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Dr. med. Ulrich Vahle
„Aber der schluckt doch!“ – Risiken und Chancen in der Versorgung
geriatrischer Patienten mit Dysphagie
Wo ist das Problem?
Geschluckt wird doch immer!
Geschluckt wird
im Durchschnitt 600-2000 Mal in 24 Stunden im Wach- und Schlafzustand
Täglich müssen 0,5 – 1,5 Liter Speichel geschluckt werden
Dauer des normalen Schluckaktes: ca.1,5 Sekunden (im Alter länger)
26 Muskelgruppen, 5 Hirnnerven und 3 Halsnerven beteiligt
Der Schluckakt verläuft
unbewusst sehr komplex
Kreuzung von Atemweg und Nahrungsweg
Schutz der unteren Atemwege bei jedem Schluck
Willkürliche Einleitung (Vorbereitung, Kauphase)
Unwillkürlicher Ablauf (Schluckreflex, Ösophagus)
Unterschiedlichste Konsistenzen (flüssig, breiig, weich, fest, zäh, krümelig, feucht, trocken…)
Hürden in der Versorgung von
schluckgestörten Patienten
Dysphagie ist als potentiell
lebensbedrohliches Problem
nicht etabliert. Und zwar sowohl in
der Allgemeinbevölkerung als auch
in der professionellen
Wahrnehmung.
(„Jeder verschluckt sich mal!“)
Das Verständnis für ungeeignete
Speisen ist bei vielen Beteiligten
oft sehr gering.
Hürden in der Versorgung von
schluckgestörten Patienten
Essenszubereitung und
Essengabe sind eine tief
verwurzelte Form der
Zuwendung.
Nicht (alles) essen dürfen
= hungern = leiden
= Quälerei!?
Essen verteilen und anreichen ist
oft die Aufgabe von Anfängern!
Warum ist Dysphagie
ein Thema in der Geriatrie?
Betroffen von einer Dysphagie sind
ca. 7% der deutschen Gesamtbevölkerung
16-22% aller Deutschen >55 Jahre
45 % aller > 75-Jährigen
Bei Dysphagie beeinflussen sich neurologische,
orthopädische, psychische und allgemeine
chronische Erkrankungen in der Regel
gegenseitig negativ!
Wo findet Dysphagie statt?
Orale Orale Pharyngeale Ösophageale
Vorbereitungsphase Transportphase Phase Phase
„Störung des Transports von Speichel oder
Nahrung einer oder verschiedener
Konsistenz(en) vom Mund bis zum Magen.“
Ursachen von Dysphagien
Neurogene Dysphagie
Mechanische Dysphagie
Divertikel, Fisteln, Achalasie
Entzündungen
Tumoren
Traumata, OP, Radiatio
HWS-Veränderungen
Dissoziative Dysphagie
Globus hystericus
Phagophobie
(Bulimie, Anorexia nervosa)
Innere/
Gastroenterologie
Neurologie
Psychiatrie
HNO
Geriatrie
Orthopädie
Neurogene Dysphagien
Schlaganfall Akutphase > 50%
Schädel-Hirn-Trauma Akutphase ca. 50 %
Parkinsonsyndrom ca. 50%
Atypische Demenzen (PSP,
MSA, DLB)
bis zu 80 %
Multiple Sklerose 30-40%
ALS fast immer, bei bulbärem Beginn immer
Polymyositis, Dermatomyositis,
Einschlusskörpermyositis
häufig
Myasthenia gravis Erstsymptom ca. 20%, Verlauf > 50%
Beispielhafte neurologische Erkrankungen mit
Schluckstörungen in der Akutphase oder im Verlauf:
Schlaganfall und Dysphagie
Nach Schlaganfall zeigen etwa 50% der Patienten
eine mehr oder weniger starke Dysphagie!
