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Analysis 1 WS 2012-2013 Michael Kaltenb ¨ ack

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Analysis 1

WS 2012-2013

Michael Kaltenback

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort iii

1 Mengen und Abbildungen 11.1 Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

2 Die reellen Zahlen 92.1 Algebraische Struktur der reellen Zahlen . . . . . . . . . . . .. . . . 92.2 Ordnungsstruktur der reellen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . .. . 112.3 Die naturlichen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162.4 Der Ring der ganzen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262.5 Der KorperQ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342.6 Archimedisch angeordnete Korper . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 392.7 Das Vollstandigkeitsaxiom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .402.8 Die komplexen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

3 Der Grenzwert 513.1 Metrische Raume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513.2 Der Grenzwert in metrischen Raumen . . . . . . . . . . . . . . . . .563.3 Folgen reeller und komplexer Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . .. 613.4 Monotone Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653.5 Cauchy-Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693.6 Konvergenz in weiteren metrischen Raumen . . . . . . . . . . .. . . 703.7 Konvergenz gegen unendlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733.8 Unendliche Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783.9 Konvergenzkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

4 Die Konstruktion der reellen Zahlen 894.1 Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 894.2 Eindeutigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

5 Geometrie metrischer Raume 975.1 ǫ-Kugeln, offene und abgeschlossene Mengen . . . . . . . . . . . . . 975.2 Kompaktheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1045.3 Gerichtete Mengen und Netze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1085.4 Unbedingte Konvergenz und Umordnen von Reihen . . . . . . . .. . 1145.5 Grenzwerte von Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

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ii INHALTSVERZEICHNIS

6 Reelle und komplexe Funktionen 1296.1 Stetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1296.2 Der Zwischenwertsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1366.3 Gleichmaßige Stetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1386.4 Unstetigkeitsstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1406.5 Monotone Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1436.6 Gleichmaßige Konvergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1466.7 Reell- und komplexwertige Folgen und Reihen . . . . . . . . . .. . 1526.8 Die Exponentialfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1586.9 Fundamentalsatz der Algebra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1666.10 Weitere wichtige elementare Funktionen . . . . . . . . . . . .. . . . 1686.11 Abelscher Grenzwertsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

7 Differentialrechnung 1757.1 Begriff der Ableitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1757.2 Mittelwertsatze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1827.3 Der Taylorsche Lehrsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1917.4 Stammfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

Literaturverzeichnis 205

Index 206

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Vorwort

Mit diesem Skriptum, liebe Studenten, mochte ich zu einem reibungslosen Start in ihrMathematikstudium beitragen. Den in dieser Vorlesung auftretenden Begriffen, Kon-zepten und Ergebnissen werden Sie im ganzen Studium immer wieder begegnen. SoDinge wie Stetigkeit, Differenzierbarkeit und Konvergenz werden als selbstverstand-lich vorausgesetzt werden.

Bei der Gestaltung dieses Skriptums habe ich versucht darauf zu achten, dass selbi-ges nicht nur als Lernunterlage, sondern auch zum Nachschlagen in spateren Semesternverwendet werden kann. Insbesondere findet sich ein ausfuhrlicher Index am Ende desSkriptums.

Obwohl die erste Analysis Vorlesung inhaltlich nicht viel Spielraum fur den Vortra-genden lasst, habe ich doch versucht, auf die Dinge besonderes Augenmerk zu legen,die mir in meiner Arbeit als Mathematiker und im Hinblick aufzukunftige Vorlesun-gen wichtig scheinen. Ich mochte aber auch betonen, dass das meine ganz personlicheSicht der Materie ist. Es kann fur Sie daher nur von Nutzen sein, wenn sie auch inandere Analysis Skripten bzw. Bucher schauen und daraus lernen, um einen großerenBlickwinkel zu bekommen.

Das ersten Kapitel ist als Einfuhrung in die mathematischen Grundlagen bewusstkurz gehalten, da diese in der parallel gehaltenen Vorlesung Lineare Algebra 1 ohnehinausfuhrlicher behandelt werden, und somit allzu viele Doppelgleisigkeiten vermiedenwerden.

Schließlich mochte ich den vielen Kolleginnen und Kollegen aus mittlerweile vierAnalysis Zyklen danken, die mich auf Fehler in den vorherigen Versionen diesesSkriptums aufmerksam gemacht haben, und somit ein viel weniger holpriges Werkermoglicht haben.

Bezuglich der noch versteckten Fehler mochte ich die Leser bitten, mir entdeckteDruckfehler mit Seiten und Zeilenangabe per Email zu schicken:[email protected]

Michael Kaltenback Wien, im September 2012

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iv VORWORT

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Kapitel 1

Mengen und Abbildungen

1.1 Mengen

Die Objekte der modernen Mathematik sind die Mengen. Obwohldie Logik einenaxiomatischen Zugang zur Mengenlehre bietet, wollen wir uns in dieser Vorlesung aufden naiven Mengenbegriff stutzen. Interessierte Studenten seien auf die Vorlesungenuber axiomatische Mengenlehre verwiesen.

1.1.1 Definition. Eine Mengeist eine Zusammenfassung von bestimmten, wohl un-terschiedenen Objekten unserer Anschauung zu einem Ganzen. Die Objekte heißenElementeder Menge.

Ist x ein solches Element vonM, so schreiben wirx ∈ M. Im Falle, dassx nichtzu M gehort, schreiben wirx < M. Moglichkeiten Mengen darzustellen sind dieaufzahlende Schreibweise:

M = {a, b, c, d, e}, oderM = {1, 2, . . . }

und die beschreibende Schreibweise:

M = {x : x ist ungerade ganze Zahl}.

1.1.2 Definition. SindA, B Mengen, so sagt manA ist gleich B(A = B), wenn sie dieselben Elemente enthalten. Man sagtA ist eineTeilmengevon B (A ⊆ B), falls jedesElement vonA auch ein Element vonB ist. In diesem Fall bezeichnet man auchB alsObermengevon A (B ⊇ A).

Will man zum Ausdruck bringen, dass dabeiA mit B nicht ubereinstimmt, soschreibt manA ( B.

Schreibweisen wieA , B, A ) B, o.a. sind dann selbsterklarend. Einer bestimmtenMenge werden wir oft begegnen, namlich derleeren Menge∅, also der Menge, diekeine Elemente enthalt.

Man beachte zum Beispiel, dass die Menge{a, b, c} gleich der Menge{c, a, b, a} ist,und dass z.B. die Menge{1, 3, 5, . . . } mit

{x : x ist ungerade naturliche Zahl}

ubereinstimmt.

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2 KAPITEL 1. MENGEN UND ABBILDUNGEN

Hat man zwei oder mehrere Mengen, so kann man diese in verschiedener Weisemiteinander verknupfen.

1.1.3 Definition. SeienA undB zwei Mengen:

� Die MengeA∪ B = {x : x ∈ A oderx ∈ B} heißt dieVereinigungsmengevon AundB. FurA∪ B sagt man kurz auchA vereinigt B.

� Die MengeA∩ B = {x : x ∈ A undx ∈ B} heißt dieSchnittmengevon A undB.Man sagt kurz auchA geschnitten B.

� Die MengeB \ A = {x : x ∈ B undx < A} ist dieDifferenzvon B undA. Mansagt kurz auchB ohne A.

� Betrachtet man TeilmengenA einer fixen GrundmengeM, so schreiben wir auchAc fur M \ A und nennen es dasKomplementvon A in M, kurzA Komplement.

� A × B := {(x, y) : x ∈ A, y ∈ B} daskartesische Produktder MengenA und B.Das ist also die Menge, deren Elemente die geordneten Paare sind, deren ersteKomponente zuA und deren zweite Komponente zuBgehort1. FurA×Aschreibtman auchA2.

Auch Durchschnitt und Vereinigung von mehr als zwei Mengen kann man analogdefinieren. IstMi , i ∈ I , eine Familie von Mengen, durch indiziert mit der IndexmengeI , so ist ⋂

i∈IMi := {x : x ∈ Mi fur alle i ∈ I },

i∈IMi := {x : es gibt eini ∈ I mit x ∈ Mi}.

Das kartesische Produkt endlich vieler Mengen ist analog wie jenes fur zwei Mengenerklart. Zum Beispiel ist

A× B×C := {(x, y, z) : x ∈ A, y ∈ B, z∈ C}.

Fur A× A× A schreibt manA3, u.s.w.

1.1.4 Beispiel.

Einfache Beispiele fur Durchschnitts- bzw. Vereinigungsbildung waren:

{1, 2, 3} ∩ {−1, 0, 1} = {1}, {a, b, 7} ∩ {3, 4, x} = ∅,

{2, 3, 4, 5} ∪ {4, 5, 6, 7} = {2, 3, 4, 5, 6, 7}, {a, b, c} ∪ ∅ = {a, b, c}.

Ist M2 = {x ∈ Z : es gibt einy ∈ Z, sodassx = 2y}, so wareZ \ M2 gerade dieMenge der ungeraden ganzen Zahlen.

Weiters ist

{1, 2, 3, 4} \ {4, 5, 6, 7} = {1, 2, 3}, {a, b, c} \ ∅ = {a, b, c}.1Anm.: Ist x , y, so ist (x, y) , (y, x).

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1.1. MENGEN 3

Bezeichnet man mit 2N die Menge der geraden naturlichen Zahlen, so ist daskartesische ProduktN × 2N die Menge

N × 2N = {(1, 2), (1, 4), . . . , (2, 2), (2, 4), . . . , (3, 2), (3, 4), . . .}.

1.1.5 Definition. Ist M eine Menge, so bezeichnet man mitP(M) die Menge allerTeilmengen vonM,

P(M) = {A : A ⊆ M}.

Diese Menge heißt diePotenzmengevon M. Sie ist also die Menge, deren Elementealle Teilmengen vonM sind.

1.1.6 Beispiel.Ist M = {1, 2, 3}, dann ist die PotenzmengeP(M) gleich

P(M) = {∅, {1}, {2}, {3}, {1, 2}, {1, 3}, {2, 3}, {1,2,3}}.

Die Potenzmenge der MengeN ist schon viel zu groß um sie noch in irgendeineraufzahlenden Weise anschreiben zu konnen. Sie enthalt ja neben Mengen des Typs{1, 2, 3}, {4, 6, 7, 8, 1004}usw. auch noch unendliche Mengen wie zum Beispiel 2N oder{n ∈ N : n ≥ 27} und viele mehr.

1.1.7 Bemerkung.Fur das Verknupfen von Mengen gelten diverse Rechenregeln. Esgilt zum Beispiel dasDistributivgesetzfur drei MengenA, B,C:

A∩ (B∪C) = (A∩ B) ∪ (A∩C), (1.1)

A∪ (B∩C) = (A∪ B) ∩ (A∪C).

Um z.B. (1.1) nachzuweisen beachte man, dass zwei Mengen ubereinstimmen, wennein beliebiges Elementx genau dann in der einen Menge ist, wenn es auch in deranderen Menge ist:

Ein x liegt in A∩ (B∪C)

genau dann, wennx ∈ A und x∈ B∪C.

Das ist gleichbedeutend mit:

x ∈ A, und x liegt zumindest in einer der Mengen B bzw. C.

Diese Aussage ist aber aquivalent zu:

Zumindest eine der Aussagen - x∈ A und x∈ B - oder - x∈ A und x∈ C - trifft zu.

Nun ist das dasselbe, wie:

x ∈ A∩ B oder x∈ A∩C.

Schließlich gilt das genau dann, wenn

x ∈ (A∩ B) ∪ (A∩C).

Den an einem kleinen Abriss des axiomatischen Zugangs zur Mengenlehre interes-sierten Leser mochte ich hier an die Vorlesung Lineare Algebra verweisen.

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4 KAPITEL 1. MENGEN UND ABBILDUNGEN

1.2 Funktionen

1.2.1 Definition. SeienM undN Mengen. Eine Teilmengef ⊆ M × N wird alsFunk-tion (oder auch alsAbbildung) von M nachN bezeichnet, wenn

(i) fur alle x ∈ M gibt es einy ∈ N : (x, y) ∈ f ;

(ii ) sind (x, y1) ∈ f und (x, y2) ∈ f , so folgty1 = y2.

Die MengeM wird alsDefinitionsmengeund die MengeN alsZielmengebzw.Werte-vorrat bezeichnet.

Die Bedingung (i) besagt, dass jedemx (mindestens) ein Funktionswerty zugeord-net wird, man sagt auchf ist uberall definiert.

Die Bedingung (ii ) besagt, dass einemx hochstens ein Funktionswert zugeordnetwird. Man sagt auchf ist wohldefiniert.

Eine Funktion vonM nachN lasst sich also als eine Vorschrift auffassen, durch diejedem Elementx aus der MengeM in eindeutiger Weise ein Elementy aus der MengeN zugeordnet wird. Man schreibty = f (x) und bezeichnety als denFunktionswertvonf an der Stellex.

Offenbar stimmen zwei Funktionenf und g von M nachN uberein, alsof = g,genau dann, wennf (x) = g(x) fur alle x ∈ M.

Sieht man eine Funktion eher als Abbildungsvorschrift, dann unterscheidet man– obwohl mathematisch das Gleiche – die Funktion als Abbildungsvorschrift und dieFunktion als Teilmenge vonM × N, und man bezeichnet diese Teilmenge vonM × Nauch alsGraphgraphf von f .

1.2.2 Beispiel.SeiM die Menge aller Worter in einem Worterbuch.N = {1, 2, . . . } seidie Menge der naturlichen Zahlen. Sei nunf jene Funktion aufM, die jedem Wort dieAnzahl seiner Buchstaben zuweist, d.h.

f (’gehen’)= 5.

1.2.3 Beispiel.Wir haben im Abschnitt uber Familien von MengenMi , i ∈ I , gespro-chen, ohne genau zu sagen, was das bedeutet. Das ist namlichdie Funktioni 7→ Mi vonder IndexmengeI in die PotenzmengeP(M), wobeiM eine hinreichend große Mengeist, die alle MengenMi enthalt, z.B.M = ∪i∈I Mi .

Als Abbildungsvorschrift gibt man eine Funktionf von M nachN auch oft an als

f :

{M → Nx 7→ f (x)

.

Eine der wichtigen Funktionen soll nun derart angegeben werden.

1.2.4 Definition. Ist M eine Menge, so heißt die Abbildung

idM :

{M → Mx 7→ x

die identische Abbildungauf der MengeM. Daher idM : M → M mit idM(x) = x.

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1.2. FUNKTIONEN 5

1.2.5 Definition. Sei f eine Funktion vonM nachN und seiA ⊆ M. Die Funktion, diejedemx ∈ A den Funktionswertf (x) zuweist, heißtEinschrankungvon f auf A undwird mit f |A bezeichnet. Also

f |A = {(x, y) ∈ f : x ∈ A}.

Ist umgekehrtg eine Funktion vonA nachN und M ⊇ A, so heißt eine Funktionf : M → N Fortsetzungvong, falls g = f |A.

1.2.6 Definition. Sei f eine Funktion vonM nachN.

� Fur eine TeilmengeA von M bezeichne

f (A) = {y ∈ N : es gibt einx ∈ A, sodassf (x) = y},

dasBild der MengeA unter der Abbildungf .

� Fur f (M) schreibt man auch ranf (vom englischen Wortrange). Diese Mengewird alsWertebereichbzw.Bildmengevon f bezeichnet.

� Dasvollstandige Urbildeiner TeilmengeB von N ist die Menge

f −1(B) = {x ∈ M : f (x) ∈ B}.

Fury ∈ N wird jedesx ∈ f −1({y}) als einUrbild vony bezeichnet.

1.2.7 Bemerkung.Ist f : M → N eine Funktion, so muss die ZielmengeN im All-gemeinen nicht mit der Bildmengef (M) ubereinstimmen. Ist insbesondereB ⊆ N mitf (M) ⊆ B, so kann manf auch als Funktion vonM nachB betrachten.

1.2.8 Beispiel.Betrachte zum Beispiel die Funktionn 7→ 2n von N in N. Naturlichkann man auchn 7→ 2n als Funktion vonN in die Menge aller geraden naturlichenZahlen betrachten.

1.2.9 Bemerkung.In manchen Zusammenhangen betrachtet man auch Funktionen, dienicht uberall definiert sind. Das sind Teilmengen vonf ⊆ M × N, die nur die Eigen-schaft (ii ) aus Definition 1.2.1 haben, d.h. dass es zu jedem Wertx ∈ M hochstenseinen – also keinen oder genau einen – Funktionswerty ∈ N gibt.

Eine interessante Menge ist dann offenbar derDefinitionsbereichdom f (vom eng-lischen Wortdomain) der Funktionf :

dom f = {x ∈ M : es gibt einy ∈ N, sodass (x, y) ∈ f }.

Betrachte zum Beispielf := {(x, y) ∈ N2 : x = 2y}. (1.2)

Offenbar ist diesesf eine nur auf der Menge der geraden Zahlen definierte Funktion.

Folgende Begriffsbildung ist auf den ersten Blick nicht allzu kompliziert. Sie spieltaber in der Mathematik eine immens wichtige Rolle.

1.2.10 Definition. Sei f : M → N eine Funktion.f heißt

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6 KAPITEL 1. MENGEN UND ABBILDUNGEN

� injektiv, wenn giltf (x1) = f (x2) ⇒ x1 = x2,

d.h. zu jedem Werty ∈ N gibt es hochstens ein Urbild.Aquivalent dazu ist, dassausx1 , x2 folgt, dassf (x1) , f (x2).

� surjektiv, wenn es zu jedemy ∈ N ein x ∈ M gibt, sodassf (x) = y, oder aquiva-lent ranf = N.

� bijektiv, wenn sie sowohl injektiv als auch surjektiv ist.

1.2.11 Bemerkung.Man beachte, dass die Eigenschaft surjektiv, und somit auchbijek-tiv, zu sein, ganz wesentlich von der betrachteten Zielmenge der Funktionf abhangt.

Denn ist etwaf : M → N eine beliebige Funktion, und betrachtet manf alsFunktion vonM nach f (M) und nicht nachN, so ist f : M → f (M) immer surjektiv.Vergleiche auch Bemerkung 1.2.7.

1.2.12 Beispiel.Folgende drei Beispiele zeigen insbesondere, dass keine der beidenEigenschaften injektiv und surjektiv zu sein, die jeweils andere impliziert.

SeiA die Menge aller inOsterreich amtlich registrierten Staatsburger, und seifjene Funktion, die einer Person ausA ihre Sozialversicherungsnummer zuordnet.Dann ist f : A→ N keine surjektive (es gibt ja nur endlich vieleOsterreicher),aber sehr wohl eine injektive Funktion, da zwei verschiedene Personen auch zweiverschiedene Sozialversicherungsnummern haben.

Die Funktiong : A → N, die jeder Person ihre Korpergroße in Zentimeter (ge-rundet) zuordnet, ist weder injektiv noch surjektiv.

Seih : N → N die Funktion, die einer Zahl (dargestellt im Dezimalsystem) ihreZiffernsumme zuordnet. Diese Funktion ist nicht injektiv (h(11) = 2 = h(2)),aber sie ist surjektiv, denn istn ∈ N, so gilt sicherlich

h(11. . .1︸ ︷︷ ︸n Stellen

) = n.

1.2.13 Lemma. Sei f eine Funktion von M nach N. Ist f bijektiv, so ist

f −1 = {(y, x) ∈ N × M : (x, y) ∈ f }

eine bijektive Funktion von N nach M.

Beweis. Ist y ∈ N, dann existiert einx ∈ M mit y = f (x), da f surjektiv ist. Also istdie Forderung (i) von Definition 1.2.1 furf −1 erfullt. Um auch (ii ) nachzuprufen, sei(y, x1), (y, x2) ∈ f −1. Dann sind (x1, y), (x2, y) ∈ f und wegen der Injektivitat vonffolgt x1 = x2.

1.2.14 Bemerkung.Man sieht am obigen Beweis, dass die Inversef −1 einer injektivenFunktion f eine nicht notwendig uberall definierte Funktion ist, vgl.Bemerkung 1.2.9.Ihr Definitionsbereich ist gerade ranf . Ist dagegenf nicht injektiv, so ist f −1 nichteinmal mehr eine nicht uberall definierte Funktion.

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1.2. FUNKTIONEN 7

Durch unmittelbares Nachprufen der Definition sieht man, dass die Zusammenset-zung von Funktionen wieder eine Funktion ist.

1.2.15 Definition. Seienf : M → N undg : N → P Funktionen. Dann bezeichneg◦ fjene Funktion vonM nachP, die durch

(g ◦ f )(x) = g( f (x)), x ∈ M,

definiert ist. Man bezeichnetg◦ f oft auch als diezusammengesetzte Funktionoder alsdie Hintereinanderausfuhrungvon f undg.

Ist f eine Abbildung vonM nachN, so gilt immerf = f ◦ idM = idN ◦ f .Die Hintereinanderausfuhrung ist assoziativ: Sindf : M → N, g : N → P und

h : P→ Q Funktionen so gilt (x ∈ M)

((h ◦ g) ◦ f )(x) = (h ◦ g)( f (x)) = h(g( f (x))) =

h((g◦ f )(x)) = (h ◦ (g ◦ f ))(x).

Also gilt (h ◦ g) ◦ f = h ◦ (g ◦ f ). Als Konsequenz schreiben wir auchh ◦ g ◦ f dafur.

1.2.16 Bemerkung.Man kanng ◦ f auch als

{(x, z) : ∃y ∈ N, (x, y) ∈ f , (y, z) ∈ g} (1.3)

schreiben.Fur MengenM,N,P und beliebige Teilmengenf ⊆ M × N, g ⊆ N × P – also f undg sind nicht notwendigerweise

Funktionen; man spricht vonRelationenzwischenM undN bzw. zwischenN undP – kann man vermoge (1.3) auchg ◦ fdefinieren. Man spricht vomRelationenproduktvon f undg.

1.2.17 Bemerkung.Sind f und g nicht mehr uberall definiert, so muss man bei derKomposition darauf achten, dass die Definitionsbereiche sozusammenpassen, dass derBildbereich vonf im Definitionsbereich vong enthalten ist.

1.2.18 Satz.Sei f : M → N eine Funktion.

� Ist f : M → N bijektiv, so gilt f−1 ◦ f = idM, f ◦ f −1 = idN.

� Ist umgekehrt g: N → M eine Funktion mit

g ◦ f = idM , f ◦ g = idN , (1.4)

so ist f bijektiv und es gilt g= f −1.

� Fur bijektives f ist f−1 auch bijektiv, wobei( f −1)−1 = f .

� Sind f : M → N und h: N → P bijektiv, so gilt

(h ◦ f )−1 = f −1 ◦ h−1.

Beweis.Sei zunachstf bijektiv. Offenbar gilt

( f −1 ◦ f )(x) = x, x ∈ M ,

und( f ◦ f −1)(y) = y, y ∈ N ,

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8 KAPITEL 1. MENGEN UND ABBILDUNGEN

wodurch f −1 ◦ f = idM , f ◦ f −1 = idN.Sei nun die Existenz einer Funktiong vorausgesetzt, die (1.4) erfullt. Zuy ∈ N ist

x = g(y) ein Element ausM, welchesf (x) = f (g(y)) = idN(y) = y erfullt. Also ist fsurjektiv. Aus f (x1) = f (x2) folgt

x1 = g( f (x1)) = g( f (x2)) = x2 ,

womit sich f als injektiv herausstellt. Also istf bijektiv und hat damit eine Inverse, furdie

g = idM ◦g = ( f −1 ◦ f ) ◦ g = f −1 ◦ ( f ◦ g) = f −1 ◦ idN = f −1

gilt.Fur bijektives f gilt f −1 ◦ f = idM , f ◦ f −1 = idN. Somit kann man das eben

gezeigte auff −1 : N → M anwenden, um die Bijektivitat vonf −1 zu folgern. Dabeigilt ( f −1)−1 = f .

Seien nunf : M → N undh : N → P bijektiv. Die Funktione := f −1 ◦ h−1 erfulltwegen der Assoziativitat der Hintereinanderausfuhrung

e◦ (h ◦ f ) = f −1 ◦ (h−1 ◦ h) ◦ f = f −1 ◦ idN ◦ f = f −1 ◦ f = idM ,

sowie(h ◦ f ) ◦ e= h ◦ ( f ◦ f −1) ◦ h−1 = h ◦ idN ◦h−1 = h ◦ h−1 = idP .

Nach dem ersten Teil des Satzes gilte= (h ◦ f )−1.❑

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Kapitel 2

Die reellen Zahlen

Die reellen Zahlen sind uns anschaulich schon aus der Schulebekannt. Wir wollen imFolgenden die charakteristischen Eigenschaften der reellen Zahlen sammeln, von de-nen wir dann sehen werden, dass diese die reellen Zahlen (bisauf isomorphe Kopien)eindeutig bestimmen. Dass es die reellen Zahlen (also eine Menge mit den charakteris-tischen Eigenschaften) unter der Annahme der Gultigkeit der Mengenlehre uberhauptgibt, werden wir spater sehen.

2.1 Algebraische Struktur der reellen Zahlen

Zuerst wollen wir uns den Operationen+ und ·, also der algebraischen Struktur, zu-wenden. Die reellen Zahlen mit diesen Operationen sind ein so genannter Korper:

2.1.1 Definition. SeiK eine nichtleere Menge, und es seien Abbildungen (sogenannteVerknupfungen)

+ : K × K → K (Addition)

und· : K × K → K (Multiplikation)

gegeben. Das Tripel〈K,+, ·〉 heißt Korper, falls es zwei ausgezeichnete Elemente 0, 1 ∈K gibt, sodass folgende Gesetze (Axiome) gelten. Wir schreiben dabeix+ y fur +(x, y)undx · y fur ·(x, y).

(a1) Die Addition ist assoziativ:

(x+ y) + z= x+ (y+ z), fur alle x, y, z ∈ K.

(a2) 0 ist ein neutrales Element bezuglich+:

x+ 0 = x, fur alle x ∈ K.

(a3) Jedes Elementx ∈ K besitzt ein Inverses−x ∈ K bezuglich+:

x+ (−x) = 0, fur alle x ∈ K.

(a4) Die Addition ist kommutativ:

x+ y = y+ x, fur alle x, y ∈ K.

9

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10 KAPITEL 2. DIE REELLEN ZAHLEN

(m1) Die Multiplikation ist assoziativ:

(x · y) · z= x · (y · z), fur alle x, y, z∈ K.

(m2) 1 ist ein neutrales Element vonK \ {0} bezuglich·:

x · 1 = x, fur alle x ∈ K \ {0}.

(m3) Jedes von 0 verschiedene Elementx besitzt ein Inverses bezuglich·:

x · x−1 = 1, fur alle x ∈ K \ {0}.

(m4) Die Multiplikation ist kommutativ:

x · y = y · x, fur alle x, y ∈ K.

(d) Es gilt das Distributivgesetz:

x · (y+ z) = (x · y) + (x · z), fur alle x, y, z ∈ K.

2.1.2 Bemerkung.Da 〈K,+〉 und 〈K \ {0}, ·〉 Gruppen sind, folgt, dass die jeweiligenneutralen Elemente 0 bzw. 1 eindeutig bestimmt sind1. Ware namlich etwa0 ein weitersneutrales Element bezuglich+, so folgte aus (a2) und (a4), dass

0 = 0+ 0 = 0.

Dasselbe gilt fur die Inversen−a unda−1. Ware etwa ˜a ein weiteres additiv Inverses zua, alsoa+ a = 0, so folgte

a = a+ (a+ (−a))︸ ︷︷ ︸=0

= (a+ a)︸ ︷︷ ︸=0

+(−a) = 0+ (−a) = −a.

Somit istx 7→ −x eine – wie aus unten stehenden Rechenregeln folgt – bijektive Funk-tion von K auf sich selbst undx 7→ x−1 eine bijektive Funktion vonK \ {0} auf sichselbst. Siehe dazu die Lineare Algebra Vorlesung.

2.1.3 Beispiel.Man betrachte die MengeK = {≬,⋔}. Die Verknupfungen+ und· seiengemaß folgender Verknupfungstafeln definiert.

+ ≬ ⋔

≬ ≬ ⋔

⋔ ⋔ ≬

· ≬ ⋔

≬ ≬ ≬

⋔ ≬ ⋔

Man erkennt unschwer, dass alle Anforderungen an einen Korper, d.h. Axiome(a1)− (a4), (m1)− (m4), (d), erfullt sind, wobei≬ des neutrale 0 Element bezuglich+und⋔ des neutrale Element 1 bezuglich· ist.

Es sei noch bemerkt, dass jeder Korper mindestens zwei Elemente hat, und somitder hier vorgestellte Korper kleinst moglich ist.

1Die ausgezeichneten Elemente 0 und 1 sind zunachst von den gleich bezeichneten, bekannten ganzenZahlen zu unterscheiden. Sie haben lediglich ahnliche Eigenschaften. Um zu betonen, dass es sich um dasadditiv bzw. multiplikativ neutrale Element vonK handelt, schreibt man auch 0K bzw. 1K .

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2.2. ORDNUNGSSTRUKTUR DER REELLEN ZAHLEN 11

Wir werdenxy fur x · y und, fallsy , 0, fur xy−1 oft xy schreiben. Um Klammern zu

sparen, wollen wir auch ubereinkommen, dass Punkt- vor Strichrechnung kommt, alsozB. xy+ xz= (xy) + (xz). Schließlich werden wir furx+ (−y) bzw. (−x)+ y auchx− ybzw.−x+ y schreiben.

2.1.4 Lemma. Fur einen Korper〈K,+, ·〉 gelten folgende Rechenregeln:

(i) Die Inverse von der Inversen ist die Zahl selbst:−(−x) = x, x ∈ K und(x−1)−1 = x, x ∈ K \ {0}.

(ii ) −(x+ y) = (−x) + (−y), x, y ∈ K.

(iii ) x · 0 = 0, x, y , 0 ⇒ x · y , 0 und (xy)−1 = x−1y−1, sowie(−x)−1 = −(x−1).Insbesondere(−1)(−1)= 1.

(iv) x(−y) = −xy, (−x)(−y) = xy, x(y− z) = xy− xz.

(v) ab

cd =

acbd.

Beweis.Exemplarisch wollen wirx · 0 = 0 und−(x+ y) = (−x) + (−y) nachweisen.Wegen (a2) gilt 0+ 0 = 0 und mit (d) damit auchx · 0 = x · (0+ 0) = x · 0+ x · 0.

Addieren wir das nach (a3) existierende additiv Inverse vonx ·0, so folgt mit Hilfe von(a1), dass

0 = x · 0+ (−x · 0) = (x · 0+ x · 0)+ (−x · 0) = x · 0+ (x · 0+ (−x · 0)) = x · 0+ 0 = x · 0

Wegen dem Kommutativgesetz und Assoziativgesetz gilt

(x+ y) + ((−x) + (−y)) = ((x+ y) + (−x)) + (−y) = ((y+ x) + (−x)) + (−y) =

(y+ (x+ (−x))) + (−y) = ((y+ 0)+ (−y)) = y+ (−y) = 0.

Also ist (−x) + (−y) eine additiv Inverse vonx + y. Wegen Bemerkung 2.1.2 ist dieseadditiv Inverse aber eindeutig. Also (−x) + (−y) = −(x+ y).

Schließlich wollen wir noch einige Schreibweisen festlegen: Ist A Teilmenge unse-res KorpersK, so sei

−A = {−a : a ∈ A}.

Also ist−A das Bild vonA unter der Abbildung− : K → K.SindA, B ⊆ K, so sei

A+ B = {a+ b : a ∈ A, b ∈ B}.

Somit istA+ B das Bild vonA× B (⊆ K × K) unter der Abbildung+ : K × K → K.Entsprechend seienA−1, A− B, etc. definiert.

2.2 Ordnungsstruktur der reellen Zahlen

Eine weitere wichtige Eigenschaft der reellen Zahlen ist die, dass man je zwei Zahlenx undy der Große nach vergleichen kann. Dabei ist bekannterweisex < y genau dann,wenn y − x eine positive reelle Zahle ist. Um diesen Sachverhalt mathematisch zufassen, definieren wir

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12 KAPITEL 2. DIE REELLEN ZAHLEN

2.2.1 Definition. Sei〈K,+, ·〉 ein Korper und seiP ⊆ K. Dann heißtK (streng genom-men〈K,+, ·,P〉) einangeordneter Korper, wenn gilt, dass

(p1) K = P∪{0}∪(−P),2 wobeiP,−P disjunkt3, und beide 0 nicht enthalten;

(p2) x, y ∈ P⇒ x+ y ∈ P;

(p3) x, y ∈ P⇒ xy ∈ P.

Die MengeP heißt die Menge derpositivenZahlen.

Fur x, y ∈ K sagen wir, dass

� x kleiner alsy ist, in Zeichenx < y, wenny− x ∈ P;

� x großer alsy ist, in Zeichenx > y, wennx− y ∈ P;

� x kleiner oder gleichy ist, in Zeichenx ≤ y, wennx < y oderx = y;

� x großer oder gleichy ist, in Zeichenx ≥ y, wennx > y oderx = y.

2.2.2 Lemma. In einem angeordneten Korper K gelten fur beliebige a, b, x, y, z ∈ Kfolgende Regeln:

(i) x ≤ x (Reflexivitat).

(ii ) (x ≤ y∧ y ≤ x)⇒ x = y (Antisymmetrie).

(iii ) (x ≤ y∧ y ≤ z)⇒ x ≤ z (Transitivitat).

(iv) x ≤ y∨ y ≤ x (Totalitat).

(v) (x ≤ y∧ a ≤ b)⇒ x+ a ≤ y+ b.

(vi) x ≤ y⇒ −x ≥ −y.

(vii) (z> 0∧ x ≤ y)⇒ xz≤ yz und(z< 0∧ x ≤ y)⇒ xz≥ yz.

(viii ) x , 0⇒ x2 > 0. Insbesondere:1 > 0.

(ix) x > 0⇒ x−1 > 0 und x< 0⇒ x−1 < 0.

(x) 0 < x ≤ y⇒ ( xy ≤ 1 ≤ y

x ∧ x−1 ≥ y−1).

(xi) (0 < x ≤ y∧ 0 < a ≤ b)⇒ xa≤ yb.

(xii) x < y⇒ x < x+y2 < y, wobei2 := 1+ 1.

Beweis.Wir beweisen exemplarisch (ii ), (iii ), (viii ) und (xii):

(ii ): (x ≤ y∧ y ≤ x) ist per Definitionem dasselbe, wiey− x ∈ P∪ {0} ∧ x− y ∈ P∪ {0}.Also y− x ∈ (P∪ {0}) ∩ (−P∪ {0}) = {0}, und damitx = y.

2Der Punkt uber∪ soll die Disjunktheit der Mengen anzeigen.3Also ihr Schnitt ist leer.

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2.2. ORDNUNGSSTRUKTUR DER REELLEN ZAHLEN 13

(iii ): (x ≤ y ∧ y ≤ z) ⇔ (y − x ∈ P ∪ {0} ∧ z − y ∈ P ∪ {0}). Aus (p2) folgtz− x = (z− y) + (y− x) ∈ P∪ {0}, alsox ≤ z.

(viii ): Aus x , 0 folgt x ∈ P ∪ −P. Ist x ∈ P, so folgt wegen (p3), dassx2 = xx ∈ Pund damitx2 > 0. Ist x ∈ −P, so folgt−x ∈ P und wieder wegen (p3), dassx2 = xx =(−x)(−x) ∈ P.(xii): Aus x < y und (v) folgt x+ x < x+y < y+y. Nun ist wegen dem Distributivgesetzx + x = x(1+ 1) undy+ y = y(1+ 1). Da wegen (p2), 1+ 1 ∈ P, folgt aus (vii), dassx < x+y

2 < y.❑

2.2.3 Bemerkung.Die Eigenschaften (i)−(iii ) besagen genau, dass≤ eine Halbordnungauf K ist. Eigenschaft (iv) bedeutet dann, dass diese Halbordnung sogar eine Totalord-nung ist.

Man kann also einen angeordneten Korper als Gerade veranschaulichen, wobei eineZahl x genau dann links von einer anderen Zahly liegt, wenn sie kleiner ist:

K0 x y

Abbildung 2.1: Zahlengerade

2.2.4 Definition. SeiK eine Menge und≤ eine Totalordnung darauf.

� Sind x, y ∈ K, so sei max(x, y) dasMaximumvon x undy. Also max(x, y) = x,falls x ≥ y, und max(x, y) = y falls y ≥ x. Entsprechend definiert man dasMinimummin(x, y) zweier Zahlen.

� Ist A ⊆ K, und gibt es eina0 ∈ A, sodassa ≤ a0 (a0 ≤ a) fur alle a ∈ A, so nenntmana0 das Maximum (Minimum) vonA, und schreibta0 = maxA (a0 = min A).Zum Maximum (Minimum) sagt man auch großtes (kleinstes) Element.

� Ist A ⊆ K, so heißtA nach oben beschrankt, falls es einx ∈ K gibt, sodassA ≤ x, sodass alsoa ≤ x fur alle a ∈ A. Jedesx ∈ K mit A ≤ x heißt dabeiobereSchrankevon A. Entsprechend heißt eine TeilmengeA nachunten beschrankt,wenn es eineuntere Schrankein K hat, wenn alsox ≤ A fur ein x ∈ K. Eine nachoben und nach unten beschrankte Teilmenge heißtbeschrankt.

� Sei A ⊆ K eine nach oben (unten) beschrankte Teilmenge. Hat nun die Menge{x ∈ K : A ≤ x} ({x ∈ K : x ≤ A}) aller oberen (unteren) Schranken vonA einMinimum (Maximum), so heißt diesesSupremum(Infimum) vonA und wird mitsupA (inf A) bezeichnet.

� Die Tatsache, dass eine MengeA ⊆ K nicht nach oben (nicht unten) beschranktist wollen wir mit der formalen Gleichheit supA = +∞ (inf A = −∞) zumAusdruck bringen.

2.2.5 Bemerkung.Man sieht leicht, dass jedes Maximum (Minimum) einer Teilmengeauch Supremum (Infimum) dieser Teilmenge ist. Die Umkehrunggilt im Allgemeinennicht.

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14 KAPITEL 2. DIE REELLEN ZAHLEN

supMM

obere Schranken vonM

Abbildung 2.2: Supremum der MengeM

Es kann auch vorkommen, dass eine beschrankte Teilmenge von K weder ein Su-premum, noch ein Infimum hat.

2.2.6 Bemerkung.Wenn das Supremum einer TeilmengeA existiert, so gilt gemaß derDefinition A ≤ supA, und supA ≤ x fur alle oberen Schrankenx von A.

Ist umgekehrty ∈ K mit A ≤ y und y ≤ x fur alle oberen Schrankenx von A,so folgt ausA ≤ y, dassy eine obere Schranke vonA ist, und aus der zweiten Vor-aussetzung, dassy das Minimum der oberen Schranken vonA ist. Also isty = supA.Entsprechendes lasst sich fur das Infimum sagen.

2.2.7 Lemma. Ist A⊆ B ⊆ K, so gilt

(i) {x ∈ K : A ≤ x} ⊇ {x ∈ K : B ≤ x} und{x ∈ K : x ≤ A} ⊇ {x ∈ K : x ≤ B}.

(ii ) Haben A und B ein Maximum (Minimum), so folgtmaxA ≤ maxB(minA ≥ min B).

(iii ) Haben A und B ein Supremum (Infimum), so folgtsupA ≤ supB (inf A ≥ inf B).

Beweis.

(i) t ∈ {x ∈ K : B ≤ x} bedingtb ≤ t fur alle b ∈ B. WegenA ⊆ B gilt aucha ≤ t furalle a ∈ A, und dahert ∈ {x ∈ K : A ≤ x}. Die zweite Mengeninklusion beweistman genauso.

(ii ) Das Maximum vonB erfullt definitionsgemaß maxB ≥ b fur alle b ∈ B, und da-mit insbesondere maxB ≥ a fur alle a ∈ A. Wegen maxA ∈ A folgt insbesonderemaxB ≥ maxA. Analog zeigt man minA ≥ min B.

(iii ) Definitionsgemaß haben wir supA = min{x ∈ K : A ≤ x} undsupB = min{x ∈ K : B ≤ x}. Nach (i) ist {x ∈ K : B ≤ x} ⊆ {x ∈ K : A ≤ x} unddaher nach (ii )

supA = min{x ∈ K : A ≤ x} ≤ min{x ∈ K : B ≤ x} = supB.

Ist K ein angeordneter Korper, so gelten fur die oben eingefuhrten Begriffe einfachnachzuprufende Rechenregeln:

(i) Aus x ≤ A ⇔ −x ≥ −A folgt, dassA ⊆ K genau dann nach oben (unten)beschrankt ist, wenn−A nach unten (oben) beschrankt ist.

(ii ) min(−A) = −maxA, max(−A) = −minA,

(iii ) inf(−A) = − sup(A), sup(−A) = − inf(A).

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2.2. ORDNUNGSSTRUKTUR DER REELLEN ZAHLEN 15

Diese Gleichheiten gelten in dem Sinn, dass die linke Seite des Gleichheitszeichengenau dann existiert, wenn die rechte existiert.

2.2.8 Beispiel.Seiena, b ∈ K. Dann definiert man die Intervalle

(a, b) := {x ∈ K : a < x < b}, (a, b] := {x ∈ K : a < x ≤ b},

und entsprechend

[a, b] := {x ∈ K : a ≤ x ≤ b}, [a, b) := {x ∈ K : a ≤ x < b}.

Außerdem setzt man (+∞,−∞ sind hier nur formale Ausdrucke)

(−∞, b) := {x ∈ K : x < b}, (−∞, b] := {x ∈ K : x ≤ b},

(a,+∞) := {x ∈ K : a < x}, [a,+∞) := {x ∈ K : a ≤ x}.Ist a < b, so sind die Mengen (a, b), [a, b], (a,+∞) z.B. nach unten beschrankt.

Nach oben beschrankt sind dagegen nur die ersten beiden. Die Mengen (a, b), (a, b]haben das Supremumb, aber nur fur die Menge (a, b] ist b ein Maximum.

Um etwa einzusehen, dassb = sup(a, b) argumentiert man folgendermaßen:Zunachst ist wegen der Definition von Intervallenx ≤ b fur alle x ∈ (a, b), also(a, b) ≤ b.

Angenommen es gabe eine obere Schrankey von (a, b) mit y < b. Im Falley ≤ awarey ≤ a < a+b

2 < b (vgl. Lemma 2.2.2, (xii)), womit abery keine obere Schrankesein kann, daa+b

2 ∈ (a, b).

Im Fallea < y warea < y < y+b2 < b, womit wiederumy keine obere Schranke sein

kann, day+b2 ∈ (a, b).

Also ist b tatsachlich die kleinste obere Schranke von (a, b), sup(a, b) = b.

2.2.9 Beispiel.Dem Begriff der rationalen Zahlen vorgreifend seienK die rationalenZahlen und sei

M = {x ∈ K : x2 < 2}.Dann hat diese Menge weder Maximum noch Supremum, obwohl sienach oben be-schrankt ist. Siehe dazu Satz 2.7.5.

Wir wollen noch zwei elementare Funktionen auf einem angeordneten Korper be-trachten.

2.2.10 Definition. Sei 〈K,+, ·,P〉 ein angeordneter Korper. Die Signumfunktion sgnsei jene Funktion vonK nachK, sodass furx ∈ K

sgn(x) =

1 , falls x ∈ P0 , falls x = 0−1 , falls x ∈ −P

.

Fur x , 0 heißt sgn(x) auch das Vorzeichen vonx.Die Betragsfunktion|.| : K → K ist definiert durch

|x| ={

x , falls x ∈ P∪ {0}−x , falls x ∈ −P

.

Sindx, y ∈ K, so bezeichnet man|x− y| auch als den Abstand vonx undy.

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16 KAPITEL 2. DIE REELLEN ZAHLEN

2.2.11 Lemma. Fur x, y ∈ K gilt:

(i) |x| = sgn(x)x.

(ii ) |xy| = |x||y|.

(iii ) |x+ y| ≤ |x| + |y| (Dreiecksungleichung).

(iv) |x+ y| ≥ ||x| − |y|| (Dreiecksungleichung nach unten).

(v) max(x, y) = x+y+|x−y|2 , min(x, y) = x+y−|x−y|

2 .

Beweis. (i) und (ii ) folgen ganz leicht, wenn wir die Fallex > 0, x = 0, x < 0 unter-scheiden.

Die Dreiecksungleichung folgt unmittelbar, wenn eine der Zahlenx odery Null ist.Sonst unterscheiden wir folgende zwei Falle:

sgn(x) = sgn(y) , 0⇒ |x+ y| = | sgn(x)(|x| + |y|)| = |x| + |y|

sgn(x) = − sgn(y) , 0⇒ |x+ y| = | sgn(x)(|x| − |y|)| = ||x| − |y|| ≤ |x| + |y|

Letztere Ungleichung gilt, da sowohl|x| − |y| ≤ |x|+ |y|, als auch−(|x| − |y|) = |y| − |x| ≤|x| + |y|.

Um die Dreiecksungleichung nach unten einzusehen, bemerke

|x| = |(x+ y) + (−y)| ≤ |x+ y| + |y|, (2.1)

also|x| − |y| ≤ |x+ y|. Analog folgt

|y| ≤ |x+ y| + |x|,

also auch|y| − |x| ≤ |x+ y|.Mit einer ahnlichen Fallunterscheidung beweist man die Aussage (v).

2.3 Die naturlichen Zahlen

Ob es die oben diskutierten angeordneten Korper uberhaupt gibt, davon haben wir unsbisher nicht uberzeugen konnen. Um solche Objekte zu konstruieren, wenden wir unszunachst den naturlichen Zahlen zu.

Die naturlichen Zahlen sind uns als Objekt des Alltages wohlvertraut, aber ihreExistenz als mathematisches Objekt ist keine Trivialitat. Trotzdem wollen wir diesevoraussetzen. In der Tat folgt sie aus den Axiomen der Mengenlehre.

2.3.1 Definition. Die naturlichen Zahlensind eine MengeN, in der ein Element 1∈N ausgezeichnet ist,4 und auf der eine Funktion (Nachfolgerabbildung) ′ : N → Ndefiniert ist, sodass gilt

(S1) ′ ist injektiv.

(S2) Es gibt keinn ∈ N mit n′ = 1.

4Die Bezeichnung 1 hat zumindest zum gegenwartigen Zeitpunkt nichts mit der gleichlautenden Bezeich-nung fur das multiplikative neutrale Element in einem Korper zu tun.

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2.3. DIE NATURLICHEN ZAHLEN 17

(S3) IstM ⊆ N, 1 ∈ M undm′ ∈ M fur alle m ∈ M, so istM = N.

Fur n′ wollen wir auchn+ 1 schreiben.

2.3.2 Bemerkung.Wir wollen anmerken, dass wir zunachst weder die Abbildungen+, ·, die N × N nachN abbilden, noch die Moglichkeit zwei naturliche Zahlen derGroße nach zu ordnen, zur Verfugung haben. Obige Festlegung, dassn′ = n+ 1 ist nursymbolisch zu verstehen.

Ehe wir uns an die Definition von Addition und Multiplikationmachen, wollen wiruns die Moglichkeit schaffen, Ausdrucke, wienx, xn,

∑nk=1 c(k) fur n ∈ N zu definieren,

wenn z.B.x undc(k) fur k ∈ N Elemente eines Korpers sind.Alle diese Ausdrucke haben gemein, dass sie Funktionenn 7→ φ(n) auf N sind,

wobei φ(1) bekannt ist, und wobeiφ(n′) bekannt ist, wennφ(n) es ist. Im Falle vonn 7→ xn ist etwax1 = x undxn′ = xn · x.

Um einzusehen, warum solche Funktionen eindeutig definiertsind, zeigen wir den

2.3.3 Satz(Rekursionssatz). Sei A eine Menge, a∈ A, g : A→ A (Rekursionsfunktion).Dann existiert genau eine Abbildungφ : N→ A mitφ(1) = a undφ(n′) = g(φ(n)).

Beweis.Betrachte alle TeilmengenH ⊆ N × A mit den Eigenschaften

(a) (1, a) ∈ H

(b) Ist (n, b) ∈ H, so gilt auch (n′, g(b)) ∈ H.

Solche Teilmengen existieren, da z.B.N × A die Eigenschaften (a) und (b). SeiD derDurchschnitt aller solchen Teilmengen:

D :=⋂

H erfullt (a) und (b)

H

Da (1, a) ∈ H fur alle H, die (a) und (b) erfullen, ist auch (1, a) ∈ D. Ist (n, b) ∈ D, sogilt (n, b) ∈ H fur alle (a) und (b) erfullendenH. Nach (b) folgt (n′, g(b)) ∈ H fur allesolchenH, und somit (n′, g(b)) ∈ D.

Also hatD auch die Eigenschaften (a) und (b), und ist damit die kleinste Teilmengemit diesen Eigenschaften.

Wir behaupten, dassD eine Funktion vonN nachA ist, also, dass es zu jedemn ∈ Ngenau einb ∈ A gibt, sodass (n, b) ∈ D, vgl. Definition 1.2.1. Dazu reicht es zu zeigen,dass5

M = {n ∈ N : ∃! b ∈ A, (n, b) ∈ D}mit N ubereinstimmt. Wir prufen das mit Hilfe von (S3) nach.

Zunachst ist 1∈ M, da einerseits (1, a) ∈ D. Gabe es andererseits ein weiteresc ∈ A, c , a mit (1, c) ∈ D, so betrachteD \ {(1, c)}. Klarerweise hatD \ {(1, c)} dieEigenschaft (a). Wegen (S2) bleibt auch die Eigenschaft (b) erhalten. Ein Widerspruchdazu, dassD kleinstmoglich ist.

Nun zeigen wir, dass mitn auchn′ in M liegt. Furn ∈ M gibt es aber genau einb ∈ A mit (n, b) ∈ D. Also ist auch (n′, g(b)) ∈ D. Ware noch (n′, c) ∈ D mit c , g(b),so kann man wiederD\ {(n′, c)} betrachten. Weiln′ , 1, erfullt D\ {(n′, c)} Eigenschaft(a).

Aus (k, d) ∈ D \ {(n′, c)} ⊆ D folgt (k′, g(d)) ∈ D. Ist k , n, so folgt wegen (S1)daher auch (k′, g(d)) , (n′, c). Ist n = k, so muss wegenn ∈ M die Gleichheitd = b

5∃! steht fur:Es gibt genau ein

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18 KAPITEL 2. DIE REELLEN ZAHLEN

gelten. Es folgt (k′, g(d)) = (n′, g(b)) , (n′, c). In jedem Fall gilt also (k′, g(d)) ∈D \ {(n′, c)}, undD \ {(n′, c)} erfullt auch (b). Das ist wieder ein Widerspruch dazu, dassD kleinstmoglich ist.

Aus (S3) folgt M = N. Nach Definition 1.2.1 kann man alsoD auffassen als Abbil-dungφ : N→ A. Die Eigenschaft (a) bedeutetφ(1) = a, und (b) besagtφ(n′) = g(φ(n)).

Wareφ eine weitere Funktion mitφ(1) = a und mit φ(n′) = g(φ(n)), und betrachtetmanφ als TeilmengeD vonN × A, so erfulltD Eigenschaften (a), (b). Weil wir schonwissen, dassD die kleinste solche Menge ist, folgtD ⊆ D. Da aber beide Funktionensind, mussD = D bzw.φ = φ.

2.3.4 Bemerkung.Satz 2.3.3 rechtfertigt rekursive Definitionen:

Zum Beispiel die Funktionn 7→ xn, wobei x in einem KorperK liegt. Dafurnehmen wirA = K, a = x undg : K → K, y 7→ yx. Nach Satz 2.3.3 ist dannxn

fur alle n ∈ N eindeutig definiert.

Genauso kann mann 7→ nx definieren.

Um n 7→ ∏nk=1 c(k) zu definieren, wennc : N → K ist, wenden wir Satz 2.3.3

mit A = N × K, a = (1, c(1)) undg : N × K → N × K, (n, x) 7→ (n′, x · c(n′)) an,und definieren

∏nk=1 c(k) als die zweite Komponente vonφ(n).

Genauso kann mann 7→ ∑nk=1 c(k), n 7→ maxk=1,...,n c(k) und ahnliche Ausdrucke

definieren.

Furn∑

k=1c(k) schreiben wir auchc(1)+ · · · + c(n). Entsprechend setzen wir

c(1) · · · · · c(n) :=n∏

k=1

c(k) und max(c(1), . . . , c(n)) = maxk=1,...,n

c(k) .

Als weitere Anwendung des Rekursionssatzes erhalten wir, dass die naturlichenZahlen im Wesentlichen eindeutig sind.

2.3.5 Korollar. SeienN und N Mengen mit ausgezeichneten Elementen1 ∈ N und1 ∈ N und Abbildungen′ : N → N, ˜ : N → N, sodass fur beide die Axiome (S1),(S2) und (S3) gelten. Dann gibt es eine eindeutige bijektiveAbbildungϕ : N → N mitϕ(1) = 1 undϕ(n) = ϕ(n′), n ∈ N.

Beweis.Wendet man den Rekursionssatz an aufA = N, a = 1, undg = , so folgt, dassgenau eine Abbildungϕ : N → N existiert mitϕ(1) = 1 und ϕ(n) = ϕ(n′), n ∈ N.Durch Vertauschung der Rollen vonN und N erhalt man eine Abbildungψ : N → Nmit ψ(1) = 1 undψ(x)′ = ψ(x), x ∈ N.

Betrachte die AbbildungΦ = ψ ◦ ϕ : N→ N. Es giltΦ(1) = 1 und

Φ(n)′ = (ψ(ϕ(n)))′ = ψ(ϕ(n)) = (ψ ◦ ϕ)(n′).

Die identische Abbildung idN hat die selben Eigenschaften, also folgt nach derEindeutigkeitsaussage des RekursionssatzesΦ = idN. Analog zeigt manϕ ◦ ψ = idN,also istϕ bijektiv und es giltϕ−1 = ψ.

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2.3. DIE NATURLICHEN ZAHLEN 19

Wenn wir uns den Beweis des Rekursionssatzes nochmals anschauen, so haben wirgezeigt, dassD eine Funktion aufN ist, es also zu jedemn ∈ N genau einb ∈ A gibtmit (n, b) ∈ D, indem wir die MengeM aller in diesem Sinne

”guten“n ∈ N hernehmen

und davon zeigen, dass sie die Voraussetzungen von (S3) erfullen.Diese Vorgangsweise kann man auf alle AussagenA(n) ausdehnen, die fur alle

naturliche Zahlenn gelten sollen. Das fuhrt zum so genannten:

Prinzip der vollstandigen Induktion: Fur jedesn ∈ N seiA(n) eine Aussage uber dienaturliche Zahln. Gilt

(i) Induktionsanfang: Die AussageA(1) ist wahr.

(ii ) Induktionsschritt: Fur jedesn ∈ N ist wahr, dass aus der Gultigkeit vonA(n) dieGultigkeit vonA(n′) folgt.

Dann ist die AussageA(n) fur jede naturliche Zahln richtig.

Um das einzusehen, betrachte man die MengeM aller n ∈ N, fur die A(n) richtigist. Ist nunA(1) richtig, so ist 1∈ M, und ausA(n)⇒ A(n′) sehen wir, dass mitm ∈ Mauchm′ ∈ M. Nach Axiom (S3) ist M = N. Also ist A(n) fur jede naturliche Zahlnrichtig.

Als Anwendung der Beweismethode der vollstandigen Induktion bringen wir diespater verwendeteBernoullische Ungleichung.

2.3.6 Lemma. Ist 〈K,+, ·,P〉 ein angeordneter Korper, und bezeichnen wir das multi-plikative neutrale Element mit1K , so folgt fur x∈ K, x ≥ −1K , und n∈ N, dass

(1K + x)n ≥ 1K + nx.

Beweis. Induktionsanfang: Ist n = 1, so besagt die Bernoullische Ungleichung (1K +

x)n = 1K + x ≥ 1K + x, was offenbar stimmt.Induktionsschritt: Angenommen die Bernoullische Ungleichung sei nun furn ∈ Nrichtig. Dann folgt wegen 1K + x ≥ 0, dass

(1K + x)n′ = (1K + x)n(1K + x) ≥ (1K + nx)(1K + x) = 1K + (n′)x+ nx2 ≥ 1K + n′x .

Eine andere unmittelbare Anwendung des Beweisprinzipes der vollstandigen In-duktion ist die Verifikation der offensichtlich fur Ausdrucke wie

∑nk=1 c(k) geltenden

Rechenregeln. Zum Beispiel das Distributivgesetz

an∑

k=1

c(k) =n∑

k=1

(ac(k)).

Induktionsanfang: Ist n = 1, so gilta∑1

k=1 c(k) = ac(1) =∑1

k=1(ac(k)).Induktionsschritt: Angenommen die Rechenregel gilt furn, so rechnen wir:

an′∑

k=1

c(k) = a(

n∑

k=1

c(k)

+ c(n′)) = a

n∑

k=1

c(k)

+ ac(n′) =

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20 KAPITEL 2. DIE REELLEN ZAHLEN

n∑

k=1

(ac(k)) + ac(n′) =n′∑

k=1

(ac(k)).

Entsprechend zeigt man auch andere Rechenregeln fur solche induktiv definierten Aus-drucke.

Wir kommen nun zur Diskussion der algebraischen Operationen Addition und Mul-tiplikation, sowie der Ordnungsrelation aufN. Ihre Existenz und ihre Eigenschaftenmussen wir nun mit mathematischer Strenge herleiten, d.h.sie alleine aus den Axiomen(S1),(S2),(S3) mittels logischer Schlusse zeigen. Hauptinstrument dabei wird wiederder Rekursionssatz Satz 2.3.3 sein.

2.3.7 Definition. Wir definieren fur jedesm ∈ N Abbildungen+m : N → N und·m : N→ N rekursiv:

+m(1) := m′ und +m (n′) = (+m(n))′,

·m(1) := mund ·m (n′) = +m(·m(n)).

Weiters definieren wir Relationen< und≤ aufN durch

n < m :⇐⇒ (∃t ∈ N : +t(n) = m),

n ≤ m :⇐⇒ (n = m) oder (n < m).

Sindm, n ∈ N, so schreibt man

+m(n) =: m+ n, ·m(n) =: m · n,

und spricht von derAdditionbzw.Multiplikation aufN.

2.3.8 Satz.

Fur jedes m∈ N sind die Abbildungen+m und ·m injektiv, wobei+m(n) , m furalle n∈ N.

Die Addition im BereichN der naturlichen Zahlen erfullt die Gesetze

� Fur alle a, b, c ∈ N gilt (a+ b) + c = a+ (b+ c). (Assoziativitat)

� Fur alle a, b ∈ N gilt a + b = b+ a. (Kommutativitat)

sowie dieKurzungsregel

� Sind n,m, k ∈ N und gilt k+m= k+ n, so folgt m= n.

Die Multiplikation ist ebenfalls assoziativ, kommutativ und erfullt die Kurzungs-regel. Zusatzlich gilt noch

� Fur jedes a∈ N ist a · 1 = 1 · a = a. (Existenz des neutralen Elementes)

Die Addition hangt mit der Multiplikation zusammen uber dasDistributivgesetz

� Fur a, b, c ∈ N gilt stets(b+ c) · a = (b · a) + (c · a).

Die Relation≤ ist eine Totalordnung mit1 als kleinstes Element, und aus m< nfolgt m, n. Zudem gelten folgende Vertraglichkeiten mit den Operationen Plusund Mal:

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2.3. DIE NATURLICHEN ZAHLEN 21

� Sind a, b, c ∈ N und gilt a< b (a≤ b), so folgt a+c < b+c (a+c ≤ b+c).

� Sind a, b, c ∈ N und gilt a< b (a≤ b), so folgt a· c < b · c (a · c ≤ b · c).

Es gilt weiters

� Sind n,m, l ∈ Nmit n+ l < m+ l (n+ l ≤ m+ l) oder n· l < m· l (n · l ≤ m· l),so folgt n< m (n≤ m).

� Sind n,m ∈ N, n < m, so gibt es ein eindeutiges t∈ N, sodass m= n+ t.Wir setzen in diesem Falle

m− n := t. (2.2)

� Sind m, n, t ∈ N, t < n < m, so folgt n− t < m− t.

� Sind l,m, n ∈ N, n+m< l, so folgt n< l −m und

l − (m+ n) = (l −m) − n. (2.3)

Beweis.

Zur Assoziativitat von+:

Seienk,m ∈ N fest gewahlt, wir fuhren Induktion nachn durch.Induktionsanfang: (k+m) + 1 = +k(m)′ = +k(m′) = k+ (m+ 1).Induktionsschritt: Nach Induktionsvoraussetzung gilt (k+m) + n = k+ (m+ n).Es folgt

(k+m) + (n′) = +k+m(n′) = +k+m(n)′ = ((k+m) + n)′ =

= (k+ (m+ n))′ = +k(m+ n)′ = +k((m+ n)′) = k+ (m+ n′),

wobei letztere Gleichheit wegen des schon gezeigten Induktionsanfangs folgt.

Zur Kommutativitat von+:

Wir zeigen ∀m, n ∈ N : m+ n = n+m mittels Induktion nachm.Induktionsanfang(m= 1): Wir zeigen

∀n ∈ N : 1+ n = n+ 1 (2.4)

mittels Induktion nachn. Der Fall n = 1 ist klar, denn 1+ 1 = 1 + 1. Furden Induktionsschrittn → n′ gehen wir aus von der Induktionsvoraussetzung1+ n = n+ 1. Daraus folgt

n′ + 1 = n′′ = (n+ 1)′ = (1+ n)′ = 1+ n′.

Induktionsschritt(m→ m′): Wir zeigen

(∀n ∈ N : m+ n = n+m) =⇒ (∀n ∈ N : m′ + n = n+m′).

Dazu fuhren wir Induktion nachn durch. Betrachte also zuerst den Falln = 1.Nach der bereits bewiesenen Aussage (2.4) mit vertauschtenRollen vonm undn gilt m′ + 1 = 1+m′.

Der Induktionsschrittn → n′ hat nun als Induktionsvoraussetzungm′ + n =n+m′ und wir erhalten

m′ + n′ = (m′ + n)′ = (n+m′)′ = (n+m)′′∗= (m+ n)′′ =

= (m+ n′)′∗= (n′ +m)′ = n′ +m′.

An den mit∗ gekennzeichneten Stellen ist die Induktionsvoraussetzung des In-duktionsschritts (m→ m′) benutzt worden.

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22 KAPITEL 2. DIE REELLEN ZAHLEN

Zur Injektivitat von+m und der Tatsache, dass+m(n) , m, fur alle n ∈ N:

Furm= 1 ist+m(n) = n′. Nach (S1) ist+1 injektiv und nach (S2) gilt +1(n) , 1.

Sei nunm ∈ N und+m injektiv und erfulle+m(n) , m fur allen ∈ N.

Es folgt+m′(n) = m′ + n = m+ (n+ 1) = +m(n′). Also ist+m′ die Zusammenset-zung der injektiven Abbildungen (n→ n′) und+m und somit selbst injektiv.

Ausm+ 1 = m′ = +m′(n) = (m+ n)+ 1 folgt wegen der Injektivitat von+1, dassm= m+ n = +m(n) im Widerspruch zur Induktionsvoraussetzung.

Die Kurzungsregeln fur+ folgt sofort aus der Injektivitat von+k.

m < n bedeutetn = m+ k mit einemk ∈ N. Ausm = n wurde der Widerspruchm= m+ k = +m(k) folgen.

Es gilt a · 1 = 1 · a = a, a ∈ N:

Unmittelbar aus der Definition 2.3.7 folgta·1 = ·a(1) = a. Die zweite Gleichheitzeigen wir mittels Induktion nacha:Induktionsanfang(a = 1): 1 · a = 1 · 1 = 1 = a.Induktionsschritt(a→ a′): Wir nehmen also 1· a = a an und schließen

1 · (a′) = ·1(a′) = +1(·1(a)) = +1(1 · a) = 1+ a = a′.

Zur Kommutativitat von·:Wir zeigen ∀m, n ∈ N : m · n = n ·m mittels Induktion nachm.Induktionsanfang(m= 1): Nach dem letzten Punkt gilt∀n ∈ N : 1·n = n = n·1.Induktionsschritt(m→ m′): Wir zeigen

(∀n ∈ N : m · n = n ·m) =⇒ (∀n ∈ N : m′ · n = n ·m′).

Dazu fuhren wir Induktion nachn durch. Betrachte also zuerst den Falln = 1.Wieder nach dem letzten Punkt gilt (m′) · 1 = m′ = 1 ·m′.Der Induktionsschrittn→ n′ hat nun als Induktionsvoraussetzungm′ · n = n ·m′und wir erhalten

m′ · n′ = m′ + (m′ · n) = m′ + (n ·m′) = (m+ 1)+ (n+ (n ·m)) =

(n+ 1)+ (m+ (n ·m))∗= (n+ 1)+ (m+ (m · n)) =

n′ + (m · n′) ∗= n′ + (n′ ·m) = n′ ·m′.

An den mit∗ gekennzeichneten Stellen ist die Induktionsvoraussetzung des In-duktionsschritts (m→ m′) benutzt worden.

Zum Distributivgesetz:

Vollstandige Induktion nacha:Induktionsanfang(a = 1): Da 1 bezuglich· ein neutrales Element ist, folgt

(b+ c) · 1 = b+ c = (b · 1)+ (c · 1).

Induktionsschritt:

(b+ c) · (a+ 1) = (b+ c) + ((b+ c) · a)∗= (b+ c) + ((b · a) + (c · a)) =

(b+ (b · a)) + (c+ (c · a)) = (b · (a+ 1))+ (c · (a+ 1)).

An der mit∗ gekennzeichneten Stelle ist die Induktionsvoraussetzungeingegan-gen.

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2.3. DIE NATURLICHEN ZAHLEN 23

Zur Assoziativitat von·:Wir zeigena · (b · c) = (a · b) · c mittels Induktion nachb.Induktionsanfang: a · (1 · c) = a · c = (a · 1) · c.Induktionsschritt: Nach Induktionsvoraussetzung gilt also (a · b) · c = a · (b · c).Mittels Distributivgesetz folgt

(a · (b+ 1)) · c = ((a · b) + (a · 1)) · c = ((a · b) · c) + ((a · 1) · c) =

(a · (b · c)) + (a · (1 · c)) = a · ((b · c) + (1 · c)) = a · ((b+ 1) · c).

Zur Totalitat von≤ und zur Tatsache 1≤ n, n ∈ N:

Wir wollen zeigen, dass je zwein,m∈ N bezuglich≤ vergleichbar sind, was wirmittels Induktion nachm beweisen werden.

Fur m = 1 zeigt man, leicht mittels Induktion nachn, dass immern = 1, oder∃t ∈ N, n = 1+ t, also immer 1≤ n.

Gelte die Vergleichbarkeit vonm mit allen n ∈ N. Um sie furm′ zu zeigen,machen wir eine Fallunterscheidung: Istm= n, so folgtn+ 1 = m′ alson ≤ m′.

Ausn < m folgt m= n+ t fur ein t ∈ N, und daherm′ = n+ (t + 1), alson < m′.Ist n = m+ 1, so folgtm′ = n.

Ist schließlichm < n, n , m+ 1, so giltn = m+ t mit t , 1. Aus der schonbewiesenen Vergleichbarkeit mit 1 folgt, dass 1< t, und somitt = 1+ s, s ∈ N.Aus der Assoziativitat folgtn = m′ + s, alsom′ < n.

Die Reflexivitat von≤ ist klar.

Zur Transitivitat von< und damit von≤:

Seik, l,m ∈ N undk ≤ l, l ≤ m. Ist k = l oderl = m, so sieht man sofort, dassk ≤ m.

Im Fall k < l, l < mgibt esi, j ∈ Nmit k+ i = l, l+ j = m. Es folgtk+ (i+ j) = mund daherk < m.

Die Antisymmetrie von≤ folgt, da ausn ≤ m undm ≤ n im Fallem , n wegendem vorletzten Punkt und wegen der Transitivitat von< folgt, dassn < n, wasdem vorletzten Punkt widerspricht.

Zur Vertraglichkeit von< mit + und ·:Sein < m undk ∈ N. Somit istn+ t = mmit t ∈ N, und es gilt

m+ k = (n+ t) + k = n+ (t + k) = n+ (k+ t) = (n+ k) + t,

sowiem · k = (n+ t) · k = (n · k) + (t · k).

Also folgt n+ k < m+ k undn · k < m · k.

Die Injektivitat von ·k bzw. – was das selbe ist – die Kurzungsregel fur· folgtnun aus den gezeigten Eigenschaften von≤:

Seienk,m, n ∈ N mit m, n. Wegen der Totalitat giltm< n odern < m, was mitder Vertraglichkeit von< mit · bedingt, dassk ·m < k · n oderk · n < k ·m undsomitk ·m, k · n.

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24 KAPITEL 2. DIE REELLEN ZAHLEN

Zum Kurzen in Ungleichungen:

Ausn+ l < m+ l folgt definitionsgemaßm+ l = (n+ l)+ k fur eink ∈ N. Gemaßder Kurzungsregel fur+ folgt m= n+ k und somitn < m.

Sei nunn· l < m· l. Warem≤ n, so folgte aus dem letzten Punkt der Widerspruchm · l ≤ n · l. Wegen der Totalitat mussn < m.

Zur Wohldefiniertheit vonm− n:

Sei alson < m. Definitionsgemaß istm= n+ t fur ein t ∈ N. Ist nunm= n+ s fureine weitere Zahls ∈ N, so folgt aus der Kurzungsregel fur+ undn+ t = n+ s,dasss= t. Also ist diem− n := t eindeutig dadurch definiert, dassn+ t = m.

Zur Vertraglichkeit von< mit −:

Ist t < n < m, so folgt n = t + s und m = n + l fur s, l ∈ N, und weitersm= t + (l + s). Somit istm− t = l + sundn− t = s, und dahern− t < m− t.

Zu (2.3):

Die Ungleichungm+ n < l bedeutetl = (m+ n) + k fur ein eindeutigesk ∈ N.Definitionsgemaß ist daherk = l− (m+n). Andererseits gilt wegenm< m+n < lauchl = m+ s, s ∈ N.

Wegen der Kurzungsregel fur+ folgt s = n + k, und somitn < s = l − m.Außerdem istk = s− n = (l −m) − n.

2.3.9 Bemerkung.Ist N eine Kopie vonN wie in Korollar 2.3.5, und werden die Ope-rationen+ und ·, sowie≤ auf N genauso definiert wie aufN, so sieht man leicht, dassdie nach Korollar 2.3.5 existierende Abbildungϕ : N→ N mit den Operationen und≤vertraglich ist:

ϕ(n+m) = ϕ(n) + ϕ(m), ϕ(n ·m) = ϕ(n) · ϕ(m),

n ≤ m⇔ ϕ(n) ≤ ϕ(m).

Folgende Eigenschaft der naturlichen Zahlen werden wir oft verwenden.

2.3.10 Satz.Ist ∅ , T ⊆ N, so hat T ein Minimum.

Beweis.Wir nehmen das Gegenteil an. Sei

M = {n ∈ N : ∀m ∈ T ⇒ n < m}.

Es ist nun 1∈ M, da sonst 1 das Minimum vonT ware.Ist n ∈ M, und m ∈ T, so gilt n < m. Daraus schließen wirn + 1 ≤ m. Ware

n+ 1 = m0 fur ein m0 ∈ T, so hatteT das Minimumm0. Wir nehmen aber an, dass esein solches nicht gibt.

Also gilt immern + 1 < m, m ∈ T, bzw.n + 1 ∈ M. Nach (S3) folgt M = N. Istm ∈ T ⊆ N, so folgtm ∈ M und daher der Widerspruchm< m.

Diese Eigenschaft der naturlichen Zahlen konnen wir hernehmen, um folgendeVarianten des Prinzips der vollstandigen Induktionzu rechtfertigen. Zum Beispiel ist

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2.3. DIE NATURLICHEN ZAHLEN 25

es oft zielfuhrender die folgende Version zu benutzen:

SeiA(n), n ∈ N, eine Aussage uber die naturliche Zahln. Gilt

(i) Die AussageA(1) ist wahr.

(ii ) Es gelte fur jedesn ∈ N, n > 1: Ist die AussageA(m) wahr fur allem < n, so istauchA(n) wahr.

Dann ist die AussageA(n) fur alle n ∈ N wahr. Denn ware die Menge dern ∈ N, furdie A(n) falsch ist, nicht leer, so hatte sie ein Minimumn. Wegen (i) ist abern > 1,wegen (ii ) ist A(n) wahr, was offensichtlich ein Widerspruch ist.

Ist eine Aussage erst ab einer gewissen Zahln0 richtig, so kann man folgendeVarianten des Prinzips der vollstandigen Induktion anzuwenden versuchen:

Gilt

(i) Die AussageA(n0) ist wahr.

(ii ) Ist A(n) wahr fur einn ≥ n0, dann istA(n+ 1) wahr.

oder gilt

(i) Die AussageA(n0) ist wahr.

(ii ) Ist n > n0 und istA(m) wahr fur allem mit n0 ≤ m< n, dann istA(n) wahr.

Dann ist die AussageA(n) fur alle n ≥ n0 richtig.

2.3.11 Beispiel.Mit fast dem selben Beweis wie in Lemma 2.3.6 jedoch mit einerInduktion bei 2 startend zeigt man, dass furx ≥ −1K undx , 0 sowien ≥ 2 sogar

(1K + x)n > 1K + nx.

Induktionsanfang: Istn = 2, so gilt wegenx2 > 0, dass (1K+x)2 = 1K+2x+x2 > 1K+2x.Induktionsschritt: Angenommen die Ungleichung ist furn ∈ N richtig. Dann folgtwegen 1K + x ≥ 0 undnx2 > 0, dass

(1K + x)n′ = (1K + x)n(1K + x) ≥ (1K + nx)(1K + x) = 1K + (n′)x+ nx2 > 1K + n′x .

Klarerweise haben unendliche Teilmengen vonN kein Maximum. Aber wie intuitivklar ist, hat jede endliche Teilmenge einer total geordneten Menge ein Maximum undein Minimum. Um das exakt nachzuweisen, benotigen wir die genaue Definition vonEndlichkeit.

2.3.12 Definition. Eine nichtleere MengeM heißtendlich, wenn es eink ∈ N und einebijektive Funktionf : {n ∈ N : n ≤ k} → M gibt. Die Zahlk ist dann dieMachtigkeitvon M6. Man sagt auch, dassM genauk Elemente hat. Die leere Menge nennen wirauch endlich, und ihre Machtigkeit sei Null.

6Damit die Machtigkeit wohldefiniert ist, muss man noch zeigen, dass es im Fallk1 , k2 keine bijek-tive Funktion von{n ∈ N : n ≤ k1} auf {n ∈ N : n ≤ k2} gibt, was sich durch vollstandige Induktionbewerkstelligen lasst.

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26 KAPITEL 2. DIE REELLEN ZAHLEN

2.3.13 Bemerkung.Man zeigt elementar durch vollstandige Induktion nach derMachtigkeit der endlichen MengeM, dass alle ihre Teilmengen auch endlich sind.

2.3.14 Lemma. Jede endliche nichtleere Teilmenge M einer total geordneten Men-ge 〈T,≤〉 hat ein Minimum und ein Maximum, das wir mitmin(M) bzw. mitmax(M)bezeichnen.

Insbesondere gilt diese Aussage fur endliche Teilmengen von angeordnetenKorpern und vonN.

Beweis.Hat M nur ein Element, d.h.M = {m}, so ist klarerweisemdas Maximum vonM.

Angenommen alleM ⊆ T mit n Elementen haben ein Maximum. Hat nunM ⊆ Tgenaun + 1 Elemente und istm1 ∈ M, so hatM \ {m1} genaun Elemente und lautInduktionsvoraussetzung ein Maximumm2 ∈ M \ {m1}. Da 〈T,≤〉 eine Totalordnungist, gilt m1 ≤ m2 oderm1 ≥ m2. Im ersten Fall ist dannm2 das Maximum vonM undim zweiten istm1 das Maximum vonM.

Eine immer wieder verwendete Tatsache ist im folgenden Lemma vermerkt.

2.3.15 Lemma.Sei M⊆ N nicht endlich. Dann gibt es eine streng monoton wachsendeBijektionφ vonN auf M. Fur eine solche gilt immerφ(n) ≥ n.

Beweis. Sei g : M → M definiert durchg(s) = min{m ∈ M : m > s}, und seia = min M. Man beachte, dassg(s) fur alle s ∈ M definiert ist, da{m ∈ M : m > s}voraussetzungsgemaß niemals leer ist.

Nach dem Rekursionssatz gibt es eine eindeutige Abbildungφ : N→ M mit φ(1) =a = min M und so, dassφ(n+ 1) = g(φ(n)) = min{m ∈ M : m> φ(n)}.

Offensichtlich giltφ(n+ 1) > φ(n). Daraus folgt durch vollstandige Induktion, dassφ(l) > φ(n), wennl > n. Also istφ streng monoton wachsende und somit auch injektiv.

Durch vollstandige Induktion zeigt man auch leicht, dassφ(n) ≥ n fur allen ∈ N.Ware einm1 ∈ M nicht im Bild von φ, so ist klarerweisem1 > min M = φ(1).

Angenommenm1 > φ(n). Dann istm1 ∈ {m ∈ M : m > φ(n)} und wegenm1 ,

φ(n+ 1) = min{m ∈ M : m> φ(n)}mussm1 > φ(n+ 1).Es folgtφ(n) < m1 fur allen ∈ N, was aberφ(m1) ≥ m1 widerspricht.

2.4 Der Ring der ganzen Zahlen

Im Bereich der naturlichen Zahlen haben wir zuletzt Operationen+ und · definiert. Istm< n, so haben wir auchn−m∈ N definiert. Wir wollen nun aus den naturlichen Zah-len die ganzen ZahlenZ konstruieren, und die Operationen+ und· aufZ so fortsetzen,dass wir einen Ring〈Z,+, ·〉 erhalten. Die MengeZ zu definieren, ist kein Problem.

2.4.1 Definition. SeienN1 undN2 zwei disjunkte Kopien der naturliche Zahlen, undsei 0 ein Element, das in keiner dieser Mengen enthalten ist7. Wir definieren

Z := N1∪{0}∪N2.

7Man kann z.B. furN j einfach die MengeN × { j} hernehmen, und fur 0 das Element (1, 3)

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2.4. DER RING DER GANZEN ZAHLEN 27

Ist ϕ : N1 → N2 eine bijektive Abbildung wie in Korollar 2.3.5, so definieren wir eineAbbildung− : Z→ Z

−n =

ϕ(n) , falls n ∈ N1

0 , falls n = 0ϕ−1(n) , falls n ∈ N2

Schreiben wir nunN fur N1, so gilt

Z = −N∪{0}∪N.

Man erkennt unschwer, dass− eine Bijektion ist, die mit sich selber zusammengesetztdie Identitat ergibt, also eineInvolutionist.

Nun definieren wir die Operationen aufZ in der Art und Weise, wie wir sie derAnschauung nach erwarten.

2.4.2 Definition. Fur n ∈ N setzen wir sgn(n) := 1, sgn(−n) := −1, sgn(0)= 0 sowie|n| := n, | − n| := n und |0| := 0. Weiters sei+ : Z × Z→ Z definiert durch

p+ q :=

p+ q , p, q ∈ N−(|p| + |q|) , −p,−q ∈ N

p− |q| , p,−q ∈ N, p > −q−(|q| − p) , p,−q ∈ N, p < −q−(|p| − q) , −p, q ∈ N, − p > q

q− |p| , −p, q ∈ N, − p < q0 , q = −pp , q = 0q , p = 0

,

und · : Z × Z→ Z durch

p · q :=

|p| · |q| , q, p , 0, sgn(q) = sgn(p)−(|p| · |q|) , q, p , 0, sgn(q) = − sgn(p)

0 , q = 0∨ p = 0.

Sind p, q ∈ Z, so schreibt man wie schon zuvor furp+ (−q) meistp− q.

2.4.3 Satz.〈Z,+, ·〉 ist ein kommutativer Integritatsring mit Einselement. Esgilt also:

� Die Addition ist kommutativ und assoziativ,0 ist ein bzgl.+ neutrales Elementund −p ist das zu p∈ Z bzgl. + inverse Element. Also gelten(a1)-(a4) vonDefinition 2.1.1.

� Die Multiplikation ist kommutativ und assoziativ, und1 ist ein bzgl.· neutralesElement. Also gelten(m1),(m2),(m4) von Definition 2.1.1.

� Es gilt das Distributivgesetz.

� Aus p, 0∧ q , 0 folgt pq, 0 (Integritatseigenschaft).

Beweis.Seienp, q ∈ Z. Zunachst folgenp+ q = q+ p undp · q = q · p unmittelbar ausder Definition und eben der Tatsache, dass diese OperationenaufN kommutativ sind.

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28 KAPITEL 2. DIE REELLEN ZAHLEN

Ebenfalls unmittelbar aus der Definition sieht man, dassp+ 0 = p und p · 1 = p.Also ist 0 ein bezuglich+ und 1 ein bezuglich· neutrales Element. Genauso elementarverifiziert manp+ (−p) = 0 undp · q , 0, wennp undq beide, 0.

Es bleibt die Assoziativitat und das Distributivgesetz nachzuprufen. Das ist inder Tat muhsam und durch zahlreiche Fallunterscheidungenzu bewerkstelligen. Wirwollen daher nurr + (q+ p) = (r + q) + p im exemplarischen Fallr, q ∈ N, − p ∈ Nbetrachten:

Ist |p| > r + q, so folgt (r + q) + p = −(|p| − (r + q)), und nach (2.3) ist dieserAusdruck gleich−((|p| − q) − r). Wegen|p| − q > r und |p| > q folgt definitionsgemaß−((|p| − q) − r) = r + (−(|p| − q)) = r + (p+ q).

Im Falle |p| = r + q gilt einerseits (r + q) + p = 0 und andererseits wegen|p| > qund |p| − q = r (siehe (2.2)), dassr + (q+ p) = r + (−(|p| − q)) = 0.

Sei nun|p| < r + q. Dann folgt (r + q) + p = (r + q) − |p| =: k ∈ N. Also istk jeneZahl, sodass|p| + k = r + q.

Ist q > |p|, so gilt andererseitsr + (q+ p) = r + (q− |p|), und wegen den bekanntenRechenregeln aufN, |p| + (r + (q− |p|)) = r + q, alsok = r + (q+ p).

Wennq = |p|, so folgtr+(q+p) = r, und ebenfalls|p|+r = r+q, d. h.k = r+(q+p).Ist schließlichq < |p|, so folgtr + (q+ p) = r + (−(|p| − q)). Da |p| < r + q folgt

r > |p| − q, und somitr + (−(|p| − q)) = r − (|p| − q) =: l ∈ N. Das ist also jene Zahl,sodass (|p| − q) + l = r. Addiert man hierq und verwendet die Assoziativitat von+ aufN, so folgt|p| + l = r + q, alsol = k.

2.4.4 Bemerkung.In Integritatsringen gilt die Kurzungsregel:

m, 0, xm= ym⇒ y = x,

denn ausxm− ym= (x− y)m= 0 folgt ja x− y = 0.

Wir benotigen noch eine Totalordnung aufZ, welche≤ aufN erweitert.

2.4.5 Definition. Wir definieren furp, q ∈ Z

q < p⇔ p− q ∈ N undq ≤ p⇔ q < p∨ q = p. (2.5)

Man sieht leicht ein, dass mit≤ eine Totalordnung aufZ definiert ist, die≤ aufNerweitert, und die mit den Operationen+ und· vertraglich ist.

2.4.6 Bemerkung.Wenn man sich an die Definition eines angeordneten Korpers inDefinition 2.2.1 erinnert, so haben wir die Existenz einer TeilmengeP ⊆ K verlangt,die (p1) - (p3) erfullt. Genau diese Situation haben wir hier mitP = N, nur, dassZ keinKorper, sondern ein Ring ist.

Die von uns definierte Totalordnung≤ auf Z erfullt nun auch alle Eigenschaften,die fur die entsprechende Totalordnung auf einem angeordneten Korper gelten (vgl.Lemma 2.2.2). Ausgenommen sind nur die Eigenschaften, die sich auf die multiplikativInverse beziehen.

Die ganzen Zahlen sind eindeutig in dem Sinn, dass wennZ nebenZ eine weite-re Menge versehen mit einer Involution− : Z → Z, mit Operationen+, · und einer

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2.4. DER RING DER GANZEN ZAHLEN 29

Relation≤ ist, sodassZ eine KopieN der naturlichen Zahlen enthalt,Z geschriebenwerden kann als die disjunkte Vereinigung von−N, {0} undN, die Operationen+ und ·wie in Definition 2.4.2 durch die entsprechenden Operationen aufN (siehe Bemerkung2.3.9) definiert sind, und sodass≤ wie in (2.5) definiert ist, es eine eindeutige Bijektionφ : Z→ Z gibt, sodass

φ(−p) = −φ(p), φ(1) = 1, φ(n+ 1) = φ(n)+1, p ∈ Z, n ∈ N.

Um das zu zeige, setzt man einfach die Bijektionϕ aus Korollar 2.3.5 zu einerBijektion φ von Z auf Z gemaß der Forderungφ(−p) = −φ(p) fort. Die erhalteneBijektion Z→ Z ist mit+, ·,− und≤ vertraglich. Siehe dazu auch Bemerkung 2.3.9.

Wir haben im Abschnitt uber die naturlichen Zahlen fur eine Zahl x aus einemKorper ihre Potenzenxn, n ∈ N definiert (siehe Bemerkung 2.3.4). Das wollen wir aufZ ausdehnen.

2.4.7 Definition. Sei 〈K,+, ·〉 ein Korper. Fur eine ganze Zahlp und eine Zahlx ∈K, x , 0 definieren wir

xp =

xp , falls p ∈ N1 , falls p = 01

x−p , falls −p ∈ N.

Fur x ∈ K \ {0}, p, q ∈ Z gelten die aus der Schule bekannten Rechenregeln:

xpxq = xp+q, (xp)q = xpq, x−p =1xp. (2.6)

Den Beweis fur diese Rechenregeln fuhrt man mittels vollstandige Induktion furp, q ∈ N, und dann durch Fallunterscheidung fur den allgemeinen Fall p, q ∈ Z.

2.4.8 Lemma. Ist 〈K,+, ·,P〉 ein angeordneter Korper, so gilt fur n∈ N und x, y ≥ 0

x < y⇔ xn < yn,

und fur x, y > 0x < y⇔ x−n > y−n.

Beweis. Zunachst zeigt man leicht durch vollstandige Induktion und mit Hilfe von(p3), dass aus 0< t immer 0< tn folgt.

Ist x < y, so folgt im Fallex = 0 daherxn = 0 < yn. Ist 0 < x < y, so zeigt manxn < yn durch vollstandige Induktion:

Furn = 1 ist xn < yn offensichtlich. Giltxn < yn, so folgt aus Lemma 2.2.2 und derrekursiven Definition vonxn (siehe Bemerkung 2.3.4)

xn+1 = xn · x < yn · x < yn · y = yn+1.

Ist umgekehrtxn < yn, so mussx < y, da sonsty ≤ x, und aus dem eben bewiesenemyn ≤ xn folgte.

Die letzte Behauptung folgt sofort ausx < y⇔ x−1 > y−1 fur alle x, y > 0.❑

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30 KAPITEL 2. DIE REELLEN ZAHLEN

Also ist x 7→ xn eine streng monoton wachsende Funktionund somit injektiveFunktion vonP∪ {0} nachP∪ {0}. Wir werden spater sehen, dass diese Funktionen invollstandig angeordneten Korpern auch surjektiv sind.

Fur p ∈ Z, p < 0 ist x 7→ xp einestreng monoton fallende Funktionund somit eineinjektive Funktion vonP nachP.

Eine alternative Konstruktion von ZWir wollen in diesem Abschnitt einen alternativen Zugang zuden ganzen Zahlen vorstellen. Der Vorteil dieser vordergr¨undigaufwendigeren Methode ist, dass die Beweise der Rechengesetze struktureller und kurzer sind.

2.4.9 Definition. Sei∼⊆ (N × N)2 die Relation

(x, n) ∼ (y,m) :⇐⇒ x+m= y+ n .

2.4.10 Lemma. Die Relation∼ ist eineAquivalenzrelation.

Beweis.Die Reflexivitat und Symmetrie ist klar. Um zu zeigen, dass∼ transitiv ist, seien (x,n) ∼ (y,m) und (y,m) ∼ (z, k)gegeben. Dann giltx+m= y+ n undy+ k = z+m. Es folgt

(x+ k) +m= (x+m) + k = (y+ n) + k = (y+ k) + n = (z+m) + n = (z+ n) +m,

und wegen der Kurzungsregel inN daherx+ k = z+ n; also (x, n) ∼ (z, k).❑

2.4.11 Definition. Wir bezeichnen mitZ die Faktormenge (N × N)/∼.

Auf Z definieren wir algebraische Operationen+ und · . Die Vorgangsweise dazu ist, zunachst Addition undMultiplikation aufN × N zu definieren, und diese dann aufZ zu ubertragen.

+ :

{(N × N)2 → N × N

((x,n), (y,m)) 7→ (x+ y,n+m)

· :{

(N × N)2 → N × N((x,n), (y,m)) 7→ (xy+ nm, xm+ ny)

2.4.12 Lemma. Die Operationen+ und· aufN × N sind kommutativ, assoziativ und es gilt das Distributivgesetz.

Beweis.Seien (x,n), (y,m) ∈ N × N. Dann ist

(x, n) + (y,m) = (x+ y,n+m) = (y+ x,m+ n) = (y,m) + (x, n) ,

(x, n) · (y,m) = (xy+ nm, xm+ ny) = (yx+mn, yn+mx) = (y,m) · (x,n) .

Sei zusatzlich (z, k) ∈ N × N. Dann gilt

((x,n) + (y,m)

)+ (z, k) = (x+ y,n+m) + (z, k) =

((x+ y) + z, (n+m) + k

)=

=(x+ (y+ z),n+ (m+ k)

)= (x, n) +

((y,m) + (z, k)

).

Die Gultigkeit der Assoziativitat der Multiplikation sowie des Distributivgesetzes rechnet man ahnlich, aber deutlichmuhsamer, nach.

❑Um diese Operationen aufZ ubertragen zu konnen benotigen die Vertraglichkeit mit der Relation∼.

2.4.13 Lemma. Sind(x,n) ∼ (x, n) und(y,m) ∼ (y, m), so folgt, dass auch

(x,n) + (y,m) ∼ (x, n) + (y, m), (x,n) · (y,m) ∼ (x, n) · (y, m) .

Beweis.Seien (x,n) ∼ (x, n) und (y,m) ∼ (y, m) gegeben. Dann gilt

(x+ y) + (n+ m) = (x+ n) + (y+ m) = (x+ n) + (y+m) = (x+ y) + (n+m) ,

und wir sehen, dass (x,n) + (y,m) ∼ (x, n) + (y, m).

