auf Qualittsaspekte. In aller Regel sind Vergtungen zudem sektoren- bzw. be-

    rufsgruppenspezifisch auf die jeweiligen Betriebsformen der Anbietenden (Praxis, Pflege-

    dienst, Krankenhaus usw.) ausgerichtet. Folgerichtig werden die Akteurinnen und Akteure

    dazu verfhrt, sich auf ihren jeweiligen Versorgungsbeitrag zu begrenzen. Die Vergtungs-

    systeme spiegeln die fragmentierten Strukturen. Die Logik dieses Systems verhindert inte-

    grierte, abgestimmte Versorgung. Die Patientinnen und Patienten werden hufig damit al-

    leingelassen, Versorgungsbrche zwischen den Sektoren zu berwinden.

    Viele der Probleme des Gesundheitswesens, auf der einen Seite inflationre Pathologi-

    sierung und unntige Eingriffe, auf der anderen Seite Verweigerungen von ntzlichen Leis-

    tungen und Versorgungsdefizite bei einzelnen Indikationen, sind nicht den Gesundheitsberu-

    fen und -einrichtungen anzulasten. Tatschlich werden sie in ein falsch justiertes Anreiz-

    system gepresst. Das gilt fr Krankenhuser genauso wie fr niedergelassene rztinnen und

    rzte, Psychotherapeutinnen und -therapeuten, Pflegedienste und auch die Krankenkassen.

    Viel zu oft gilt: Das Gesundheitssystem und seine Rahmenbedingungen sind zu wenig am

    Gesundheitsnutzen der Patientinnen und Patienten sowie der Versicherten orientiert. Belohnt

    werden allzu hufig stattdessen diejenigen, die viel diagnostizieren und therapieren oder, wie

    es fr Krankenkassen dann hufig eher gilt, die kurzfristig sparen und die daraus mglicher-

    weise entstehenden Risiken billigend in Kauf nehmen. Das ist schlecht fr die Patientinnen

  • 10

    und Patienten, entspricht nicht unserem Bild von Menschenwrde und guter Behandlungs-

    qualitt und fhrt berdies zu einem ineffizienten Einsatz knapper Ressourcen.

    Diese Fehlanreize haben zu der Unzufriedenheit beigetragen, die viele Beschftigte im

    Gesundheitswesen ergriffen hat. Aus ihren Reihen wird hufig eine konomisierung des

    Gesundheitswesens beklagt. Sie wrden dazu gezwungen, sich immer strker betriebswirt-

    schaftlichen Kalklen zu unterwerfen.

    Dieser Kritik lassen sich gute Argumente entgegen halten: Dass sich auch im Gesundheits-

    wesen die Regeln der konomie nicht auer Kraft setzen lassen, hatten wir bereits begrn-

    det. Und auch die Verbindung von Gesundheitsversorgung und konomischen Interessen ist

    grundstzlich nicht verwerflich. Schlielich sind in Deutschland fast fnf Millionen Menschen

    im Gesundheitswesen erwerbsttig. Alle diese Menschen verbinden mit ihrer Ttigkeit

    selbstverstndlich auch konomische Interessen.

    Trotzdem ist die Klage ber die konomisierung des Gesundheitswesens alles andere als

    unbegrndet. In ihr uert sich das Unbehagen, dass das Berufsethos und die eigentliche

    Berufsmotivation der Gesundheitsberufe und ihre berechtigten Einkommensinteressen unter

    den derzeitigen Rahmenbedingungen nicht zusammenpassen; dass sie zwar wirtschaftlichen

    Erfolg haben knnen, diesen aber allzu oft nur um den Preis, Leistungen ohne Rcksicht auf

    den Nutzen an ihren Patientinnen und Patienten zu generieren: durch die Verordnung zu vie-

    ler und berflssiger Diagnoseleistungen, durch den Verkauf medizinisch fragwrdiger indi-

    vidueller Gesundheitsleistungen, durch die Bevorzugung lukrativer Privatpatientinnen und -

    patienten, durch die Durchfhrung von mglichst umfangreichen Behandlungen teilweise oh-

    ne ausreichende medizinische Indikation.

    In der Klage ber die konomisierung materialisiert sich die Unzufriedenheit mit einem

    Gesundheitssystem, das von den in der Versorgung Ttigen verlangt, sich zwischen ihrem

    Selbstverstndnis als Ausbende eines Heilberufs, ihren eigenen konomischen Interessen

    und ihrer Systemverantwortung zu entscheiden. Es geht hier um ein System, das nicht den

    Gesundheitsnutzen erbrachter Leistungen hier verstanden als den verbesserten Gesund-

    heitsstatus, die hhere Selbstmanagementfhigkeit, die erfahrene Empathie und die fr die

    Patientinnen und Patienten entwickelte zustzliche Lebensqualitt , sondern die bloe

    Durchfhrung von Leistungsziffern belohnt.

    Fehlanreize wirken nicht nur fr die in der Versorgung Ttigen, sondern auch fr die Kran-

    kenkassen. Trotz morbidittsorientiertem Risikostrukturausgleichs gibt es fr diese immer

    noch starke Anreize zur Risikoselektion. Deutlich wurde dies zuletzt in der Affre um eine

    Krankenkasse, die ihren Angestellten trickreiche Verfahrensanleitungen fr Beratungsge-

    sprche an die Hand gab, um zusatzbeitragssumige Mitglieder, bei denen die Kosten vo-

  • 11

    raussichtlich die Einnahmen bersteigen, zum Wechsel in eine andere Krankenkasse zu

    berreden.

    Tatschlich sind diese publizierten Flle, ob Beratungsgesprche oder die Verweigerung

    von notwendigen Hilfsmitteln fr die Teilhabe am sozialen Leben, nur Auswchse eines

    grundlegenden strukturellen Problems. Fr die ffentlichkeit viel weniger sichtbar ist das ver-

    tragliche Verhalten vieler Krankenkassen gegenber Verbnden, Kassenrztlichen Vereini-

    gungen und anderen oder auch Entscheidungen im Gemeinsamen Bundesausschuss, wenn

    kurzfristige wirtschaftliche Erwgungen mehr Wettbewerbsvorteile bieten als eine Ausrich-

    tung auf die Schaffung von hherem Gesundheitsnutzen, mehr Behandlungseffizienz und die

    Frderung der Gesundheit ihrer Versicherten.

    Fehlanreize gibt es auch auf Seiten der Versicherten und der Patientinnen und Patienten.

    Sie haben es mit einem hoch fragmentierten Gesundheitsmarkt zu tun, auf dem es kaum

    wissenschaftlich gesicherte und unabhngige Informationsangebote ber die Qualitt von

    Anbietern und Krankenkassen gibt. Von Hilfen fr solche Bevlkerungsgruppen, die Schwie-

    rigkeiten mit der Beschaffung und Verarbeitung von Informationen haben, und einer geziel-

    ten Bildungsoffensive fr ein besseres Wissen um Gesundheit und Krankheit ganz zu

    schweigen. Auswahlentscheidungen fr bestimmte Anbieter oder Krankenkassen fallen da-

    her oft eher zufllig oder nach Kriterien, die mit der zu erwartenden Versorgungsqualitt we-

    nig zu tun haben. Darber hinaus wirken Patientinnen und Patienten als Nachfragende sel-

    ber auch mit und stellen ihrerseits Anforderungen, die nicht immer qualitts- und ergebnis-

    frdernd sind, sondern mitunter Fehlanreize bei Krankenkassen und Leistungsanbietenden

    mit dem Ergebnis bermiger bzw. undifferenzierter Leistungsausweitung produzieren. Da-

    bei darf aber nicht bersehen werden, dass Patientinnen und Patienten nicht selten auf Ver-

    sprechungen der anderen reagieren, die ihnen suggerieren, dass die Inanspruchnahme von

    mglichst vielen oder den neuesten Behandlungsmethoden fr sie besonders vorteilhaft sei.

    Die Auswirkungen dieser Fehlanreize knnen nicht allein durch Appelle an das Berufsethos

    der Gesundheitsberufe, die Systemverantwortung der Krankenkassen oder die Einsicht der

    Versicherten behoben werden. Denn sptestens mittelfristig luft die Ethik zu oft Gefahr, der

    konomie zu unterliegen. Eine konsequente Orientierung am Gesundheitsnutzen der Versi-

    cherten und damit der Qualitt ist deshalb dauerhaft und zuverlssig erst dann gewhrleistet,

    wenn diese von den Leistungserbringenden und den Krankenkassen nicht verlangt, ihre wirt-

    schaftlichen Interessen zu verleugnen. Das bedeutet umgekehrt, dass der Beitrag der Leis-

    tungserbringenden bei der Schaffung von Gesundheitsnutzen nicht nur transparent sein

    (was leistet wer wie gut), sondern auch direkt mit den konomischen Anreizen verknpft

    werden muss.

  • 12

    Die Gesundheitspolitik steht deshalb in der Verantwortung, die Leistungserbringenden und

    die Krankenkassen in einen Regulierungsrahmen zu stellen, der Gesundheitsnutzen frdert

    und wirtschaftliche Anreize aus den oben beschriebenen Fehlentwicklungen verringert.

    Das Ziel muss lauten: Wettbewerb und konomie mssen die gute = gesundheitsnutzenstif-

    tende Leistung belohnen. Also: Wert statt Menge, Value statt Volume.

    Mit dieser Ausrichtung drckt die Kommission schon implizit die von ihr bevorzugte Interven-

    tionsphilosophie aus. Sie favorisiert nicht den Abschied aus dem Wettbewerb und etwa die

    Vereinheitlichung bzw. Verstaatlichung der Krankenkassen und des Gesundheitssystems mit

    dem dadurch zu befrchtenden Bevormundungspotential und der Gefahr des Machtmiss-

    brauchs, sondern hlt an den positiven Elementen eines freiheitlichen Wettbewerbs fest sie

    will aber einen auf gute Versorgung fokussierten Wettbewerb. Sie sieht auch wenig Nutzen

    in einer berbordenden Entwicklung von Kontrollapparaten, die im Nachhinein Fehlentwick-

    lungen bestrafen sollen. Quantitative und qualitative Mindest- und Maximalvorgaben sowie

    die Aufsicht ber ihre Einhaltung sind fr die Vorhaltung der notwendigen Versorgung viel-

    fach unabdingbar. Doch eine gute Versorgung braucht mehr als ein dichtes Regelwerk.

    Das Leitbild der Kommission ist deshalb das der verantwortlichen und an Gesundheitszielen

    orientierten Steuerung eines Marktgeschehens ber Anreize und die Setzung eines Ord-

    nungsrahmens, in der die Verfolgung einzelwirtschaftlicher Interessen und eine effiziente

    Versorgung der Bevlkerung nicht zu Zielkonflikten bei allen Beteiligten fhren.

    Das Ziel ist insofern die optimale Selbststeuerung von freien Individuen und freien Unter-

    nehmen, die sich aber selbst auch schon kurzfristig schaden wrden, wenn sie diese Freiheit

    zulasten ihrer Patientinnen und Patienten oder Versicherten missbrauchen. Was wir daher

    brauchen, ist eine grundstzlich vernderte Anreizstruktur. Der optimale Gesundheitszustand

    der Versicherten muss auch zur konomischen Zielgre im Gesundheitswesen werden.

  • 13

    2 Zentrale Ansatzpunkte fr vernderte Anreizstrukturen: Wie erreichen wir eine Rahmensetzung, die den Gesundheitsnutzen belohnt?

    Angesichts der Bedeutung des Gesundheitswesens als Berufsfeld und Wirtschaftsbereich ist

    die Ausgestaltung der finanziellen Anreize besonders wichtig. Starke Impulse fr eine strke-

    re Ausrichtung des Gesundheitswesens auf den Gesundheitsnutzen knnen aber auch von

    solchen Rahmenbedingungen ausgehen, die strker auf die Betriebsformen der Leistungs-

    erbringung, das professionelle Selbstverstndnis der Gesundheitsberufe oder die kollektive

    Interessenvertretung der Versicherten abheben. Fr zentral halten wir in diesem Zusam-

    menhang die folgenden Bereiche:

    den Gesundheitsfonds mit dem morbidittsorientierten Risikostrukturausgleich als zentrale Verteilungsstelle fr die Finanzmittel, die ber die GKV in das Gesundheits-

    wesen flieen (2.1);

    die Anforderungen an die Qualittstransparenz sowohl auf der Seite der Anbieter als auch auf der der Krankenkassen und der Versicherungen (2.2);

    die Ausgestaltung des Wettbewerbsrahmens, innerhalb dessen die Kassen miteinan-der um die bessere Versorgung konkurrieren (2.3);

    die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen fr kooperative Versorgungs-formen (2.4);

    die Ausgestaltung der Vergtungssysteme im ambulanten und stationren Bereich (2.5);

    die Weiterentwicklung der Selbstverwaltung der Krankenkassen und die Strkung der Interessenvertretung der Patientinnen und Patienten (2.6);

    das professionelle Selbstbild der Gesundheitsberufe und die Aufgabenverteilung zwi-schen ihnen (2.7);

    die verbesserte Integration der Sozialversicherungssysteme, insbesondere der Kran-ken- und der Pflegeversicherung (2.8).

  • 14

    2.1 Der Gesundheitsfonds mit dem morbidittsorientierten Risikostrukturausgleich die zentrale Verteilungsstelle fr 190 Milliarden Euro in 2013 Aus dem Gesundheitsfonds erhalten die Krankenkassen fr ihre Versicherten eine Grund-

    pauschale in Hhe der durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben. Diese erhht bzw. verringert

    sich durch Zu- bzw. Abschlge zum Ausgleich des nach Alter, Geschlecht und Krankheit un-

    terschiedlichen Versorgungsbedarfs. Das heit, Krankenkassen mit krnkeren Versicherten

    bekommen mehr Geld als die mit gesunden.

    Dieser morbidittsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) soll gewhrleisten, dass

    die Krankenkassen ihr Augenmerk auf die Qualitt und Wirtschaftlichkeit der von ihnen fi-

    nanzierten Gesundheitsversorgung richten und nicht auf die Optimierung der Zusammen-

    setzung ihrer Versichertenschaft.

    Allerdings ist die Zielgenauigkeit dieser Regelungen immer noch unzureichend. Schon vor

    zwei Jahren hat der Wissenschaftliche Beirat des Bundesversicherungsamts (BVA) darauf

    hingewiesen, dass die Zuweisungen fr junge und gesunde Versicherte deutlich ber deren

    durchschnittlichen Versorgungsausgaben liegen wrden. Dagegen komme es bei lteren

    Versicherten zu deutlichen Unterdeckungen.

    Die entstehenden Fehlanreize sind offensichtlich. Fr viele Krankenkassen ist es nach wie

    vor lohnender, sich durch entsprechende Werbemanahmen auf die Gewinnung gesunder

    Versicherter zu konzentrieren, als in Versorgungsangebote mit hoher Gesundheitseffizienz

    zu investieren.

    Denkbar sind Fehlanreize auch mit Blick auf die Prventionsaktivitten der Krankenkassen

    (v.a. Sekundrprvention und Rehabilitation). Die Ausgestaltung des Morbi-RSA (Geld fr

    Krankheit) knnte negative Auswirkungen auf die Bereitschaft der Krankenkassen haben,

    Prventionsmanahmen zu finanzieren. Bisher hat der Wissenschaftliche Beirat beim BVA

    dafr aber noch keine Hinweise finden knnen.

    Reformperspektive

    Der Morbi-RSA ist so anzupassen, dass die Mglichkeiten der Kassen im Prventions-, Ver-

    sorgungs- und Vertragsmanagement z.B. in der Suche nach den richtigen Vertragspart-

    nern , berschsse zu erzielen, hher sind als in der gezielten Selektion der Versicherten.

    Gleichzeitig soll eine Anpassung des Morbi-RSA geprft werden, mit der Krankenkassen an-

    geregt werden, gezielt in Regionen mit schwcherer sozialer Struktur, z.B. auch in grostd-

    tischen Teilbereichen, und in Regionen mit geringerer Versorgungssicherheit Versicherte zu

  • 15

    gewinnen und in ihrer Gesundheit zu investieren. Krankenkassen sollen damit ein Interesse

    an der Erhaltung der Versorgung in solchen Regionen erhalten.

    Handlungsempfehlungen

    Der Morbi-RSA ist von Fehlanreizen zu bereinigen, die zu Wettbewerbsverzerrungen zwi-

    schen den Krankenkassen fhren (u.a. bessere Bercksichtigung der Versorgungskosten fr

    Sterbende, Bercksichtigung der Alters- und Geschlechtsstruktur bei Kostenerstattung, Be-

    rcksichtigung der Hhe der Grundlhne und bessere Bercksichtigung der Morbiditt bei

    den Zuweisungen fr das Krankengeld):

    Um ein Versorgungsinteresse in Regionen mit schwcherem sozialem Milieu zu un-tersttzen, ist die Ergnzung der Ausgleichskriterien um einen regionalen Sozial-

    Indikator zu erwgen. Dafr spricht, dass sich die Krankheitsbewltigungskosten je

    nach sozialem Milieu unterscheiden. Zudem sind rztliche ber- und Unterversor-

    gung eng mit der sozialen Situation einer Region verbunden. Fehlanreize fr Kran-

    kenkassen, in solchen Regionen ihr Engagement zu reduzieren, sind deshalb auszu-

    gleichen. Zu bercksichtigen ist aber der methodische Aufwand, der mit einem sol-

    chen zustzlichen Indikator verbunden sein knnte.

    Die Auswirkungen des Morbi-RSA auf die Prventionsbereitschaft der Krankenkas-sen sind im Auge zu behalten. Anstze, die neben dem Gesundheitszustand auch

    seine Verbesserung in die Zuweisungslogik des RSA einbeziehen, sind zu prfen. Mit

    der Einfhrung eines Forschungs- und Entwicklungsbudgets in den Gesundheits-

    fonds und der darin vorgesehenen Ermglichung von Antragstellungen regionaler

    Gesundheitsunternehmen und Anbieterstrukturen fr gesundheitsfrderliche Aktivit-

    ten in den Regionen hat die Kommission einen gewissen Ausgleich schon vorge-

    schlagen (s. Kapitel 2.4.).

    2.2 Ergebnisse statt Versprechungen Qualittstransparenz von Versorgenden und Krankenkassen bzw. Versicherungen Das Gesundheitssystem ist auch ein Wirtschaftszweig. Auf der Anbieterseite reichen die Be-

    triebs- und Unternehmensformen von international aufgestellten Pharmafirmen, Herstellern

    von Medizinprodukten, Krankenhusern in unterschiedlicher Gre und Trgerschaft, Apo-

    theken, groen investitionsintensiven rztlichen Praxen die mittelstndischen Unterneh-

    men nahekommen bis hin zu Praxen von Hausrztinnen und -rzten bzw. Psycho-

  • 16

    therapeutinnen und -therapeuten oder ambulanten Pflegediensten. Preise bzw. Vergtungen

    beeinflussen das Verhalten aller mageblich direkt und indirekt.

    Soll die bessere und erfolgreichere Versorgung fr die Akteure belohnt werden, mssen Pa-

    tientinnen und Patienten diese Akteure bevorzugen knnen. Dies knnen sie aber nur, wenn

    sie auch erkennen knnen, welche Leistungserbringenden bzw. Gemeinschaften von Leis-

    tungserbringenden besser und erfolgreicher sind als andere. Dazu brauchen sie Qualitts-

    merkmale, die dieses messen knnen, z.B. inwieweit die Einhaltung von Mindeststandards

    gewhrleistet bzw. bertroffen wird und welche Erfolge ber die Zeit erreicht werden.

    So, wie die jeweils gewhlten Preis- und Vergtungskonzepte Einfluss auf die Anbieter ha-

    ben, beeinflussen die Finanzierungsmechanismen auf der Versicherungsseite das Verhalten

    der Krankenkassen im Wettbewerb. Krankenkassen haben den gesetzlichen Auftrag, sich

    als Treuhnder ihrer Versicherten zu verstehen. Aber sie sind frei, sich mehr oder weniger

    stark fr bessere Versorgung zu engagieren. Sie knnen ber Zustze zum Kollektivvertrag

    wie auch ber Selektivvertrge ihren Versicherten eine spezifische Versorgung anbieten, die

    besondere Qualitts-, Gesundheitsnutzen- wie aber auch Wirtschaftlichkeitsmerkmale erfllt.

    Auch hier ist blindes Vertrauen der Versicherten nicht empfehlenswert. Krankenkassen sind

    Unternehmen im Wettbewerb, die trotz der Ausgleichsmechanismen des morbidittsorientier-

    ten Risikostrukturausgleichs mit Blick auf ihre konomische Bilanz Unterschiede zwischen

    Patienten- bzw. Versichertengruppen machen. Die Art ihrer Vertragsgestaltung und die von

    ihnen gezahlten Vergtungen sind immer auch ein Instrument der Unternehmenspolitik, und

    Widersprche zwischen Qualitts- und Wirtschaftlichkeitszielen sind jedenfalls bei kurzfristi-

    ger Perspektive an der Tagesordnung.