Schlaganfallpatienten mit Dysphagie weisen eine
3-4fach erhöhte Pneumonie-Rate auf und haben eine
bis zu 5-fach erhöhte Sterblichkeit (30% zu 6%).
Schluck-
störung
Größtes Problem:
Die „stille“ Aspiration
Bis zu 68% aller Aspirationen verlaufen still, d.h.
ohne klinische Symptome oder Schutzreflexe.
Stille Aspirationen: Das Risiko für eine Pneumonie ist
ca. 6x größer als bei symptomatischer Aspiration.
Anzeichen für stille Aspirationen können sein:
belegte Stimme, gehäuftes Räuspern
Angst und Einschränkung von Essen und Trinken
Exsikkose, Mangelernährung, Gewichtsabnahme
Gehäufte Atemwegsinfekte ohne erkennbare Ursache
Größtes Problem:
Die „stille“ Aspiration
Nicht alle Aspirationen führen zur Pneumonie.
Gründe dafür sind verschiedene Variablen:
Aspirationsfrequenz und Aspirationsvolumen
Zusammensetzung des Aspirats
Bakterienlast der oropharyngealen Sekrete (daher
von großer Bedeutung: gute Mundhygiene!)
Nützt ein
Dysphagiemanagement?
Senkung des relativen Risikos einer
Lungenentzündung und der Sterblichkeit durch
ein Dysphagiemanagement um 70-80% bei
Kostenreduktion um ca. 14% (Martino et al. 2000)
Die frühzeitige Diagnose einer Dysphagie ist
von entscheidender Bedeutung zur Vermeidung
von Komplikationen!
Dysphagie-Screening-Tool der AG Dysphagie der DGG
Von innen sieht man besser!
FEES als Vorteil
FEES Historie
1988 Susan Langmore: „Fiberoptic endoscopic
examination of swallowing safety: a new procedure“
Dysphagia 1988;2:216-219
1997 Akronym FEES® wird urheberechtlich geschützt
2001 „Endoscopic Evaluation and Treatment of Swallowing Disorders“ von Susan Langmore erscheint im Thieme-Verlag
2008 Leitlinie „Neurogene Dysphagie“ der DGN: „Die beiden wichtigsten apparativen Methoden sind VFSS und FEES.“
2010 OPS Kode 1-613: Evaluation des Schluckens mit flexiblem Endoskop
2014 Ausbildungscurriculum der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft
Was gibt es noch?
Statische Bildgebung
Röntgen-Breischluck
Computertomographie
Magnetresonanztomographie
Sonographie
Dynamische Bildgebung
Videofluoroskopie
Digital spot imaging
Cine-MRT
Außer der FEES kann keine
Untersuchung unterschiedliche
normale Konsistenzen direkt
(und sogar am Patientenbett) darstellen!
Dysphagie verstehen -
FEES-Beispiele aus der Praxis
1. Normalbefund
2. Leicht- bis mittelgradige Dysphagie
3.+4. Hochgradige Dysphagie
FEES in der Geriatrie
2. Leicht- bis mittelgradige Dysphagie:
Ambulanter 84jähriger Patient.
Seit 3 Jahren zunehmende
Schluckbeschwerden mit Hustenreiz.
Zunehmend Gefühl des Steckenbleibens, Essen
muss klein gemacht werden.
Dysphagie verstehen -
FEES-Beispiele aus der Praxis
FEES in der Geriatrie
Dysphagie verstehen -
FEES-Beispiele aus der Praxis
2. Leicht- bis mittelgradige Dysphagie:
FEES-Befund:
Hochgradige Residuen von fester Kost aufgrund
ausgedehnter Osteophyten der HWS (Synonyme:
Morbus Forestier, Spondylosis hyperostotica, DISH)
Procedere:
Kostadaption, bewusstes Nachschlucken mit
Flüssigkeiten.
Bei „fitten“ Patienten: operative Entfernung der
Osteophyten erwägen.
