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4. Auszug - Neptunplatz

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4. Teil Vorabend Leserunde

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Wir vom Neptunplatz

Ein Vorabendroman

von Patricia Eckermann und Stefan Müller

LESEPROBEAuszug Seite 25-36

© Carlsen Verlag, Hamburg 2011

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Lale stand in der Mampf-Küche und starrte auf die Kaffeema-

schine, die heißen Wasserdampf in die Höhe spuckte. Im Gegen-

satz zu den sauberen, aber deutlich beanspruchten Küchenmö-

beln wirkte das neue, chromblitzende Monstrum wie ein Alien.

Wie so vieles in Lales Leben bestand auch ihre Küche aus schier

unvereinbaren Gegensätzen.

»Lale, der Espresso! Ich brauch Koffein!!«

Sie warf einen Blick in den kleinen Gastraum. Sie liebte ihr Café.

Die Flohmarkt-Möbel, das zusammengewürfelte Geschirr und die

Wände mit den tausend bunten Bilderrahmen verliehen ihm den

Charme der Villa Kunterbunt. Lucky saß wie üblich auf dem zur

Bank umfunktionierten Fensterbrett vor der Panoramascheibe,

direkt neben der Eingangstür. Sein PowerBook stand aufgeklappt

vor ihm auf dem Tisch. Leider hatte er sich selbst eingeredet,

ohne Kaffee keine einzige Taste berühren zu können. So wippte

er ungeduldig auf und ab wie der Rainman auf Zahlenentzug.

»Koffein-Alarm!«

»Komme!« Lale stellte den dreistöckigen Espresso auf eine Un-

tertasse, fischte einen Löffel aus der Schublade und entschied

sich gegen den obligatorischen Keks. Zu viel Zucker war nicht

gut für ihren Lieblings-Stammgast, das machte ihn nur noch

zappliger.

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Lucky empfing sie ungeduldig.

»Na endlich.« Er deutete auf den Platz neben sich. »Setz dich.«

»Keine Zeit. Ich muss die Tische vorbereiten.«

Lucky nickte und nippte an seinem Espresso.

Lale zog ein Tablett von der Theke und stellte Zucker-, Pfeffer-

und Salzstreuer darauf, um sie auf den Tischen zu verteilen.

Mit nur vier Tischen im Inneren des Cafés, sechs Plätzen an der

Bar und im Sommer vier weiteren Tischen draußen auf dem

Neptunplatz war nicht ans große Geld zu denken. Doch das

machte nichts. Sie liebte ihren Job, den Umgang mit den Gästen

und die Tatsache, dass sie endlich ihre eigene Chefin war. Besser

konnte kein Leben sein.

»Was ist denn jetzt mit Adnan?«, fragte Lucky. »Hat er woan-

ders angeheuert? Oder hat er einfach nur verpennt?«

Lale schüttelte den Kopf. »Sie haben seine Freundin abgescho-

ben. Er ist ihr hinterher.«

»Wohin?«

»Kosovo.«

»Scheiße! Und wer kocht jetzt?«

Lale verdrehte die Augen. Das war mal wieder typisch für

Lucky. Mitgefühl kam bei ihm immer erst im zweiten Gang.

»Boah, Lucky! Das wäre jetzt der richtige Moment zu sa-

gen: ›Oh, Lale, das tut mir leid für Adnan‹. Und: ›Mach dir kei-

ne Sorgen, ich bin eine Klischeeschwuppe und koche wie Ja-

mie Oliver auf Speed. Darf ich dir vielleicht in der Küche

helfen?‹«

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Lucky schenkte ihr bloß einen weiteren Berlin-Mitte-bei-Mit-

tag-Blick. »Sorry, Lale. Ich kann nur Brote schmieren. Und nicht

mal das besonders gut.«

Lales Handy klingelte. Sie stellte das Tablett auf den nächsten

Tisch und zog das Telefon aus der Hosentasche. Das Display

meldete Rudi, Hannes’ Schwester. Lale drückte den Anruf weg.

Es war immer dasselbe, wenn Rudi anrief. Kaum erschien ihr

ansteckendes Lächeln auf dem Display, sackte Lale das Blut in

die Füße. Jedes Mal hatte sie Angst, dass Rudi ihr erzählen

würde, Hannes sei schwer verletzt. Oder tot.