    Fr mehr Gesundheitseffizienz ist eine zuverlssige Qualittsmessung auf beiden Ebenen,

    der der Leistungserbringenden und der der Krankenkassen, unabdingbar. Doch diese ist in

    Deutschland noch unterentwickelt. Gemessen wird, wenn berhaupt, vor allem die Prozess-

    und Strukturqualitt. Wichtig fr die Patientinnen und Patienten ist aber die Ergebnisqualitt

    ber mittelfristige Zeitrume. Diese wird im Krankenhausbereich fr einige ausgewhlte me-

    dizinische Eingriffe mittlerweile zwar in Anstzen erhoben. Doch selbst hier gibt es groe

    methodische Probleme die Krankenhuser mssen nur 80 Prozent aller Flle erfassen, der

    Verwaltungsaufwand ist hoch, und es wird bisher nur das Ausbleiben von Komplikationen,

    nicht aber das Erzielen von Gesundheitsnutzen erfasst ; auerdem fehlt es an Transpa-

    renz. Im ambulanten Sektor gibt es noch weniger verlssliche Daten zur Ergebnisqualitt.

    Die Entwicklung von einrichtungsbergreifenden Qualittsindikatoren fr ambulante Leistun-

    gen steht noch am Anfang.

  • 17

    Zudem findet die Qualittssicherung noch immer nach Sektoren getrennt statt. Die Qualitt

    und das Ergebnis von sektorenbergreifenden Behandlungsprozessen werden nicht erfasst.

    Der Fokus liegt auf der Akutversorgung andere Bereiche werden gar nicht oder nur unzu-

    reichend bercksichtigt.

    Bisher werden die Krankenkassen nicht daran gemessen, wie gut sie es schaffen, die Ge-

    sundheit ihrer Versicherten zu erhalten bzw. zu verbessern. Die gngigen Krankenkassen-

    vergleiche heben vor allem auf den Service und die Satzungsleistungen sowie auf finanzielle

    Vorteile ab, die eine Kasse bietet. Doch Zuschsse fr den Besuch von Fitness-Studios oder

    die Kostenbernahme fr Naturheilmittel dienen mglicherweise mehr dazu, gesunde Versi-

    cherte anzuziehen als die Gesundheitseffizienz zu verbessern. Wenn wir Krankenkassen

    dabei untersttzen wollen, sich um die Ergebnisqualitt der von ihnen verantworteten Ver-

    sorgung zu bemhen, sie also dazu anhalten wollen, Vertrge mit den erfolgreichsten Leis-

    tungserbringenden abzuschlieen (und nicht mit den preiswertesten) und jene Leistungen

    besonders zu empfehlen, mit denen sich die Gesundheit der Patientinnen und Patienten mit

    den grten Erfolgsaussichten verbessern lsst, dann mssen wir den Versicherten auch die

    Informationen liefern, Krankenkassen auch bzgl. der erreichten Optimierung der Versorgung

    zu beurteilen. Das heit, wir brauchen einen Indikator fr die Versorgungsqualitt und ihre -

    ergebnisse.

    Reformperspektive

    Um die Versorgung, die Vergtung, den Abschluss von Vertrgen und den Kassenwettbe-

    werb strker am Gesundheitsnutzen auszurichten und den Versicherten gezielte Wahlent-

    scheidungen zwischen Leistungserbringenden und Krankenkassen zu ermglichen, ist Quali-

    ttstransparenz unabdingbar. Relevante Qualittsmerkmale fr die Entscheidungen sind

    aber nur vereinzelt und in fr Versicherte schwer zugnglicher Form verfgbar. Es fehlt ein

    systematischer Ansatz, der die fr Versicherte relevanten Qualittsmerkmale definiert, an-

    gemessene Informationsformate und Kommunikationswege beschreibt und die entsprechen-

    den Berichtspflichten fr Leistungserbringende und Versicherungen zur Marktzugangsvo-

    raussetzung macht.

    Zentraler Punkt sind Indikatoren zur Abbildung der Ergebnisqualitt. Denn die ist fr die Ver-

    sicherten entscheidend. Fr ihre Messung ist vorrangig auf Routinedaten der Krankenkassen

    zurckzugreifen, die im Zuge der Leistungsabrechnung ohnehin erhoben werden, so dass

    zustzlicher Verwaltungsaufwand vermieden werden kann. Sie knnen und mssen unter-

    sttzt werden durch Befragungen der Patientinnen und Patienten, die Prferenzen deutlich

    machen und ihre Erfahrung der Versorgungsqualitt mit einbeziehen. Um die Qualitt von

  • 18

    Versorgungsprozessen, Integrationsvertrgen und regionalen Versorgungssystemen bewer-

    ten zu knnen, muss neben der einrichtungsbezogenen Qualittsmessung auch eine sekto-

    renbergreifende Qualittsbewertung erfolgen. Durch die Beschreibung der Gesamtversor-

    gung in einer Region werden zudem Qualittsvergleiche zwischen unterschiedlichen Regio-

    nen mglich.

    Die Kommission ist sich der Komplexitt dieser Transparenzaufgabe bewusst und wei auch

    um die Begrenztheit mancher Vergleiche, insbesondere durch die Notwendigkeit entspre-

    chend hoher Fallzahlen fr eine entsprechende Validitt. Sie wei auch um die Herausforde-

    rung von Adjustierungen, um negative Selektionsanreize solcher ffentlicher Vergleiche zu

    vermeiden. Der Kommission ist auch klar, dass sich nicht alle Patientinnen und Patienten

    immer und in jeder Situation intensiv mit den Qualittsergebnissen befassen knnen, bevor

    sie Leistungserbringende in Anspruch nehmen. Versicherte haben einen Anspruch darauf,

    von der Gesellschaft ein Gesundheitssystem zur Verfgung gestellt zu bekommen, dass ih-

    nen ein hohes Ma an Sicherheit gibt. Deshalb muss das Thema Ergebnisqualitt in alle

    Vertragsformen und die Grundlagen des Gesundheitssystems aufgenommen werden.

    Um auch den Kassenwettbewerb zu einem Qualittswettbewerb zu machen, muss auf einer

    hher aggregierten Ebene auch die Gesundheitseffizienz von Krankenkassen und Kranken-

    versicherungen sichtbar werden. Versicherte sollen sich schnell und unkompliziert darber

    informieren knnen, in welcher Kasse sie die besten Gesundheitsergebnisse erwarten kn-

    nen. Leistungserbringende mssen ihrerseits ein Recht auf die Ergebnisdaten erhalten, da-

    mit sie ihr Verhalten individuell wie im Zusammenwirken mit anderen besser an Qualittskri-

    terien ausrichten knnen.

    Handlungsempfehlungen

    Versicherte erhalten einen gesetzlichen Anspruch auf die fr qualittsorientierte Entschei-

    dungen notwendigen Informationen (open data). Die Mindestinhalte der Informationen so-

    wie die dafr von Krankenkassen und Leistungserbringenden zu erfllenden Berichtspflich-

    ten werden durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) definiert. Der G-BA wird bei

    seiner Arbeit durch ein unabhngiges Institut nach dem organisatorischen Vorbild des Insti-

    tuts fr Qualitt und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) untersttzt. Das Institut

    definiert den Mindestumfang der den Versicherten zugnglichen Informationen auf der Versi-

    cherungs- und Versorgungsseite und entwickelt ein Konzept zur nutzungsfreundlichen Be-

    reitstellung dieser Informationen. Das Institut wird durch einen multiprofessionell zusammen-

    gesetzten Beirat begleitet. Der G-BA erlsst auf dieser Basis eine Richtlinie. Die Erfllung

  • 19

    der in dieser Richtlinie dokumentierten Berichtspflichten wird nach einer bergangszeit zur

    Marktzugangsvoraussetzung fr Krankenversicherungen und Leistungserbringenden.

    Das Bundesgesundheitsministerium erteilt dem Sachverstndigenrat fr das Gesundheitswesen den Auftrag, ein Konzept und den Wettbewerbsrahmen fr eine

    vergleichende Darstellung der Versorgungsqualitt der Krankenkassen und Kranken-

    versicherungen zu entwickeln. Diese erfolgt durch eine auf die Ausgangsmorbiditt

    adjustierte Erhebung und Berichterstattung der relativen Vernderung der Gesund-

    heitsergebnisse der Krankenkassen. Die wissenschaftlichen Gesellschaften und das

    Deutsche Netzwerk fr Versorgungsforschung werden dazu befragt. Das Ziel ist ein

    Indikator fr die relative Verbesserung des Gesundheitsergebnisses als Zusatzinfor-

    mation fr Versicherte bei der Wahl ihrer Krankenkasse. Die jhrlichen Berichtspflich-

    ten der Krankenkassen und Krankenversicherungen werden diesbezglich erweitert.

    Um auch Bevlkerungsgruppen, die wenig auf internetbasierte Informationsangebote zurckgreifen, zu erreichen, werden die kostenfreien, niedrigschwelligen und unab-

    hngigen Beratungsangebote fr Versicherte ausgebaut.

    Die Versorgungsforschung wird gestrkt und zustzlich zu den Ausschreibungen des BMBF auch aus einem Forschungs- und Entwicklungsbudget aus Mitteln des

    Gesundheitsfonds finanziert (vgl. Kapitel 2.4). In diesem Zusammenhang ist u.a. der

    Zugang der Versorgungsforschenden zu den notwendigen Datenbestnden bei den

    Krankenkassen, dem Bundesversicherungsamt (BVA) und beim Deutschen Institut

    fr medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) inkl. regionaler Kennzeich-

    nung zur Beforschung regionaler Unterschiede zu gewhrleisten.

    Die -Reprsentanz der Versicherten in den Krankenkassen wird durch eine Reform der Selbstverwaltung gestrkt (s. Kapitel 2.6).