Dysphagie verstehen -
FEES-Beispiele aus der Praxis
3. Hochgradige Dysphagie:
71jähriger ambulanter Patient. Operation +
Bestrahlung eines Zungengrund-Karzinoms mit
Tracheotomie vor 4 Jahren
Erste FEES 2 Monate nach OP noch mit Kanüle,
passierte Kost möglich. Kanüle kurz danach ex,
Patient vorerst nicht mehr gesehen…
Jetzt nach 4 Jahren (!) erstmalige Wiedervorstellung.
25kg KG abgenommen, BMI 18,9. Zuletzt schwere
Bronchitis, erst seit 2 Wochen Ernährungsberatung.
Viel Stress beim Essen, oft Husten.
Dysphagie verstehen -
FEES-Beispiele aus der Praxis
FEES in der Geriatrie
3. Hochgradige Dysphagie:
FEES-Befund:
Nasale Penetration, kein adäquater Schluckakt,
schwere Aspirationen, Husten insuffizient!
Procedere:
Nahrungskarenz (Compliance!?)
Wiedereinbestellung zur PEG-Anlage!
Dysphagie verstehen -
FEES-Beispiele aus der Praxis
4. Hochgradige Dysphagie:
74jähriger Patient. Lebt im Seniorenheim.
Übernahme in die Geriatrie nach Behandlung einer
beidseitigen Pneumonie. Vor 6 Monaten
Stammganglieninfarkt, seit vielen Wochen
Husten.
Multimorbider, stark geschwächter Patient, BMI
18,5. Prolongiert delirant, MMST 14, Uhrentest 5.
Patient isst zwar geringe Mengen, schluckt dabei
aber scheinbar unauffällig, erhält zunächst Vollkost.
Dysphagie verstehen -
FEES-Beispiele aus der Praxis
FEES in der Geriatrie
4. Hochgradige Dysphagie:
FEES-Befund:
Residuen + stille Aspiration von Brot, kaum Schluck-
und Hustenreflex durch stark gestörte Sensibilität
Procedere:
Zunächst passierte Kost (Patientenwunsch!)
Dann Nahrungskarenz + PEG
Exitus letalis nach kurzer Zeit
Dysphagie verstehen -
FEES-Beispiele aus der Praxis
Dysphagien…
führen oft erst spät zu Komplikationen wie
Gewichtsverlust, Schwäche, Pneumonie.
werden oft banalisiert, sowohl von
Patienten, deren Angehörigen, aber auch
Professionellen. („Husten und Probleme
beim Essen gehören zum Alter“).
werden gerade bei stiller Aspiration oft
nicht früh genug als problematisch erkannt.
Fazit
Dysphagien…
erhöhen die Rate an erneuten
Krankenhauseinweisungen
(„Drehtüreffekt“).
erhöhen die Sterblichkeit der Patienten!
Bei starker körperlicher Schwäche und
fortgeschrittener Mangelernährung ist
„der Zug leider oft abgefahren“.
Fazit
Dysphagien erfordern die
Aufmerksamkeit aller Beteiligten! Und
zwar frühzeitig und professionell!
Logopädie sollte immer
hinzugezogen werden!
Dysphagiemanagement
= Teammanagement
= Qualitätsmanagement!
Fazit
Dysphagie ernst nehmen:
Definition interner Abläufe
1. Frühzeitiges Screening der Patienten auf
Dysphagie und Mangelernährung.
2. Durchführung oder konsiliarische Hinzuziehung
apparativer Dysphagie-Diagnostik (z.B. FEES).
3. Festlegung von ernährungstherapeutischen
Maßnahmen, Nahrungskarenz, ggf. PEG-Anlage.
4. Zubereitung adäquater Speisen/Getränke durch
Küche/Pflege (Schluckstufen).
5. Anreichen des Essens bei Patienten mit Dysphagie.
6. Aufklärung von Patienten und Angehörigen über
Möglichkeiten der Nahrungsadaption/-ergänzung.
Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit