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MATERIALDIENST Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 66. Jahrgang 12 / 03 ISSN 0721-2402 H 54226 Fabulierlust ohne Grenzen – Zum 500. Geburtstag von Nostradamus Ziele des biomedizinischen Fortschritts (I) – Eine Krisenbeschreibung Neues zu Scientology Erfahrungen des Berliner Senats mit seinen „Sekten“-Berichten Siebzig Jahre und kein bisschen leise – Gabriele Wittek mobilisiert ihre Anhänger Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen

66. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 12 Neues zu Scientology … · 2020. 5. 20. · Franzose Jean-Charles de Fontbrune (Pseudonym), der die Nostradamus-Inter-pretationen seines Vaters,

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ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

66. Jahrgang 12/03IS

SN 0

721-

2402

H 5

4226

Fabulierlust ohne Grenzen – Zum 500. Geburtstag von Nostradamus

Ziele des biomedizinischen Fortschritts (I) – Eine Krisenbeschreibung

Neues zu Scientology

Erfahrungen des Berliner Senats mit seinen„Sekten“-Berichten

Siebzig Jahre und kein bisschen leise – Gabriele Wittek mobilisiert ihre Anhänger

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

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Matthias PöhlmannFabulierlust ohne Grenzen – Der neue Kult um NostradamusZum 500. Geburtstag des französischen Arztes und Astrologen 443

Ulrich EibachKrise der Ziele des biomedizinischen Fortschritts (I)Ist der biomedizinische Fortschritt automatisch ein moralischer und humaner Fortschritt? 456

Werner ThiedeRudolf Steiner vor dem „Mysterium von Golgatha“Eine historisch-kritische Perspektive – 100 Jahre danach 465

GesellschaftPartei Bibeltreuer Christen streitet über Irak-Krieg 469

Rath gegen den Rest der Welt 469

Ideologische Vereinnahmung des Weihnachtsfestes 470

ScientologyScientology macht wieder auf sich aufmerksam 471

Besier gibt sich unter Druck gelassen 473

Sondergemeinschaften / SektenDer lange Marsch und die Mühen der Ebene: Verwaltungsgerichtsverfahren gegen „Sekten“-Bericht des Berliner Senats beendet 473

Universelles LebenSiebzig Jahre und kein bisschen leise 475

INHALT MATERIALDIENST 12/2003

IM BLICKPUNKT

BERICHTE

INFORMATIONEN

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Neuapostolische KircheUmfrage zur Öffentlichkeitsarbeit 477

Lorber-BewegungVorsitzender der Lorber-Gesellschaft verstorben 478

In eigener SacheKompakt-Infos der EZW 479

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443MATERIALDIENST DER EZW 12/2003

IM BLICKPUNKTMatthias Pöhlmann

Fabulierlust ohne Grenzen – Der neue Kult um NostradamusZum 500. Geburtstag des französischen Arztes und Astrologen

Das Wunder bei Nostradamus ist nicht sein Text, sondern die Auslegekunst seiner Erklärer.

Max Dessoir1

Am 14. Dezember 2003 jährt sich zum500. Mal der Geburtstag des Arztes undAstrologen Michel de Notredame (1503-1566), der sich dem humanistischen Zeit-geschmack folgend den latinisierten Na-men Nostradamus zulegte.2 Nostradamus’literarische Hinterlassenschaft, insbeson-dere Weissagungen und Prophezeiungenin Versform, hat wie keine zweite den For-schergeist angetrieben und die Phantasievon Nostradamus-Auslegern beflügelt. Imeinschlägigen Handwörterbuch des Deut-schen Aberglaubens heißt es lapidar: „Nos-tradamus ist ebenso als Seher gepriesen,wie als Schwindler beschimpft worden.“3

Sein Hauptwerk „Les Propheties“ (DieProphezeiungen) erschien 1555 in ge-druckter Form in Frankreich und bestehtaus rund 1000 Vierzeilern (Quatrains), diein Gruppen von jeweils 100 in zehn Zen-turien (Centuries) zusammengefasst sind.Das Werk hat eine schier unglaublicheWirkungs- und wechselvolle Interpreta-tionsgeschichte erlebt.4 Ebenfalls unterseinem Namen kursierten zahlreiche Fäl-schungen.5 Angeblich enthalte – davonsind die meisten der schreibenden Nos-tradamus-Experten überzeugt – sein Werkfortlaufende Weissagungen über dasSchicksal der Menschheit bis in das vierteJahrtausend. Besonders in wirtschaftlichen

und politischen Krisenzeiten mehren sichdie Publikationen, die beanspruchen, dieultimative Deutung der Schriften des Nos-tradamus gefunden zu haben. Eine histo-risch-kritische Auslegung der Texte ist we-niger gefragt – im Gegenteil: Die jeweiligeNostradamus-Interpretation wird zur ‚Eis-egese’, zur ‚Hinein-Deutung’, – je nachweltanschaulichem Standpunkt des Inter-preten. Die Enthüllungsliteratur über diewahre Bedeutung, den tieferen Sinn, dieletzten Geheimnisse und Vorhersagen fürdas 21. Jahrhundert hat nach wie vor Kon-junktur. Rund 170 verschiedene lieferbareTitel listet ein Internet-Buchhändler auf.Auf über eine Viertel Million Trefferweltweit stößt man beim Suchbegriff„Nostradamus“ im Internet. Derzeit exis-tieren rund 400 Interpretationen, teilweisemit wissenschaftlichem Anspruch, die sichum das Deutungsmonopol der Schriftenbemühen.6

1. Seher, Visionär, Untergangsprophet?

Die Stunde unheilvoller politischer Ent-wicklungen ist immer auch die Stunde derNostradamus-Interpreten, der „Nostrada-miten“. Viele von ihnen meinen denSchlüssel zum Verständnis der ohnehinmehrdeutigen Schriften zu besitzen. Die

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Buchtitel sind Programm: „Nostradamus –Klartext! Schreckenszenarium Zukunft:Terror, Angst, Umweltschock, Asien undNahost“, „Nostradamus heute – DasGeheimnis der großen Seher“ oder „Nos-tradamus entschlüsselt“. Während dieeinen im Schrifttum nach einer nach-träglichen Bestätigung historisch bedeu-tender Ereignisse suchen, konzentrierensich andere darauf, Hinweise auf nochausstehende Katastrophen, Terror undSchreckensereignisse herauszufiltern. ImInternet heißt es etwa auf der Seite einesNostradamus-Forschers: „In einer dernoch nicht eingetroffenen Prophezeiungensagt Nostradamus einen schrecklichenTerroranschlag während einer großensportlichen Veranstaltung voraus. Dabeinennt er sogar das Land und die Mann-schaften, die im sportlichen Wettkampfstehen, wenn der blutige Terroranschlagerfolgt...“7 Das Geschäft mit der Angst flo-riert nicht erst seit dem 11. September2001. Die Zeitumstände sind günstig, umauf der Grundlage eigenwilliger Auslegun-gen bzw. Aktualisierungen der Weissagun-gen immer neue Schreckenszenarien zuentwerfen und über das Internet zu ver-breiten. Ein Ende dieses Booms ist nichtabsehbar. Im Gegenteil: Es ist damit zurechnen, dass der Nostradamus-Kult bzw.„Nostradamismus“ (Elmar R. Gruber)weiter anhalten wird.Von jeher wird in diese dunklen, schwerverständlichen Texte – abgefasst in einem„Gemisch aus Französisch im Languedoc-Dialekt, mittelalterlichem Latein undzahlreichen eingeflochtenen spanischen,italienischen, griechischen, hebräischenu.a. Fremdwörtern sowie eigenen Wort-neubildungen und -umbildungen (Neolo-gismen und Anagrammen)“8 – ein tiefererSinn hineingedeutet. Sie beziehen ihreRätselhaftigkeit zu keinem geringen Teilaus der damals gängigen uneinheitlichenRechtschreibung und der Verstümmelung

der Texte in den Setzerstuben der Drucker.Vor allem im Nachhinein werden immerwieder erstaunliche „Treffer“ konstatiert –je nach Verwendung des Schlüssels oderder individuellen Interpretation. Seit jehersteht der Name Nostradamus für geheimeProphezeiungen, verschlüsselte Weissa-gungskunst und eine mehr oder wenigerdüstere Zukunftsschau.

2. Wer war Nostradamus?

In allgemeinen Lexika finden sich sehrknappe Angaben zu seiner Person9, so imNeuen Brockhaus: „Nostradamus, eigent-lich Michel de Notredame, französischerMathematiker und Astrologe, *Saint-Rémy-de-Provence (bei Tarascon-sur-Rhône)14.12.1503, † Salon-de-Provence (bei Aix-en-Provence) 2. 7. 1566; schon zu Lebzei-ten berühmter Leibarzt Katharinas von Me-dici und Karls IX. Seine dunklen Prophe-zeiungen in je 100 gereimten Vierzeilern(‚Prophéties’ bzw. ‚Centuries’, 1555 [1-7],1558 [8-10], nach 1566 [11-12]) wurdenimmer wieder, selbst Ende des 20. Jahr-hunderts, durch wachsendes Interesse an‚Geheimwissenschaften’, neu gedeutet.“10

Nostradamus entstammte einer Familievon konvertierten Juden. Er studierte Me-dizin, praktizierte ein Zeit lang als Arztund führte ein unstetes Wanderleben.Zwischenzeitlich kam er in Kontakt mitdem bedeutenden Humanisten Julius Cae-sar Scaliger (1484-1558), mit dem er sichspäter überwarf. Als Arzt tat Nostradamussich besonders bei der Bekämpfung derPest hervor, und diesen Beruf übte er auchin Salon aus, wo er sich schließlichniederließ. Nach 1534 heiratete er. Ausder Ehe gingen zwei Kinder hervor. Nos-tradamus publizierte in dieser Zeit einigemedizinische Werke, die Fragen derDiätetik, aber auch die Verschöne-rungskunst zum Inhalt hatten, bevor ersich schließlich der Astrologie zuwandte.

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Vermutlich standen seine Okkultstudienin engem Zusammenhang mit dem Verlustseiner Familie, die 1537/38 von einerPestepidemie dahingerafft wurde. 1542heiratete er ein zweites Mal. Aus der Ehegingen sechs Kinder hervor. Seit 1550 veröffentlichte er alljährliche Al-manache in Prosa mit Weissagungen fürdas darauffolgende Jahr, ein Publikations-typus, der durch die Buchdruckerkunstweite Verbreitung fand. Schließlich ginger dazu über, großangelegte Prophezeiun-gen für kommende Jahrhunderte und Jahr-tausende zu verfassen. Schnell erlangte ermit seinen Texten die Bewunderung seinerZeitgenossen. 1555 erschien der ersteBand seiner Centurien mit 353 Strophen.1568, zwei Jahre nach Nostradamus’ Todin Salon am 2. Juli 1566, wurden alleCenturien in Lyon publiziert. Leider gibtes bislang keine Gesamtausgabe seinerSchriften.Das Zeitalter des Michel de Notredamewar gekennzeichnet von politischen, mili-tärischen, wissenschaftlichen und religiö-sen Herausforderungen. Astrologische Bei-träge für das politische Leben erlebteneinen immensen Aufschwung. Nostra-damus kombinierte die Lehre von denGroßen Konjunktionen und andere astro-logische Methoden mit einem visionärenBlick in die Zukunft. Kritiker zweifeln je-doch seine handwerklichen astrologi-schen Fähigkeiten stark an. Bestand seineeigentliche Leistung vielleicht nur darin,sich in einer Zeit des Umbruchs gut „ver-marktet“ zu haben? Denn Nostradamusgerierte sich in seinen Texten nicht mehrnur als Astrologe oder Wahrsager – dastaten damals auch andere –, sondern als„Prophet des Menschenschicksals“11. Warder „Seher von Salon“ nicht vor allem einProdukt seiner Zeit – einer Zeit des politi-schen, religiösen und gesellschaftlichenUmbruchs? Nostradamus kann insofernals modern gelten, als er seinen Zeit-

genossen nicht länger die Utopie einerglücklichen Zukunftsgesellschaft verheißt:„Vielmehr löst sich ihm Geschichte ineine Folge von bedrohlichen Visionen auf,die immer neues politisches Unglück, im-mer neue historische Untiefen aufzeigenund Goldene Zeitalter nur mehr als Zwi-schenphasen in den allgemeinen Welt-wirren begreifen.“12 Dass Nostradamusden Nerv seiner Epoche traf, beweist dieResonanz, die seine Texte noch zu Leb-zeiten gefunden haben. „Die Anwendungastrologischer Techniken auf politischeund geschichtliche Fragestellungen sowiedie Instrumentalisierung solcher Deutun-gen durch die Herrschenden gehörte ... seitBeginn der Astrologie zu ihren wichtigstenFunktionen. Was in der Renaissance neuhinzu trat, war die ungeheure Verbreitungund Popularisierung dieser Geschichtsin-terpretationen.“13

3. Der heutige Nostradamus-Boom – Stationen und Hintergründe

Seit vielen Jahren und Jahrzehnten tau-chen die Prophezeiungen des Nostrada-mus immer wieder auf, besonders in Pha-sen gesellschaftlicher Umbrüche, Verunsi-cherungen oder nach eingetretenen Katas-trophen, in Stimmungslagen also, in de-nen der ultimative Blick in die Zukunft be-sonders gefragt ist. In Deutschland hat dasInteresse an neuen Interpretationen seinerSchriften in den letzten 20 Jahren deutlichzugenommen.

Beginn in den 1980er Jahren

Spätestens seit Juli 1981 lässt sich ein„Nostradamus-Boom“ nachweisen14: Be-reits 1980 veröffentlichte der 46-jährigeFranzose Jean-Charles de Fontbrune(Pseudonym), der die Nostradamus-Inter-pretationen seines Vaters, Max de Font-brune, fortführen wollte, ein Buch mit

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dem Titel „Nostradamus – Historien etPropheté“. Darin liefert er eine compu-terunterstützte Deutung der Quatrains fürdie Zeit von 1555 bis zum Jahr 2000. Die französische Zeitschrift Paris Matchwurde auf den Autor aufmerksam und batihn im Juli 1981 um ein Interview, das inder Öffentlichkeit große Beachtung fand.De Fontbrunes Buch wurde zum Best-seller. 600 000 Exemplare gingen überden Ladentisch. Seine detaillierte Katastro-phenprognose traf genau den Nerv derZeit: Der Papst wird in Lyon ermordetwerden, ein Dritter Weltkrieg wird ausbre-chen, eine sowjetisch-islamische Invasionkommt über Europa, Paris wird von derRoten Armee verbrannt werden und dieFünfte Republik schließlich 1984 blutigbeseitigt. Am Ende – so die eigenwilligeNostradamus-Interpretation de Fontbrunes –würde Europa unter der Herrschaft eines„Heinrich des Glücklichen“ die Rückkehrzur Monarchie vollziehen. So absurddiese Vorhersagen im Nachhinein er-scheinen, immerhin ein Viertel der Fran-zosen – 14 Millionen – war einer damali-gen Umfrage zufolge von deren Eintreffenüberzeugt.1982 erfasste der Nostradamus-Boomauch die Bundesrepublik. Während dersog. Nachrüstungsdebatte (NATO-Dop-pelbeschluss), als in Teilen der Bevöl-kerung die Angst vor einem atomaren In-ferno wuchs, kam es zu einer Flut vonBüchern mit Kriegs- und Endzeitpro-phetien, in denen sich immer wieder neueKombinationen und Interpretationsvari-anten der gleichen „prophetischen“ Bau-steine finden lassen: „Darunter fallen die‚Große Finsternis’, (gefälschte) Päpste-Weissagungen, die ‚Schlacht am Birken-baum’, die Invasion aus dem Osten, die‚Kosmische Katastrophe’ und andere Na-turereignisse (etwa der ‚Polsprung’), dieBestrafung der sittlich verkommenenMenschheit, das Kommen des großen Mo-

narchen und schließlich der Anbrucheines glücklichen Zeitalters. Endzeitpro-phetien und Weissagungsklischees dieserArt spiegeln kollektive Erwartungsmusterwider, die sich leicht zu einem gewinn-bringenden Geschäft mit einer verbrei-teten Katastrophenangst ummünzenlassen.“15

Zunächst waren es Verlage, die die dunk-len Weissagungs-Interpretationen ausdem Französischen verbreiteten. In dieserZeit befasste sich Wilhelm Quenzer, da-mals der zuständige Referent der Evange-lischen Zentralstelle für Weltanschau-ungsfragen, im Materialdienst mit der„Konjunktur für Nostradamus“: „Nachdem ziemlich rasch schwunglos geworde-nen ‚Angriff auf die Zukunft’ der compu-terbewehrten Futurologen von gestern ha-ben nun altbewährte Katastrophen-Wahr-sager aus der Okkult-Szene ihre Chance.Und mitten unter ihnen natürlich wiederder unverwüstliche Nostradamus... Regel-mäßig in krisenhaften Zeiten müssen die-se Orakel aufs Laufende gebracht, dasheißt, im nachhinein passend gemachtwerden. So glaubt man hier heutzutageauch Katastrophen-Szenarien des Atom-zeitalters vorgezeichnet zu finden.“16

Hans Bender, damals Leiter des Institutsfür Grenzgebiete der Psychologie undPsychohygiene in Freiburg, konstatierte1983: „Die Quatrains als Projektions-fläche der Ängste – ein gewinnbringendesGeschäft mit der Endzeitstimmung.“17

Sonnenfinsternis (11. August 1999) und„Millenniumswechsel“ (1999/2000)

Im Jahre 1996 war nach dem Boom in den80er Jahren wieder eine „Hochkonjunkturvon Weltuntergangspropheten“ wie Nos-tradamus abzusehen.18 Sie erfuhr diesmalsogar noch eine Steigerung. Medial insze-nierte Großereignisse wie die Sonnenfins-ternis in Deutschland am 11. August 1999

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sowie der als „Mega-Event“ begangeneJahreswechsel von 1999 zu 2000 botenreichlich Stoff für weitere spekulative Hö-henflüge.19 Unkritische Berichte in Eso-terik- und Astrologie-Zeitschriften, aberauch in der Regenbogenpresse und in Ma-gazinsendungen privater Fernsehsenderverstärkten den Nostradamus-Trend. Be-sonders der Vierzeiler in Centurie X,72 er-hitzte die Gemüter. Die Datierung auf Juli

1999 anstelle von August 1999, demeigentlichen Termin der Sonnenfinsternis,sowie die Deutung des „großen Schre-ckenskönigs“ und der darauffolgendenZeit lässt vielfältige und einander wider-sprechende Interpretationen zu. Allein dieÜbersetzung dieses Vierzeilers brachte dieunterschiedlichsten Interpretationsvarian-ten mit sich. Drei publizierte Versionenmögen das verdeutlichen:

Im Jahr 1999, im siebten Monat Kommt vom Himmel ein großer Schreckenskönig.Er wird den großen Herrscher von Angouleme zur Macht bringen.Vor und nach einem Krieg wird er zu guter Stunde regieren.

Kurt Allgaier20

Im Juli (dem siebenten Monat des Jahres) 1999 wird ein mächtiger Schreckensherrscher auf dem Luftweg kommen, um den großen Eroberer des Angoûmois wiedererstehen zu lassen. Davor und danach wird Krieg herrschen, zum Glück.