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2.4. DER RING DER GANZEN ZAHLEN 31

Um die Aussage fur· zu zeigen, betrachten wir zuerst (x,n) ∼ (x, n) und ein (y,m). Dann gilt

(xy+ nm) + (xm+ ny) = (x+ n)y+ (x+ n)m=

= (x+ n)y+ (x+ n)m= (xy+ nm) + (xm+ ny) ,

und wir erhalten (x,n) · (y,m) ∼ (x, n) · (y,m). Wegen der Kommutativitat von· folgt auch, dass fur (x,n) und (y,m) ∼ (y, m)stets (x, n) · (y,m) ∼ (x, n) · (y, m) gilt. Die Aussage fur· folgt nun aus der Transitivitat von∼ angewandt auf

(x, n) · (y,m) ∼ (x, n) · (y,m) ∼ (x, n) · (y, m) .

2.4.14 Definition. Auf Z seien zwei algebraische Operationen+ und · definiert, indem wir fura,b ∈ ZPaare (x,n), (y,m) ∈N × N so wahle, dass [(x, n)]∼ = a und [(y,m)]∼ = b, und dann

a+ b :=[(x,n) + (y,m)

]∼ , a · b :=

[(x,n) · (y,m)

]∼

setzen.

Dass durch diese Vorschrift tatsachlich zwei Funktionen wohldefiniert sind, verdanken wir gerade der Vertraglichkeits-aussage in Lemma 2.4.13.

Im nachsten Schritt definieren wir die Relation≤ aufZ. Dazu sei

(x,n) ≤ (y,m) : ⇐⇒ x+m≤ y+ n, (x, n), (y,m) ∈ N × N .

2.4.15 Lemma. Die Relation≤ auf N × N ist reflexiv, transitiv und total, dh.(x, n) ≤ (y,m) ∨ (y,m) ≤ (x,n) fur alle(x, n), (y,m) ∈ N ×N. Zudem gilt

(x,n) ≤ (y,m) und (y,m) ≤ (x,n) ⇐⇒ (x,n) ∼ (y,m). (2.7)

Außerdem folgt aus(x,n) ∼ (x, n) und(y,m) ∼ (y, m), dass

(x,n) ≤ (y,m) ⇐⇒ (x, n) ≤ (y, m) .

Beweis.Die Reflexivitat folgt unmittelbar aus der Definition. Sei (x,n) ≤ (y,m) und (y,m) ≤ (z, k). Dann giltx+m≤ y+ nundy+ k ≤ z+m, und wir erhalten

(x+ k) +m= (x+m) + k ≤ (y+ n) + k = (y+ k) + n ≤ (z+m) + n = (z+ n) +m.

Daraus folgt nunx+ k ≤ z+ n, d.h. (x,n) ≤ (z, k). Die Totalitat folgt aus der Tatsache, dass≤ eine Totalordnung aufN ist.Da (x,n) ≤ (y,m) und (y,m) ≤ (x, n) mit x + m = y + n gleichbedeutend ist, folgt (2.7). Die letzte Aussage folgt

unmittelbar aus (2.7) und der Transitivitat von≤ aufN × N.❑

Wegen der letzte Aussage von Lemma 2.4.15, ist folgende Definition unabhangig von den Reprasentanten der Rest-klassena bzw.b. Wir erhalten damit eine Totalordnung aufZ.

2.4.16 Definition. Seiena, b ∈ Z, a = [(x, n)]∼ ,b = [(y,m)]∼ . Dann schreiben wira ≤ b, falls (x,n) ≤ (y,m).

2.4.17 Satz. Die Addition und Multiplikation aufZ sind kommutativ, assoziativ und es gilt das Distributivgesetz. DasElement0 := [(1, 1)]∼ bzw.1 := [(2, 1)]∼ ist neutrales Element bezuglich+ bzw.·. Jedes Element besitzt ein additiv InversesElement. Fur· gilt die Kurzungsregel, d.h. ist a,b, c ∈ Z, c , 0, und gilt a· c = b · c, so folgt a= b.

Die Relation≤ ist eine Totalordnung. Fur alle a,b, c ∈ Z, a ≤ b, gilt auch a+ c ≤ b + c und, falls c≥ 0, aucha · c ≤ b · c. Umgekehrt, ist c> 0 und a· c ≤ b · c, so folgt a≤ b.

Die naturlichen ZahlenN sind inZ injektiv eingebettet vermoge der Abbildung

φ :

{N → Zx 7→ [(x+ 1,1)]∼

Diese Einbettung erhalt Addition, Multiplikation und Ordnung.

Beweis.Die Gultigkeit von Assoziativitat, Kommutativitat sowie Distributivitat folgt wegen Lemma 2.4.12.Seia = [(x, n)]∼ ∈ Z. Dann gilt

a+ 0 = [(x,n)]∼ + [(1,1)]∼ = [(x+ 1, n+ 1)]∼ = [(x, n)]∼ = a ,

sowiea · 1 = [(x,n)]∼ · [(2, 1)]∼ = [(2x+ n, x+ 2n)]∼ = [(x,n)]∼ = a ,

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32 KAPITEL 2. DIE REELLEN ZAHLEN

also ist 0 neutrales Element der Addition und 1 neutrales Element der Multiplikation. Setze ˆa := [(n, x)]∼, dann gilt

a+ a = [(x, n)]∼ + [(n, x)]∼ = [(x+ n,n+ x)]∼ = [(1, 1)]∼ = 0 ,

also hata ein additives Inverses, namlich ˆa.Wegen Lemma 2.4.15 ist≤ aufZ eine Totalordnung. Seiena, b, c ∈ Z, a = [(x, n)]∼ ,b = [(y,m)]∼ , c = [(z, k)]∼. Dann

gilta+ c ≤ b+ c ⇐⇒ (x+ z,n+ k) ≤ (y+ z,m+ k) ⇐⇒ x+ z+m+ k ≤ y+ z+ n+ k

⇐⇒ x+m≤ y+ n ⇐⇒ a ≤ b .

Sei nun angenommen, dassa < b, d.h. dassx+m< y+n, und dassc ≥ 0, d.h.z≥ k. Dann gibt est ∈ Nmit y+n = (x+m)+ t.Wegenz≥ k folgt tz≥ tk und daher auch (y+ n)z= (x+m)z+ tz≥ (x+m)z+ tk und schließlich

(x+m)k+ (y+ n)z≥ (x+m)z+ tk+ (x+m)k = (x+m)z+ (y+ n)k .

Also haben wir (xk+ nz) + (yz+mk) ≥ (xz+ nk) + (yk+mz), und das heißt geradea · c ≤ b · c.Sei umgekehrta · c ≤ b · c, d.h. nach obiger Rechnung (x+m)k+ (y+ n)z≥ (x+m)z+ (y+ n)k, undc > 0, d.h.z> k.

Angenommen es warea > b, d.h.x+m> y+ n. Dann gibt est ∈ Nmit (y+ n) + t = x+m. Damit erhalten wir

tk+ (y+ n)(k + z) ≥ tz+ (y+ n)(z+ k)

und daraustk ≥ tz und schließlich den Widerspruchk ≥ z. Also mussa ≤ b gelten. Die Kurzungsregel fur· folgt aus dergerade bewiesenen Kurzungsregel fur≤.

Die Injektivitat der Abbildungφ gilt, da (x+ 1,1) ∼ (y + 1, 1) geradex+ 2 = y+ 2 bedeutet, und damitx = y folgt.Außerdem gilt

φ(x) + φ(y) = [((x+ 1)+ (y+ 1), 1+ 1)]∼ = [((x+ y) + 1,1)]∼ = φ(x+ y) ,

φ(x) · φ(y) =[((x+ 1)(y+ 1)+ 1, (x+ 1)+ (y+ 1))

]∼ =[

(xy+ x+ y+ 1+ 1, x+ y+ 1+ 1)]∼ = [(xy+ 1,1)]∼ = φ(xy) ,

φ(x) ≤ φ(y) ⇐⇒ (x+ 1)+ 1 ≤ (y+ 1)+ 1 ⇐⇒ x ≤ y .

❑Folgendes Resultat liefert insbesondere, dass die hier konstruierten ganzen Zahlen eine Kopie der eingangs konstruier-

ten ganzen Zahlen sind.

2.4.18 Proposition. Versteht man die naturlichen Zahlen viaφ eingebettet inZ wie in Satz 2.4.17, so gilt

Z = −N∪{0}∪N,

wobei diese drei Mengen disjunkt sind. Dabei gilt p∈ N⇔ p > 0 und p∈ −N⇔ p < 0.Definieren wirsgn(x) = 0, wenn x= 0, sgn(x) = 1, wenn x∈ N, und sgn(x) = −1, wenn x∈ −N, und setzen

|p| = sgn(p)p, so gilt fur p,q ∈ Z

p+ q =

p+ q , p, q ∈ N−(|p| + |q|) , −p,−q ∈ N

p− |q| , p,−q ∈ N, p > −q−(|q| − p) , p,−q ∈ N, p < −q−(|p| − q) , −p, q ∈ N, − p > q

q− |p| , −p, q ∈ N, − p < q0 , q = −pp , q = 0q , p = 0

,

und

p · q =

|p| · |q| , q, p , 0, sgn(q) = sgn(p)−(|p| · |q|) , q, p , 0, sgn(p) = − sgn(p)

0 , q = 0∨ p = 0.

Schließlich gilt p< q⇔ q− p ∈ N und p≤ q⇔ (p = q∨ p < q).

Beweis.Ist [(x, n)]∼ ∈ Z, [(x, n)]∼ > 0 = [(1, 1)]∼, so gilt x+1 > n+1. Damit istx−n ∈ N, und wegen (x−n+1, 1) ∼ (x, n)folgt φ(x− n) = [(x, n)]∼. Umgekehrt ist fury ∈ N φ(y) = [(y+ 1,1)]∼ > [(1, 1)]∼ = 0.

Ist [(x,n)]∼ ∈ Z, [(x, n)]∼ < 0 = [(1, 1)]∼ , so folgt aus den Rechenregeln von Satz 2.4.17 0> −[(x, n)]∼ = [(n, x)]∼ .Aus dem schon Bewiesenen folgt−[(x, n)]∼ = −φ(n− x), wobein− x ∈ N. Umgekehrt ist fury ∈ N −φ(y) = [(1, y+ 1)]∼ <[(1, 1)]∼ = 0.

Also kann manNmit {p ∈ Z : p > 0} und−N mit {p ∈ Z : p < 0} identifizieren.

Z = −N∪{0}∪N,

folgt nun aus der Tatsache, dass≤ eine Totalordnung ist.Die restlichen Aussagen folgen aus der Definition von|.|, sgn(.) und der Tatsache, dassp < q⇔ 0 < q− p, siehe Satz

2.4.17.❑

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2.4. DER RING DER GANZEN ZAHLEN 33

Dividieren mit RestAusgerustet mit unserem Grundwissen uber die naturlichen und die ganzen Zahlen konnen wir nun in diesem Kapitel dasaus der Schule bekannteDividieren mit Restmathematisch rechtfertigen.

2.4.19 Satz. Sind m∈ N, n ∈ Z, so gibt es eindeutige Zahlen l∈ Z und r ∈ {0, . . . ,m− 1}8, sodass n= ml+ r. Dabei istn ≥ 0 genau dann, wenn l≥ 0.

Beweis.Sei zunachstn ∈ N∪{0} beliebig. Da die Menge allerl ∈ N∪{0}mit m· l +m> n nicht leer ist (n ist sicher in dieserMenge), hat sie ein Minimum (Variante von Satz 2.3.10). Istl = 0, so mussn ∈ {0, . . . ,m− 1}, und istl > 0, so folgt wegender Minimalitatml = m(l − 1)+m≤ n < ml+m. Also muss immern = ml+ r fur ein l ∈ N∪ {0} und einr ∈ {0, . . . ,m− 1}.

Ist nun auchn = ml+ r fur l ∈ N∪{0} undr ∈ {0, . . . ,m−1}, so folgtml+m> n und wegen der Minimalitatseigenschaftvon l auchl ≥ l. Andererseits giltml ≤ n, weshalb nichtl > l sein kann, da sonstn ≥ ml = ml +m(l − l) ≥ ml + m ware.Somit gibt es eindeutigel ∈ N ∪ {0} undr ∈ {0, . . . ,m− 1}, sodassn = ml+ r.

Furn < 0 ist−n−1 ≥ 0. Somit gibt es eindeutiges ∈ N∪{0}, t ∈ {0, . . . ,m−1}, sodass−n−1 = sm+t = (s+1)m+(t−m),und daher sodass−n = (s+ 1)m+ (t −m+ 1), bzw.n = −(s+ 1)m+ (−t+m−1). Setzen wirl = −(s+ 1) undr = −t+m− 1,so sehen wir, dassn = ml+ r fur ein eindeutigesl < 0 und ein eindeutigesr ∈ {0, . . . ,m− 1}.

2.4.20 Bemerkung.Die geraden (ungeraden) Zahlen sind genau alle ganzen Zahlen der Form 2k (2k+ 1) fur eink ∈ Z. AusSatz 2.4.19 folgt insbesondere, dass jede gegebene ganze Zahl gerade oder ungerade ist, wobei aus der Eindeutigkeitsaussagein Satz 2.4.19 folgt, dass sie nicht gleichzeitig gerade undungerade sein kann. Also giltZ = 2Z∪(2Z + 1). Entsprechendesgilt, wenn man 2 durch eine andere naturliche Zahlm ersetzt, wobei dann

Z = mZ∪(mZ + 1)∪ . . . ∪(mZ +m− 1).

2.4.21 Definition. Eine Zahlq ∈ N teilt eine Zahlp ∈ N, falls es einm ∈ N gibt, sodassmq= p. Wir schreibenq|p dafur.Teilt q die Zahlp nicht, so schreiben wirq ∤ p. Außerdem setzen wirp : q := m9.

Eine Zahlp ∈ N \ {1} heißtPrimzahl, wennp nur von 1 undp geteilt wird. Die Menge aller Primzahlen seiP.

2.4.22 Fakta.

Fallsq|p, so folgt ausmq= p und 1≤ m, dassq ≤ p, wobeiq = p genau dann, wennm= 1.

Um zu sehen, ob eine Zahlp eine Primzahl ist, genugt es somit zu uberprufen, dassq ∤ p fur alleq ∈ N, 1 < q < p.

Man sieht sofort, dass 2,3,5, . . . Primzahlen sind.

Ist n ∈ N \ {1} und M = {r ∈ N \ {1} : r |n}, so ist M nicht leer, da zumindestn ∈ M. Gilt M = {n}, so istndefinitionsgemaß eine Primzahl. Anderenfalls seim das kleinste Element vonM und k so, dasskm = n. Nun istm eine Primzahl, da sonstm = pq mit 1 < p, q < m, und weiterp(qk) = n. Es warep ∈ M im Widerspruch zurMinimalitat vonm.

Insbesondere wird jede Zahl inN \ {1} von einer Primzahl geteilt.

2.4.23 Lemma. Seien a,b ∈ N und p∈ P. Gilt p|(ab), so folgt p|a∨ p|b.

Beweis.SeiT ⊆ P die Menge aller Primzahlen, sodass die Aussage fur gewissea,b ∈ N falsch ist. Wir bringen die AnnahmeT , ∅ auf einen Widerspruch.