    2.3 Krankenkassen im Wettbewerb untereinander fairen Wettbewerb um die bes-ten Versorgungsergebnisse ermglichen

    Der zwischen den Krankenkassen und -versicherern anzustrebende Qualittswettbewerb

    setzt voraus, dass fr sie gleiche Wettbewerbsbedingungen gelten und dass sie die

    Gesundheitseffizienz ihres jeweiligen Leistungsangebots auch steuern knnen. Diese Vo-

    raussetzungen sind derzeit aber nicht ausreichend gegeben. Zu groen Wettbewerbsverzer-

    rungen kommt es zwischen gesetzlichen Krankenkassen und privaten Krankenversiche-

    rungsunternehmen (PKV). So findet innerhalb der GKV u.a. eine Umverteilung zwischen

  • 20

    Versicherten mit einem hheren und Versicherten mit einem geringen Einkommen statt. Der

    Gesetzgeber offeriert bisher aber einem Teil der Bevlkerung die Wahlmglichkeit, sich aus

    dieser Umverteilung zu lsen, indem sie sich in der PKV versichern knnen (oder zum Teil

    faktisch mssen), die nach einem anderen System ihre Beitrge kalkuliert. Fr Gutverdie-

    nende, die keine schweren Vorerkrankungen aufweisen und keine oder nur wenige Kinder

    haben, ist der Versicherungsschutz in der PKV deshalb kostengnstiger als der in der GKV.

    Und zwar vllig unabhngig von der Wirtschaftlichkeit des jeweiligen Krankenversicherers.

    Aber auch innerhalb der GKV kommt es zu Wettbewerbsverzerrungen: Die aus Konstrukti-

    onsmngeln des morbidittsorientierten Risikostrukturausgleichs entstehenden Fehlanreize

    wurden bereits erwhnt. Zu Wettbewerbsbehinderungen fhren kann auch der anhaltende

    Konzentrationsprozess unter den Krankenkassen. Eine Krankenkasse, die mehr als 40 Pro-

    zent der Versicherten in einer Region versichert, kann sowohl bei Leistungserbringenden als

    auch bei Dritten eine monopolistische Rente einholen, die anderen Kassen verwehrt ist. Und

    problematisch ist auch die Zersplitterung der Aufsichtszustndigkeiten. Bundesweite Kran-

    kenkassen sind dem Bundesversicherungsamt unterstellt, whrend Kassen, die in nicht mehr

    als drei Bundeslndern ttig sind, der Aufsicht des Bundeslandes unterstehen, in der sie ih-

    ren Hauptsitz haben. Das betrifft z.B. die Landes-AOKen. Dagegen unterliegen private

    Krankenversicherungsunternehmen der Aufsicht der Bundesanstalt fr Finanzdienstleis-

    tungsaufsicht (BaFin). Die zwischen GKV und PKV unterschiedlichen aufsichtsrechtlichen

    Regelungen und die in der GKV auseinandergehende Aufsichtspraxis der diversen Behrden

    fhren zu unterschiedlichen Wettbewerbsmglichkeiten. Von einem Wettbewerb mit gleich

    langen Spieen kann daher keine Rede sein.

    Und mehr Qualittswettbewerb fordert natrlich auch, dass die Krankenkassen und -

    versicherer die notwendigen Vertragsfreiheiten erhalten, um Leistungserbringenden nach ih-

    rer Versorgungseffizienz auswhlen und ihren Versicherten anbieten zu knnen. Das ist bis-

    her aber im Fall der GKV aufgrund ihrer umfassenden Kontrahierungsverpflichtungen ge-

    genber Kassenrztlichen Vereinigungen und Krankenhusern nur eingeschrnkt der Fall.

    Reformperspektive

    Die Zweiteilung des Krankenversicherungssystems in GKV und PKV fhrt zu schweren

    Fehlanreizen. Anzustreben ist ein integriertes Krankenversicherungssystem, in welchem

    Krankenversicherer ggf. unterschiedlicher Rechtsformen unter gleichen Wettbewerbsbedin-

    gungen miteinander um die besten Gesundheitsergebnisse konkurrieren. Dazu mssen sie

    sich nicht im Leistungskatalog, aber in der Art der von ihnen angebotenen Leistungserbrin-

    gung unterscheiden knnen.

  • 21

    Handlungsempfehlungen

    Die Bundesregierung legt im Anschluss an die nchsten Bundestagswahlen einen Fahrplan fr die Zusammenfhrung von GKV und PKV zu einem integrierten Krank-

    enversicherungssystem vor. Dieser umfasst u.a. Vorschlge zur Angleichung der

    Vergtungssysteme zwischen GKV und PKV sowie zu steuer- und vertragsrechtli-

    chen Gleichbehandlung aller Krankenversicherer.

    Die Regelungen und Zustndigkeiten fr die Aufsicht ber die Krankenversicherer werden neu geordnet und vereinheitlicht. Die Finanzaufsicht fr alle Krankenversiche-

    rer sollte knftig durch das Bundesversicherungsamt, die Versorgungsaufsicht durch

    die Bundeslnder auf der Grundlage bundeseinheitlicher Rahmenvorgaben erfolgen.

    Die Spielrume der Krankenkassen im Vertragsgeschehen werden ausgeweitet (vgl. dazu die Vorschlge in den Kap. 2.4 , 2.5 und 2.7).

    Die Bundesregierung wird verpflichtet, die Auswirkungen der Reichweite der Geltung wettbewerbsrechtlicher Regelungen bei den Beziehungen der Krankenkassen unter-

    einander, zu den Leistungserbringenden und zu ihren Versicherten in regelmigen

    Abstnden zu prfen und darber ffentlich Bericht zu erstatten. Dabei ist ein beson-

    deres Augenmerk auf mgliche Abstimmungs- und Abgrenzungsprobleme zwischen

    Wettbewerbs- und Sozialrecht bzw. zwischen den jeweils zustndigen Gerichten und

    Aufsichtsbehrden zu legen.

    2.4 Gesundheitsnetze knpfen ber regionale Versorgung und regionale Verant-wortung

    Der demografische Wandel, regionale Disparitten sowie die Zunahme an chronischen Er-

    krankungen lassen den Bedarf an der Integration und Koordination der Gesundheitsversor-

    gung steil ansteigen. Doch gerade hier liegt die zentrale Schwche des deutschen Gesund-

    heitssystems. Die auffllige Anzahl diagnostischer Tests, die hohen Kontaktfrequenzen in

    den Praxen, die hufigen Arzneimittelschden vor allem bei lteren und die eklatanten In-

    formationsbrche zwischen Haus- und Fachrztinnen und -rzten sowie Kliniken wie aber

    auch Physiotherapeutinnen und -therapeuten, Apotheken und Pflegediensten zeugen von

    den groen Ineffizienzen an den Schnittstellen der Gesundheitsversorgung. Kurzfristige

    symptomorientierte reaktive Behandlung dominiert vor langfristig planender proaktiver Ver-

    sorgung.

  • 22

    Gleichzeitig wachsen insbesondere in lndlichen, strukturschwachen Rumen die Versor-

    gungsprobleme vor allem im Bereich der Primrversorgung. Die bliche Praxisnachfolge ge-

    lingt immer weniger. Dies hat vielfltige Ursachen, die mit mehr Geld nicht gelst werden

    knnen. Sie reichen von subjektiver berforderung in der einzelnen rztlichen Praxis, der

    mangelhaften Perspektive fr die Ausbildung der Kinder, den unzureichenden kulturellen

    Angeboten bis hin zur nicht mehr zeitgemen lebenslangen Bindung an eine Praxis und zu

    falschen Kriterien bei der Auswahl und Ausbildung knftiger Medizinerinnen und Medizinern.

    Nicht nur die Versorgungsansprche und -bedrfnisse der Bevlkerung haben sich vern-

    dert, auch die Berufserwartungen der rztinnen und rzte. hnliche Herausforderungen zei-

    gen sich im Fachkrftemangel der anderen Gesundheitsberufe.

    Reformperspektive

    Anbietende von Gesundheitsleistungen werden angehalten, sich zu intelligenten Gesund-

    heitsnetzen zusammenzuschlieen, um gemeinsam die Gesundheitseffizienz fr eine defi-

    nierte Region und ihre Bevlkerung zu verbessern. Gemeinsames Kennzeichen dieser Zu-

    sammenschlsse und der von ihnen dafr gegrndeten neuen Unternehmensformen soll ihre

    Verantwortungsbernahme als Kmmerer fr den optimierten Verlauf des Heilungsprozes-

    ses werden. Im fortgeschrittenen Ausbaustadium integrieren sie zielgerichtete Prvention

    quer ber die Versorgungssektoren, investieren in strukturierte Behandlungsprogramme und

    in eine verbesserte medizinische Vernetzung und arbeiten als Coach fr die Patientinnen

    und Patienten an der stetigen weiteren Optimierung von Gesundheitsfrderung, Medizin und

    Pflege im umliegenden Gemeinwesen. Dabei findet eine enge Zusammenarbeit mit dem f-

    fentlichen Gesundheitsdienst, Selbsthilfegruppen, Schulen und Betrieben vor Ort statt.

    Die Kooperation unterschiedlicher Fachgruppen der Gesundheitsberufe, die strkere Einbin-

    dung der Krankenhuser in die ambulante Versorgung und der Aufbau flexibler Versor-

    gungsangebote (virtuelle Medizinische Versorgungszentren, mobile Stationen, Filialpraxen

    etc.) sowie die Anwendung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien er-

    mglichen die Schlieung von Versorgungslcken. Die zielorientierte proaktive Versorgung

    ersetzt eine ausschlielich symptomorientierte reaktive Versorgung und hilft dadurch mit,

    Versorgung fr alle zu sichern.

    Gemischte Vergtungsformen wie z.B. aus prospektiven Kopfpauschalen und der Beteili-

    gung der Gesundheitsnetze und ihrer Leistungserbringenden an erzielten Einsparungen

    (shared savings), ggf. ergnzt durch qualittsorientierte Vergtungsbestandteile (pay-for-

    performance bzw. pay-for-results), sollen massive Anreize setzen, sich fr die effiziente

    Behandlung der Patientinnen und Patienten sowie fr die Gesunderhaltung der Versicherten

  • 23

    und die Frderung ihrer Gesundheitskompetenz in definierten Regionen (Populationsversor-

    gung) zu engagieren.

    Um Fehlanreize zur Vorenthaltung von Leistungen zu verhindern und Qualittsvergleiche

    nicht nur mit der Versorgung auerhalb von Gesundheitsnetzen, sondern auch zwischen

    Netzen und Regionen zu ermglichen, werden auf Bundesebene Vorgaben zur Qualitts-

    messung und -transparenz vereinbart.

    Die wachsende Nachfrage nach integrierter Versorgung erfordert neue innovative Anbieter-

    strukturen, die ambulant ttigen multiprofessionellen Teams eine gemeinsame Betriebsform

    ermglicht. Damit soll eine Alternative zur klassischen Form der Einzelpraxen ermglicht

    werden, die abgestimmt z.B. rztliche, psychotherapeutische, pflegerische, physiotherapeu-

    tische oder auch soziotherapeutische Leistungen fr chronisch kranke, multimorbide oder

    pflegebedrftige Patientinnen und Patienten anbieten kann.