Jean-Charles de Fontbrune21

Im Jahre 1999, im siebenten Monat,Wird ein großer Schreckenskönig vom Himmel kommen:Den großen König von Angoulmois wird der von den Toten erwecken,Vor und nach Mars wird der durch Glück regieren.

David Ovason22

Als sich im Zusammenhang mit dem 11.August 1999 außer einer beeindrucken-den Sonnenfinsternis über Deutschlandnichts Außergewöhnliches ereignet hatte,kamen einige, die im Vorfeld öffentlicheSchreckensszenarien entwickelt hatten, ingroße Argumentationsnöte.23 Andere, wieder österreichische Professor AlexanderTollmann24, sahen sich nach dem Nicht-eintreffen ihrer Prophezeiungen zum öf-fentlichen Widerruf veranlasst25 odermussten – wie der Modeschöpfer und Eso-terik-Autor Paco Rabanne26 – öffentlicheHäme über sich ergehen lassen. StephanBerndt, der im Vorfeld der Sonnenfinster-nis von 1999 mit düsteren Endzeitprog-nosen von sich reden machte, schrieb

zwei Jahre später: „Der berühmte Vier-zeiler X;72 von Nostradamus war imGrunde das Einzige, was aus der großenFülle europäischer Prophezeiungen vonder Öffentlichkeit wahrgenommen wurde.Dieser Vierzeiler deutet (!) auf dramati-sche Ereignisse im Jahre 1999. Definitivvoraussagen tut er sie nicht! Der Bezugzur Sonnenfinsternis am 11. August 1999allerdings drängte sich geradezu auf.“27

Und so folgert er: „Oft erkennt man denSinn seiner Vorhersagen aber erst nachdem Eintritt der Ereignisse.“28 Auch fürden Millenniumswechsel gab es ver-einzelt ein Nostradamus-Revival. DerFranzose George Minois stellte bereits1998 fest, dass 327 Prophezeiungen ge-

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zählt wurden, die das Jahr 2000 zumSchicksalsjahr erklärten: „Daß die Wendedes Millenniums mit der Wende der Ärades Tierkreises zusammenfällt, die die Ex-perten zwischen 1960 und 2040 ansie-deln, ist ein einzigartiges, erregendes Fak-tum, das alle möglichen prophetischenPhantasien entzünden muß.“29 Bis ins Jahr1998 wurden allein etwa 1500 verschie-dene Auslegungen von Nostradamus-Tex-ten gezählt.30

11. September 2001

Unmittelbar nach den Terroranschlägen inden USA war Nostradamus in der Inter-net-Suchmaschine Google der meistge-suchte Mann – noch vor Osama BinLaden, Eminem und Michael Jackson!31

Die Terroranschläge am 11. September inden USA und die rasche Verbreitung ei-genwilliger Nostradamus-Interpretationenvia Internet und E-Mails haben zu einerimmensen Konjunktur des „Sehers“ ge-führt. So berichtet Ray O. Nolan, der dieInternetseite nostradamus-prophezeiun-gen.de betreibt, rückblickend: „FalscheNostradamus-Prophezeiungen jagten inSekundenschnelle durch die Datenhigh-ways des Internet, Presse und Fernsehenstürzten sich wieder auf die Prophezeiun-gen, und die Besucherzahlen auf meinenWebseiten schnellten von bis dahin15000 monatlichen Besuchern auf über100 000 pro Woche hinauf. Meine Forenquollen über vor Hilfesuchenden undängstlichen Fragestellern, Falschmeldun-gen und zusammengestrickten Nostrada-mus-Interpretationen.“32

Vielfach geht es im Zusammenhang mitNostradamus nicht nur um Zukunftsschauoder die Vorhersage künftiger Ereignisse.Meist wird versucht, in der Vergangenheitliegende historische Begebenheiten oderaktuell eingetretene Katastrophen nach-träglich in die Prophezeiungen des fran-

zösischen Sehers hineinzulesen. BerndHarder hat recht, wenn er schreibt: „Nostradamus – das bleibt für viele derokkulte Lotse durch die Wirren der Ge-genwart. Wer daran glaubt, dass zum Bei-spiel der Anschlag auf das World TradeCenter bereits vor 500 Jahren von Nos-tradamus beschrieben worden ist, derakzeptiert zugleich die Vorstellung einesverborgenen Plans hinter dem Weltge-schehen. Was wiederum helfen mag,solchen Ereignissen etwas von ihremUnbegreiflichen, Sinnlosen zu nehmen.Zweifellos herrscht in Krisenzeiten einstarkes Bedürfnis vor, das eigene Lebenund Erleben einzubinden in einen über-geordneten Weltenlauf, um die persön-liche Hilflosigkeit, Isolation und das Er-schrecken ein wenig abzumildern. DieWahrheit ist nicht – wie in der TV-SerieAkte X – irgendwo da draußen, sondernim Kopf des Betrachters.“33

Hohe Technisierung, rasche Publizitätund virtuelle Täuschung

Auffällig ist, dass die Abstände, in denensich die Nostradamus-Deuter zu Wortmeldeten, immer kürzer wurden. ZweiFaktoren spielen hier eine Rolle: zumeinen eine zunehmende Modernisierungund Technisierung der Nostradamus-Rezeption, d.h. der Anspruch der Interpre-ten, mit Hilfe eigens entwickelter Compu-terprogramme die wahre Bedeutung derProphezeiungen Nostradamus’ und damiteinen geheimen „Endzeitfahrplan“ für dieZukunft entschlüsselt zu haben; zum an-deren die zunehmende Publizität undletztlich rasche, unkonventionelle Verbrei-tung abstruser Nostradamus-Interpretatio-nen oder sogar gefälschter Nostradamus-Zitate via E-Mail. Vor allem seit dem 11.September 2001 drängt sich der Eindruckauf, als würde sich die Verbreitung vonKatastrophenszenarien, Verschwörungs-

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theorien und vermeintlichen Enthüllun-gen, in denen mit immer neuen angeblichwahren Hintergründen aufgewartet wird,im World Wide Web zu einem neuenVolkssport entwickeln. Virtuelle Täu-schung als Programm? Die eigenwilligenNostradamus-Interpretationen und diedarin vorgenommene, meist rückblicken-de Beweisführung, die den Seher von Sa-lon zum Kronzeugen der Zukunft macht,lässt nur auf eines schließen: Die Angstsucht sich stets neue Bilder – und, wennes sein muss, auch ein immer wiederneues Datum.

4. „Der einzig wahre Schlüssel“ –Neuere Nostradamus-Interpretationenzwischen Säkularisierung und neuer Spiritualität

Heutige Nostradamus-Forscher nutzenvielfach Computerprogramme zur De-chiffrierung des angeblichen nostradami-schen Geheimcodes. Mit Hilfe modernerTechnologie soll – so der Anspruch – derVerschlüsselungscode der geheimnis-vollen Botschaften „geknackt“ wordensein. Die dabei gewonnenen Erkenntnissesind widersprüchlich und die zu erwar-tenden Ereignisse werden nur vage be-schrieben. Eine oft grundlegende Über-zeugung ist, dass Nostradamus ein beson-ders Eingeweihter, ein Sensitiver oder garInstrument eines höheren Bewusstseinsgewesen sei. Elmar R. Gruber konstatiertgeradezu einen „nostradamistischen Inter-pretationswahn“: „Sie [die kreativen Aus-legungen der Nostradamisten; M.P.] erfin-den ein ganzes System von ‚Beweisen’,um den Text ihrer subjektiven Lösunganzupassen. Zumal viele inspirierte Inter-preten von ihrem Gegenstand nahezu be-sessen sind, nimmt diese Vorgehensweisegelegentlich pathologische Züge an.“34

Im Folgenden sollen unterschiedlicheDeutungsvarianten und Ansätze vorge-

stellt werden. Ziel dieser modernen Nos-tradamus-Rezeption, die ihrerseits Weis-sagungscharakter beansprucht, ist die Da-tierung zukünftiger weltgeschichtlicher Er-eignisse, oder sie dient als Transportmittelfür astrologische und esoterische Über-zeugungen. In dieser Bandbreite der un-terschiedlichen Nostradamus-‚Eis-egese’spiegeln sich offensichtlich auch gegen-wärtige weltanschauliche und neureli-giöse Trends unserer Religionskultur wi-der: An die Seite von Säkularisierungsten-denzen tritt die Wiederkehr des Reli-giösen.

„Die Welt am Wendepunkt“

Unmittelbar nach den Ereignissen des 11.September 2001 war der Nostradamus-Deuter Manfred Dimde35 vom Beginneines apokalyptischen Jahrzehnts über-zeugt. Für das Jahr 2010 rechnet er miteiner ähnlichen Situation, „wenn 4 Köni-ge in 7 Tagen von Terroristen getötet wer-den“.36 Er wird offensichtlich nicht müde,angesichts dieser Entwicklungen weitereHorrorszenarien auf der Grundlage seinerNostradamus-Interpretation zu entwi-ckeln, die er anlässlich der Basler Psi-Tageim Jahre 2002 vorstellte.37

Einen neuen publizistischen Höhepunktstellt das in diesem Jahr erschienene Son-derheft „Nostradamus – Die Welt amWendepunkt“ dar, in dem Dimde seineeigenwilligen Erkenntnisse marktgerechtverbreitet. „Das Jahr 2003 markiert einenhistorischen Einschnitt: Wir stehen voreiner großen Wende, die Weltordnungmuss neu definiert werden... Was abersagt Nostradamus dazu – und vor allem:Wie geht es weiter, welche Auswirkungenhat dies alles für uns? ... Auf 48 Seitenwerden Sie sodann in die Geheimnisseder Zukunft der Menschheit und des Pla-neten Erde eingeführt – vorausgesetzt, Siehaben den Mut zu erfahren, was Nos-

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tradamus für die noch verbleibenden etwa1800 Jahre prophezeit“, so das Editorial.An anderer Stelle heißt es: „Seit Jahrhun-derten lag das Geheimnis des Nostra-damus im verborgenen. Zwar konnte mandie Verse des Propheten teilweise deuten,doch ohne den Besitz des Zeitschlüssels... war es unmöglich, die Texte einzelnenJahren zuzuordnen. Dem führenden Nos-tradamus-Forscher Manfred Dimde ist esnun gelungen, den Zeitschlüssel zu kna-cken. Dadurch wird die geheime Bot-schaft des Nostradamus endlich verständ-lich und zeitlich bestimmbar.“ Das Heft zum Preis von 4,90 € will Ein-blick in die nächste Zukunft geben. Es be-handelt Themen wie „Terror und Kriege:Wie es jetzt weitergeht“ oder „Prophe-zeiungen zu: Wirtschaft, Umwelt, Politik“.So will Dimde mit seinen Nostradamus-Interpretationen solche „Prophezeiungenfür die USA und die westliche Welt“ her-ausgefunden haben wie: „Tobsüchtigerbringt große Gefahren“, „Osama BinLaden: Terror in Europa?“. Für die Jahre2010 bis 2014 wird ein großes Desastererwartet, dessen Ausgangspunkt politischeAttentate im November 2010 bilden wer-den... Seine Fabulierkunst kennt keineGrenzen und ist kaum weniger sibyl-linisch als des Meisters Originale: „Dem-nach wird die britische Insel von den Fol-gen des Krieges sehr stark betroffen sein.Die überlebenden Politiker scheinen zuresignieren. Der Auslöser des Krieges hatüberlebt und ist noch sichtbar an derMacht. Gegen ihn und seinen Staat richtetsich eine Aktion, die von drei (vermutlich)südamerikanischen Mächten getragenwird und die Spanien als Brückenkopfnach Europa benutzen. Bei dieser Aktionhandelt es sich um eine Säuberungswellein dem kriegsverursachenden Land. Inner-halb von drei Jahren eskaliert diese in einebreitangelegte Verfolgung auch von Un-schuldigen.“38

Nicht nur Zukunftsängste werden in demSonderheft bedient. Auch der Fortschritts-optimismus kommt zum Zug. So habeNostradamus auch wichtige Entdeckun-gen vorausgesagt: Bei Raumfahrtexpedi-tionen seien im Jahr 2068/2069 wichtigeForschungsergebnisse zu erwarten, so z.B.die Entdeckung eines neuen Planeten undneuer Technologien. In einem abschlie-ßenden dritten Teil („Was Nostradamusfür die Jahre 2201 bis 3797 kommen sah“)hält Nostradamus-Forscher Dimde auchfür Weltanschauungsexperten einige Über-raschungen bereit: „Spiele der Klöstereröffnen altertümliche Phantasie. Die Be-wohner der Einzigen werden versetzt inetwas Neues...“ Im Jahr 2212 wird dieReinkarnationslehre „zum anerkanntenGlaubensgrundsatz“.39 Aber auch anti-isla-mische Ressentiments tauchen auf: Zwi-schen 2065 und 2066 würden die Mos-lems Rom erobern und erst um 2555 wirdder rund 500 Jahre währende Krieg zwi-schen Islam und Christentum mit einerneuen Weltordnung beendet werden.Jeder der Weltreligionen wird dann eineigener Kontinent zugewiesen. Das Endeunseres blauen Planeten erwartet Dimdenach vorangehenden kosmischen Katas-trophen schließlich für das Jahr 3797.40

Dimde kann als einer der eifrigsten Ver-markter düsterer Nostradamus-Prophezei-ungen betrachtet werden. Seit längeremerscheint alljährlich sein Nostradamus-Jahrbuch. Auch im Internet stellt er seinenGeschäftssinn unter Beweis: „Mein neuesBuch: Nostradamus-Handbuch des Welt-schicksals ist jetzt dort zu bekommen, woIhr Eure Bücher kauft. Damit stelle ichEuch etwas zur Verfügung, was es seitNostradamus 1555 nicht mehr gegebenhat. Das Buch besteht aus einer Ein-führung in das bikulturelle Weltbild derFamilie de Notredame. Ferner führt esEuch, meines Wissens erstmalig seit derRenaissance, in die Welt des Universal-

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Handbuchs zum Weltschicksal, wie esunter anderem auch die Kaiser und Sena-toren des Römischen Weltreichs zur Ver-fügung hatten. Ich konnte für Euch nureinen Jobel-Zyklus, d.h. 49 Jahre bis zumJahre 2052 berücksichtigen. Wer meinSeminar besucht, wird in das Geheimnisdieses Handbuchs eingewiesen, das aus-gedruckt rund 4000 Seiten umfassenwürde und für Alle und Alles die Zukunftenthält. Ferner habe ich die Sixtains undalle anderen Verse von Nostradamus, dieich bisher nicht nach meiner Methodeveröffentlicht habe in diesem Buch un-tergebracht. Ihr findet somit erstmals auchdie 500 Jahre vorhergesagt, für die Zeit inder unsere Nachfahren versuchen aufeinem anderen Planeten Fuß zu fassen.“ 41

„Den Geheimnissen der alten Prophetenauf der Spur“

Auch der Diplom-Philosoph ReinhardMussik (geb. 1960) sieht sich „auf derSuche nach einem der größten Rätsel derMenschheitsgeschichte“. Seine zentraleFrage lautet: „Ist es möglich, Dinge vor-auszusehen, die sich erst weit in der Zu-kunft ereignen werden?“ Deshalb legte er2003 eine Neuauflage seines bereits 1995unter anderem Titel („Das Geheimnis dergroßen Seher“) erschienenen Buches vor.Offensichtlich will auch er vom Nostra-damus-Boom profitieren. Deswegen trägtdas Werk jetzt den Titel „Nostradamusheute“ (Universitas Verlag, München).Mussik behauptet, es sei ihm gelungen,„den Schlüssel zu seiner [Nostradamus’;M.P.] Methode zu finden und ihn endlichaus dem Umfeld des Okkultismus zu be-freien!“42 – und dies nicht auf dem Wegder Dechiffrierung, sondern vielmehrdurch die Suche nach der Methode, diedie Prophezeiungen des Nostradamus erstermöglicht hätte.43 Leitend war dabei fürihn die Einsicht, dass sich Geschichte im-

mer wieder in Zyklen wiederholt. Und umdie Gesetzmäßigkeit dieser zyklischenWiederkehr aller Ereignisse geht es ihm:„Nur die Kenntnis und Nutzung dieserZyklen ermöglicht klare Voraussagen überunsere Zukunft.“44 Ein neuer Zyklus derGeschichte wird von Mussik für die Jah-reswende 2012/2013 erwartet. Davor kämees zu Naturkatastrophen, blutigen Krie-gen, Hunger und Seuchen sowie zu schwer-wiegenden Problemen für die christlicheKirche. Angeblich würden erst mit demBeginn des neuen Zeitabschnitts sicherePrognosen für die Zukunft möglich sein,da sich die Geschichte „ab dem Jahr 2012wieder in geordneten und vorhersagbarenBahnen bewegen“45 wird. So gelangtMussik schließlich zu der neuen Erkennt-nis: „Nostradamus kannte und nutzte dieGeheimnisse der alten Propheten, die inunserem Kulturkreis schon völlig in Ver-gessenheit geraten waren! Er war ein Uni-versalgelehrter, der fast über das gesamteWissen seiner Zeit verfügte und dem esgelang, die ursprüngliche Einheit diesesWissens wiederherzustellen und für pro-phetische Zwecke nutzbar zu machen.“46

Auf der Suche nach uraltem Wissen undneuer Spiritualität

Neuere Publikationen zu Nostradamussind aber nicht mehr nur auf den Aspektder Zukunftsschau gerichtet. Es gibt in-zwischen auch den Versuch, Nostradamusfür das eigene esoterische Anliegen zuvereinnahmen. Demnach eröffne dasSchrifttum des Franzosen den Zugang zuuraltem Wissen, den Weg zur eigenenSpiritualität.47 So behauptet David Ova-son, der mit Hilfe moderner Computer-technologie die „geheimen Methoden“des Franzosen entschlüsselt haben will,Nostradamus habe beschrieben, dass einTeil der Menschheit dem moralischen undspirituellen Niedergang anheimfallen

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werde, während einem kleineren Teil einspirituelles Erwachen bevorstünde. An-geblich würde er nicht aus der Vergangen-heit zu den heutigen Menschen sprechen,sondern vielmehr „durch die Magie seinerliterarischen Technik von der anderenSeite des Schleiers, die wir Zukunft nen-nen“.48 Zum anderen wird eine solche In-terpretation auch mit Verschwörungstheo-rien verknüpft, wonach angeblich gehei-me Organisationen und Gruppen im Ver-borgenen die Geschichte beeinflussenund die Weltherrschaft anstreben. Davonist auch der ehemalige Bundeswehrhaupt-mann Dieter Heri Mader alias Heri deNostredamus überzeugt: „Eine Neue Welt-ordnung soll geschaffen werden zum‚Wohle der Menschheit’ und ganz beson-ders zum eigenen Machterhalt und zurVervollkommnung der absoluten Kon-trolle Einzelner über die Massen.“49 Im In-ternet unterhält er eine Homepage, dieüber die Pläne der heimlichen Draht-zieher im Hintergrund „aufklären“ will.50

Eine andere esoterische Interpretations-variante liefert auch der Buchautor RenéH. Troyan: „Nostradamus hat ‚gechan-nelt’. Das heißt, sich als Medium auf eineüberpersönliche Ebene begeben, um dortBotschaften in Form von Bildern samtGeräuschen und Gerüchen, also mit allenfünf Sinnen wahrgenommen. Eingeweihtewürden sagen, Nostradamus hat gelernt,sich gezielt an diese höheren, göttlichenEnergien anzuschließen und in der Aka-sha-Chronik gelesen. Die Akasha-Chronikist eine Art medialer Bibliothek, in der vonder Menschheit alles ‚aufgezeichnet’wird, was war, was ist und was sein wird.Hier wird nun deutlich, dass sich Nostra-damus einer speziellen medialen Ausbil-dung, die damals ebenso wie vor tau-senden von Jahren üblich war, unterzogenhatte. Denn so ohne weiteres erreicht mandie Akasha-Bibliothek nicht. Man benötigtdazu eine dementsprechende, jahrelange

Ausbildung, um diesen Trancezustand zuerreichen.“51 Für Troyan müsste der Schlüs-sel zur Interpretation der Texte „eine ArtMischung aus astrologischem, kabbalisti-schem und ... von okkultem Wissen“52

durchdrungen sein. Ein anderer Nos-tradamus-Interpret vertritt – offenbar in Un-kenntnis dieser faktischen Unmöglichkeit –sogar die irrige Annahme, Nostradamus seimöglicherweise Freimaurer gewesen.53

5. Nostradamus-Literatur: Projektionsfläche für individuelle undkollektive Ängste

Im Umgang mit dem Schrifttum Nos-tradamus’ ist vor allem Entmytholo-gisierung gefragt. Nur ganz wenige Au-toren bemühen sich um eine historisch-kritische Analyse der dunklen und ver-wirrenden Texte. Infolge der schwierigenQuellenlage ist es erst vor kurzem gelun-gen, eine wissenschaftliche Analyse derAstrologie bei Nostradamus vorzulegen54

bzw. an die Ergebnisse mit vertiefendenhistorischen Analysen anzuknüpfen.55 EinDesiderat ist nach wie vor eine wissen-schaftlich kommentierte Quelleneditionseiner Werke, die mancherorts auch garnicht gefragt ist. Differenzierende Stand-punkte werden nicht gerne gehört.Aus Sicht historisch-kritischer Forschungbleibt festzuhalten, „daß es niemals ge-lungen ist, aufgrund der Quatrains einpolitisches oder soziales Ereignis bzw. einewichtige wissenschaftliche Entdeckungoder technische Erfindung vorherzusagen.Retrospektiv fällt die Deutung natürlichviel leichter...“56 Elmar R. Gruber kommtin seiner historisch-kritischen Analyse desSchrifttums im Epilog „Abschied vomPropheten“ zu dem Ergebnis: „Nostra-damus hat dem Menschen ein Kaleidos-kop der Zeit vor Augen gehalten, in demsich das alltägliche Geschehen in zahlrei-chen Fragmenten spiegelt, die ständig ihre

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Position und Beziehung zueinander än-dern, aber immer die gleichen Fragmentebleiben. Er hat einen labyrinthischen Turmaus Worten gebaut, der in der Rezeptiondurch seine Anhänger zu einem babylo-nischen Turm wurde. Erst die Nostra-damisten haben die Sprachverwirrung insein Werk getragen, die beim Prophetenvon Salon nur Methode war.“57

Sicherlich ist Nostradamus ein interessan-tes zeit- und kulturgeschichtliches Phä-nomen. Doch als Prophet im engerenSinn kann er nicht betrachtet werden.Seine Texte, die er geschickt zu verklausu-lieren verstand, sein Vermögen, vieleMenschen seiner Zeit, ganz gleichwelcher Bildungsschicht sie angehörten,anzusprechen – all das verhalf ihm zugroßer Publizität, brachte ihm aber auchnoch zu Lebzeiten heftige Kritik ein. Nos-tradamus unternahm nicht weniger undnicht mehr als den Versuch, die Problemeseiner Zeit mit den Mitteln eben dieserZeit zu bewältigen. Heutzutage begegneter uns nur noch in Gestalt seiner Interpre-ten, mit oft waghalsigen Theorien. Solche„Prophezeiungen“, die durchgängig im

säkularen Gewand auftreten, bieten fürMenschen von heute eine ideale Projek-tionsfläche für kollektive und individuelleÄngste, aber auch für neue esoterisch mo-tivierte Hoffnungen. Nostradamus-Inter-preten spielen mit den Ängsten und Hoff-nungen der Menschen. Je nach weltan-schaulichem Standpunkt projizieren sieeigene Erwartungen, Sehnsüchte und Mei-nungen zum Weltgeschehen in die dun-klen und vage formulierten Texte. DieseForm der ‚Eis-egese’ ist populär – aberwenig hilfreich. Ängste werden geschürtoder sogar für kommerzielle Zwecke in-strumentalisiert. Eine blinde, unkritische Nostradamus-Gläubigkeit verhindert, dass Menschenherauszufinden versuchen, was in der je-weiligen konkreten Zeit und Situation zutun oder zu lassen ist. Den geschildertenangstbesetzten Spekulationen ist auschristlicher Perspektive ein gläubiger Real-ismus entgegenzusetzen und die Gewiss-heit, dass der dreieinige Gott in derGeschichte handelt und sie gegen allenAugenschein schließlich zu ihrem gutenZiel führen wird.

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Literatur

QuellenStephan Berndt, Prophezeiungen. Alte

Nachricht in neuer Zeit, Weilersbach 2001Jean-Charles Fontbrune, Nostradamus, His-

toriker und Prophet. Seine Vorhersagen von1555 bis 2000, Berlin 1999

Michael Görden (Hg.), Das große Buch derProphezeiungen, Heyne Esoterisches WissenNr. 13/9747, München 1997, 155-503

Reinhard Mussik, Nostradamus heute. DasGeheimnis der großen Seher, München 2003(11995)

Ray O. Nolan, Nostradamus – Klartext!, o.O.2002

David Ovason, Das letzte Geheimnis des Nos-tradamus. Die Entschlüsselung der Geheim-sprache des Meisters durch die moderneWissenschaft, München 21997

Alexander und Edith Tollmann, Das Weltenjahrgeht zur Neige. Mythos und Wahrheit derProphezeiungen, Wien / Köln / Weimar 1998

René H. Troyan, Der Schlüssel zur Welt desNostradamus, Stammham 2003

Kritische LiteraturEberhard Bauer, Art. Prophetie, in: Gerald L.

Eberlein (Hg.), Kleines Lexikon der Parawis-senschaften, München 1995, 143-150

Hans Bender, Der Nostradamus-Boom, in:ders., Zukunftsvisionen, Kriegsprophezeiun-gen, Sterbeerlebnisse. Aufsätze zur Parapsy-chologie II, München / Zürich 21986, 41-50

Susanne Beul-Ring, Stunde der Seher. Weissa-gungen – Mittel zum Transport von Welt-bildern und zur Angstbewältigung?, in: HansGasper / Friederike Valentin (Hg.), Endzeit-

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fieber. Apokalyptiker, Untergangspropheten,Endzeitsekten, Freiburg im Breisgau / Basel /Wien 1997, 168-191

Elmar R. Gruber, Nostradamus. Sein Leben,sein Werk und die wahre Bedeutung seinerProphezeiungen, Bern 2003

Volker Guiard, Nostradamus und die Jahr-tausendwende, in: Skeptiker 1-2/1999, 4-11

Bernd Harder, Nostradamus. Ein Mythos wirdentschlüsselt, Aschaffenburg 22000

Ders., Nostradamus und der „große Schreckens-könig“, in: Materialdienst der EZW 6/1999,184-186

Ders., Weltuntergangspropheten haben Hoch-konjunktur. Zum Beispiel Nostradamus, in:Materialdienst der EZW 10/1996, 305-309

Carl Graf von Klinckowstroem, Rund um Nos-tradamus, in: Zeitschrift für Parapsychologieund Grenzgebiete der Psychologie, 26. Jg., 1-4/1984, 131-146 (= Nachdruck aus: Zeit-schrift für kritischen Okkultismus und Grenz-fragen des Seelenlebens 2/1927, 89-104)

Hans Neusius, Nostradamus und seine okkultenProphezeiungen, in: Hans-Josef Beckers / Hu-

bert Kohle (Hg.), Kulte, Sekten, Religionen.Von Astrologie bis Zeugen Jehovas, Augsburg1994

Wilhelm Quenzer, Konjunktur für Nostrada-mus, in: Materialdienst der EZW 3/1982, 59.

Frank Rainer Scheck, Nostradamus, dtv portrait,München 1999

Kocku von Stuckrad, Geschichte der Astrologie.Von den Anfängen bis zur Gegenwart,München 2003

Internet-Adressen in Auswahl

www.nostradamus-heute.dehttp://nostradamus-prophezeiungen.de/www.nostredamus.dehttp://voraussagen.dehttp://nostradamus-dimde.dewww.nostradamus.netwww.nostradamus.orgwww.relinfo.ch/nostradamus/info.html (kritisch)www.bistum-trier.de/sekten/kinfos/

nostrada.htm (kritisch)

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Anmerkungen

1 Zitiert nach Eberhard Bauer, Art. Prophetie, in: Ge-rald L. Eberlein (Hg.), Kleines Lexikon der Parawis-senschaften, München 1995, 149.

2 Die Datierung auf den 14. Dezember folgt dem al-ten julianischen Kalender. Folgt man dem gregoria-nischen Kalender, so ist von der Geburt Nostrada-mus’ neun Tage später, am 23. Dezember, auszuge-hen; zur Datierung vgl. Elmar R. Gruber, Nostra-damus. Sein Leben, sein Werk und die wahre Be-deutung seiner Prophezeiungen, Bern 2003, 32. –Der Nostradamus-Biograph Frank Rainer Scheck,Nostradamus, München 1999, 11, datiert denGeburtstag hingegen nach neuer Zeitrechnung aufden 24. Dezember 1503.

3 E. W. Peukert, Art. Nostradamus, in: Handwörter-buch des Deutschen Aberglaubens, Bd. 6, Berlin /New York 1987 (= Nachdruck der Ausgabe von1938), 1127.

4 Zur Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte der„Prophezeiungen“ vgl. Elmar R. Gruber, Nostra-damus, 18-23.

5 Vgl. Frank Rainer Scheck, Nostradamus, 144ff, sowieGottfried Holtz, Die Faszination der Zwänge. Aber-glaube und Okkultismus, Göttingen 1984, 221f. – ZuEinzelheiten vgl. Elmar R. Gruber, Nostradamus,405ff.

6 Irmgard Oepen u.a. (Hg.), Lexikon der Parawis-senschaften. Astrologie, Esoterik, Okkultismus, Pa-ramedizin, Parapsychologie kritisch betrachtet,Münster – Hamburg – London 1999, 202.

7 Vg. http://nostradamus-prophezeiungen.de/prophe-zeiungen/terror.html (22.10.2003).

8 Hans Bender, Der Nostradamus-Boom, in: ders.,Zukunftsvisionen, Kriegsprophezeiungen, Sterbeer-lebnisse. Aufsätze zur Parapsychologie II, München/Zürich 21986, 41.

9 An dieser Stelle kann nicht ausführlich auf die Bio-grafie und literarische Hinterlassenschaft Nostra-damus’ eingegangen werden. Vgl. im Folgenden dieweiterführenden Informationen bei Frank RainerScheck, Nostradamus, sowie bei Elmar R. Gruber,Nostradamus.

10 Großer Brockhaus 2004.11 Elmar R. Gruber, Nostradamus, 73.12 Frank Rainer Scheck, Nostradamus, 153.13 Kocku von Stuckrad, Geschichte der Astrologie.

Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München2003, 233f.

14 Vgl. im Folgenden: Hans Bender, Der Nostrada-mus-Boom, a.a.O., 43f.

15 Eberhard Bauer, Art. Prophetie, 149.16 Wilhelm Quenzer, Konjunktur für Nostradamus, in:

Materialdienst der EZW 3/1982, 59.17 Hans Bender, Der Nostradamus-Boom, a.a.O., 50.18 Bernd Harder, Weltuntergangspropheten haben

Hochkonjunktur. Zum Beispiel Nostradamus, in:Materialdienst der EZW 10/1996, 305ff.

19 Vgl. hierzu etwa Alexander und Edith Tollmann,Das Weltenjahr geht zur Neige. Mythos und Wahr-heit der Prophezeiungen, Wien / Köln / Weimar

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1998, bes. 174f. – Zur kritischen Auseinanderset-zung vgl. meinen Beitrag Endzeit oder Wendezeit?Esoterisches Überwissen an der Schwelle vom altenKosmos zum neuen Zeitalter, in: Wer schreibtGeschichte? Die Jahrhundertwende als Anlass zutheologischen Reflexionen, Themenfolge 123, hg.von der Gymnasialpädagogischen Materialstelle derEvangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Erlan-gen 1999, 85-102.

20 Kurt Allgaier, Die Prophezeiungen des Nostra-damus. Erstmals vollständig übersetzt, kommentiertund neu gedeutet von Kurt Allgaier, in: MichaelGörder (Hg.), Das große Buch der Prophezeiungen,München 1997, 494.

21 Jean-Charles Fontbrune „Luftangriff auf Deutsch-land“, zit. nach www.g-o.de/kap12/128jb03.htm.

22 David Ovason, Das letzte Geheimnis des Nos-tradamus, München 21997, 363.

23 Ray O. Nolan, Nostradamus – Klartext!, 8, schreibtüber seine eigenen Erfahrungen: „Da aber ein nos-tradamusgläubiger Mensch kaum dazu bereit ist,seinen ehrfürchtig gepflegten Glauben an die ge-heimnisvollen Prophezeiungen des Sehers aufzu-geben, tauchte in den Tiefen des Internets unvermit-telt eine erlösende Idee auf, die wieder alles mög-lich machte: Mit dem französischen ‚sept mois’ =‚siebter Monat’ habe Nostradamus vermutlich garnicht den Monat Juli gemeint, sondern ‚sept.’ könneman auch als Kürzel für ‚September’ deuten. Tat-sächlich würde es dann heissen: ‚Das Jahr 1999,Monat Sept., ein großer Schreckenskönig wird vomHimmel kommen...’ (Vers 10/72 in den Original-Centurien). Dies erschien mir einleuchtend, aberdas erneute Warten begann an den Nerven zuzehren. Der August zog vorbei, der September kamund ging – wieder nichts!“

24 Vgl. hierzu Roman Schweidlenka, Einige Notizenzum allgegenwärtigen Weltuntergang, in: Material-dienst der EZW 8/1999, 245ff.

25 Vgl. hierzu die Dokumente und kritischen Kom-mentare des österreichischen Parapsychologen Pe-ter Mulacz im Internet unter www.t0.or.at.

26 Zu Paco Rabanne vgl. Hans-Jürgen Ruppert, Eso-terik zwischen Endzeitfieber und Erlösungshoff-nung, in: Materialdienst der EZW 10/1999, 291ff.

27 Stephan Berndt, Prophezeiungen. Alte Nachricht inneuer Zeit, Weilersbach 2001, 13.

28 Ebd., 444.29 Georges Minois, Geschichte der Zukunft. Orakel –

Prophezeiungen – Utopien – Prognosen, Düssel-dorf/Zürich 1998, 719; die Zahlenangabe der Prog-nosen im Blick auf das Jahr 2000 entstammt P.Carnac, Prophéties et prophètes de tous les temps,Paris 1991.

30 Ebd., 719.31 Ernst Corinth, Nostradamus war der meistgesuchte

Mann des Jahres; gefunden bei www.heise.de(13.10.2003); vgl. hierzu auch meinen Bericht:Spirituelle Bewältigung des September-Terrors. EinBlick auf die Esoterik-Szene, in: Materialdienst derEZW 11/2001, 373f.

32 Ray O. Nolan, Nostradamus – Klartext!, 9.33 Bernd Harder im Oktober 2001 in einem Nachwort

zu seinem Buch Nostradamus – ein Mythos wird ent-schlüsselt; im Internet abrufbar unter http://www.alibri.de/KAPNOST.rtf.

34 Elmar R. Gruber, Nostradamus, 277.35 Vgl. die signifikanten Titel seiner Veröffentlichun-

gen: Manfred Dimde, Die Weissagungen des Nos-tradamus neu entschlüsselt, München 1995; ders.,Nostradamus total. Seine letzten Geheimnisse ent-schlüsselt. Alle Texte, alle Methoden, alle Deutun-gen, München 1994; kritisch zu den Dimde-Deu-tungen äußert sich Volker Guiard, Die seltsameWelt des Nostradamus-Deuters Manfred Dimde, in:Michael Shermer u.a. (Hg.), Endzeittaumel. Pro-pheten – Prognosen – Propaganda. SkeptischesJahrbuch II, Aschaffenburg 1998, 89-116.

36 Manfred Dimde, zit. nach meinem Bericht Spiri-tuelle Bewältigung des September-Terrors, 374.

37 Vgl. hierzu meinen Bericht über die Basler Psi-Tage2002, in: Materialdienst der EZW 3/2003, 104-110.

38 „Nostradamus. Die Welt am Wendepunkt“, 45.39 Ebd., 68.40 Ebd., 75.41 Vgl. http://www.nostradamus-dimde.de/g_mehr.htm

(22.10.2003).42 Reinhard Mussik, Nostradamus heute. Das Geheim-

nis der großen Seher, München 2003, 95.43 Ebd., 101.44 Ebd., 254.45 Ebd., 272.46 Ebd., 111.47 Dieter Heri Mader, Nachwort zum Umgang mit

dem Schlüssel, in: René H. Troyan, Der Schlüsselzur Welt des Nostradamus, Stammham 2003, 188.

48 David Ovason, Das letzte Geheimnis des Nostrada-mus. Die Entschlüsselung der Geheimsprache desMeisters durch die moderne Wissenschaft, Mün-chen 21997, 377.

49 Dieter Heri Mader, Schlussbetrachtungen zum Ge-leit, in: René H. Troyan, a.a.O., 295.

50 Internetadresse: www.nostredamus.de. 51 René H. Troyan, Der Schlüssel zur Welt des Nos-

tradamus, Stammham 2003, 36.52 Ebd., 41.54 Pierre Brind’Amour, Nostradamus Astrophile. Les

astres et l’astrologie dans la vie et l’œuvre de Nos-tradamus, Paris 1993.