Lale zwang sich, tief durchzuatmen. Sofort kehrte ihre Kraft

zurück. Sie warf einen Seitenblick auf Lucky, der durch die Zei-

tung blätterte, doch es war offensichtlich, dass er keine einzige

Zeile las. Garantiert brannte er darauf zu wissen, wen Lale auf

ihre Mailbox umgeleitet hatte.

Sie stellte gerade den nächsten Streuer auf den Tisch, als es er-

neut klingelte. Rudi. Wieder dieser Angstflash. Verdammt. Bes-

ser jetzt rangehen als später zurückrufen müssen.

»Hey Rudi …« Ihre Stimme war plötzlich wie belegt.

»Hey Lale. Alles gut? Du klingst so komisch.«

»Was? Ja, stimmt, läuft gerade nicht so. Was gibt’s?« Erleichte-

rung machte sich breit. Wenn Hannes irgendwas passiert wäre,

hätte Rudi es sofort gesagt.

»Ich mach’s kurz: Ich such dringend ne Wohnung. Kannst du

mir vielleicht helfen?«

»Sorry«, Lale entspannte sich etwas, »ich such gerad selbst …«

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»Schade. Aber okay. Trotzdem danke.« Rudi schwieg einen Mo-

ment. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«

»Nee, mein Koch ist abgesprungen. Ist alles ein bisschen stres-

sig zurzeit.«

»Ich komm helfen, wenn du willst. Hab heute den ganzen Tag

frei. Wo liegt dein Laden überhaupt?«

»In Ehrenfeld. Neptunplatz. Du fährst am besten mit der 3 oder

4 bis Körnerstraße.«

Lale legte auf, stopfte das Handy zurück in ihre Hosentasche

und stellte einen Zuckerstreuer auf den Tisch neben Lucky.

»Adnan-Ersatz?«, fragte Lucky hoffnungsfroh.

»Nur ne Freundin.« Lale ließ das Wort kurz einwirken, checkte

ihre Intuition. »Eigentlich nicht mal das. Rudi ist die kleine

Schwester von meinem Ex.«

Erst jetzt bemerkte sie das Brandloch in der Leinenserviette,

die sie zur Tischdecke umfunktioniert hatte. Ärgerlich. Das

Ding konnte sie wegschmeißen.

»Dein Ex?« Luckys Stimme klang fast ahnungslos. »Der Spin-

ner, der in Afghanistan Krieg spielt?«

»Eingezogen heißt das im Deutschen. Und die spielen da nicht,

da ist Krieg.« Lale versuchte die Serviette so zu drehen, dass das

Loch möglichst wenig auffiel. Vergeblich. Verärgert stellte sie

schließlich den Zuckerstreuer darüber, entschied sich wieder

um und riss das schäbige Teil vom Tisch.

»Klar ist da Krieg, Lale. Den haben wir ja da hingebracht.«

Lale spürte ein wütendes Brennen in ihrem Hals, zwang sich

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aber, einigermaßen ruhig dagegen anzusprechen. »Glaubst du,

Hannes ist gerne da?« Sie vermied jeden Augenkontakt mit Lu-

cky, in der Hoffnung, nicht in zornige Tränen auszubrechen.

Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, die zwei letzten Tische

mit Streuern zu bestücken.

»Offensichtlich scheint er da unten lieber zu sein als bei dir«,

setzte Lucky nach. »Sonst hätte er wie jeder andere vernünftige

Mensch verweigert. Oder wäre desertiert.«

Mit einem Ruck riss Lale das Tablett in die Höhe. Die verbliebe-

nen Streuer darauf wackelten und klirrten dramatisch.

»In deiner Welt möcht’ ich leben, Lucky! Bei dir ist immer alles

so einfach.« Lale stampfte zur Theke, stellte das Tablett ab und

griff in einer Übersprunghandlung nach dem Putzlappen für die

Tische.

»Du würdest Rudi mögen, die denkt genauso schwarz-weiß wie

du.«

»Oh, heißt das, sie findet Krieg auch scheiße? Und tote Solda-

ten?« Lucky grinste selbstgefällig. »Ist mir jetzt schon sympa-

thisch, die kleine Schwester vom großen Friedensstifter.«

»Lucky, du nervst!«

»Ich nerve? Weil ich dir klarmachen will, dass du immer noch

an deinem Ex hängst?«

Lale erstarrte. »Was soll denn jetzt der Scheiß?«

»Du nimmst ihn in Schutz«, stieß Lucky seinen Kaffeelöffel

triumphierend in ihre Richtung.