    Das Ziel einer strkeren Integration und Koordination der Versorgung muss sich auch in den

    Institutionen der Versorgungsplanung wiederspiegeln. Die mit dem Versorgungsstrukturge-

    setz beschlossene Regelung fr ein Gemeinsames Landesgremium ( 90a SGB V) beste-

    hend aus Kassenrztlicher Vereinigung, Krankenkassen und Landeskrankenhausgesell-

    schaft, das Empfehlungen zu sektorenbergreifenden Versorgungsfragen abgeben kann,

    ist weiterzuentwickeln. Anzustreben ist, dass die Versorgungsplanung knftig in weiterge-

    hender Abstimmung mit diesen Gremien erfolgt und dass die Bundeslnder eine Mglichkeit

    erhalten, die Krperschaften der Selbstverwaltung beim Versagen ihrer Verhandlungen mit-

    einander durch Ersatzvornahmen zu bergehen.

    Handlungsempfehlungen

    Ausweitung der mglichen Vertragspartner in der Integrierten Versorgung. Als mgliche Trger von Anbieterkonsortien treten auch kommunale Krperschaften und Patienten-

    verbnde sowie regionale genossenschaftliche Zusammenschlsse hinzu. Manage-

    mentgesellschaften der Integrierten Versorgung werden Leistungserbringende und

    knnen ihrerseits andere Leistungserbringende anstellen und/oder vertraglich binden.

    Reduzierung des brokratischen Aufwands fr den Abschluss von Selektivvertrgen nach 140 a ff SGB V (Integrierte Versorgung) und 73c SGB V (Besondere ambulan-

    te rztliche Versorgung). Die Genehmigungsvorbehalte der Aufsichtsbehrden werden

    zurckgenommen. Die Verpflichtung der Krankenkassen, die Wirtschaftlichkeit von Se-

    lektivvertrgen gegenber den Aufsichtsbehrden vorab zu belegen, entfllt.

  • 24

    Im Rahmen von Modellvorhaben nach 64 SGB V knnen mit einer Laufzeit von mindestens 10 Jahren neue Betriebsformen zur ambulanten Versorgung, in denen

    multiprofessionelle Teams zusammenarbeiten, erprobt werden. Grnder und Trger

    knnen alle zugelassenen Leistungserbringenden sein. Gesetzliche Vorgaben zur in-

    ternen Struktur werden keine gemacht. Die beiden letzten Vorgaben sollen auch fr

    Medizinische Versorgungszentren ( 95 SGB V) gelten. Die Erfllung der Anforde-

    rungen an transparente Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualitt ist auch fr diese

    Anbietenden verbindlich.

    Rcknahme der ordnungspolitisch problematischen Verpflichtung der Krankenkassen zum Abschluss von Vertrgen der hausarztzentrierten Versorgung (73b Abs. 4 SGB

    V) bei gleichzeitiger Erleichterung der Mglichkeit fr freiwillige Vereinbarungen, der

    Aufhebung der BVA-Vorabprfung auf Wirtschaftlichkeit und der Mglichkeit, sich fr

    Ausschreibungen aus dem Forschungs- und Entwicklungsbudget zu bewerben.

    Einrichtung eines Forschungs- und Entwicklungsbudgets aus Mitteln des Gesund-heitsfonds zur Ausschreibung fr vergleichende Versorgungsforschung und Entwick-

    lung von neuen medizinischen wie pflegerischen Versorgungsformen. Ein Beirat ent-

    wickelt die Kriterien und untersttzt bei der Entscheidungsfindung. Durch das Budget

    sind auch Ausschreibungen von gezielten Modellprojekten etwa fr Regionen mit ei-

    nem besonders hohen Anteil vulnerabler Bevlkerungsgruppen, Regionen mit Unter-

    versorgung, fr prventive Anstze und dergl. mglich. Regionale Gesundheitsnetze

    und -unternehmen, die transsektoral Leistungserbringende und ggfls. auch Kommu-

    nen und Patientengruppen zusammengebracht haben, knnen fr Projektvorhaben

    zur Frderung der Gesundheit der Bevlkerung ihrer Regionen und fr die Finanzie-

    rung ihrer Infrastruktur gemeinsam mit ihrem jeweiligen Landkreis bzw. ihrer Stadt

    Antrge auf Frderung an das F+E-Budget stellen.

    Die mit dem Versorgungsstrukturgesetz beschlossene Regelung fr ein Gemeinsames Landesgremium ( 90a SGB V), bestehend aus Kassenrztlicher Vereinigung, Kran-

    kenkassen und Landeskrankenhausgesellschaft, ist weiterzuentwickeln. Die Stimmen-

    anteile innerhalb des Gremiums sollten fr die Versorgungsplanung so verteilt werden,

    dass eine Drittelparitt zwischen Kostentrgern einerseits und Leistungserbringenden

    andererseits sowie als dritte Gruppe das Land, die Kommunen bzw. Landkreise und

    Patientenvertretungen gewhrleistet ist. Derart aufgewertete Gremien knnten dann

    dem Land empfehlen, bei einem bestimmten Ma an Unterversorgung, d.h. bei einem

    Versagen der herkmmlichen Krperschaften und ihrer Vereinbarungen, die Versor-

    gung der betroffenen Region auszuschreiben. Fr diese Ausschreibung knnten sich

  • 25

    dann auch regionale Gesundheitsnetze, rztegruppen, neue Strukturen von Anbieten-

    den, Krankenhuser und andere mgliche Trger der Integrierten Versorgung bewer-

    ben. Die Ausschreibung erfolgt durch die Landesregierung in direkter Verbindung mit

    dem Gesundheitsfonds, entsprechend der morbidittsadjustierten Durchschnittskosten

    der regionalen Bevlkerung, zu Lasten der Krankenkassen bzw. Kassenrztlichen Ver-

    einigungen. Damit wird ein massiver Anreiz fr Krankenkassen und Kassenrztliche

    Vereinigungen erzeugt, sich ihrerseits im Vorwege positiv fr eine Gewhrleistung ei-

    nes ausreichenden Standards an regionaler Versorgung einzusetzen, um eine Ersatz-

    vornahme durch die Landesregierung zu verhindern.

    2.5 Gesundheitsnutzen belohnen Vergtungssysteme ethisch weiterentwickeln Die Vergtungssysteme sind ein zentraler Baustein der Anreizstrukturen im Gesundheitswe-

    sen. Allerdings setzt ihr zielorientierter Einsatz Transparenz voraus. Soll ein bestimmtes

    Verhalten belohnt werden, muss erkennbar sein, ob und wie weit es den angestrebten Zie-

    len wirklich dient. Wirkungen bedingen zudem auch immer Nebenwirkungen, und letztere

    knnen sehr unerwnscht sein (z.B. Risikoselektion).

    Eine Vielzahl an Fehlanreizen ist bekannt und wird seit langem diskutiert:

    Die Vergtungen haben in der Regel keinen Bezug zum Gesundheitsergebnis. Be-lohnt werden bis zu einem bestimmten Punkt die rztinnen und rzte, die viel diag-

    nostizieren und therapieren. Das sind aber nicht zwingend diejenigen, die ihre Patien-

    tinnen und Patienten gut behandeln.

    Das Vergtungssystem im ambulanten Bereich wird nicht den Anforderungen koope-rativer und sektorenbergreifender Versorgungsstrukturen gerecht. Sein Leitbild ist

    immer noch die isolierte Einzelpraxis.

    Vor allem im Krankenhausbereich wurden Auswirkungen der falschen Anreize in den letzten Monaten diskutiert, so u.a. die Mengenausweitungen der operativen Eingriffe,

    Manipulationen in der Transplantationsmedizin, die Hygieneverletzungen und Chef-

    arztvertrge mit problematischen Zielvereinbarungen.

    Krankenhuser haben ausgelst durch die Abkehr vom Selbstkostendeckungsprin-zip in Verbindung mit den spezifischen Anreizen aus dem DRG-Abrechnungssystem

    und den Mindestzahlen an Personal auf den Stationen und in den Servicebereichen

    teilweise auch unter die sinnvollen Relationszahlen reduziert und stattdessen eher in

    die Codierungsqualitt und die gezielte Mengenausweitung investiert.

  • 26

    Nicht zuletzt fhren die unterschiedlichen Vergtungssysteme in GKV und PKV sowie die mangelhafte Transparenz ber Preis, Qualitt und Nutzen von Selbstzahlungs-

    leistungen fr den ambulanten Bereich zu schweren Fehlanreizen (in den Kranken-

    husern gilt fr GKV und PKV ein einheitliches Preissystem, allerdings setzen Privat-

    liquidationen auch dort problematische Anreize). In der Folge werden unter Umstn-

    den die Art und das Ausma der Behandlung der Patientinnen und Patienten nicht

    von der Schwere ihrer Erkrankung, sondern von der Art ihres Krankenversicherungs-

    schutzes oder der privaten Zahlungsbereitschaft abhngig gemacht. Regionen und

    Stadtteile mit einem geringen Anteil an Privatversicherten bzw. mit geringem Einkom-

    mensniveau sind fr rztinnen und rzte unattraktiv, whrend solche mit vielen Pri-

    vatversicherten sie anziehen. Regionale Unter- und berversorgung sind die Folge.

    Reformperspektive

    Bei Vertrgen zur Integrierten Versorgung und anderen Selektivvertrgen knnen die Ver-

    tragspartner auch weiterhin die Vergtungsmodalitten eigenstndig regeln. Die Basisanfor-

    derungen im Bereich der Qualitt und Qualittstransparenz sind unabhngig von der Ver-

    tragsform immer zu erfllen.

    Fr die kollektivvertraglich geregelten Versorgungsbereiche wie auch den Bereich der Kran-

    kenhausvergtung sind Anpassungen der Vergtungssysteme anzustreben, die Fehlanreize

    zur Unter- und berversorgung vermeiden und stattdessen Anreize fr Kooperation und Ko-

    ordination auch ber Sektorengrenzen hinweg setzen. Notwendig sind Vergtungsbestand-

    teile, die gute Qualitt belohnen, die dafr notwendige Transparenz vorausgesetzt, und die

    dafr sorgen, dass es sich auch einzelwirtschaftlich rechnet, leitliniengerecht zu versorgen

    und unntige Leistungen zu vermeiden.