55 Elmar R. Gruber, Nostradamus, bes. 11.56 Eberhard Bauer, Art. Prophetie, 148.57 Elmar R. Gruber, Nostradamus, 419.

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Friedrich Nietzsche (1844-1900), ein überjeden christlichen Fortschrittspessimismuserhabener antichristlicher und in vielerHinsicht „prophetischer“ Geist, schriebbereits zu Ende des 19. Jahrhunderts, dassdie Naturwissenschaft der Welt ihrenUntergang bereiten wird. „Dabei ge-schieht es allerdings, dass die nächsteWirkung die von kleinen Dosen Opiumist: Steigerung der Weltbejahung“.1 DerMensch, der Gott „getötet“ habe, sei dazufreigesetzt und verurteilt, sein eigenerGott und Schöpfer zu sein und sich alssein eigenes „Kunstwerk“ hervorzubrin-gen. Er müsse das mit einer Gewalt undwachsenden Geschwindigkeit tun, diekeine Zeit mehr lasse, dass er sich besinntauf das, was er tut, ja der auf sich selbstgeworfene Mensch ohne Gott habe geradezu Furcht davor, inne zu halten undsich zu besinnen. Der Grund dafür sei –und das heute noch viel mehr als damals –vor allem darin zu suchen, dass man nichtmehr wisse, was die Ziele des wissenschaftlich-technischen Fortschrittssind. In dieser Krise der Ziele erklärt manden Weg, den „Fortschritt“ zum Zielselbst, der nicht durch eine ethischeBesinnung in seiner Geschwindigkeitgehemmt werden soll. Erste Aufgabe einersolchen Besinnung ist es jedoch, ein kri-tisches Bewusstsein für die ethischenProbleme, die dieser wissenschaftlich-technische Fortschritt aufwirft, zu weckenund zu fragen, ob wir überhaupt wissen,

wohin uns der biomedizinische „Fort-schritt“ führen soll.

I. Welchen Fortschritt wollen wir? – Humanistische und wissenschaftlich-technische Fortschrittsidee

Die Neuzeit kennt zwei wesentlicheVorstellungen von Fortschritt, einmal diehumanistische Fortschrittsidee und zumanderen den wissenschaftlich-technischenFortschrittsglauben. Beide beeinflussensich zwar gegenseitig, sind aber doch zuunterscheiden. Unter Fortschritt verstandman aus humanistischer Sicht in ersterLinie die stetig wachsende geistig-morali-sche Höherentwicklung des Menschendurch Bildung, bis hin zur Vervollkomm-nung des Menschengeschlechts und dieso erreichbare Überwindung des Bösen inder Welt durch das „gute Prinzip“ und diedementsprechende Aufrichtung eines vonallem moralisch Bösen freien inner-weltlichen „Reich Gottes auf Erden“.2 Imwissenschaftlich-technischen Fortschritts-glauben bezeichnete man die stetig zu-nehmende Unterwerfung der als unvoll-kommen gedachten Natur unter die Herr-schaft des Menschen mittels wissenschaft-lich-technischer Methoden als Fortschritt.Die Väter dieses Wissenschaftsverständ-nisses, René Descartes (1596-1650) undinsbesondere Francis Bacon (1561-1626),haben das Ziel des naturwissenschaft-lichen Fortschritts in der Wiederherstel-

Ulrich Eibach, Bonn

Krise der Ziele des biomedizinischen Fortschritts (I)Ist der biomedizinische Fortschritt automatisch ein moralischerund humaner Fortschritt? *

BERICHTE

Page 19: 66. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 12 Neues zu Scientology … · 2020. 5. 20. · Franzose Jean-Charles de Fontbrune (Pseudonym), der die Nostradamus-Inter-pretationen seines Vaters,

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lung des verlorenen „Paradieses“ und dasZiel des medizinischen Fortschritts in derBesiegung aller Krankheiten und desTodes gesehen. Dieser Gedanke ist bisheute eine wesentliche Motivation desmedizinischen Forschens.Das Verhältnis beider Forschrittsideen zu-einander bedarf heute mehr denn je derKlärung. Bis in die Gegenwart ging mandavon aus, dass der wissenschaftlich-tech-nische Fortschritt im Dienste der humanis-tischen Fortschrittsidee stehen und durchsie gesteuert werden soll. Für ImmanuelKant (1724-1804), den herausragendenVertreter der humanistisch-moralischenFortschrittsidee, war Fortschritt primär einProzess der Selbstbestimmung des Men-schen hinsichtlich seiner geistigen Naturgemäß den Forderungen des allgemein-verbindlichen „Sittengesetzes“. Dass derMensch auch die natürlichen Grundlagenseines Lebens gemäß seinen Plänen undWünschen manipulieren kann, das warihm noch undenkbar. Der Mensch musssie als weitgehend unabänderlichesSchicksal hinnehmen, muss sich diesem„Reich der Notwendigkeit“ einordnen,ohne dass das für Kant ein moralischesÜbel ist. Der Mensch ist als „Vernunftwe-sen“ nur frei, sich als geistig-kulturellesWesen selbst zu gestalten. Vor allem ist eraufgerufen, sich selbst gemäß den Forde-rungen des allgemeinverbindlichen Sitten-gesetzes zu bestimmen, aber auch, seinwissenschaftliches und technisches Han-deln gemäß den sittlichen Forderungen zugestalten und damit dem moralischenFortschritt zu dienen. Er ist das unhinter-fragte Ziel des wissenschaftlich-techni-schen Fortschritts. Die Möglichkeit, dassder Mensch durch Eingriffe in das Leben(z.B. ins Genom oder ins Gehirn) auch diebiologischen Grundlagen seines eigenen,auch seines geistigen Lebens verändernund damit mehr oder weniger Schöpferseiner selbst werden kann, das lag außer-

halb dessen, was Kant sich als Möglich-keit menschlicher Beherrschung der Naturvorstellen konnte und was von seinemethischen Ansatz her kritisch hinterfragtwerden muss, weil dies letztlich dazuführen kann und wird, dass nicht mehrder menschliche Geist sich selbst und dievon ihm hervorgebrachten wissenschaft-lich-technischen Errungenschaften be-stimmt, sondern dass sich eine Umkeh-rung dahingehend vollzieht, dass dermenschliche Geist und mit ihm die Ethik„ohnmächtig“ gegenüber dem wissen-schaftlich-technischen Fortschritt wird,ihn nur noch nachträglich legitimieren,bestenfalls etwas „bremsen“, aber nichtmehr wirklich nach ethischen Gesichts-punkten so lenken kann, dass er dem „hu-manen“ Fortschritt dient. Dass die Rangordnung der beiden Fort-schrittsideen sich in dieser Weise durchdie wissenschaftlich-technische und dieihr folgende ökonomische Weltbeherr-schung derart ändern könnte, diese Mög-lichkeit konnte zu Ende des 18. Jahr-hunderts noch überhaupt nicht im Blicksein. Vielleicht hat Nietzsche etwa hun-dert Jahre später mit den eingangs zitier-ten Äußerungen diesen entscheidendenUmschwung und die dadurch bedingteKrise der Ziele der Wissenschaft und Tech-nik geahnt, vor den wir erst heute vorallem durch die genetische Forschung, dieZellbiologie, aber auch die neuen Metho-den der chemischen und sonstigen Beein-flussung von Hirnprozessen gestellt sind.Sie ermöglichen uns, die natürlichenGrundlagen unseres Lebens, bis hin zumgeistigen Leben zu verändern, also „Schöp-fer“ von Leben zu werden, ja mensch-liches Leben nach menschlichen Plänenzu gestalten.3 Der Gipfel dieser Manipula-tionsmöglichkeiten des Lebens wird der-zeit dadurch erreicht, dass der Menschdurch Eingriffe in seine genetisch-leib-liche Beschaffenheit einen besseren Men-

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schen „züchten“ kann, der in seiner Fort-entwicklung mit den schnell immer kom-plexer werdenden Herausforderungen derwissenschaftlich-technischen Welt Schritthalten soll. Getragen wird dieser Fort-schrittsgedanke insgeheim von der Idee,dass der wissenschaftlich-technische Fort-schritt ein immer „leidfreieres“, „besseres“und daher „glücklicheres“ Leben hervor-bringt, und zwar in dem Maße, in demder Mensch auch die natürlichen Bedin-gungen seines Lebens selbst planen undgestalten kann, der Mensch also nicht nurin seinen Gedanken, seinem „Geiste“ freiist, sondern auch frei, seine ganze leib-liche Verfasstheit gemäß seinen Plänenund Wünschen zu gestalten. Nunmehrwerden die natürlichen Vorgaben desmenschlichen Lebens nicht mehr als Be-dingung der Menschlichkeit des Menschenbetrachtet4, sondern nicht zuletzt als nichtnotwendige Einschränkungen seiner Auto-nomie. Die Beherrschung der Natur dientdamit der Emanzipation des Menschenvon seiner eigenen Natur, der Herstellungeiner neuen menschlichen Natur durchden Menschen selbst. Zugleich begegnetman damit immer häufiger der Behaup-tung, dass der biomedizinische Fortschrittin sich selbst, also automatisch ein Fort-schritt zu mehr Humanität sei, weil er denFreiheitsspielraum des Menschen gegen-über der Natur, nicht zuletzt seiner eige-nen leiblichen Verfasstheit, immer mehrerweitere und weil diese Freiheit gegen-über der Natur der Maßstab für das Men-schliche, die Grundlage der Menschen-würde5 sei. Damit wird die wissen-schaftlich-technische Fortschrittsidee derNeuzeit mit der humanistischen Fort-schrittsidee so identifiziert, dass die Au-tonomie des Menschen gegenüber derNatur, nicht zuletzt seiner eigenen Natur,zur Essenz der humanistischen Fort-schrittsidee wird, der wissenschaftlich-technische Fortschritt also in sich selbst

immer gut ist, sofern er Herrschaft überdie Natur verleiht und so „Schicksal“ infreie Selbstbestimmung verwandelt.Damit stehen wir vor der zweiten, von Nietzsche prophezeiten Herausforderungdes wissenschaftlich-technischen Fort-schritts, nämlich der, dass der MenschSchöpfer seiner selbst wird und sichdadurch und darin erst wahrhaft freiwähnt, sein eigener „Herr“ und „Gott“ zusein. Nietzsche hat geahnt, dass es um-gekehrt ist, dass der Mensch, indem er indieser radikalen Weise Herr auch deseigenen biologischen Lebens wird, sichvom „Natur-Schicksal“ befreit und Schöp-fer seiner selbst wird, er zwar dem vonGott oder der Natur gefügtem Schicksalentrinnt, aber damit doch nur ein nochunfreieres Opfer der „Machsale“6 der vonihm hervorgebrachten technischen Zivili-sation wird. Der Umschwung vollziehtsich langsam und daher meist unmerklich– wie Nietzsche es voraussagte – in„kleinen Dosen Opium: Steigerung derWeltbejahung“, man könnte auch sagen,Steigerung der Faszination des Machbarenzur Fiktion von einem Fortschritt zur„heilen Welt“ ohne Krankheiten und Be-hinderungen und Tod und in „ungebro-chenem Glück“, eine Fiktion, die nach Nietzsche keine Besinnung mehr auf dieZiele dieses Handelns zulässt und nichtfragt, was es bedeutet, dass der Menschauf diese Weise zunehmend in die Rolledes Schöpfers von Leben und seiner selbsthineinwächst. Eine erste Konsequenz dieser Steigerungder Weltbejahung ist die, dass der wis-senschaftlich-technische Fortschrittsgedan-ke schleichend die Vorherrschaft über denhumanistischen Fortschrittsgedanken er-obert, dass, wenn moralische Vorstellun-gen und unser bisheriges humanistischesMenschenbild diesem Fortschrittsgedan-ken entgegenstehen, man daraus denSchluss zieht, dass sich die moralischen

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und rechtlichen Auffassungen den tech-nischen Entwicklungen anpassen und sielegitimieren müssen. Ja man kann nocheinen Schritt weiter gehen und sagen,dass der Mensch auch in seiner biologi-schen und seiner seelisch-geistigen Naturimmer mehr an die Erfordernisse der„zweiten Schöpfung“, deren Schöpfer derMensch selbst ist, angepasst werdenmuss, weil das auf lange Frist einfacher istals die technische Zivilisation den natür-lichen Bedingungen des Lebens anzu-passen. Damit wird der humanistischeFortschrittsgedanke endgültig der Vorherr-schaft des wissenschaftlich-technischenund des ökonomischen Fortschrittsge-dankens unterstellt, nicht aus „Freiheit“,sondern aufgrund des „Automatismus“des wissenschaftlich-technischen Fort-schritts und aufgrund von ökonomischenZwängen.7

II. Ziele und Krise der Ziele des biomedizinischen Fortschritts

Unverkennbar ist, dass der biotechnischeFortschritt immer mehr Grundfragen derEthik und des Rechts berührt und dass erschon heute zur Infragestellung wesent-licher ethischer und rechtlicher Überzeu-gungen geführt hat. Wir stellen uns zu-nächst der Frage, ob der wissenschaftlicheFortschritt in der Medizin mehr oderweniger „automatisch“ zugleich ein Fort-schritt zu mehr Humanität in der Gesell-schaft ist oder ob er die Humanität nichtviel eher bedroht. Wir tun dies, indem wirin erster Linie die Ziele bedenken, die mitdem medizintechnischen Fortschritt be-wusst oder unbewusst angestrebt werden.

1. Sozialethische Gesichtspunkte

In der Medizin gilt meist all das Handelnals „gut“, im vormoralischen wie immoralischen Sinne, durch das Krankheits-

übel bekämpft werden können. In diesemSinne ist die ärztliche und auch diepflegerische Ethik über weite Streckeneine utilitaristische, also auf den Nutzeneiner Handlung für das Wohlergehen undGlück des Menschen ausgerichtete Ethik.Das geheime Ziel der Medizin der Neu-zeit ist die Bekämpfung oder gar Be-siegung des Todes. Dieses Ziel geriet, seitwir über große technische Möglichkeitenverfügen, den Tod hinauszuschieben, ineine Krise, ja oft in Konflikt zur Mensch-lichkeit, denn durch solche Methodenkann man Menschen mehr schaden alshelfen. Die Bekämpfung des Todes an sichist also in vieler Hinsicht menschenun-würdig. Das Spannungsverhältnis zwi-schen dem medizintechnisch Machbarenund dem Wohlergehen von kranken Men-schen und damit dem Humanen ist indiesem Bereich unverkennbar.8Der Prozess der ethischen Umorientie-rung in Fragen der Lebensverlängerungunter dem Aspekt des Wohlergehens deseinzelnen Menschen ist in Bereichen wieder Intensivmedizin im Gange, aber nochlängst nicht abgeschlossen, und schontaucht eine neue Fragestellung auf. Seitkurzem wird auch öffentlich darüberdiskutiert, ob der medizinische Fortschrittallen zuteil werden kann, für die er einewirkliche Hilfe darstellt. Zur Diskussionsteht also, wie viel finanzielle Mittel dieGesellschaft zur Erhaltung von Gesund-heit und Leben des Einzelnen aufzubrin-gen in der Lage und bereit ist. Damit ver-lagert sich der Blick vom Wohlergehendes Einzelnen auf das Wohlleben derGesellschaft. Die Interessen Einzelner unddie der Gesellschaft können bei derZuteilung medizinischer Mittel in Konfliktgeraten. Gesundheit gilt in rein diesseitig aus-gerichteten Gesellschaften als das höchsteallgemeingültige Gut, zu dessen Erhaltungriesige Mittel investiert werden. Die Er-

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folge der technischen Medizin haben mitdazu beigetragen, dass immer mehr Men-schen trotz chronischer Erkrankungenzunehmend länger leben und dauernderBehandlungen bedürfen, so dass ein sehrgroßer Teil der Kosten im Gesundheitswe-sen durch die Behandlung chronisch kran-ker Menschen entsteht, die in früherenZeiten zum großen Teil an ihren Ge-brechen bald gestorben wären (z.B. Dia-betiker, Dialysepatienten). Die Kostenex-plosion im Gesundheitswesen ist abernicht in erster Linie eine Folge gesteigerterBedürfnisse und Nachfrage Einzelnernach medizinischen Leistungen, sondernder Leistungsexplosion der Medizin. Die-se hat vielfältige Ursachen, ist aber nichtzuletzt durch die Entwicklung aufwändi-ger und teurer diagnostischer und thera-peutischer Methoden bedingt. Es ist zu er-warten, dass auf der Basis genetischer undmolekularbiologischer Diagnostik, derStammzelltherapie, der neuen bildgeben-den Diagnoseverfahren und der auf ihnenaufbauenden wenig invasiven operativenund medikamentösen Methoden vieleKrankheiten, auch die großen „Killer“, dieHerz-Kreislauf- und die Krebs-Krankhei-ten, zunehmend besser bekämpft oder garbeherrschbar werden. Sollten z.B. durchFortschritte in der Gentechnik, Stammzell-forschung, der Gewebezucht u.a. genü-gend geeignete Spenderorgane gezüchtetund die Abstoßreaktionen von Organenbeherrschbar werden, dann stünde manzwangsläufig vor der Frage, ob man Or-gane bereits vor Eintritt ernsthafter Organ-schäden – gegebenenfalls mehrmals –austauschen soll. Eine solche Medizinwäre nicht mehr für alle, denen sie eineechte Lebenshilfe bringen würde, be-zahlbar und würde die heute, beim Man-gel an vorhandenen Spenderorganen be-stehenden ethischen und rechtlichenProbleme bei der Verteilung von Orga-nen9 noch weiter verschärfen.

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Verdeutlichen wir das an der Herstellung neuer,sehr spezifisch und gezielt wirkender Medika-mente, die auf der Basis genetischer undmolekularmedizinischer Forschung entwickeltwerden. Die bisherigen Medikamente habenmeist ein breites Anwendungsspektrum. Ihre Entwicklung und Herstellung war daher öko-nomisch rentabel. Bei den neuen Medika-menten wird sich das Anwendungsspektrum er-heblich verringern. Notwendig werden dieneuen und spezifisch wirkenden und wirk-sameren Medikamente sehr viel teurer werden.Schon heute beobachten wir – z.B. in der Psychiatrie – dass teure neue Medikamente nurnoch von privaten Versicherungen bezahlt wer-den. Mittlerweile fängt sogar in der Pharmain-dustrie ein Umdenkungsprozess an. Man fragtnicht mehr in erster Linie, ob ein Medikamenteine therapeutische Wirkung haben wird, son-dern ob es von genügend Patienten bezahlt wer-den kann und sich die hohen Investitionen zuseiner Entwicklung damit ökonomisch lohnen.Allein aufgrund ökonomischer Grenzen – undnicht aufgrund ethischer Überlegungen – wirddann also auf mögliche therapeutische Fort-schritte verzichtet. Dies stellt ein gravierendesethisches Problem dar. Aber immerhin müssendann alle betroffenen Kranken auf die besserenneuen therapeutischen Möglichkeiten verzich-ten. Werden die neuen teuren Medikamenteeingeführt, kommen aber nur noch – wie esnach den gegenwärtigen politischen Diskussio-nen abzusehen ist – den Menschen zugute, diesie privat oder aufgrund von teuren Prämien fürprivate Krankenkassen zahlen können, so stehenwir vor viel größeren ethischen und auchrechtlichen Problemen. Unser bisheriges Ver-ständnis von einer gerechten Zuteilung vonGesundheitsleistungen und damit von zuteilen-der Gerechtigkeit wird in Frage gestellt. Undgegebenenfalls muss ein Mensch wegen man-gelnder finanzieller Mittel sterben, obwohl seinLeben mit den neuen Verfahren gerettet werdenkönnte. Ob und wie dies mit dem deutschenGrundgesetz Artikel 2 vereinbar ist, der einRecht auf Leben garantiert, ist eine offene Frage.Es ergeben sich dann aber auch noch weitereernsthafte ethische Fragen, wie z.B. die, ob manÄrzten zumuten darf, Menschen nicht die wirk-sameren und gegebenenfalls lebensrettendenHilfen zuteil werden zu lassen, weil ein Mensch

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nicht reich genug ist? Darf man, wenn solcheHilfen grundsätzlich in die medizinische Praxiseingeführt sind, derartige Entscheidungen einemBerufsstand auferlegen, der sich zur Hilfe für alleMenschen in Not verpflichtet hat.10

Die Beispiele machen deutlich, dass undwie der medizinische Fortschritt zur In-fragestellung bisher noch anerkannterwesentlicher ethischer und rechtlicherÜberzeugungen führt, in diesem Falle un-seres Verständnisses von zuteilenderGerechtigkeit in bezug auf die Gesund-heit oder sogar des Rechtes auf Leben.Solche ethischen Probleme lassen sichnicht durch weitere technische Fortschrit-te lösen, sie werden durch sie vielmehrmeist verschärft. Auch die neuen medizinischen Verfahrenwerden überwiegend nicht zu einer wirk-lichen Heilung führen. Sie werden meistnur die Zeitdauer des Lebens mit einerKrankheit verlängern, oft die Tiefe des Lei-dens an einer Krankheit lindern und tod-bringende Krankheiten in eine andereLebensphase verlagern, denn es wirdauch in Zukunft niemand an Gesundheitsterben. Der medizinische Fortschritt wirdalso die Zahl der chronisch kranken unddauernder Behandlung und Pflege bedür-fender Menschen zugleich mit der Le-benserwartung stetig erhöhen. Dies wirdinsbesondere der Fall sein, wenn häufigetödliche Krankheiten erfolgreicher be-kämpft werden können. Das die Medizindes technischen Zeitalters leitende Ziel,möglichst alle Krankheiten zu besiegenund die Lebenserwartung stetig zu stei-gern, erweist sich ökonomisch und sozial-ethisch gesehen als äußerst zwiespältig.Auf dem Hintergrund der demografischenEntwicklung wirft die zunehmende Zahlmultimorbider, behandlungs- und pflege-bedürftiger, vor allem betagter Menschenschon heute nur schwer lösbare soziale,ökonomische und ethische Probleme auf,die sich durch weitere medizinische Fort-

schritte in der Lebenserhaltung nochmalserheblich verschärfen werden. Dabeibraucht man gar nicht daran zu denken,dass wir in absehbarer Zukunft diegenetischen Mechanismen des Alterungs-prozesses verstehen und beeinflussen undauch auf diese radikale Weise die Lebens-erwartung noch steigern können. Wer solldann entscheiden, wann dem Menschennoch medizinische Leistungen zur Erhal-tung seines Lebens zuteil werden undwann er aufgrund des Vorenthaltens sol-cher Leistungen sterben muss? Der medizinische Forschritt führt in eine„Fortschrittsfalle“. Gerade die Realisie-rung guter, bisher aber utopischer Zielewird damit zum ethischen Problem, führtbisher unbestritten gute Ziele in eineethische Krise. Das Ziel der Medizin,möglichst alle Krankheiten erfolgreich zubekämpfen, erschien unbestritten gut,solange es nur eine Utopie war. In demMaße, in dem es realisierbar wird, wirft esimmer schwerer lösbare soziale, ökono-mische und ethische Probleme auf, die esfraglich werden lassen, ob dieses Zielüberhaupt „gut“ im vormoralischen wieim moralischen Sinne ist. EntscheidendeFortschritte in der Bekämpfung von Krank-heiten und damit der Steigerung derLebensdauer und auch der Zeit der Pfle-gebedürftigkeit würden den jungen Gene-rationen einen bisher undenkbar hohenProzentsatz ihres Einkommens für Alters-Gesundheits- und Pflegeversicherung ab-verlangen. Die sozialökonomische Prob-lematik ließe sich nur dadurch mindern,dass es gelingt, Menschen auch im Alte-rungsprozess so gesund zu erhalten, dasssie bis zu ihrem Tod fast keiner Pflegedurch andere bedürfen, ein Ziel, das wohlkaum realisierbar sein dürfte. Die ange-deutete Aporie zwischen dem durch denmedizinischen Fortschritt Machbaren unddem, was sozialökonomisch möglich ist,ist ethisch schwer zu lösen. Sie darf aus

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christlich ethischer Sicht weder so gelöstwerden, dass wir überhaupt auf die Ent-wicklung teurer effektiver therapeutischerMaßnahmen verzichten, noch so, dass wiralles technisch Mögliche entwickeln undin die medizinische Praxis einführen, ohnezu fragen, ob die Verfahren auch bei allenbetroffenen Menschen, für die sie eineechte Hilfe darstellen, in ethisch gerechterWeise angewendet werden können.11

Innerhalb weniger Monate öffentlicherDiskussion über die Grenzen des Gesund-heits- und Sozialwesens wurde der Öf-fentlichkeit verdeutlicht, dass bisher nochgeltende Grundlagen unseres Sozial- undRechtssystems, wie z.B. der „Generatio-nenvertrag“, das gleiche Recht auf we-sentliche, das Leben erhaltende medi-zinische Leistungen u.a. in der Zukunftkeinen Bestand haben werden. Bedenktman, dass sich unvermeidbar die Zahl derüber längere Zeit chronisch kranken undpflegebedürftigen Menschen stetig erhö-hen wird, so muss man kein Prophet sein,um vorauszusagen, dass mit wachsendemökonomischen Druck im Gesundheits-und Pflegebereich der Lebenswert unddas Lebensrecht vor allem der schwerst-pflegebedürftigen Menschen aus sozial-ökonomischen Gründen immer mehr inFrage gestellt und offen über eine „ge-lenkte Sterblichkeit“ (rechtzeitiges Able-ben) durch Vorenthaltung medizinischerBehandlungen oder gar auch der Tötung„lebensunwerten Lebens“ diskutiert wer-den wird.12

Nicht jeder medizinische Fortschritt musszu einer Steigerung der Kosten und denangedeuteten Problemen führen. So kannz.B. die Entwicklung neuer Diagnosever-fahren für Tumore dazu führen, dass manihre Bösartigkeit besser ermitteln und soviele unnötige Behandlungen vermeidenund damit vielen Patienten die Belastun-gen von schweren Chemo- und Strahlen-therapien und den Versicherungen und

der Gesellschaft auch unnötige ökonomi-sche Ausgaben ersparen kann. Medizini-scher Fortschritt zugunsten des einzelnenMenschen und ökonomische Interessender Gesellschaft müssen also nicht not-wendig einen Widerspruch darstellen.Medizinischer Fortschritt kann auch hel-fen, Krankheitskosten einzusparen. Dochdürfte dieser Einsparungseffekt gegenüberder Steigerung der Kosten durch neuemedizinische Methoden eher geringbleiben.

2. Individualethische Aspekte – Heilung von Krankheiten und Linderung von Leiden

Natürlich ist es einseitig, den medizini-schen Fortschritt nur unter den ange-deuteten ökonomischen, sozialen undsozialethischen Gesichtspunkten zu be-trachten und dabei dann die Not deseinzelnen kranken Menschen vielleichtzuletzt ganz aus den Augen zu verlieren.Ärztliches Handeln wusste sich immer inerster Linie dem einzelnen leidendenMenschen und nicht so sehr den gesell-schaftlichen Interessen verpflichtet. Dieärztliche und pflegerische Motivation zurLinderung des Leidens einzelner Men-schen verdankt sich in der abendländi-schen Tradition nicht zuletzt dem heilen-den Handeln Jesu Christi, das gerade de-nen galt, die wegen ihrer Krankheit anden Rand der Gesellschaft verbannt odergar aus ihr ausgestoßen wurden. DieKirchen haben daher den Heilauftrag im-mer sehr ernst genommen, haben in derErhaltung der Gesundheit, der Be-wahrung des Lebens und der Linderungvon Leiden einzelner Menschen immerein dem eigentlichen Willen Gottesentsprechendes Handeln gesehen undKrankheit und Leiden an sich nie als deneigentlichen Willen Gottes oder gar als„Segen“ betrachtet. Gerade auf diesem

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Hintergrund ist die Forderung berechtigt,dass auch der Verzicht auf einen an sichmöglichen Fortschritt in der Heilung vonKrankheiten der ethischen Rechtfertigungbedarf. Die sozialökonomischen Inter-essen der Gesellschaft dürfen daher auschristlicher Sicht niemals allein einGrund sein, auf einen möglichen thera-peutischen Fortschritt für schwer leidendeMenschen zu verzichten. Und wenn ausderartigen Gründen auf die Anwendungvon therapeutischen Verfahren verzichtetwerden muss, dann müssen alle Betroffe-nen darauf verzichten, dürfen die Metho-den mithin nicht in die medizinischePraxis eingeführt werden und dann nurreichen Menschen zugute kommen. Dieswürde sonst nämlich dazu führen, dassdie grundlegenden Rechte des einzelnenMenschen bis hin zum Recht auf Lebenden Interessen der Gesellschaft unterge-ordnet werden und dass grundlegendeethische Leitvorstellungen wie die Ge-rechtigkeit und die Solidarität zuneh-mend ausgehöhlt werden.13 Die gekenn-zeichnete „Fortschrittsfalle“ trägt abernicht nur zwangsläufig zur Aushöhlungdes bisherigen Verständnisses von zutei-lender Gerechtigkeit im Gesundheits-und Pflegebereich bei. Sie kann darüberhinaus auch zur Aushöhlung des bisheri-gen Standesethos von Ärzten und Pflege-kräften und vielen schwerwiegendenethischen Konflikten bei diesen Berufs-gruppen führen, die nicht ohne negativeAuswirkungen auf die ihnen anvertrautenMenschen bleiben werden. Es ist bereits heute unverkennbar, dassökonomische Überlegungen immer häu-figer die gerechte Anwendung neuerteurer Heilverfahren bei allen betroffenenkranken Menschen verhindern, und einezunehmende Mehrheit in der Gesell-schaft ist bereit, diese ethisch problema-tische Entwicklung als unvermeidbarhinzunehmen. Gleichzeitig ist die Ten-

denz zu beobachten, dass, wenn dermedizinische Fortschritt nur um den Preisder Verletzung grundlegender ethischerVerpflichtungen erreicht werden kann,man auch in der Öffentlichkeit zuneh-mend bereit ist, diese ethischen Überzeu-gungen so zu verändern, dass sie diesemFortschritt nicht mehr im Wege stehen. Zu diesen ethischen Verpflichtungen ge-hören in erster Linie die unbedingte Ach-tung der sich aus der Menschenwürdeallen Menschenlebens ergebenden Rech-te, in erster Linie des Rechts auf Lebenund damit des Tötungsverbots. Eine Rela-tivierung dieser Rechte ist letztlich nurbegründbar, wenn die Gesundheit als dashöchste oder wenigstens als ein so hohesGut angestuft wird, dass sie mit diesenethischen Prinzipien auf eine Stufe zu ste-hen kommt, denn dann gibt es einenAnspruch auf Gesundheit, dem bei einerAbwägung von Gütern und Pflichtenauch die Beachtung der Menschenwürdeund des Tötungsverbots untergeordnetwerden kann oder gar muss. Die Kirchenlehnen eine derartige „utilitaristische“Ethik aus verschiedenen Gründen ab.14

Sie bestreiten, dass der Gesundheit einederartige vorrangige Position unter denGütern des Lebens zukommt. Sie unter-scheiden einerseits zwischen Gesundheitund damit dem Recht auf Gesundheitund andererseits dem Leben und damitdem Recht auf Leben. Dabei geht mandavon aus, dass grundlegende Rechtsnor-men, die dem Schutz allen Menschen-lebens dienen, nicht mit Anspruchs-rechten einzelner Menschen, die sich aufdie Erlangung von Gütern wie die Ge-sundheit beziehen, auf eine wertmäßigeStufe zu stellen sind und dass sie deshalbauch nicht gegeneinander abgewogenwerden dürfen.15 So darf z.B. selbst dasAnspruchsrecht auf Erhaltung des Lebensnicht das fundamentale Schutzrecht fürdas Leben aller Menschen, das Tötungs-

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Anmerkungen

* Erweiterte Fassung eines Vortrags im Rahmen der„Woche für das Leben“ 2003 am Universitäts-klinikum Bonn

1 Friedrich Nietzsche, Werke, Großoktavausgabe,Leipzig 1895-1904, Bd. 10, 207, vgl. Werke in dreiBänden, hg. von K. Schlechta, 1960, Bd. 3, 643.

2 I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen derbloßen Vernunft, 1793/94, Drittes Stück.

3 U. Eibach, Gentechnik und Embryonenforschung.Leben als Schöpfung aus Menschenhand? Eineethische Orientierung aus christlicher Sicht, Wup-pertal 2002, 22003.

4 J. Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur:auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik, Frankfurta. M. 2001.

5 U. Eibach, Gentechnik und Embryonenforschung,29ff.

6 O. Marquard, Ende des Schicksals? Einige Be-merkungen über die Unvermeidbarkeit des Unver-fügbaren, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen.Philosophische Studien, Stuttgart 1981, 67ff.

7 E. Beck-Gernsheim, Technik, Markt und Moral.Über Reproduktionsmedizin und Gentechnologie,Frankfurt a. M. 1991.

8 U. Eibach, Sterbehilfe – Tötung aus Mitleid? Eutha-nasie und ‚lebensunwertes’ Leben, Wuppertal 1998.

9 T. Gutmann, K. A. Schneewind u.a., Grundlageneiner gerechten Organverteilung, Berlin u.a. 2003.

10 U. Eibach, Menschenwürde an den Grenzen desLebens. Einführung in Fragen der Bioethik auschristlicher Sicht, Neukirchen-Vluyn 2000, 191ff.

11 Evangelische Kirche in Deutschland, Mündigkeitund Solidarität. Sozialethische Kriterien für Um-strukturierungen im Gesundheitswesen, Gütersloh1994; dies., Solidarität und Wettbewerb. Für mehrVerantwortung, Selbstbestimmung und Wirtschaft-lichkeit im Gesundheitswesen, EKD-Texte 74, Han-nover 2002.

12 U. Eibach, Menschenwürde an den Grenzen desLebens.

13 Vgl. Lit. in den Anm. 10 und 11. 14 Evangelische Kirche in Deutschland / Deutsche

Bischofskonferenz, Gott ist ein Freund des Lebens.Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz desLebens, Gütersloh 1989; vgl. Lit. und Anm.

15 U. Eibach, Gentechnik und Embryonenforschung,47ff.

16 F. Oduncu / U. Schroth / W. Vossenkuhl (Hg.),Stammzellenforschung und therapeutisches Klonen,Göttingen 2002; J. Taupitz, Rechtliche Regelungder Embryonenforschung im internationalen Ver-gleich, Berlin u.a. 2002; U. Eibach, Gentechnik undEmbryonenforschung, 53ff.

verbot, außer Kraft setzen. Deshalb dür-fen z.B. von einem Menschen, der bereitsbewusstlos ist und mit Sicherheit in ab-sehbarer Zeit sterben wird, auch dann vorseinem Hirntod keine Organe entnom-men werden, wenn dadurch das Lebeneines anderen Menschen gerettet werdenkönnte, der z.B. an einem akuten Leber-versagen ansonsten sterben muss. Nicht zu bestreiten ist allerdings, dass esauf einigen Gebieten der Medizin bereitszu einer derartigen Güterabwägung zwi-schen den Lebensinteressen von Men-schen und dem Recht auf Leben anderer

Menschen gekommen ist und dass damitbereits zugleich eine tiefgreifende Wand-lung unserer fundamentalen Wertvorstel-lungen, insbesondere unseres Verständ-nisses von Menschenwürde, eingeleitetwurde. Dies wird deutlich an der Diskus-sion um die verbrauchende Forschungmit menschlichen Embryonen16, ins-besondere aber im Bereich der geneti-schen und der vorgeburtlichen Diagnos-tik überhaupt. In einem nächsten Beitragsoll deshalb an diesem medizinischenBereich das aufgeworfene Problem nähererläutert werden.

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Die Anthroposophie Rudolf Steiners hatsich als Alternative zur modernen Gestaltder Esoterik, der Theosophie etabliert.Bevor Ende 1912 die „AnthroposophischeGesellschaft“ gegründet wurde, war Stei-ner über zehn Jahre lang Leiter derdeutschen Sektion der „TheosophischenGesellschaft“ gewesen. Während dieserZeit hatte er in Absetzung vom Trenddieser internationalen Gesellschaft, abernoch auf ihrem Boden eine explizit „west-liche“ Esoterische Schule ins Leben geru-fen. Sie stellte in okkulter Manier dieChristusgestalt in ihrer Einmaligkeit in denMittelpunkt, während von der theosophi-schen Präsidentin Annie Besant prinzipielleine Pluralität von messianischen Gestal-ten für real gehalten wurde.Dass es bei Rudolf Steiner zu dieser Zu-spitzung einer christlich-abendländischenEsoterik innerhalb der TheosophischenGesellschaft kommen konnte, war alles an-dere als selbstverständlich. War doch derengeistige Mutter, die Deutschrussin H. P.Blavatsky, geradezu antichristlich eingestelltund 1880 zum Buddhismus übergetreten!Und ihre Schülerin Annie Besant, die inihrer Jugend immerhin eine begeisterteChristin gewesen war, hatte bereits 1893den Wechsel zum Hinduismus vollzogen.Auch Steiner selbst, geborener Katholik,hatte in seiner philosophischen Entwicklungbis zur Jahrhundertwende keine Nähe zumchristlichen Glauben entwickelt. Im Rückgriff auf ihre spirituelle Vergan-genheit hatte allerdings Mrs. Besant 1901in London das Buch „Esoteric Christianity“veröffentlicht. Darin hatte sie versucht, dieGestalt Jesu Christi in das Schema mo-

derner Theosophie zu integrieren. Erstmalsentwickelte sie hierbei die bis dahin in derKirchen- und Dogmengeschichte unge-bräuchliche Begriffskreation „kosmischerChristus“ (dazu mein Buch „Wer ist derkosmische Christus? Karriere und Bedeu-tungswandel einer Metapher“, 2001). ImHintergrund stand eine Astralmythologie,die die Kreuzessymbolik in einem aller-dings nichtchristlichen Sinn aufgriff. Besantwar und blieb bei alldem offen für eine plu-rale Christologie.Rudolf Steiner war um diese Zeit zu denTheosophen gestoßen. Als er nämlichnach dem Tod Friedrich Nietzsches 1900mehrere Gedenkreden auf den Philo-sophen hielt, wurde er gebeten, seinenVortrag in einem theosophischen Kreis umSophie Gräfin Brockdorff zu wiederholen.Inhalt und Art des Vortrags empfand manin der Theosophischen Bibliothek zuBerlin als so anregend, dass daraus eineregelmäßige Vortragsreihe wurde. In ei-nem ersten Zyklus sprach Steiner über dieneuzeitliche Mystik des Abendlandes; die1901 publizierten Vorträge ließen aller-dings immer noch nichts spezifischChristliches erkennen. Wie also kam es,dass dann der zweite Zyklus, 1902 unterdem Titel „Das Christentum als mystischeThatsache“ veröffentlicht, plötzlich einenJesus und dem Kreuz von Golgatha zuge-wandten Steiner präsentierte? Auf diese Frage versuchte Steiner selbst inseinem Lebensrückblick so zu antworten,dass er sich um den Eindruck einer innerenKontinuität bemühte. Die Erklärung je-doch, er sei nun auf Menschen getroffen,die „über den Christus reden und denken“,