»Ja, weil … er wollte helfen, das Land aufzubauen.«

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»Was vielleicht gar nicht nötig wäre, wenn wir’s nicht vorher

zerbombt hätten«, sah Lucky sich in seiner Theorie bestätigt

und ließ den Löffel klirrend in die Espressotasse fallen.

Da der Wischlappen keinen Schaden anrichten konnte, warf

Lale ihn nicht nach ihm.

»Das waren die Taliban, du Pinsel. Das ist ein Terrorregime!

Also, ich mein, das war …« Lale stotterte. Sie hatte eigentlich zu

wenig Ahnung von Politik.

»Das war und ist ein Terrorregime. Und zwar das der Imperia-

listen, Lale. Die Amis, die Briten, wir. Das sind doch nicht Men-

schen, die wir da retten wollen. Das sind Ressourcen! Gas. Öl.

Opium.«

»Hannes ist aber da unten, weil er den Menschen helfen will!«

Fast hätte sie mit dem Fuß aufgestampft wie ein trotziges Kind.

»Er würde den Menschen mehr helfen, wenn er hierbliebe. Und

dir auch. Du liebst ihn nämlich immer noch.«

»Schwachsinn!« Was bildete Lucky sich überhaupt ein? Er

kannte sie doch kaum!

»Schwachsinn, es abzustreiten, Lale. Du leugnest die Wahr-

heit. In Bezug auf Afghanistan. Den Krieg. Mutter Hannes

Theresa … er hat dich verlassen! Er hat dich eingetauscht für

eine andere Braut. Oder besser: für zwei andere Bräute. Und

weißt du, wie die heißen? Heckler und Koch. Mord und Tot-

schlag. Zerstörung und Wiederaufbau. Krieg und kriegsähn-

liche Zustände.«

»Verschon mich mit deinen langweiligen Vorträgen.«

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»Solang ich hier auf mein Frühstück warten muss, texte ich dich

mit allen Verschwörungstheorien voll, die mir einfallen … Bush

und Halliburton, Marionetten-Karsai, Mohn-Mafia und Kokain-

Kartell, Waffen-Lobbyismus, Bin Ladens vertuschter Tod …«

»Du nervst total, Lucky! Halt doch einfach mal die Fresse.«

Lucky legte den Kopf kurz schief wie ein Wellensittich, dem

man einen Witz erzählt. Irgendwie süß. Und obwohl er sie ge-

rade bis aufs Blut gereizt hatte, musste sie lachen.

»Was willst du essen?«

»Drei Rühreier, mit Speck und Lauch, bitte. Ciabatta mit Man-

chego. Und noch einen Kaffee. Schwarz. Zäh. Und einen Gruß in

die Küche, die Köchin sieht heute ausgezeichnet aus.«

»Spar dir die Komplimente«, sagte sie geschmeichelt. »Tu mir

lieber einen Gefallen.«

»Jeden, Prinzessin.«

»Komm mir heute bloß nicht mehr mit dieser ›Du liebst

ihn‹-Kacke, verstanden? Hannes ist Geschichte. Und mein Ma-

gen grummelt so schon schlimm genug.«

Damit verschwand Lale in der Küche. Sie machte das Radio an,

in dem Jan Plewka gerade »ohne dich« auskommen musste, ent-

fachte den Gasherd, stellte die gusseiserne Pfanne darauf und

goss einen Schuss kalt gepresstes Olivenöl hinein. Lucky und

Selig hatten ihren wunden Punkt getroffen. Sie wusste, das

Thema Hannes war noch lange nicht gegessen.

Doch zwischen all dem unternehmerischen Tagesgeschäft, der

Kundenpflege und -Akquise, dem toughen Verhandeln auf dem

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Großmarkt, dem Planen und Umsetzen eines kreativen Mittags-

tischs – zwischen all dem Stress hatte sie echt keine Zeit, sich

auch noch über Hannes Gedanken zu machen. Und Sorgen

schon gar nicht. Oder? Er war ja gegangen. Er hatte ja mehr von

der Zukunft gewollt, als in Köln mit einem Café einer entspann-

ten Zukunft entgegenzuleben. Hannes, der Abenteurer.