    Handlungsempfehlungen

    Im Zuge der Zusammenfhrung von GKV und PKV wird auch fr die ambulanten rzt-lichen Leistungen ein einheitliches Preissystem geschaffen. Dabei ist eine Absenkung

    der Honorarsumme auszuschlieen, anzustreben ist aber eine bedarfsgerechtere

    Verteilung der Honorare regional und zwischen den einzelnen rztlichen Fachgrup-

    pen. Die damit verbundenen finanziellen Belastungen der gesetzlichen Krankenkas-

    sen sind auch unter Einbeziehung der bisher gezahlten Vergtung fr privatrztliche

    Leistungen der Privatversicherten in die Finanzierungsbasis auszugleichen.

  • 27

    Die Modellvorhaben fr multiprofessionelle Anbietende und Medizinische Versor-gungszentren (s. Kapitel 2.4) erhalten die Option, Komplexpauschalen und/oder Ver-

    gtungen mit einer teilweisen Budgetmitverantwortung fr definierte Leistungspakete

    und Populationen abzurechnen, wenn sie durch ihre Praxisstruktur und/oder Koope-

    rationsvereinbarungen mit anderen Leistungserbringenden (Pflege, Physiotherapie,

    Soziotherapie) die Gewhr fr eine qualittsgesicherte, abgestimmte Erbringung die-

    ser Leistungen bernehmen knnen (z.B. Palliativversorgung, Nachbetreuung nach

    stationrem Aufenthalt, ambulante Versorgung psychisch kranker Menschen).

    Die Kassenrztlichen Vereinigungen werden verpflichtet, mit einem im Bewertungs-ausschuss zu verhandelnden Anteil der Gesamtvergtung die Erbringung von Leis-

    tungen zu frdern, die in besonderem Mae die Qualitt der Versorgung verbessern.

    Prfung der Zusammenlegung des bisherigen Instituts des Bewertungsausschusses (InBA) und des Instituts fr das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) zu einem ge-

    meinsamen unabhngigen Institut in Trgerschaft des Spitzenverbandes der Kran-

    kenkassen, der DKG und der KBV. Damit verfolgte Ziele sind eine strkere Harmoni-

    sierung der Vergtungssysteme, eine Ausweitung der Versichertenbeteiligung und

    die Verbesserung der Transparenz z.B. durch die Bereitstellung der Daten fr wis-

    senschaftliche Institutionen.

    Fr die Krankenhuser sind die Anreize fr eine Mengenausweitung zu korrigieren durch ergebnisabhngige Vergtungselemente, die eine am Patientennutzen orien-

    tierte Indikationsstellung, die Offenlegung von Ergebnisqualitt und die intersektorale

    Kooperation frdern. Krankenkassenroutinedaten ber die weitere Genesung der Pa-

    tientinnen und Patienten nach dem Krankenhausaufenthalt werden dafr mit den

    DRGs in Beziehung gesetzt. Ziel ist die konomische Belohnung des bestmglichen

    Qualittsergebnisses.

    2.6 Versicherten- und Patientenvertretung strken Vernderungsanstze fr die Selbstverwaltung der Krankenkassen und die Gemeinsame Selbstverwaltung Die Selbstverwaltung der Krankenkassen durch ihre Versicherten ist ein wesentliches Gut fr

    die Legitimation der Krankenkassen und kann eine grundlegende Rolle spielen fr eine auf

    die Mehrung von Gesundheitsnutzen hin erfolgende Ausrichtung. Allerdings bleibt die aktuel-

    le Form der Selbstverwaltung weit hinter den Mglichkeiten zurck. So widerspricht bei-

    spielsweise der Verzicht bei vielen Krankenkassen auf das elementare demokratische Mo-

    dell der Urwahl durch die Versicherten grundlegenden demokratischen Regeln, und die Be-

  • 28

    zeichnung der stattdessen gewhlten Selbstfortfhrung der vor Jahrzehnten einmal gewhl-

    ten Selbstverwaltung als sog. Friedenswahlen kann nur als Tuschung der ffentlichkeit

    bezeichnet werden. Eine ganze Reihe weiterer demokratischer Probleme erfordern eine

    grundstzliche Reform der Selbstverwaltung. So u.a. die bisherige Beschrnkung der Wahl-

    handlung der Versicherten auf diejenigen, die gleichzeitig Beitragszahlende sind, d.h. groe

    Teile der Versicherten wie die Familienangehrigen sind bisher von der Wahl ausgeschlos-

    sen. Nicht akzeptabel ist auch die vllig unzureichende Reprsentanz von Frauen in der

    Selbstverwaltung (durchschnittlich 18 Prozent bei den Sozialwahlen 2011). Reformbedarf

    sehen wir aber auch bei der Transparenz der Selbstverwaltung und der Listen, der Ermgli-

    chung von Listen und Prferenzstimmen bis hin zu der Ermglichung von Online-

    Wahlverfahren, um eine wirkliche Auswahl und damit auch die Beteiligung an den Sozial-

    wahlen zu erhhen.

    Wesentliche Entscheidungen zur konkreten Ausgestaltung des Gesundheitssystems werden

    in Deutschland in den Gremien der Gemeinsamen Selbstverwaltung aus Krankenkassen ei-

    nerseits und Organisationen der Leistungserbringenden andererseits getroffen. Derzeit ist

    die Transparenz dieser Gremien gegenber der ffentlichkeit ebenso wie der Umfang der

    Einbindung und Entscheidungsbeteiligung von Vertreterinnen und Vertretern der Versicher-

    ten- und Patienteninteressen je nach Gremium sehr unterschiedlich und teilweise unzurei-

    chend ausgestaltet. Eine Strkung der Versicherten- und Patientenvertretung ist in den Gre-

    mien durchgngig notwendig, um ein Gegengewicht zu den Interessen der Leistungserbrin-

    genden und der Krankenkassen zu bilden.

    Reformperspektive

    Eine zeitgeme Modernisierung der Selbstverwaltung ist zwingend und kann dazu auf wich-

    tige gutachterliche Stellungnahmen und die Vorschlge des Bundeswahlbeauftragten fr die

    Sozialversicherungswahlen 2011 zurckgreifen. Erreicht werden soll damit eine deutliche

    Verbesserung der demokratischen Potenziale des Selbstverwaltungsmodells, eine Strkung

    der Brgergesellschaft und die Gewinnung der Selbstverwaltung als Ideengeber fr die Wei-

    terentwicklung von Versorgungsstrukturen und die Erhhung des Gesundheitsnutzens ihrer

    Versicherten.

  • 29

    Innerhalb der Gremien der Gemeinsamen Selbstverwaltung ist die Versicherten- und Patien-

    tenvertretung so zu strken, dass sie Einblick in alle relevanten Sachverhalte erhlt und die

    qualifizierte Beschftigung der Partnerinnen und Partner der Selbstverwaltung mit ihren An-

    liegen sichergestellt ist.

    Handlungsempfehlungen

    A. Fr die Reform der Selbstverwaltung der Krankenkassen:

    Ersatz von Friedenswahlen durch verpflichtende Urwahlen.

    Ausweitung der aktiven wie passiven Wahlberechtigung auf alle Versicherte ab dem Alter von 16 Jahren, unabhngig davon, ob sie selber Beitragszahlende sind oder

    Dritte fr sie Beitrge entrichten.

    Weiterentwicklung der Selbstverwaltung zum Versichertenparlament verbunden mit einer Erhhung der Transparenzverpflichtungen fr die Wahllisten und der Mglich-

    keit, sich ber die Medien der Krankenkasse den Versicherten vorab vorzustellen und

    um deren Untersttzung zu werben. Dafr ist u.a. erforderlich.

    o Erweiterung des Kreises der vorschlagsberechtigten Organisationen fr Versicher-tenvertreterinnen und -vertreter auf alle Vereinigungen mit gesundheits-, verbrau-

    cher-, sozial- und berufspolitischer Zwecksetzung und deren Verbnde. Eine sol-

    che Vereinigung muss mindestens 1.000 Mitglieder aufweisen. Sie muss durch die

    Offenlegung ihrer Finanzierung nachweisen, dass sie unabhngig arbeitet. Ihre in-

    nere Ordnung muss demokratischen Grundstzen entsprechen.

    o Verpflichtung der Versichertenvereinigungen, die Vorschlagslisten im Sinne ge-schlechterbezogener Reprsentativitt aufzustellen.

    o Qualifizierung der Selbstverwaltungsakteure und Verbesserung ihrer Handlungs-mglichkeiten durch eine grundlegende Ausstattung und Zuarbeit.

    o Mehr Gestaltungsspielraum fr die Selbstverwaltung, etwa im Leistungs- und Ver-tragsrecht.

  • 30

    B. Fr die Reform der Gemeinsamen Selbstverwaltung:

    Etablierung der Patientenvertretung im (Erweiterten) Bewertungsausschuss sowie in allen Beratungen auf der Grundlage bzw. zur Festlegung der Bundesmantelvertrge

    mit einem Antrags- und Mitberatungsrecht.

    Erhhung der ffentlichen Transparenz der Beratungen im Gemeinsamen Bundes-ausschuss.

    Zur Strkung der Patientenvertretung im Gemeinsamen Bundesausschuss bieten sich folgende Mglichkeiten an:

    o Vorschlag eines stimmberechtigten vierten unparteiischen Mitglieds durch die Pa-tientenvertretung; bei Patt hat der unparteiische Vorsitzende eine zweite Stimme.

    o Pflicht zur inhaltlichen, schriftlichen und ffentlichen Begrndung bei der Ableh-nung von Antrgen im Plenum des GBA.

    o Darber hinaus sollte durch ein unabhngiges Gutachten geprft werden, ob und in welchen Sachzusammenhngen ein Zusammenwirken der Interessen von Leis-

    tungserbringenden und Krankenkassen zu Lasten der Patienten droht. Es ist zu

    prfen, ob in diesen Bereichen ein Stimmrecht der Patientenvertretung perspekti-

    visch eingefhrt werden kann.

    o Die Patientenvertretung erhlt in strkerem Umfang als bisher finanzielle Unter-sttzung fr die Erfllung ihrer Arbeit und den Auftrag, aus diesen Mitteln u.a. ihre

    Struktur, Mitglieder und Ziele, ihr Wirken und die Beteiligungsmglichkeiten an der

    Patientenvertretung fr interessierte Personen ffentlich darzustellen.

    Das BMG wird verpflichtet, bei Einschrnkungen der Rechte der Patientenvertretung aufsichtlich aktiv zu werden.

    Verbnde, deren Mitglieder in der Patientenvertretung mitwirken, werden verpflichtet, ihre (Un-)Abhngigkeit von Industrie, heilberuflichen Fach- und Berufsverbnden und

    Krankenkassen strukturiert ffentlich darzulegen.