Werner Thiede, Erlangen

Rudolf Steiner vor dem „Mysterium von Golgatha“Eine historisch-kritische Perspektive – 100 Jahre danach

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dürfte kaum genügen, zumal solches Re-den in den betreffenden theosophischenKreisen nicht gerade ein „christosophisch“akzentuiertes gewesen sein dürfte. Einesallerdings wird genau zu dem Zeitpunkt,als Steiner seinen zweiten Zyklus zukonzipieren begann, in der Theosophi-schen Bibliothek sehr wohl thematisiertworden sein: Die „First Lady“ der Theo-sophical Society, Annie Besant, hatte ge-rade ihr oben genanntes Buch publiziert!„Esoterisches Christentum“ – dass Steinersich von den neuen Gedanken dertheosophischen Führerin für seinen kom-menden, im Herbst beginnenden Zyklusinspirieren ließ, kann nicht verwundern! Aus anthroposophischer Sicht will mandas bis heute nicht recht wahrhaben. Ver-sicherte Steiner doch: „Was im ‚Christen-tum als mystische Tatsache’ an Geist-Erkenntnis gewonnen ist, das ist aus derGeistwelt selbst unmittelbar herausge-holt.“ Kritische Forschung wird freilichSteiners Voraussetzung, er habe metho-disch Zugang zu höheren Welten gefun-den, nicht von vornherein teilen können,sondern nach irdischen Quellen Ausschauhalten müssen. Höchst fraglich ist dieAuskunft des anthroposophischen Steiner-Biographen Christoph Lindenberg, „daßSteiner in keiner Weise an die üblichen In-halte der damaligen Theosophie – Blavats-kys, Sinnetts oder Besants anknüpfte.Diese theosophische Literatur war ihmdamals zum größten Teil auch ganz un-bekannt.“ Zu denken ist indessen zunächst an dasBuch „Die großen Eingeweihten“ aus derFeder eines Mitglieds der PariserTheosophischen Gesellschaft und späterenFreundes Steiners, des JournalistenEdouard Schuré. Immerhin stand Marievon Sivers, Steiners Mitarbeiterin undspätere Gattin, damals in Briefkontakt mitSchuré, dessen Werk sie schließlich auchins Deutsche übersetzte! Ein inhaltlicher

Vergleich zeigt, dass Steiner von Schurésäußerst erfolgreichem, bereits 1889 er-schienenen Buch in der Tat Anregungenempfangen haben dürfte: Jesus als großen„Eingeweihten“ in der Reihe anderer„Messiasse“ zu deuten, war geläufigestheosophisches Gut. Inspiriert habendürfte Steiner dabei aber vor allem Schurésdeutliche Akzentuierung Jesu als desgrößten aller Gottessöhne und seinesOpfers als des „tiefsten der Mysterien“!Diese Gedanken wurden von Steinerentschlossen herausgearbeitet.In seinen Memoiren erklärt Steiner selbstzur Entstehung seines „Christentum“-Buches: „Ich hatte zum Ziel, die Entwick-elung von den alten Mysterien zum Mys-terium von Golgatha hin so darzustellen,daß in dieser Entwickelung nicht bloß dieirdischen geschichtlichen Kräfte wirken,sondern geistige außerirdische Impulse.Und ich wollte zeigen, daß in den altenMysterien Kultbilder kosmischer Vorgängegegeben waren, die dann in dem Mys-terium von Golgatha als aus dem Kosmosauf die Erde versetzte Tatsache auf demPlane der Geschichte sich vollzogen.“Und er fügt hinzu: „Das wurde in derTheosophischen Gesellschaft nirgendsgelehrt.“ So aber lässt sich das unmöglichhalten!Zunächst ist hier darauf hinzuweisen, dassdie bei Steiner später zur stehenden Wen-dung werdende Rede vom „Mysteriumvon Golgatha“, die er hier anführt, in der1. Auflage von 1902 noch gar nicht auf-taucht. Sie wird erst um 1906 entwickeltund kommt deshalb erst ab der 2. Auflagevon 1910 in dem Buch vor. Aber auchabgesehen von dieser formalen Beobach-tung lässt sich unter inhaltlichem Aspektsagen, dass das „Kreuz auf Golgatha“1902 fast nur auf einer einzigen Seite, derletzten des vorletzten Kapitels – also schw-erlich als Skopus des Buches schlechthin –thematisiert wird: „Das Kreuz auf Gol-

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gatha ist der in eine Thatsache zusam-mengezogene Mysterienkult des Alter-tums.“ Das Kreuzesgeschehen erhält hierimmerhin bereits den Rang einer „Tat-sache“, die als geschichtliche sich überdas Wesen der Mysterienkulte erhebt. Nun lässt sich aber eben diese Lehre, „daßin den alten Mysterien Kultbilder kos-mischer Vorgänge gegeben waren, diedann in dem Mysterium von Golgatha alsaus dem Kosmos auf die Erde versetzte Tatsache auf dem Plane der Geschichtesich vollzogen“, aus Besants Werk von1901 erheben. Besant spricht hier wörtlichvon den neutestamentlichen „Tatsachen“,die sie als solche keineswegs bestreiten,sondern im rechten Verhältnis zu denübergeschichtlichen Vorgängen erkanntwissen will. Auch Steiners These, die In-halte des Christentums seien in den Myste-rien bereits vorhanden gewesen, und Jesussei im Essener-Orden herangebildet underzogen worden, ist bereits in Besants „Esoteric Christianity“ zu finden. Wie Be-sant beruft sich Steiner auf Platosvorchristliche Lehre im „Timaios“: „Gotthat auf den Weltleib in Kreuzesform dieWeltseele gespannt. Diese Weltseele istder Logos. Soll der Logos Fleisch werden,so muss er im Fleisches-Dasein den kos-mischen Weltprozess wiederholen. Ermuß ans Kreuz geschlagen werden undauferstehen. Als geistige Vorstellung wardieser wichtigste Gedanke des Christen-tums in den alten Weltanschauungenlängst vorgezeichnet.“ Aber von hier aus denkt Steiner nun denvon Besant angestoßenen Gedankengangkonsequenter zu Ende: Wird die kosmi-sche Kreuzigung als heilvolles Opfer ver-standen, wie das bereits bei Blavatskyanklingt und bei Besant breiter entfaltet ist,dann muss auch die irdische Kreuzigungals geschichtliche Tatsache ein heilbrin-gendes Opfer darstellen! Diese naheliegende Folgerung wird von der moder-

nen Theosophie nicht gezogen, währendsie Steiner in seiner stärker abendländi-schen Logik und Weltanschauung bewusstfixiert: Das Kreuz des Christus sei „als ein-maliges Ereignis, das für die ganzeMenschheit gelten soll“, zu verstehen!Zwar sieht auch Besant, dass Jesus durchseine Opfer-Tat „ein Christus in ‚voller Ge-stalt’ wurde“ und durch Kreuz und Aufer-stehung „die ganze Welt einen Schritthöher gefördert“ wurde; aber dies lehrt sieunter der Voraussetzung, dass derlei Aus-sagen für „jeden emporsteigenden Chris-tus“ gelten, also unter Bestreitung desneutestamentlichen, von Steiner bekräf-tigten Ein- für Allemal! Für sie bleibt der„kosmische Christus“ entscheidend, wäh-rend für Steiner der geschichtliche ChristusEigengewicht erhält. Dank der anregenden Vorträge Steinerswurde die Gründung der deutschen Sek-tion der Theosophischen Gesellschaft imFrühjahr 1902 vorangetrieben. Deren ihmangetragene Leitung zu übernehmen,entschied sich Steiner zur Jahresmitte, alser gerade die Schlusskapitel seines „Chris-tentum“-Buches druckfertig formulierthatte. Daraufhin machte er sich auf dieReise nach London, wo er beimTheosophischen Kongress Annie Besantpersönlich kennen lernte. Im Oktoberwurde – in Anwesenheit Besants – diedeutsche Sektion der TheosophischenGesellschaft gegründet, und Steiner wurdeals Generalsekretär in den Vorstandgewählt. Wenige Tage später wurde er indie einst von Blavatsky gegründete undjetzt von Besant geleitete „EsoterischeSchule“, einen inneren Zirkel derTheosophischen Gesellschaft, aufgenom-men.Irgendwann im Jahre 1903 kam es dann zueinem für Steiner zentralen, wohl vi-sionären Geschehen. Nach allem Gesag-ten drängt sich die Vermutung auf, dasserneut ein Zusammenhang mit Besants

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„Esoterischem Christentum“ besteht. Denndieses für Steiner schon 1901 offen-sichtlich wichtige Buch erscheint 1903endlich in deutscher Sprache! Als Steinerim Juli 1903 auf der ersten Versammlungder „Föderation Europäischer Sektionender Theosophischen Gesellschaft“ in Lon-don auf dem Podium seine Begrüßung indeutscher Sprache hielt, war dies ein Indizdafür, dass seine Englischkenntnisse aus-gesprochen schlecht geblieben waren. Tat-sächlich mussten seine Vorträge in Eng-land ebenso wie seine Gespräche alleübersetzt werden! Das aber bedeutet, dasser 1901 das für sein Thema so maßgeb-liche Buch aus der Feder der bekanntestenTheosophin wohl nur rudimentär gelesenoder womöglich nur mündlich geschildertbekommen haben dürfte. Jetzt, zwei Jahrespäter, arbeitete er es ganz durch – nichtzuletzt, um es sogleich für seine Zeitschriftzu rezensieren. Gerade im Gefolge dieser Lektüre könnteihm aufgegangen sein, was die Analogiedes ursprünglichen „Opfers“ durch den„kosmischen Christus“ zum irdischenGeschehen von Golgatha näherhin in sichbirgt. Den „Gott, der in der Welt aus-gegossen wurde“, mit dem „Logos“ zuidentifizieren, war ihm bereits 1902 gelun-gen. Rund ein Jahr später aber verstärkte

sich in ihm der Gedanke, dass das kosmi-sche Ausgießen des Logos in die Materieals lebenstiftendes Geschehen sein spiri-tuelles Äquivalent im geschichtlichen Gol-gatha-Geschehen haben musste: Das ob-jektive Heilsereignis des Kreuzes erstrecktsich nicht nur auf das Geistige des Men-schen, sondern ebenso auf das Materielledes ganzen Planeten Erde, auf dem dasBlut des Christus fließt! In einer autobio-graphischen Notiz aus dem Jahre 1924vermerkte Steiner: „1903 – Die christli-chen Mysterien gehen auf“. Dies dürftesich in visionärer Schau des Reflektiertenkonzentriert haben: „Auf das geistige Ge-standen-Haben vor dem Mysterium vonGolgatha in innerster Erkenntnis-Feier kames bei meiner Seelen-Entwicklung an.“Damit zeigt sich: Vor wohl genau hundertJahren hat sich für Rudolf Steiner die in-nere Hinwendung zum esoterischenChristentum fixiert. Vollzogen hat sie sichsowohl in Abhängigkeit als auch in Abset-zung von der theosophischen Christus-Auffassung. Die bereits von Anfang anerkennbaren Risse haben rund einJahrzehnt später zur endgültigen TrennungSteiners von der Theosophischen Gesell-schaft geführt. Dem kirchlichen Christen-tum gegenüber aber hat Steiner zeitlebensDistanz gewahrt.

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GESELLSCHAFT

Partei Bibeltreuer Christen streitet überIrak-Krieg. Eine heftige Diskussion überdie Legitimität des Krieges gegen den Irakim Frühjahr 2003 ist in der Partei Bibel-treuer Christen (PBC) entflammt. Auslöserder Debatte in den Leserbrief-Spalten derParteizeitschrift Salz & Licht war einlängerer Artikel des Pfarrers i. R. Hans-Christoph Gensichen in Nr. 2/2003. Darinwurde die Entscheidung des US-Präsiden-ten George W. Bush durch den „noachiti-schen Bund“ legitimiert. Er berufe sich zuRecht auf das Bibelwort „Vergießt einerdas Blut des Menschen, dem werde durchMenschen sein Blut vergossen“ (Mose9,6). Damit habe Bush Gottes Gebot be-folgt, während die großen Kirchen sichdurch ihre Ablehnung des Irak-Krieges„weitestgehend aus der Heilsgeschichteverabschiedet“ hätten.Dem gegenüber beklagen viele Leserbrief-Schreiben in Nr. 3/2003 der Parteizeit-schrift (mithin auch Mitglieder der PBC)die Verluste an Menschenleben und be-streiten die Rechtfertigung eines Krieges„im Namen Gottes“. Manche berufen sichwiederum auf Bibelworte, z.B. „Wer zumSchwert greift, wird durch das Schwertumkommen“ (Mt 26,52). Angesichts derHeftigkeit der Kontroverse befürchtet derParteivorsitzende Gerhard Heinzmanngar, das bisherige „brüderliche Miteinan-der in der PBC“ könne zerstört werden.Offenbar ist es eine neue Erfahrung für die– laut Eigenwerbung – „entschiedenenChristen“, dass die Berufung auf die Bibelauch gegensätzliche politische Optionenmöglich macht und die vermeintliche Ein-deutigkeit der Bibel in politischen Fragennicht einmal in den eigenen Reihen gilt.

Lutz Lemhöfer, Frankfurt a. M.

Rath gegen den Rest der Welt. (LetzterBericht: 9/2003, 351f) Erneut hat Dr.Matthias Rath im Rahmen einer groß an-gelegten Vortragsreihe im Oktober 2003seine „Zellular-Medizin“ als den „Durch-bruch zu einem neuen Gesundheitssys-tem“ angepriesen. In bekannter Weisestellte der von manchen als „Menschheits-retter“ bezeichnete Arzt die Pharma-In-dustrie als Unterdrückerin der Gesundheithin, weil unter deren Strategie – dem Ver-bot hochdosierter Vitaminpräparate – dieVolksgesundheit zugrunde gehe. Seiten-füllende Werbekampagnen in großenTageszeitungen zeugen von einem klarumrissenen Feindbild und einer aben-teuerlichen Verschwörungstheorie, die denNutzen der pharmazeutischen MedizinLügen straft. Natürlich stimmt es, dassmanche herkömmlichen Medikamenteunter bestimmten Umständen dramati-sche – ja sogar tödliche – Nebenwirkun-gen aufweisen können. Wo aber wärenwir heute ohne Kortison, Aspirin oder In-sulin, Herr Dr. Rath? Unbeirrbar wirbt der Schüler des großenChemikers und späteren „Vitaminpapsts“Linus Pauling (1901-1994) um Anhänger –sowohl um Kunden als auch um Mitar-beiter für sein Vertriebssystem. GezielteBeraterschulungen sollen nun den Ver-brauch ankurbeln – etwa von „VitacorPlus“, 90 Tabletten für 42 Euro, Ver-zehrempfehlung dreimal täglich eine Tab-lette. Den offensichtlichen Widerspruch,die gesamte Pharma-Industrie nun miteigenen, angeblich neuartigen Pillen inFrage zu stellen, scheinen die Anhängerund Berater auszublenden. Seit Jahren können die Präparate via Inter-net bestellt und aus den Niederlanden be-zogen werden. Dieser Umweg ist nötig,weil sie wegen der hohen Dosierung hier-zulande unter das Arzneimittelgesetz fal-len würden. Die für eine Zulassung nöti-gen Daten und klinischen Studien wurden

INFORMATIONEN

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aber bisher nicht vorgelegt. AngeblicheWirksamkeitsnachweise wurden vonFachzeitschriften aufgrund des fehlendenwissenschaftlichen Aussagewertes in Fra-ge gestellt. Die in seinen Werbeprospek-ten angeführten „klinischen Beweise“beziehen sich nicht, wie suggeriert wird,auf die von Rath entwickelten Vitamin-Präparate, sondern nur auf einzelne In-haltsstoffe wie Vitamin C oder Folsäure.Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung(DGE) hält Nahrungsergänzungsmittel fürgesunde Menschen, die sich abwechs-lungsreich und vollwertig ernähren, gene-rell für überflüssig. Verbraucherzentralenempfehlen darüber hinaus, Produkte nichtzu kaufen, wenn gezielt Ängste geschürtwerden oder der Verkauf vom Ausland auserfolgt. Grundsätzlich warnt das Bundes-gesundheitsministerium davor, Nahrungs-ergänzungsmittel aus dem Internet oderdem Direktvertrieb zu beziehen, weil sichdiese Produkte einer staatlichen Kontrollezur Sicherung des gesundheitlichen Ver-braucherschutzes entzögen. Raths Fir-mennetzwerk überspringt diese Hürde –das deutsche Vertriebssystem für seineumstrittenen Produkte aus den Niederlan-den wächst.

Michael Utsch

Ideologische Vereinnahmung des Weih-nachtsfestes. Kaum ein Feiertag ist emo-tional so stark besetzt wie das Weihnachts-fest. Unabhängig davon, was persönlichdamit verbunden wird – ob Familientreffenoder Geschenke-Rummel, hell beleuchte-te Strassen oder arbeitsfreie Tage, ob derbesinnliche Gottesdienst oder das beson-dere Festtagsmenü im Mittelpunkt steht –Weihnachten in Deutschland lässt nie-manden ‚kalt’. Angesichts der Säkulari-sierung gerät der Ursprung dieses Festes –die Geburt des Gottessohnes Jesus vonNazareth – zunehmend in den Hinter-

grund, wenn nicht gar in Vergessenheit.Seit einiger Zeit nutzen weltanschaulicheRandgruppen diese inhaltliche Aushöh-lung, um ihre eigenen Botschaften zu ver-mitteln. Die inzwischen fast ausschließlichkonsumfixierte Weihnachtszeit schafft fürdiese Bewegungen neue Zielgruppen.Denn entgegen diesem Trend zur Ver-äußerlichung gibt es auch immer mehrMenschen, die nach Sinn und Orientie-rung suchen. Gerade Menschen aus denneuen Bundesländern sind häufig mit denInhalten und Ritualen des christlichenWeihnachtsfestes kaum mehr vertraut undfragen nach dessen eigentlicher Bedeu-tung. In einer Broschüre des Projekts „Weih-nachten in der politischen Propaganda“wurden von der Autorin Judith Breuer nunThesen, Quellen und Internet-Links zumThema „Weihnachten und Rechtsextre-mismus“ zusammengestellt und auch imInternet verfügbar gemacht (http://www.ver-lagruhr.de/userfiles/extras/weihnachten_rechtsextremismus.pdf). Die Grundtheseder Autorin lautet: Das Weihnachtsfestlässt sich unverdächtig und deshalb ge-radezu ideal instrumentalisieren: „Wervermutet schon rechtsextremistische undverfassungsfeindliche Inhalte in ‚Haus-büchern für die Weihnachtszeit’?“ Nach einer historisch-lexikalischen Orien-tierung machen Beispiele rechtsextremis-tischer Weihnachtspropaganda deutlich,wie dort gezielt nationalsozialistischesund völkisches Gedankengut verbreitetwird. Die bekannte Geschichtslüge derNationalsozialisten, Weihnachten und alledamit verbundenen Inhalte und Symbolewie der „Julleuchter“ werde, so Breuer,von vielen Autoren aufgegriffen und wie-derbelebt. Unmissverständliche Zitate be-legen, dass eine „rechte“ Weihnachtsideo-logie, über den dafür berüchtigten Markt-platz des Internet hinaus, Kinderbücher,Schulen und Volkshochschulen und auch

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die Naturmedizin erreicht haben. DieBroschüre besticht durch ihren knappen,prägnanten Text und die zahlreichen Inter-net-Verweise, über die man sofort ent-sprechende Quellen auffinden kann, umsich von dem beachtlichen Ausmaß der„Weihnachtslügen“ zu überzeugen. Ab-schließend wird auf kritische Hinter-grundinformationen zu den Themen „Neu-heidentum“, „Naturreligion“ und „Hexen“hingewiesen. Weil es der Autorin gelingt,die Weihnachts-Propaganda der „NeuenRechten“ zu entlarven, ist der Broschüreeine weite Verbreitung zu wünschen.