Lale knallte die drei Eier in die Pfanne, dass es spritzte. Mit je-

dem Ei verrauchte etwas mehr von dieser diffusen Wut, die ihr

den Magen abschnürte wie ein Emo-Korsett.

Sie liebte diese tausendfach ausgeführten Bewegungen beim

Kochen. Arbeitsabläufe, die es ihr erlaubten, gedanklich ganz wo-

anders zu sein. Nicht in dieser kleinen, gemütlichen Gastro-Kü-

che. Sondern irgendwo, wo es warm war. Ursprünglich. Einfach.

Mit einer routinierten Handgelenkspeitsche wendete sie das

Rührei. Glitt zurück in das Urlaubs-Feeling. Die Sonne. Der

Wind. Schlichtes Leben. In der Natur …

»Lale?«

Vor Schreck ließ sie den Holzwender in die Pfanne fallen: Vor

ihr stand Rudi. Hannes’ kleine Schwester, die auch ein bisschen

Lales kleine Schwester geworden war. Die kleine, ängstliche

Rudi, die lieber kleine Zettel schrieb, als die Dinge auszuspre-

chen. Die sich immer hinter Lale versteckt hatte, wenn sie in der

Szene unterwegs gewesen waren. Die Rudi, von der Lale nie ver-

mutet hätte, dass sie sich jemals aus Bielefeld raustrauen würde.

Und die jetzt Kölnerin war. Erwachsen. Bildhübsch. Und immer

noch die kleine Schwester ihrer großen Liebe.

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Lale spürte ihre Übelkeit, spürte mit einem Mal alle verdrängte

Angst, fiel Rudi in die Arme und vergoss den bitterlichsten Trä-

nenstrom, seit Hannes ihr vor Monaten sein Testament gegeben

und sich dann auf in den Krieg gemacht hatte.

Lale war total überrascht, wie sehr Rudi sich verändert hatte. Da-

mals kriegte sie vor Jungs kaum die Augen von den Schuhspit-

zen. Heute sah sie Lucky offen an, lachte mit rauhem Husten

über seine Scherze und ließ dabei ihre Korkenzieherlocken auf

und ab fliegen.

Gott sei Dank parkte Lucky das Afghanistan-Thema und kon-

zentrierte sich auf eine seiner Kernkompetenzen: Er spielte den

Clown.

Lale servierte den beiden gerade HoLimo, eine Eigenkreation

aus Holundersaft, Ingwer, Sternanis und Limette, die es zum ab-

soluten Saisonaufsteiger geschafft hatte und inzwischen fast

zehn Prozent von Lales Umsatz ausmachte. Da betrat eine Mitt-

dreißigerin mit Kurzhaarschnitt und 80er-Jahre-Look – der mo-

mentane Klassiker unter den Alleinerziehenden – den Laden. Sie

ignorierte die Tische und ging direkt auf den Tresen zu. Irgend-

etwas an der Frau kam Lale bekannt vor. Lucky schien dasselbe

zu denken, denn auch er sah die Wasserstoff-Blondine fast ent-

geistert an. Lale kramte in ihrem Gedächtnis, doch es stellte sich

keine Erleuchtung ein, die Blondine erinnerte höchstens etwas

an Brigitte Nielsen.

Inzwischen stand die Frau direkt vor Lale. Sie war enorm groß

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und ziemlich stabil, hatte keine erkennbare Taille und ein auffal-

lend spitzes Kinn. Ihre kleinen braunen Fuchsaugen lagen in tie-

fen, schwarz umrandeten Höhlen, und ihre Oberlippe klebte so

nah an ihrer Nase, dass ihre obere Zahnreihe permanent zu se-

hen war – sogar, wenn sie nicht lächelte.

Im Ton einer Befehlsausgabe erhielt Lale die Information, dass

die Blondine Tatjana hieß, tatsächlich alleinerziehend und auf

der Suche nach einem Job war. Und dass sie von Adnan gehört

hatte. Und wie schrecklich kompliziert das sei im Kosovo. Und

weil Tatjana nicht nur kellnern, sondern auch kochen und ba-

cken konnte, bewarb sie sich kurzerhand für den Job als Küchen-

chefin.