    2.7 Abschied vom Kapitnsprinzip Gesundheitsversorgung im Team

    Gesellschaftliche Vernderungsprozesse, die Auswirkungen des demographischen Wandels,

    Disparitten in Stadt, Land und Regionen sowie die Vernderungen des Krankheitsspekt-

    rums stellen die Gesundheitsberufe vor vernderte, zum Teil neue Herausforderungen: So

  • 31

    steigert die Zunahme chronisch progredienter Erkrankungen den Anteil gebrechlicher und

    pflegebedrftiger Menschen, die auf professionelle Untersttzung und Pflege angewiesen

    sind. Die Gesunderhaltung und das Lernen, mit Krankheit umzugehen, werden nicht nur zur

    wichtigen Aufgabe fr die einzelnen Menschen, sondern auch zum Einsatzfeld der Gesund-

    heitsberufe. Es werden neue Versorgungsaufgaben hinzukommen, die nicht mehr allein auf

    Kuration ausgerichtet sind, sondern z.B. auf eine altersgerechte Prvention und Rehabilitati-

    on, auf palliative Versorgung, auf die Versorgung von an Demenz Erkrankten oder auf die

    Betreuung am Lebensende. Die Komplexitt der Erkrankungen bzw. der Gesundheitszu-

    stnde wchst, weil die Morbiditt zunimmt und neben medizinischen Indikatoren auch psy-

    chische, soziale, personale sowie Lebensweise und Lebenssinn bestimmende Indikatoren

    hinzutreten. Die Integration der verschiedenen Versorgungsanstze im Gesundheits-, Sozial-

    und Bildungswesen erweist sich sowohl von der fachlichen als auch von der konomischen

    Seite her als einzig realistischer Lsungsansatz.

    Bei der Sicherstellung einer effizienten und gleichzeitig qualittsvollen Gesundheitsversor-

    gung spielen die Gesundheitsberufe eine wichtige Rolle. Sie bentigen ein anderes professi-

    onelles Selbstbild, das die vernderte Aufgabenteilung im Gesundheitswesen einschliet.

    Die bestehenden Berufszuschnitte und -rollen verlangen nach berarbeitung und rechtlich

    neu verorteten Kompetenzen. Neben die medizinische Versorgung durch rztinnen und rz-

    te treten gleichberechtigt die Beratung, Versorgung und Pflege durch ausgebildete Pflege-

    fachkrfte, die therapeutischen Angebote durch Physiotherapeutinnen und -therapeuten, Er-

    gotherapeutinnen und -therapeuten sowie Logopdinnen und Logopden wie aber auch die

    untersttzenden Leistungen von Case- und Care-Managerinnen bzw. -Manager; alles Be-

    rufsgruppen, deren Bedeutung fr die Gesundheitsversorgung steigt.

    Die problemlose berwindung vorhandener Schnittstellen zwischen den Versorgungsange-

    boten, der steigende Bedarf nach Koordination und Integration bei der Gesundheits- und Pa-

    tientenversorgung verlangen nach gleichberechtigtem und auf die jeweilige Professionalitt

    konzentriertem Arbeiten im Team. Interprofessionalitt und Kooperationsbereitschaft mssen

    selbstverstndlicher Bestandteil des Versorgungsalltags werden, ebenso die gleichberechtig-

    te Beteiligung an wichtigen gesundheitspolitischen Entscheidungen.

    Die Realisierung dieser Ziele trifft auf erhebliche Schwierigkeiten: Die heutige Aufgabenver-

    teilung zwischen den Gesundheitsberufen basiert nicht auf den tatschlichen spezifischen

    Kompetenzen, sondern ist historisch gewachsen. Charakteristisch fr das deutsche

    Gesundheitswesen ist die Allzustndigkeit und -verantwortlichkeit der rztlichen Profession

    und das Delegationsprinzip. Es fehlt an Aufgaben- und Berufsprofilen, die den knftigen

    fachlichen und strukturellen Herausforderungen Rechnung tragen, ebenso an interdisziplinr

    und auf Kompetenzvermittlung ausgerichteten Curricula in Aus- und Weiterbildung. Die not-

  • 32

    wendigen rechtlichen Regelungen, auf deren Grundlage vernderte Aufgaben-, Ttigkeitsbe-

    reiche und Berufsprofile festgeschrieben werden knnten, sind nicht vorhanden. Die berufs-

    rechtliche Klrung von Kooperation, die sozialrechtliche Verankerung eigenstndiger Leis-

    tungserbringung verschiedener Gesundheitsberufe sowie die Anpassung des Haftungsrechts

    an die kooperative Leistungserbringung liegen nicht vor.

    Reformperspektive

    Husliche, ambulante und stationre Gesundheitsversorgung wird zur Teamarbeit. Auch in

    den Krankenhusern werden hierarchische durch flache Kommunikations- und Organisati-

    onsformen abgelst. Die Gesundheitsversorgung wird zunehmend von multiprofessionellen

    Versorgungsteams geleistet, die neben rztinnen und rzten und Psychotherapeutinnen und

    -therapeuten sowie Pflegekrften auch weitere fr die Versorgung wichtige Berufsgruppen

    wie Physiotherapeutinnen und -therapeuten und Logopdinnen und Logopden vereinen

    knnen; all diese begegnen sich auf gleicher Augenhhe. Die Zusammenarbeit kann unter

    einem gemeinsamen Dach (Gesundheitszentrum oder neue Anbieterstrukturen) oder auch

    rumlich getrennt mit einer zentralen Koordinierungsstelle (in Verbindung mit einem regiona-

    len Gesundheitsnetz) erfolgen. Qualifizierte Pflegekrfte bernehmen neben den ihnen be-

    reits jetzt schon zugeschriebenen professionellen Pflegeaufgaben eigenstndig und eigen-

    verantwortlich die Planung, Qualittssicherung und Umsetzung der zum Teil bisher der rz-

    tinnen und rzten vorbehaltenen Aufgaben in den Bereichen Prvention und Gesundheits-

    frderung, Diagnostik und Behandlung, Rehabilitation und Palliation einschlielich Beratung.

    Die Durchlssigkeit von Berufsbildern wie Medizinischen Fachangestellten muss gefrdert,

    ihre Weiterentwicklung erleichtert werden. Case- und Care-Management fr komplexe Ver-

    sorgungsaufgaben werden zum selbstverstndlichen Bestandteil einer solchen teamorien-

    tierten Versorgung, die auch die Einbeziehung von Ehrenamtlichkeit und zivilgesellschaftli-

    chem Engagement organisiert und erleichtert.

    Versorgungsdefiziten insbesondere in lndlichen Regionen kann so besser begegnet wer-

    den. Ohne eine starke Vernetzung der Gesundheitsberufe und die Einbeziehung zivilgesell-

    schaftlicher Ressourcen ist langfristig eine angemessene flchendeckende Primrversor-

    gung nicht mehr zu gewhrleisten. Einen hheren Stellenwert erhalten Ttigkeiten, wie die

    (Tertir-) Prvention, Hausbesuche und die Schulung chronisch Kranker, die heute wegen

    des Zeitmangels in den Praxen gar nicht oder nur unzureichend wahrgenommen werden. l-

    tere Patientinnen und Patienten knnen so untersttzt durch Service- und Assistenzkrfte

    und technische Sttzsysteme lnger in ihrer eigenen Huslichkeit bleiben. Notwendige Re-

    formen in der Ausbildung mssen von weiteren Reformschritten flankiert werden. Dies gilt

  • 33

    zunchst in besonderer Weise fr den Pflegeberuf, der strksten Berufsgruppe im Gesund-

    heitswesen. Berufsabschlsse bedrfen einer klareren Differenzierung einem dem Ausbil-

    dungsgrad adquaten Tarifgefge und der internationalen Anschlussfhigkeit. Es gilt, den

    Wildwuchs an Qualifizierungsangeboten und -abschlssen einzudmmen und eine solide

    Ausbildungsfinanzierung sicherzustellen, insbesondere in der Ausbildung zur Altenpflege

    oder therapeutischer Berufe, so dass die Ausbildung nicht zur Privatsache wird. Hinzukom-

    men muss eine dauerhafte Etablierung von Pflegeforschung auf universitrer Ebene zur

    Evidenzbasierung des beruflichen Handelns, als Beitrag zu Versorgungsforschung und zur

    Vorbereitung interdisziplinrer Versorgungsangebote.

    Diese Reformschritte lassen darber hinaus eine Steigerung der Attraktivitt und der Ar-

    beitszufriedenheit aller Gesundheitsberufe erwarten. Der Kommission ist die groe Heraus-

    forderung dieses Paradigmenwandels in der Versorgung bewusst, sie ist aber getragen von

    der Sorge, dass sich ohne einen solchen Wandel der Fachkrftemangel im Verlauf der

    nchsten dreiig, vierzig Jahre dramatisch verschrfen und fr alle anderen Berufsgruppen

    gleichermaen und in vorderster Linie fr die Patientinnen und Patienten zu einer unhaltba-

    ren Situation fhren wird.

    Einwnden gegen eine derartige Ausweitung der Befugnisse der Gesundheitsberufe, die sich

    auf die Gefahr der Induzierung zustzlicher Leistungen beziehen, kann man vorbeugen, in-

    dem derartige Lsungen zunchst regional, auf freiwilliger Basis aller Beteiligten und nur un-

    ter einer gewissen Budgetmitverantwortung im Sinne der 140 a ff. ermglicht werden. An-

    dere Einwnde knnten sich auf Befrchtungen beziehen, dass eine derartige Einbeziehung

    und hhere Freiheitsstellung von anderen Berufsgruppen zur simplen Kostendmpfung ge-

    nutzt werden knnte. Beide Einwnde sollten ernst genommen werden. Die Kommission ist

    der Auffassung, dass insbesondere der letzte Einwand durch eine intensive Evaluation aus-

    gerumt werden kann und dass sich das Vergtungsniveau im Bereich der qualifizierten

    Gesundheitsfachberufe eher erhhen als erniedrigen wird.

    Handlungsempfehlungen

    Schaffung einer konsistenten berufsrechtlichen Ordnung der Gesundheitsberufe. Verabschiedung eines Allgemeinen Heilberufegesetzes mit Vorschriften, Aufgaben

    und Ttigkeiten auch im Sinne vorbehaltener und vorrangiger Ttigkeiten und im Ver-

    hltnis zueinander.

    Anpassung des Haftungsrechts an die Anforderungen einer kooperativ ausgestalteten Gesundheitsversorgung.

  • 34

    Einberufung eines Berufegipfels, zu dem Vertretungen der Gesundheitsberufe einge-laden werden mit dem Ziel, einen Dialogprozess zu erffnen. In dessen Verlauf sollen

    neue Berufszuschnitte, Fragen interdisziplinrer Zusammenarbeit, vernderte Anfor-

    derungen an Aus-, Fort- und Weiterbildung inkl. auch der Finanzierung der Ausbil-

    dung und gemeinsamer Ausbildungsanteile sowie die Entwicklung multiprofessionell

    abgestimmter Leitlinien diskutiert und die dafr notwendigen Umsetzungsschritte ver-

    einbart werden.

    Modellprogramm zur Umsetzung regionaler Lsungen, in denen exemplarisch neue Formen der Kooperation und der erweiterten Befugnisse unter einer gewissen Bud-

    getmitverantwortung erprobt und begleitet sowie die erzielten Gesundheitsergebnisse

    aber auch die erfahrene Patientenzufriedenheit evaluiert werden.

    Perspektivisch wird auch ber die gleichberechtigte Beteiligung aller Gesundheitsberufe bzw.

    der neu sich bildenden gemeinsamen Kooperationseinrichtungen an der Steuerung der GKV

    zu reden sein (u.a. ffnung der Zulassung zur Leistungserbringung in der GKV, eigenstndi-

    ges Verhandlungsmandat gegenber den Krankenkassen, Beteiligung an der gemeinsamen

    Selbstverwaltung der GKV).

  • 35

    2.8 Verbesserte Integration der Sozialversicherungssysteme

    Die Trennung von SGB XI (Pflegeversicherung) und SGB V (Krankenversicherung) bei

    gleichzeitiger Unterstellung der Pflegekassen unter die Regie der Krankenkassen hat zu

    problematischen Anreizen gefhrt. Eine Verhinderung der Pflegebedrftigkeit ist so fr die

    regiefhrende Krankenkasse uninteressant, da etwa Aufwendungen fr die geriatrische Re-

    habilitation zu ihren Lasten gingen. Die Verlangsamung der Progression von Erkrankungen,

    wie z.B. Demenz, Rheuma, Multipler Sklerose und Behinderungen finden bei den Kranken-

    kassen nicht die gebhrende Aufmerksamkeit, da mit der Heimunterbringung die notwendi-

    gen pflegerischen Leistungen nicht mehr von den Krankenkassen, sondern von den Pflege-

    kassen bezahlt werden. Andererseits werden Pflegekassenleistungen zum Nutzen der GKV-

    Seite und gegen den Sinn der Pflegekassenaufgaben ausgenutzt. Fr die betroffenen Pati-

    entinnen und Patienten stellt es sich hufig schwierig dar, den Adressat einer Forderung

    nach entsprechenden Leistungen zu identifizieren, da beide Systeme auf den jeweilig ande-

    ren verweisen. hnliche, wenn auch nicht ganz so starke Verschiebebahnhfe existieren auch zwischen den anderen Sozialversicherungstrgern.

    Reformperspektive

    Bereits 2005 hat der Sachverstndigenrat fr das Gesundheitswesen vorgeschlagen, die

    Pflegeversicherung in die Krankenversicherung zu berfhren. So knnten Verschiebe-

    bahnhfe vermieden und den Versicherten auch die aufwndige Suche nach den jeweils

    zustndigen Leistungstrgern erspart werden. Allerdings gibt es auch kritische Stimmen, die

    vor einer vollstndigen Integration der Pflege- in die Krankenversicherung warnen. Diese

    knnte zu einer noch strkeren Medizinorientierung der Pflege fhren. Zu befrchten sei ein

    weiterer Bedeutungsverlust der in der Pflegeversicherung ohnehin unzureichend ausgeprg-

    ten Aspekte der sozialen Teilhabe und der Erhaltung und Wiederherstellung der Selbstbes-

    timmungsfhigkeit der Pflegebedrftigen. Diese Warnungen sind sehr bedenkenswert. Die

    Kommission hlt deshalb solche Reformmodelle fr besonders interessant, die den gegen-

    wrtigen Fehlanreizen entgegenwirken, ohne die Versorgung und Begleitung der Pflegebe-

    drftigen vollstndig an die Krankenversicherung zu delegieren. Zu diesen zhlen die beiden

    folgenden Modelle:

    a. Die Schaffung von Anreizen zur Vermeidung von Pflegebedrftigkeit fr die Kranken-

    kassen. Derzeit erhalten die Krankenkassen aus dem Gesundheitsfonds die nach Al-

    ter, Geschlecht und Morbiditt gewichteten durchschnittlichen Versorgungskosten,

    die fr einen Versicherten voraussichtlich anfallen. Ein mglicher Weg, Anreize zur

    Vermeidung von Pflegebedrftigkeit fr die Krankenkassen zu schaffen, knnte darin

  • 36

    bestehen, dass Krankenkassen, die z.B. durch erfolgreiche Prvention oder Rehabili-

    tation Pflegebedrftigkeit ihrer Versicherten vermeiden, einen Teil der Ersparnisse,

    die die Pflegeversicherung dadurch erzielt, erhalten. Dazu knnten zum Beispiel er-

    folgversprechende Manahmen durch die Pflegeversicherung mitfinanziert werden.

    Ein anderer Ansatz knnte darin bestehen, die risikoadjustierten durchschnittlichen

    Pflegekosten in den Risikostrukturausgleich aufzunehmen. Kassen, bei deren Versi-

    cherten die tatschlichen Pflegekosten durch erfolgreiche Prventions- und Rehabili-

    tationsmanahmen geringer als die risikoadjustierten durchschnittlichen Pflegekosten

    sind, verbessern dadurch ihre finanzielle Situation. Dazu mssen die Zahlungsstrme

    zwischen Kranken- und Pflegeversicherung entsprechend angepasst werden.

    b. Die partielle Integration der Pflegeversicherung in die Krankenversicherung. Dieses

    Reformmodell sieht vor, die fachpflegerische, medizinische und rehabilitative Beglei-

    tung (Cure-Leistungen) in der Krankenversicherung zu bndeln. Damit wrde die so-

    zialrechtliche Trennung von Behandlung, Rehabilitation und Pflege durchbrochen. Ei-

    genstndig geregelt wrden die Leistungen, die der gesellschaftlichen Teilhabe die-

    nen (Care-Leistungen: Hauswirtschaft, soziale Betreuung, Assistenz). Diese Leistun-

    gen knnten dann strker in die familiren, nachbarschaftlichen und kommunalen Zu-

    sammenhnge integriert werden. Die Bestrebungen, ein Leistungsgesetz fr Teilhabe

    zu schaffen, wren inhaltlich und zeitlich anschlussfhig. Umgekehrt knnten auch

    die Pflegekassen Rehabilitationstrger werden und insoweit durch eigene Leistungen

    Pflegebedrftigkeit vermeiden helfen.

    Handlungsempfehlungen

    Um Pflegebedrftigkeit so weit wie mglich zu vermeiden und den Grundsatz Reha-bilitation vor Pflege umzusetzen, sind die Fehlanreize zwischen Kranken- und Pfle-

    geversicherung sowie anderen Sozialversicherungstrgern auszurumen. Um Geset-

    zesmanahmen vorzubereiten, ist die Bundesregierung gehalten, einen Diskussions-

    prozess zu organisieren, in dem die genannten und ggf. weitere Reformmodelle auf

    ihre Brauchbarkeit geprft werden.

  • 37

    Die Mitglieder der Fachkommission Gesundheitspolitik der Heinrich-Bll-Stiftung

    Andreas Brandhorst (Co-Vorsitzender)

    Seit 2003 Fraktionsreferent fr Gesundheitspolitik in der Bundestagsfraktion Bndnis 90/Die

    Grnen. In den Jahren 2001-2002 Leiter des Referats fr gesamtwirtschaftliche Fragen der

    Gesundheitspolitik im Bundesministerium fr Gesundheit und von 1998-2001 Leiter des Mi-

    nisterbros im Bundesministerium fr Gesundheit. Davor Wissenschaftlicher Mitarbeiter der

    sozialpolitischen Sprecherin der Bundestagsfraktion Bndnis 90/Die Grnen, Andrea Fi-

    scher, und von 1991-1994 Referent fr Sozialpolitik in der Fraktion Neues Fo-

    rum/Grne/Demokratie Jetzt (ab 1993: Bndnis 90/Die Grnen) im Thringer Landtag.

    Helmut Hildebrandt (Co-Vorsitzender)

    Helmut Hildebrandt, Gesundheitswissenschaftler, Apotheker, Gesundheitssystementwickler.

    Erfahrungen aus medizinsoziologischer Forschung, Prvention und Public Health (u.a. mit

    Arbeiten fr die WHO-Euro) wie aber auch kommunalpolitischem und zivilbrgerlichem En-

    gagement, zwanzigjhriger Beratungsarbeit quer zu allen Bereichen des Gesundheitswe-

    sens sowie aus der Geschftsfhrung von Verbnden, Krankenhusern und von Projekten.

    In den letzten zehn Jahren intensive Aufbauerfahrungen im Bereich Integrierter Versorgung

    ganzer Regionen sowie prgende Erfahrungen aus der Begleitung von erkrankten Angehri-

    gen und als Patient und Nutzer des Gesundheitssystems.

    Ulrike Hauffe

    Seit 1994 Bremer Landesbeauftragte fr Frauen. Sie ist Expertin fr Frauen- und Gesund-

    heitsfragen und ist Mitglied im Verwaltungsrat der Barmer GEK und dort Vorsitzende des

    Ausschusses Prvention, Versorgung, Rehabilitation und Pflege, im Ausschuss Nationale

    Gesundheitsziele und im Nationalen Netzwerk Frauen und Gesundheit. Sie leitet den Frau-

    en- und Gleichstellungsausschuss des Deutschen Stdtetags. Die Diplom-Psychologin hat

    vor dem politischen Amt 20 Jahre als Psychotherapeutin, Geburtsvorbereiterin, Aus- und

    Weiterbilderin fr rztinnen/rzte und Hebammen gearbeitet.

  • 38

    Dr. med. Bernd Kppl

    Vorsitzender des Bundesverbandes Medizinische Versorgungszentren (BMVZ e.V.). Der Arzt

    und Politologe war langjhriger grner Gesundheitspolitiker im Berliner Abgeordnetenhaus. Er ist

    rztlicher Leiter und Geschftsfhrer einer Nachfolgeorganisation der (Ost-) Berliner Polikliniken

    sowie Vorsitzender der Stiftung Pinel fr psychisch Kranke.

    Dr. Ilona Kster-Steinebach

    Seit 2010 Referentin fr Qualitt und Transparenz im Gesundheitswesen beim Verbraucherzent-

    rale Bundesverband, Berlin. D