Michael Utsch

SCIENTOLOGY

Scientology macht wieder auf sichaufmerksam. (Letzter Bericht: 11/2003,431) Ideen muss man haben! Denn„Ideen, nicht Schlachten, markieren denFortschritt der Menschheit.“ Dieses Zitataus dem Mund L. Ron Hubbards, desgeistigen Schöpfers von Scientology, standin einer immerhin viertelseitigen Annonceder Scientology-Church International inder Neuen Zürcher Zeitung vom 18. Okto-ber im Mittelpunkt. Offensichtlich war esdie neueste Idee der Scientologen, eineKampagne zum Thema „Menschenrechte“zu starten, wie die Annonce näherhinzeigt. Dahinter steht ein charakteristischesVerfahren von Scientology: Ihren Kritikernwirft sie gern „systematische Menschen-rechtsverletzungen gegenüber Scientolo-gen“ vor – unter Berufung auf die Reli-gionsfreiheit. Mit solchen Ideen hofft sieallerdings „Schlachten“ zu gewinnen undso selbst fortzuschreiten.Immerhin konnte sie in den letzten Jahrentatsächlich einige Pluspunkte für sich ver-buchen. Beispielsweise haben Länder wieSchweden und Italien sie ihrem Anspruchgemäß als „kirchliche“ Gemeinschaft an-

erkannt. In Deutschland hat der MainzerUniversitätstheologe Marco Frenschkows-ki in der Zeitschrift Evangelische Theologieim Jahr 2000 ausdrücklich die Thesevertreten, Scientology sei tatsächlich „sehreindeutig eine Religion“. Und kürzlichkonnte Scientology mit einem Auftritt desHeidelberger Theologieprofessors GerhardBesier am 17. September bei der Eröffnungeiner Brüsseler Filiale werben. Ein von Be-sier inzwischen angekündigtes Buch, daserstmals auf einer Befragung aktiver deut-scher Scientologen beruht und sich gegendie „religionspolitische Ausgrenzung“ die-ser „amerikanischen Religion“ wendet,wird er selbst aufgrund des „öffentlichenDrucks“ nicht publizieren (s. u., S. 473).Von politischer Seite wurden in der Tatwährend der letzten Jahren neue Faktenöffentlich gemacht, deren Kenntnis denscientologischen Erfolgskurs behindern.So erschien etwa gleichzeitig mit Frensch-kowskis Aufsatz als Broschüre der Ham-burger Innenbehörde die deutsche Über-setzung der Schrift „Gehirnwäsche im Re-habilitation Project Force (RPF) der Scien-tology-Organisation“. Ihr Autor, der kana-dische Soziologieprofessor Stephen A.Kent, informiert darin über scientologischeStraf- oder Erziehungslager und betont:„Deutsche Politiker wie Beckstein, die sichScientologys Forderung nach einem reli-giösen Status entgegenstellen, wissen überdie Existenz der RPF-Programme gutBescheid, und ihnen ist bekannt, dass dasProgramm noch besteht.“ Von dahernimmt es auch nicht Wunder, dass dasbayerische Innenministerium vor knappeinem Jahr eine von der Staatsregierung inAuftrag gegebene Forschungsstudie mitdem Titel „Gesundheitliche und rechtlicheRisiken bei Scientology“ vorstellen konn-te, der zufolge eine Mitgliedschaft „Risi-ken für Gesundheit, Willensfreiheit undrechtliche Integrität der Betroffenen“ birgt. Entsprechende Warnungen waren bereits

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vor zehn Jahren in der Öffentlichkeitgeläufig. Es tat sich viel vor einemJahrzehnt: Im Februar 1993 hatte inDeutschland die Illustrierte Stern in einerTitel-Reportage von der „Macht des Kra-ken“ gesprochen. Im Sommer darauf hattedie deutsche Justizminister-Konferenz ver-lauten lassen, dass die scientologischeGeschäftsstrategie im Endeffekt auf dieIsolierung des Betroffenen von seinerUmwelt und auf die Schaffung und finan-zielle Ausbeutung physischer und psychi-scher Abhängigkeiten ziele. Fast zeitgleichhatte das Hamburger Oberverwaltungs-gericht der dortigen „Church“ letztinstanz-lich auferlegt, den Verkauf von Büchernund Kursen als Gewerbe anzumelden. Eskomme auf die Gewinnerzielungsabsichtan, und für diese spreche das Ziel, Mit-glieder „zum Kauf weiterer Bücher und vorallem zur Teilnahme an stets kostspieli-geren Kursen zu veranlassen“. Zudem waren 1993 die publizistischenAngriffe auf Scientology durchaus bemer-kenswert: So erschien in der Schweiz dasBuch „Gefährliche Seelenverkäufer? Scien-tology und was dahintersteckt“ von HansIngo von Pollern. In Deutschland kamengleichzeitig nicht minder kritische Bücherauf den Markt: Von Christoph Minhoff /Martina Müller „Scientology. Irrgarten derIllusionen“, von Silvia Redhead und Ralf-Dietmar Mucha „Der teure Traum vomÜbermenschen. Eine ehemalige Scientolo-gin berichtet“ sowie anonym „Entkom-men. Eine Ex-Scientologin erzählt“. Scientology stöhnte damals: „Vermutlichwaren die Attacken nirgendwo so unan-genehm wie in Deutschland!“ – nachzule-sen in ihrem 1993 publizierten Pracht-band „Was ist Scientology?“. Demge-genüber brachte die Organisation injenem Jahr eine als „Dokumentation“ auf-gemachte Broschüre heraus und verteiltesie an viele wichtige Stellen, Ämter undPersonen vieler Länder. Auf dem Titelblatt

stand: „Hass und Propaganda – sanktio-niert und betrieben von Medien und Be-hörden“. Hier wurde wie bereits frühervon Scientology die These vertreten, daßes zwischen den Hetzschriften des DrittenReichs und der „gegenwärtigen Hetzkam-pagne“ gegen die Scientology-Gemein-schaft in Deutschland schockierende Pa-rallelen gebe. Die von Hubbard empfoh-lene Methode der „schwarzen Propagan-da“ kam hier erkennbar zur Anwendung.Ebenfalls 1993 wurde auf ihrer „Flag Land-base“ in den USA eine „Planetarische Dis-seminationseinheit“ eingerichtet. Dortkonnten sich Scientologen fortan über allegrößeren Verbreitungs-Kampagnen welt-weit informieren, z.B. über „die Kam-pagne, alle Hubbard-Bücher in alle Biblio-theken zu bekommen“. Über tausend Or-ganisationen, Missionen und Gruppen in79 Ländern zähle die Scientology-Churchweltweit, berichtete das scientologischeMonatsjournal The Auditor Mitte 1993.Ende Oktober 1993, also vor genau zehnJahren, war es dann zur Sensation gekom-men: Die Scientology Church wurde vonden amerikanischen Steuerbehörden alsgemeinnützige religiöse Organisation an-erkannt! Bis dahin hatte das Finanzminis-terium die Church of Scientology als reinkommerzielle Organisation klassifiziert.Wie die New York Times nach der Durch-sicht des umfangreichen Aktenmaterialsmitteilte, stammte ein Großteil der scien-tologischen Einnahmen – jährlich warendas in den USA ca. 300 Millionen Dollar –aus dem Verkauf von Büchern und Kursen.Für den Erhalt der Anerkennung als „ge-meinnützige religiöse Organisation“ hatteScientology dem öffentlichen Einblick inihre Finanzen zugestimmt. Sie erhielt dieersehnte formelle Anerkennung, und derVorstandsvorsitzende des „Religious Tech-nology Center“ David Miscavige jubilierte:„Unsere Straße zu unbegrenzter Expan-sion ist nun weit geöffnet.“

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Nächstes Jahr kann die Scientology-Churchihr 50-jähriges Bestehen feiern – und wohlauch den Umstand, dass international dieKritik an ihr leiser geworden ist, verglichenmit den Tumulten vor zehn Jahren. Aberverschwunden sind die kritischen Stimmenkeineswegs, wie die neuesten Vorgänge umProf. Besier gezeigt haben. Die „Church“hat sich seit ihrer Gründung unterm Strichzu wenig verändert, um entsprechende Kri-tik nicht verdient zu haben.

Werner Thiede, Erlangen

Besier gibt sich unter Druck gelassen.Ende Oktober schlug die öffentliche Kritikan der umstrittenen Rede des Direktors desHannah-Arendt-Institutes für Totalitaris-musforschung anlässlich der Einweihungeiner Scientology-Repräsentanz im Brüs-sel nochmals hohe Wogen (vgl. MD11/2003, 431). Er musste sich vor demsiebenköpfigen Kuratorium des Instituts er-klären und wurde zu strenger Zurückhal-tung verpflichtet. Eine Entlassung sei ausinstitutspolitischen Gründen nicht mög-lich, so ein Kuratoriumsmitglied. Jedochsolle er zukünftig sein Vorgehen enger mitdem Kuratorium abstimmen. Dabei wurdebekannt, dass Besier nach eigenen An-gaben in den letzten Jahren eine Studie er-stellt hat, in der die vermeintlich bedrohteReligionsfreiheit in Deutschland „aus derPerspektive der Scientology-Religion“ dar-gestellt werde. Wegen des großen politi-schen Widerstandes will nun angeblichnicht Besier, sondern seine Frau den Bandim kommenden Frühjahr publizieren. Be-sonders brisant: Während der Verfassungs-schutz in seinen letzten Jahresberichteneine Mitgliederzahl von 5000 – 6000 Scien-tologen in Deutschland angibt, durfte Be-sier angeblich eine interne Datei mit11000 Mitgliederdaten einsehen. Ange-sichts dieser deutlichen zahlenmäßigen Dif-ferenz liegt die Frage nahe, ob darin auch

die Ex-Mitglieder erfasst sind. In Frank-reich wurde kürzlich die Scientology-Or-ganisation in erster Instanz zu 8000 EuroBußgeld verurteilt, weil sie die Datenehemaliger Mitglieder – aus welchen Grün-den auch immer – nicht pflichtgemäß ge-löscht hatte (Le Monde vom 15.10.2003).

Michael Utsch

SONDERGEMEINSCHAFTEN / SEKTEN

Der lange Marsch und die Mühen derEbene: Verwaltungsgerichtsverfahren ge-gen „Sekten“-Bericht des Berliner Senatsbeendet. Kritik ist für den Kritisierten nichtleichthin zu tragen – das mag als eine an-thropologische Grundkonstante gelten,die gleichwohl auch auf Menschengrup-pen übertragbar ist, schon gar auf solchedes Gegenstandsbereichs so genannter„Sekten“. Bei konfliktträchtigen Lebenshil-femarkt-Anbietern aus diesem Spektrumbegegnet man nicht selten einer in ihr Ex-trem destillierten Form von Kritikun-fähigkeit: Es wird ein Definitionsmonopolfür die eigene Gruppe gefordert. Alles,was sich jenseits dessen äußert, versuchtdie konfliktträchtige Gruppe flugs vomTisch zu klagen. Dabei erträgt mancheGruppe selbst Zitate aus dem eigenenSchrifttum nicht mehr, sofern sie in einerstaatlichen Broschüre auftauchen.Dieses Schicksal ereilt auch regelmäßigdie „Sekten“-Berichte des Berliner Senatsan das Abgeordnetenhaus. Fast trägt dasProcedere rituellen Charakter: Nochkaum ist die Pressekonferenz verklungen,rattern die Anträge auf Erlass einer Einst-weiligen Anordnung aus dem Fax. Spit-zenreiter war ein Kläger in den 90erJahren, der nach freitäglicher Pressekon-ferenz sonntags einen über 70 Seiten lan-gen Antrag auf Erlass einer EinstweiligenAnordnung gegen den „Sekten“-Berichtfaxte. Papiermengenchampion war ein Eil-

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verfahren von einem Monat Dauer – daszehn dicke Leitz-Bände füllte; kurz vorder Entscheidung sah der Antragstellerwohl seine Chancen schwinden und zogseinen Antrag zurück. Nur wenig ist der Öffentlichkeit bekannt,mit welch hohem Aufwand einige staat-liche Stellen ihr Äußerungsrecht zu kon-fliktträchtigen Anbietern am Lebenshilfe-markt verteidigen. Aber es entsteht ebenandererseits auch eine besondere Freudean der Arbeit, wenn man sich, über amFußboden verteilte Papiere zum laufendenVerfahren gebeugt, nach Mitternacht einePizza ins Büro kommen lässt – ein kleinerWiderspruch zu allen Klischees der Arbeitim Öffentlichen Dienst.Der VPM als für den Berliner Senat langeZeit „verlässlichster Kläger“ gegen sogenannte „Sekten“-Berichte wurde darininzwischen vom Verein „UniversellesLeben e.V.“ abgelöst. Im Herbst 2003 fandnun ein solches Verwaltungsgerichtsver-fahren (Universelles Leben e. V. ./. LandBerlin) sein Ende und ist allein deshalb er-wähnenswert, weil damit das letzte Ver-fahren zum „Sekten“-Bericht des BerlinerSenats aus dem Jahre 1997 abgeschlossenund gleichzeitig der „Sekten“-Bericht desJahres 2002 wieder klagefrei ist. Zwei Eilinstanzen – die regelmäßig für dieVerfahrensdauer die Verteilung des Be-richts stoppen – waren im Jahre 1998schnell zugunsten des Berliner Senats undgegen Universelles Leben e.V. entschie-den worden. Interessant war das Urteil inder 1. Instanz des auf die Eilverfahren fol-genden Hauptsacheverfahrens insbeson-dere deshalb, weil sich die Kammer tief-gründig mit der Frage der Aktivlegitima-tion beschäftigt hatte und zu dem Schlussgekommen war, eine Klageberechtigungdes Vereins Universelles Leben e.V. für dienach dem Vorbringen des klagenden Ver-eins hiervon zu unterscheidende rechtlichnicht verfasste Glaubensgemeinschaft

Universelles Leben abzulehnen. Die Kam-mer führt dazu im Urteil1 aus: „ ... Durchden streitgegenständlichen Bericht wirdder Kläger gleichwohl nicht in eigenenRechten verletzt. Die Schrift beschäftigtsich zwar mit der rechtlich nicht ver-fassten Glaubensgemeinschaft Universel-les Leben und ihren Organisationen,Heimholungswerk‘ und ,BundgemeindeNeues Jerusalem‘, aber nicht mit demKläger und seiner Tätigkeit. ... Der Klägerist auch nicht mit der rechtlich verfasstenGlaubensgemeinschaft identisch, dennnach seinen Angaben ist in ihm lediglichein geringer Teil ihrer Anhänger organi-siert: Dem Kläger gehören etwa 700 Mit-glieder an, während zufolge einer vonihm nicht infrage gestellten Angabe derInformationsschrift die Zahl der Anhängerder Glaubensgemeinschaft von Expertenauf 40.000 allein im deutschsprachigenRaum geschätzt wird. ... Auch die Na-mensgleichheit mit der Glaubensgemein-schaft kann keine Betroffenheit des Klä-gers ... vermitteln, denn sonst hätten esauch Unbeteiligte in der Hand, sich durchentsprechende Organisation und Na-menswahl zu Betroffenen zu machen. ...Der Kläger kann mangels Bevollmächti-gung auch nicht die Rechte der Glaubens-gemeinschaft Universelles Leben geltendmachen. Zwar will er nach § 2 Abs. 3seiner Satzung ,die Interessen der Glau-bensgemeinschaft Universelles Leben ...im Rechtsverkehr‘ vertreten. Er hat abernicht behauptet, geschweige denn nach-gewiesen, von der Glaubensgemeinschaftoder von einem zu ihrer Vertretungberechtigten Organ hierzu bevollmächtigtworden zu sein. ...“Das Oberverwaltungsgericht Berlin ent-schied mit seinem Urteil2 vom Herbst2003 die Frage der Aktivlegitimation desVereins Universelles Leben e.V. anders –zugunsten des Vereins. Allerdings werfenneue Informationen von Aussteigern aus

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der Bundgemeinde durchaus neue Fragenin Sachen Aktivlegitimation auf: Aus-steiger berichten, sie seien ohne ihr Wis-sen zu stimmlosen Fördermitgliedern desVereins Universelles Leben e.V. erklärtworden. Eine Überprüfung dieser Behaup-tungen wäre – ganz gleich mit welchemBefund – ein interessanter Baustein zurKlärung der von den Gerichten unter-schiedlich bewerteten Aktivlegitimation.In der Sache entschied jedoch auch dasOberverwaltungsgericht zugunsten desBerliner Senats für die Rechtmäßigkeit derAufnahme der Gemeinschaft UniversellesLeben in den Bericht. Damit konnten ein-mal mehr Informationsrecht und Informa-tionspflicht des Staates über konflikt-trächtige religiöse Anbieter am Lebenshil-femarkt zum Schutz der Bürgerinnen undBürger verteidigt werden. Denn oft erlan-gen diese nur so Zugang zu Informationenüber Risiken und Nebenwirkungen vonweltanschaulichen Angeboten, die die ofteuphemistische Selbstdarstellung des reli-giösen Anbieters ergänzen.Beide so genannten „Sekten“-Berichte desBerliner Senats, „Risiken und Neben-wirkungen“ (1997) und „Alles Sekte oderwas?“ (2002), sind im Internet verfügbarunter: http://www.senbjs.berlin.de/familie/sog_sekten_psychogruppen/thema_sog_sekten.asp. Der aktuelle Bericht „Alles Sekte– oder was?“ (Broschüre, 166 Seiten) kanngegen eine Bereitstellungsgebühr von 3,-Euro im zuständigen Fachreferat derBerliner Senatsverwaltung für Bildung, Ju-gend und Sport bestellt werden [email protected] oderTel. (030) 9026-5603.