Lale konnte ihr kaum folgen, was zum einen daran lag, dass

Tatjana in etwa so schnell sprach wie Karl Lagerfeld. Zum ande-

ren aber nervte es total, dass Lucky im Hintergrund irgendwel-

che Zeichen machte. Kurzentschlossen schob Lale Tatjana einen

Block samt Stift zu, ließ sich ihre Handynummer geben und ver-

sprach, sich wegen des Jobs zu melden. Kaum hatte Tatjana das

Mampf verlassen, setzte Lale sich zu Lucky und Rudi an den

Tisch.

»Lucky, was sollten diese Flugzeugeinweiser-Gesten?«

»Nimm die nicht, Lale, die Frau ist Horror!«

»Optisch oder was?«, wunderte Rudi sich über Luckys Aus-

bruch.

»Nee! Im Verhältnis zu ihrer Art ist die Optik ein Hauptgewinn.

Passt auf: Ich war vor ein paar Monaten im Sehnsucht.«

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»Wie?!«, schmollte Lale scherzhaft, »du gehst heimlich in an-

dere Cafés?«

»Süße, da gab’s dein Mampf noch gar nicht. Stellt euch vor:

Sommer, 30 Grad Mittagshitze. Ich bin total froh, denn das Baby

vom Nebentisch hat endlich aufgehört zu schreien. Nach einer

Stunde! Ich kuck also nach nebenan. Da seh’ ich, wie die Mutter

ihre Glocken auspackt und das Baby ernsthaft fragt, an welchen

Nippel es will. Habt ihr sowas schon gehört?! Das Baby offen-

sichtlich auch nicht, also hat es einfach an einem angedockt.

Keine Minute später krabbelt ein Kind unterm Tisch vor und will

eine Cola. Stattdessen nimmt die Mutter den Knirps an die an-

dere Brust.«

Lucky schüttelte sich.

»Der Kurze hat total angeekelt gekuckt beim Saugen. Na ja, ich

jedenfalls dreh mich um und will gerade anfangen zu schreiben,

da singt die Alte ihr Baby in den Schlaf. ›Stille Nacht‹, mitten am

Tag, im Hochsommer! Arbeiten ging da natürlich nicht. Irgend-

wann war ich mit den Nerven so durch, dass ich aufgestanden

bin, um mir Klopapier für meine Ohren zu holen. In dem Mo-

ment springt der Kurze unter einem der Stühle hervor, ich fall

über ihn, stoße gegen den Tisch, das Baby wird wach und

schreit, der Kleine sieht mich außer Gefecht – und säuft meine

Cola aus!!«

Lucky machte eine dramaturgische Kunstpause.

»Ich schrei ihn an, er und das Baby schreien zusammen zurück.

Und zwar so laut, dass Oskar Matzerath über seiner Blechtrom-

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mel in neidische Tränen ausgebrochen wäre. Und wisst ihr, was

diese Frau zu mir sagt? Die sieht ihre schreienden Kinder an,

dann mich und meint: ›Ganz schön laut für so halbe Portionen,

oder?‹ Und ihre Augen glühen dabei vor Mutterstolz.« Lucky

hatte sich endgültig in Rage geredet. »Ist das zu fassen?«

Auf seinen Wangen zeichneten sich zwei große, karmesinrote

Flecken ab. Rudi grinste.

»Und was hat das mit Tatjana zu tun?«, fragte Lale müde.

Manchmal nervte es sie, dass Lucky immer aus allem eine Rie-

senstory machen musste. Lucky sah Lale an, als hätte sie einen

Popel an der Nase.

»Mann, Lale! Das war Tatjana!« Er schnappte nach Luft. »Ich

habe mir geschworen, ich betrete nie wieder einen Raum, in

dem sie ist.«

»Verstehe. Mit anderen Worten: Entweder ich stell Tatjana ein

und verliere einen Stammkunden, oder mein Laden geht den

Bach runter.«

»Dann helf ’ ich dir eben«, maulte Lucky.

»Mit dir als Koch geht der Laden erst recht den Bach runter.«

»Ich bin ja auch noch da«, mischte sich Rudi ein. »Wenn du

kochst und Lucky und ich dir helfen, kriegen wir das schon hin.

Was meint ihr?«