1 Verwaltungsgericht Berlin (VG 27 A 34.98) vom9.12.1999.

2 Oberverwaltungsgericht Berlin (OVG 5 B 26.00)vom 25.9.2003.

Anne Rühle„Sekten“-Beauftragte/Land Berlin

UNIVERSELLES LEBEN

Siebzig Jahre und kein bisschen leise.(Letzter Bericht: 10/2003, 387ff) Am 7.Oktober beging Gabriele Wittek ihrensiebzigsten Geburtstag. Die örtliche Main-Post berichtete aus diesem Anlass über die„Prophetin“, die an einem unbekanntenOrt unweit von Würzburg lebt. In demZeitungsbeitrag kann man lesen, dass dieJubilarin „die Fäden“ in dem von ihraufgebauten Universellen Leben (UL)nach wie vor fest in der Hand hält undauch, dass Aussteiger aus dem UL „vonEntmündigung, Angst und Ausbeutung“berichten.1Gabriele Wittek scheint über diesenGeburtstagsgruß „not amused“ gewesenzu sein. Einige Tage später berichtet diegenannte Main-Post aus ihrer Redaktion:„Gewohnt sind wir, dass uns redaktionelleBerichterstattungen [über das UL – A.F.]vorwiegend Beschwerden und manchmalbitterböse Wurfsendungen in Briefkästeneintragen. Dass sie kaum einem Rechts-streit aus dem Wege gehen, die Juristender Urchristen, das wissen wir auch.Verblüfft hat uns, dass gestern früh vierUL-Anhänger Flugblätter vor dem Verlags-gebäude ... verteilt haben. ... Unser Kol-lege Tilman Toepfer, der häufig über dasUL berichtet, ward der Lüge bezichtigt.Warum, das lässt sich aus den weiterenunfreundlichen Unterstellungen nicht er-kennen.“2 Dennoch, so betont die Redak-tion abschließend, ist festzuhalten, „dasses einer Tageszeitung nicht zu nehmen ist,über ungewöhnliche Menschen zu be-richten. Und dazu hat sie sich gemacht,die Prophetin, die irgendwann einmal nurEhefrau und Mutter war.“ Mit anderenWorten: In der offenen Gesellschaft ent-scheidet weder eine Prophetin noch sonstwer, worüber eine Zeitung berichten darf. Zu ihrem siebzigsten Geburtstag hat sichdie rüstige Prophetin jedoch auch selbst

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ein Geschenk bereitet: Auf der Homepagewww.universelles-leben.org findet manunter der Überschrift „Das Maß ist voll!“eine Generalabrechnung mit den Kriti-kern. Dort ist zu lesen: „Seit etwa 30Jahren diene ich dem Ewigen als Sein Ins-trument. In diesen 30 Jahren hat Er, derAllmächtige, ein weltweites Werk derGottes- und Nächstenliebe geschaffen,ein charismatisches Wertzeichen.“ Gottklage durch sein prophetisches Wort [d.h.durch Gabriele Wittek] „die kirchlichenWürdenträger [an], die die Lehre des Je-sus, des Christus, mißbraucht, das heißt,für ihre allzumenschlichen Zweckebenützt haben, um ihre Gläubigen mitallerhand menschlichem Tand und Brim-borium an sie, die Hirten ihrer persön-lichen Lehre, zu binden. Durch kirchlicheIndoktrination von der Wiege bis zurBahre haben die kirchlichen Amtsträgerviele ihrer Gläubigen weg von demEwigen, dem wahren Gott, geführt undsomit in die Veräußerlichung gestürzt, wasdas heutige Bild vieler sogenannterKirchenchristen beweist.“ Die „konfes-sionellen Falschmünzer“ ziehen gegenGottes Wort zu Feld, gegen Anhänger desUL, „und vor allem gegen mich, Sein Ins-trument“. Dazu haben sich die Kirchen„konfessionelle Verleumdungsbeauftrag-te“ geschaffen und diese instrumentali-sierten auch „kirchlich Indoktrinierte wiez.B. Politiker, Richter, Journalisten“. ImZentrum ihrer Anklage steht die Kritikdaran, dass die Gerichte wiederholt kriti-sche Wortmeldungen über das UL mitdem Hinweis zugelassen haben, es han-dele sich hierbei um (zulässige) Mei-nungsäußerungen. „Wir Urchristen wer-den uns nicht länger mit der Keule ‚Mei-nungsäußerung’ unter den kirchlich-insti-tutionellen Richtertisch schlagen lassen,wo leider viele einfache Leute liegen, ... de-nen es ähnlich erging wie uns Urchristenund vor allem dem großartigen Gottes-

werk Universelles Leben. Es sind zuwenige Richter konfessionslos.“ Wittekverdächtigt mit solchen Feststellungennicht nur die Richter, von den Kirchenbeeinflusst zu sein, sie zieht damit zu-gleich die Unabhängigkeit der Justiz inZweifel. Zugleich aber – dies erkläre, werkann – nimmt das UL und seine Anhängerdieses vielgeschmähte Recht der freienMeinungsäußerung für sich selbst nur zugern in Anspruch – und strapaziert esnach Kräften. Wenn Matthias Holzbauerbeispielsweise in dem kürzlich erschiene-nen Buch „Der Steinadler und seinSchwefelgeruch“ zahlreiche katholischeund evangelische Weltanschauungsexper-ten namentlich als „Rufmordbeauftragte“3

bezeichnet, so dürfte auch diese Feststel-lung allenfalls als Meinungsäußerung vonden Gerichten toleriert werden. Gabriele Wittek’s Abrechnung mit ihrenKritikern gipfelt in der Feststellung: „DasMaß ist voll! Der Krug ging lange genugzum Brunnen. Nach 30 Jahren Schweigenund Richtigstellen – was ganz selten eineResonanz zeigte – beauftrage ich nun An-wälte, die Gerichte anzurufen, um diefalschen Behauptungen eines mittelalter-lichen Regimes aus der Welt zu schaffen.“Und: „Ich klage die Lügner ... an. Anwältewerden weltliche Gerichte anrufen, umdie Ungeheuerlichkeiten, Böswilligkeitenund Lügen, die sich hinter ‚Meinungs-äußerungen’ verbergen, aufzudecken. Ichrufe alle wahren Urchristen auf, dieseSchritte zu unterstützen. Ich wiederhole:Über Anwälte rufen wir die Gerichte an.Wir wollen nicht, daß Recht gesprochenwird – wir wollen Gerechtigkeit.“Auch wenn man bedenkt, dass das UL inden letzten Jahren zahlreiche Prozesseangestrengt hat und Kritiker immer wiedermit Klageandrohungen überzieht, ver-wundert diese Heftigkeit dennoch. Wa-rum drängt die „Prophetin“ ihre Anhängerzu noch mehr juristischen Auseinander-

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setzungen? Was erhofft sie sich davon?Diese Fragen können aus der Distanz nurschwer beantwortet werden. Aber klar ist,was diese Botschaft vermutlich bewirkenwird: Die innere Dynamik wird angeheizt– eine Entwicklung, die man mit Sorge zurKenntnis nimmt. Dabei steht hinter derwortreichen Polemik vermutlich ein ganzanderes Thema: Jeder Geburtstag erinnertdaran, dass auch „das größte Gottesinstru-ment nach Jesus von Nazareth“ älter wirdund sich früher oder später recht irdischenFragen stellen muss: Wird es einen Nach-folger / eine Nachfolgerin im Propheten-amt geben? Wer wird die „Fäden“ in derHand halten? Kann das UL ohne GabrieleWittek weiterbestehen? Wenn ja – wie?Andere Neuoffenbarungsbewegungen sindan der Frage nach der legitimen Nach-folge zerbrochen. Vorerst jedoch ruft das UL zu juristischenAuseinandersetzungen. Seltsam genug istdas allemal, wo man doch – wie zitiert –die Richter für befangen hält. In Abwand-lung eines bekannten Jesus-Wortes hätteman die jüngste Verlautbarung der„Prophetin“ auch so zusammenfassenkönnen: „Wer mein Nächster sein will,der rufe die Gerichte an.“

1 Wie feiert die „Prophetin“ ihren 70. Geburtstag, in:Main-Post vom 7. Oktober 2003.

2 In eigener Sache: von Lügen und Propheten, in:Main-Post vom 11. Oktober 2003.

3 Matthias Holzbauer, Der Steinadler und seinSchwefelgeruch, Marktheidenfeld 2003, 176; 269;274; 325; 399 u.ö. Das Buch kann unterwww.steinadler-schwefelgeruch.de heruntergela-den werden.

Andreas Fincke

NEUAPOSTOLISCHE KIRCHE

Umfrage zur Öffentlichkeitsarbeit. (Letz-ter Bericht: 9/2002, 280) Unter dem etwasbemühten Titel „Issues Managementkirchlicher Public Relations“ wurde ander Freien Universität Berlin eine studen-tische Abschlussarbeit von Jens Zimmervorgelegt, die aus kommunikationswis-senschaftlicher Sicht den Umgang der Öf-fentlichkeitsbeauftragten der Neuaposto-lischen Kirche (NAK) in Nordrhein-West-falen mit dem Thema Ökumene unter-sucht. Die Studie basiert auf einer Um-frage, die Zimmer im Frühjahr 2003 mitUnterstützung durch die Leitung der NAKunter 32 ehrenamtlichen Öffentlichkeits-beauftragten in NRW, also in der größtenNAK-Gebietskirche, durchgeführt hat.Unter diesen Umständen kann man davonausgehen, dass der Stammapostel dieUmfrage persönlich unterstützt hat. Dafürspricht auch, dass die Studie derzeit aufder offiziellen Homepage der NAK(www.nak.de) leicht zu finden ist. Alleindiese Art der Kooperation ist ein Novumin der Geschichte einer Religionsgemein-schaft, die noch vor wenigen Jahrzehntenweitgehend abgeschirmt von der Öffent-lichkeit existierte.Auch wenn die Ergebnisse keine Sensa-tion bedeuten und aufgrund der relativgeringen Zahl der Befragten auch nichtrepräsentativ sein können, sind dennocheinige Aspekte interessant: So sind etwa30 Prozent der Befragten mit der eigenenÖffentlichkeitsarbeit nicht zufrieden. Be-fragt nach den Themen, die sie in der Öf-fentlichkeitsarbeit für wichtig erachten, istdie Mehrheit überzeugt, dass Themen wiedie „Botschaft des Stammapostels Bi-schoff“ oder die Diskussion um die Entste-hungsgeschichte der NAK in Zukunft eheran Bedeutung verlieren werden – Aspektealso, die auch von Kritikern oft herange-zogen werden. In der Öffentlichkeitsarbeit

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für wichtig erachten die Befragten dage-gen das Verhältnis der NAK zur Ökumene,die Frage nach dem Exklusivitätsanspruchder NAK und die Lehre von der Naher-wartung. Dem Thema „NAK und Öku-mene“ räumen sie dabei einen beson-deren Stellenwert ein. Informationen zumThema Ökumene bezieht man offenbarvorwiegend aus den Medien der NAKselbst; andere Veröffentlichungen werdenals eher unwichtig benannt. Bei der Einschätzung privater Websitesaus dem Umfeld der NAK gehen die Mei-nungen recht weit auseinander: Etwa einDrittel hält beispielsweise die gemäßigtkritische und immer interessante Seitewww.glaubenskultur.de für sehr wichtigbzw. wichtig, aber immerhin sechs Be-fragte halten solche Bemühungen für be-deutungslos.Den Teilnehmern wurde auch die interes-sante Frage gestellt, wie sie persönlich zuden ökumenischen Tendenzen innerhalbder NAK stehen. Zwölf (also etwas mehrals ein Drittel) unterstützen diese Entwick-lung aktiv, neun begrüßen sie immerhin,acht sehen sie mit kritischem Abstand. Schließlich hatten die Befragten Gelegen-heit, allgemeine Anmerkungen zu ma-chen. Dabei wurde acht Mal das ThemaÖkumene aufgegriffen – und plötzlichwerden die Probleme sichtbar, die zu er-warten gewesen waren. Denn „offen-sichtlich bestehen große Unterschiedehinsichtlich der Informiertheit zu diesemThema: Ökumene sei ‚den meistenBrüdern und Schwestern in der Tendenznicht bekannt’ ... Zu dieser Einschätzungpasste es, dass ein anderer Befragter ‚nichtweiß und nicht genügend von der NAKinformiert’ wird‚ (nicht weiß), ‚wohin dieReise geht’, ein anderer weiß nicht,warum ‚Amtsbrüder/Mitglieder überhauptan diesem Thema interessiert’ sind undwürde gern erfahren, wie weit die Kirchebeim Thema Ökumene gehen will, ‚um

unsere Identität nicht zu verlieren’.“ Einerder Befragten macht seinem Unmut Luftund schreibt: „Die Öffentlichkeitsarbeit inNRW tendiert gegen 0!“ Und schließlichstellt jemand (abweichend von den obenzitierten Antworten) fest, dass man überdie Bemühungen der NAK um dieÖkumene „schneller und mehr“ ausQuellen erfährt, die gerade nicht offi-zielles Sprachrohr der NAK sind. Der Arbeit sind hilfreiche Tabellen undÜberblicke zur Entwicklung der öku-menischen Bemühungen in den letztenJahren beigefügt.Die Umfrage zeigt einerseits, dass die Öf-fentlichkeitsarbeit der NAK verbesserungs-fähig ist. Sie zeigt aber auch, dass di-vergierende Kräfte das Thema Ökumenebegleiten. Es wäre ein Trugschluss, jetzt nurdie Öffentlichkeitsarbeit verbessern zuwollen. Was fehlt ist eine breitere theo-logische Arbeit und Reflexion über das neu-apostolische Selbstverständnis und über dieMöglichkeiten und Grenzen ökumenischerBegegnungen aus Sicht der NAK.

Andreas Fincke

LORBER-BEWEGUNG

Vorsitzender der Lorber-Gesellschaft ver-storben. Am 17. August 2003 verstarb derHeilpraktiker Manfred Peis im Alter von 59Jahren im oberbayerischen Hausham. Peishatte die Lorber-Gesellschaft Bietigheime.V. seit 1985 geleitet und ihr publizisti-sches Engagement maßgeblich geprägt. Indieser Zeit wurde der Sitz des Vereins auchin seinen Wohnort nach Hausham verlegt.In die rund zwei Jahrzehnte währendeTätigkeit als „geschäftsführender Vorsit-zender“ fielen zahlreiche Werbeprojektefür die Verbreitung der NeuoffenbarungJakob Lorbers (1800-1864), darunter einDokumentarfilm, eine CD mit Kompositio-nen des „Schreibknechts Gottes“ sowie

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kleinere Broschüren, u.a. über die Arbeitder Lorber-Gesellschaft. Peis hatte bis zuletzt auch die Schriftleitungder Zeitschrift Geistiges Leben inne, zu derer auch viele eigene Artikel und Betrach-tungen beisteuerte. Darüber hinaus zeich-nete er auch für die Organisation undDurchführung der alljährlichen Lorber-Kongresse verantwortlich. In der ZeitschriftGeistiges Leben 5/2003, 41, schreibt KarlZimmer, der 2. Vorsitzende, in einemNachruf: „Wir wissen ja, dass es keinenTod gibt und dass wir uns eines Tageswiedersehen werden. Dies möge uns einkleiner Trost in unserer jetzigen Trauer undin unserem Schmerz sein. Manfred hat einerfülltes Leben führen dürfen und im Jen-seits wird unser Vater einen solch fleißigenArbeiter in seinem Weinberg gut ge-brauchen können. SEIN Wille geschehe imHimmel wie auch auf Erden.“

Matthias Pöhlmann

IN EIGENER SACHE

Kompakt-Infos der EZW. Immer wiederwerden wir gefragt, welche Kurzinforma-tionen aus der Reihe „Kompakt-Infos“ wirderzeit zur Verfügung stellen können. Dadie Faltblätter auf unseren Publikationslis-ten nicht verzeichnet sind, möchten wirSie an dieser Stelle über den aktuellenStand informieren. Gegenwärtig könnenSie Infos zu folgenden Themen bei derEZW beziehen: – Anthroposophie– Esoterik– Internationale Gesellschaft für

Krishna-Bewusstsein (ISKCON) „Hare-Krishna-Bewegung“

– Meditation – Neuapostolische Kirche– Psychoszene– Reiki– Scientology

– Transzendentale Meditation– Universelles Leben– Was ist eine Sekte? – Zeugen Jehovas.Wir weisen darauf hin, dass wir die Kom-pakt-Infos für 0,10 Euro pro Stück ab-geben. Inzwischen finden Sie – bis aufwenige Ausnahmen – diese Texte auch alspdf-Datei zum Herunterladen auf unsererHomepage www.ezw-berlin.de unter„Publikationen“ – „Kompakt-Infos“.

Andreas Fincke

Prof. Dr. Ulrich Eibach, geb. 1942, Profes-sor für Systematische Theologie und Ethikan der Evangelisch-Theologischen Fakultätder Universität Bonn und Krankenhaus-pfarrer an den Universitätskliniken in Bonn.

Dr. theol. Andreas Fincke, geb. 1959, Pfar-rer, EZW-Referent für christliche Sonderge-meinschaften.

Lutz Lemhöfer, geb. 1948, kath. Theologeund Politologe, Referent für Weltanschau-ungsfragen im Bistum Limburg.

Dr. theol. Matthias Pöhlmann, geb. 1963,Pfarrer, EZW-Referent für Esoterik, Okkul-tismus, Spiritismus.

Anne Rühle, „Sekten“-Beauftragte des Lan-des Berlin, Senatsverwaltung Bildung, Ju-gend und Sport.

PD Dr. theol. habil. Werner Thiede, geb.1955, Pfarrer, lehrt Systematische Theolo-gie an der Theologischen Fakultät der Uni-versität Erlangen-Nürnberg.

Dr. phil. Michael Utsch, geb. 1960, Psy-chologe und Psychotherapeut, EZW-Refe-rent für religiöse Aspekte der Psychoszene,weltanschauliche Strömungen in Natur-wissenschaft und Technik.

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AUTOREN

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Herausgegeben von der Evangelischen Zentralstellefür Weltanschauungsfragen (EZW), einer Einrichtungder Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD),im EKD Verlag Hannover.

Anschrift: Auguststraße 80, 10117 Berlin Telefon (0 30) 2 83 95-2 11, Fax (0 30) 2 83 95-2 12Internet: www.ezw-berlin.deE-Mail: [email protected]

Redaktion: Andreas Fincke, Carmen Schäfer. E-Mail: [email protected]

Für den Inhalt der abgedruckten Artikel tragen die jeweiligen Autoren die Verantwortung. Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Heraus-geber wieder.

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Bezugspreis: jährlich € 30,– einschl. Zustellgebühr.Erscheint monatlich. Einzelnummer € 2,50 zuzügl.Bearbeitungsgebühr für Einzelversand. Abbestellungensind nur mit einer Frist von 6 Wochen zum Jahresendemöglich. – Alle Rechte vorbehalten.

Bei Abonnementwunsch, Adressenänderungen, Abbe-stellungen wenden Sie sich bitte an die EZW.

Druck: Maisch & Queck, Gerlingen/Stuttgart.

IMPRESSUM

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MAT

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LDIEN

ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

66. Jahrgang 12/03

ISSN

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Fabulierlust ohne Grenzen – Zum 500. Geburtstag von Nostradamus

Ziele des biomedizinischen Fortschritts (I) – Eine Krisenbeschreibung

Neues zu Scientology

Erfahrungen des Berliner Senats mit seinen„Sekten“-Berichten

Siebzig Jahre und kein bisschen leise – Gabriele Wittek mobilisiert ihre Anhänger

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226