Sei alsoT , ∅ und p die kleinste Zahl inT (siehe Satz 2.3.10). Somit gibt esa, b ∈ N mit p ∤ a∧ p ∤ b, aberp|(ab),bzw. pn= ab fur ein n ∈ N. Daher ist

S = {n ∈ N : ∃a,b ∈ N : p ∤ a∧ p ∤ b∧ pn= ab},

die Menge aller solchenn nicht leer. Somit hat auch diese Menge ein Minimums. Seienc, d ∈ N, sodassp ∤ c, p ∤ d undps = cd. Aus den ersten beiden Tatsachen folgtc,d , p, c,d , 1, und daraus zusammen mit der Tatsache, dassp einePrimzahl ist, folgts> 1.

Nun mussc < p sein, da sonstc − p ∈ N und damitp(s− d) = (c − p)d, wass− d ∈ N implizieren und somit derMinimalitat von swidersprechen wurde. Genauso giltd < p.

Daraus schließen wir wegenps= cd auf s< p. Gemaß Fakta 2.4.22 gibt es eine Primzahlp′ ≤ s< p, sodassp′ |s, d.h.s = p′s′ fur ein s′ ∈ N, s′ < s. Somit folgt p′(ps′) = cd, alsop′ |(cd). Wegen der Minimalitat vonp mussp′ |c oderp′ |d.O.B.d.A. seic = c′p′ , c′ ∈ N, womit

p′(ps′) = p′(c′d) und darausps′ = c′d

folgt. Nun widerspricht das aber ebenfalls der Minimalitat von s.❑

2.4.24 Satz. Ist n ∈ N \ {1}, so gibt es eindeutige Primzahlen p1, . . . , pm ∈ P und Exponenten e1, . . . ,em ∈ N, sodass

n = pe11 · . . . p

emm . (2.8)

Diese Zerlegung heißtPrimfaktorzerlegung.

8{0, . . . ,m− 1} steht fur{k ∈ N ∪ {0} : 0 ≤ k < m}9Da wir in Z kurzen durfen, istp : q eindeutig definiert.

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34 KAPITEL 2. DIE REELLEN ZAHLEN

Beweis.Wir zeigen zuerst die Existenz einer solche Zerlegung. Furn = 2 ist diese klar.Angenommen fur einn > 2 gibt es zu allenk < n, k ≥ 2 eine solche Zerlegung. Nach Fakta 2.4.22 gibt es eine Primzahl

p ≤ n mit p|n. Ist n = p, so haben wir unsere Zerlegung. Istp < n, so folgt n = (n : p)p, wobei nach Voraussetzungn : p (< n) eine solche Zerlegung hat. Somit hat auchn eine solche Zerlegung. Nach einer Variante des Prinzips dervollstandigen Induktion gibt es eine Primfaktorzerlegung fur allen ∈ N \ {1}.

Die Eindeutigkeit ist furn = 2 wieder klar, da alle Produkte der Form (2.8) einen Wert> 2 ergeben, außer furm = 1unde1 = 1, p1 = 2.

Angenommen mit einemn > 2 ist die Primfaktorzerlegung eindeutig fur allek < n, k ≥ 2, und angenommen

qf11 · . . .q

fll = n = p

e11 · . . . p

emm ,

mit l,m ∈ N unde1, . . . , em, f1, . . . , fl ∈ N sowiep1, . . . , pm,q1, . . . , ql ∈ P. Insbesondere giltq1|pe11 · . . . p

emm . Nach Lemma

2.4.23 mussq1|pj und daherq1 = pj fur ein j ∈ {1, . . . ,m}. Durch Umnummerierung konnen wirq1 = p1 annehmen. Esfolgt

qf1−11 · . . .qfl

l = n : q1 = pe1−11 · . . . pem

m .

Ist n : q1 = 1, so mussn = p1 = q1 und l = 1 = m,e1 = 1 = f1. Sonst folgt wegen 1< n : q1 < n aus unserer Annahme,

dass auchl = m undej = f j sowiepj = qj , j = 1, . . . , l.❑

2.5 Der Korper Q

Oben haben wir den kommutativen Integritatsring〈Z,+, ·〉 konstruiert. Diesen werdenwir nun zu einem angeordneten Korper, dem Korper der rationalen Zahlen erweitern,und damit sehen, dass es zumindest einen angeordneten Korper gibt.

Der Grundgedanke der folgenden Konstruktion entspringt der Tatsache, dass ineinem Korperp1

q1=

p2

q2genau dann, wennp1q2 = p2q1.

2.5.1 Definition. Sei∼⊆ (Z × N)2 die Relation

(x, n) ∼ (y,m) :⇐⇒ xm= yn.

2.5.2 Lemma. Die Relation∼ ist eineAquivalenzrelation.

Beweis.Die Reflexivitat und Symmetrie sind offensichtlich. Sei nun (x, n) ∼ (y,m) und(y,m) ∼ (z, k) dann gilt alsoxm= ynundyk= zm. Es folgt

(xk)m= (xm)k = (yn)k = (yk)n = (zm)n = (zn)m,

und da〈Z,+, ·〉 ein Integritatsring ist, gilt die Kurzungsregel, und wirerhaltenxk= zn,d.h. (x, n) ∼ (z, k).

2.5.3 Definition. Wir bezeichnen mitQ die Menge (Z×N)/∼ aller Aquivalenzklassen.Q heißt der Korper derrationalen Zahlen.

Um aufQ die algebraischen Operationen+ und · zu definieren, definieren wirzunachst Addition und Multiplikation aufZ × N, und ubertragen diese dann durchFaktorisieren aufQ.

+ :

{(Z × N)2 → Z × N

((x, n), (y,m)) 7→ (xm+ yn, nm)

· :{

(Z × N)2 → Z × N((x, n), (y,m)) 7→ (xy, nm)

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2.5. DER KORPERQ 35

Die Motivation fur unsere Definition ergibt sich aus den Regeln der Bruchrechnung.

xn+

ym=

xmnm+

ynmn=

xm+ ynnm

,xn· y

m=

xynm

.

2.5.4 Lemma. Fur die Verknupfungen+, · gilt das Kommutativ-, Assoziativ- und Dis-tributivgesetz.

Beweis.Die Gesetze gelten, da man sie leicht auf die Gultigkeit dieser Gesetze aufZzuruckfuhrt. Zum Beispiel gilt das Assoziativgesetz wegen

((x, n) + (y,m)) + (z, k) = (xm+ yn, nm) + (z, k) = ((xm+ yn)k+ z(nm), (nm)k) =

(x(mk) + (yk+ zm)n, n(mk)) = (x, n) + ((y,m) + (z, k)).

UmQ anordnen zu konnen, definieren wir noch

sgn :

{(Z × N) → Z

(x, n) 7→ sgn(x).

2.5.5 Lemma. Sind(x, n) ∼ (x, n) und(y,m) ∼ (y, m), so folgtsgn((x, n)) = sgn((x, n))und

(x, n) + (y,m) ∼ (x, n) + (y, m), (x, n) · (y,m) ∼ (x, n) · (y, m) .

Beweis. Seien (x, n) ∼ (x, n) und (y,m) gegeben. Zunachst folgt ausxn = xn undn, n ∈ N, dass sgn((x, n)) = sgn(x) = sgn(x) = sgn((x, n)). Weiters gilt

(xm+ yn)nm= xmnm+ ynnm=

= (xn− xn)︸ ︷︷ ︸=0

mm+ xnmm+ ynnm= (xm+ yn)nm,

also (x, n) + (y,m) ∼ (x, n) + (y,m). Wegen der Kommutativitat folgt daraus mit ver-tauschter Notation, dass fur ( ˆx, n) und (y,m) ∼ (y, m) stets auch ( ˆx, n) + (y,m) ∼(x, n) + (y, m). Wegen der Transitivitat folgt

(x, n) + (y,m) ∼ (x, n) + (y, m) .

Bei der Multiplikation geht man analog vor. Seien (x, n) ∼ (x, n) und (y,m) gegeben.Dann gilt

xynm= (xn− xn)︸ ︷︷ ︸=0

ym+ xnym= xynm,

also (x, n) ·(y,m) ∼ (x, n) ·(y,m). Wegen der Kommutativitat folgt daraus mit vertausch-ter Notation, dass fur ( ˆx, n) und (y,m) ∼ (y, m) stets auch ( ˆx, n) · (y,m) ∼ (x, n) · (y, m).Wegen der Transitivitat folgt schließlich

(x, n) · (y,m) ∼ (x, n) · (y, m) .

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36 KAPITEL 2. DIE REELLEN ZAHLEN

2.5.6 Definition. Auf Q seien zwei algebraische Operationen+ und · dadurch defi-niert, dass wir fura, b ∈ Q Paare (x, n), (y,m) ∈ Z×Nmit [(x, n)]∼ = a und [(y,m)]∼ = bwahlen, und sgn(a) := sgn((x, n)) sowie

a+ b :=[(x, n) + (y,m)

]∼ , a · b :=

[(x, n) · (y,m)

]∼

setzen.

Wegen Lemma 2.5.5 hangen sgn(a), a + b unda · b nicht von den gewahlten Re-prasentanten (x, n) bzw. (y,m) ab.

2.5.7 Satz.Setzt man nun P= {a ∈ Q : sgn(a) = 1}, so ist〈Q,+, ·,P〉 ist ein angeord-neter Korper.

� Dabei ist[(0, 1)]∼ das neutrale Element bzgl.+,

� [(1, 1)]∼ das neutrale Element bezuglich·.

� Zu [(x, n)]∼ ∈ Q ist [(−x, n)]∼ das additiv Inverse, und

� zu [(x, n)]∼ ∈ Q \ {0} ist [(sgn(x)n, |x|)]∼ das multiplikativ Inverse.

� Außerdem gilt[(x, n)]∼ ≤ [(y,m)]∼ ⇔ xm≤ ny. (2.9)

� Die ganzen ZahlenZ sind inQ eingebettet durch

φ :

{Z → Qx 7→ [(x, 1)]∼

Diese Einbettung erhalt Addition, Multiplikation und Ordnung.

� Schließlich hatQ die Eigenschaft, dass die Teilmengeφ(N) vonQ keine obereSchranke hat.

Beweis.Die Gultigkeit der Rechenregeln wie Kommutativitat, Assoziativitat und Dis-tributivitat ergibt sich aus den entsprechenden Regeln f¨ur+ und· aufZ × N.

Fura = [(x, n)]∼ ∈ Q gilt

a+ [(0, 1)]∼ = [(x+ 0, n · 1)]∼ = a, a · [(1, 1)]∼ = [(x · 1, n · 1)]∼ = a .

Weiters hat man furb := [(−x, n)]∼

a+ b = [(xn− xn, nn)]∼ = [(0, nn)]∼ = [(0, 1)]∼ = 0 .

Sei nuna , 0, d.h. (x, n) / (0, 1) oder aquivalentx , 0. Mit c := [(sgn(x)n, |x|)]∼ folgtac= [(sgn(x)xn, n|x|)]∼ = [(1, 1)]∼.

Wegen sgn([(−x, n)]∼) = sgn(−x) = − sgn([(x, n)]∼) und sgn([(x, n)]∼) = 0⇔ x =0⇔ [(x, n)]∼ = [(0, 1)]∼ gilt fur a ∈ Q

a ∈ P ⇔ sgn(a) = 1a ∈ {0} ⇔ sgn(a) = 0a ∈ −P ⇔ sgn(a) = −1

Daraus folgt sofortQ = P∪{0}∪ − P,

Page 43: ANA1.pdf

2.5. DER KORPERQ 37

wobei das eine Vereinigung paarweiser disjunkter Mengen ist.Aus sgn([(x, n)]∼+ [(y,m)]∼) = sgn(xm+yn) und sgn([(x, n)]∼ · [(y,m)]∼) = sgn(xy)

erhalten wir, dassa, b ∈ P die Tatsachea + b, a · b ∈ P nach sich zieht. Somit ist〈Q,+, ·,P〉 ein angeordneter Korper, und wir haben damit eine Totalordnung≤ aufQ.(2.9) folgt aus

[(y,m)]∼ − [(x, n)]∼ = [(yn− xm,mn)]∼ ∈ {0} ∪ P⇔ sgn(yn− xm) ≥ 0⇔ xm≤ yn.

Betrachte nun die Abbildungφ : Z → Q. Diese ist injektiv, denn (x, 1) ∼ (y, 1) giltgenau dann, wennx = y. Dassφ die algebraischen Operationen erhalt, rechnet manleicht nach. Die Vertraglichkeit mit der Ordnung gilt, da wegen (2.9)

x ≤ y⇔ x · 1 ≤ y · 1⇔ [(x, 1)]∼ ≤ [(y, 1)]∼ ⇔ φ(x) ≤ φ(y).

Angenommen [(x, n)]∼ ist eine obere Schranke vonφ(N), alsomn ≤ x fur allem ∈ N. Das ist aber offensichtlich falsch, wennx ≤ 1 und man zum Beispielm = 2setzt. Istx > 1, so erhalt man mitm= x2 den Widerspruchx ≤ xn≤ 1.

Wir werden im Folgenden fur die rationale Zahl [(x, n)]∼ stets das Symbolxn schrei-ben. Dieses Symbol druckt tatsachlich die Division vonx durchn aus, denn man hat

[(x, 1)]∼ = [(x, n)]∼ · [(n, 1)]∼

Wir sehen insbesondere, dass jede rationale Zahl der Quotient von zwei ganzen Zahlenist.

Nun wollen wir zeigen, dass jeder angeordnete Korper die rationalen Zahlen, unddamit insbesondere auch die ganzen Zahlen, enthalt.

2.5.8 Proposition.Sei〈K,+, ·,P〉 ein angeordneter Korper. Dann gibt es eine eindeuti-ge Abbildungφ : Q→ K, die nicht identisch gleich0K ist, und welche mit der Additionund Multiplikation vertraglich ist. Diese Abbildung ist dann injektiv und auch mit−sowie mit den Ordnungen< und≤ vertraglich.

Beweis.

Fur n ∈ N und x ∈ K haben wir im Abschnitt uber die naturlichen Zahlen eineFunktionn 7→ nx von N nachK rekursiv durch 1x = x und (n′)x = nx+ xdefiniert; siehe Bemerkung 2.3.4. Nun nehmen wir furx ∈ K das multiplikativneutrale Element 1K von K, und bezeichnen mitφ : N → K die entsprechendeFunktionn 7→ n1K, welche offensichtlicherweiseφ(1) = 1K und φ(n + 1) =φ(n) + 1K erfullt.

Mit vollstandiger Induktion nachmzeigt man leicht, dassφ(n+m) = φ(n)+φ(m)undφ(n ·m) = φ(n) · φ(m) fur allen,m∈ N.

Wegen 1K ∈ P (siehe Lemma 2.2.2) sieht man ebenfalls mit vollstandigerInduk-tion, dassφ(n) ∈ P fur allen ∈ N. Insbesondere gilt immerφ(n) , 0K .

Nun setzen wirφ aufZ dadurch fort, dass wirφ(0) = 0K undφ(−n) = −φ(n), n ∈N setzen. Man beweist durch Fallunterscheidungen mit der in Definition 2.4.2angegebenen Form von+ und · aufZ auf elementare Art und Weise, dass dieseFortsetzung die Addition und Multiplikation erhalt.

Wegen (p, q ∈ Z)

p < q⇔ q− p ∈ N⇔ φ(q− p) = φ(q) − φ(p) ∈ P⇔ φ(p) < φ(q)

ist φ auch mit der Ordnung vertraglich.

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38 KAPITEL 2. DIE REELLEN ZAHLEN

Da ganzQ von den Quotientenxn mit x ∈ Z, n ∈ N, ausgeschopft wird, lasst sichφ durch die Vorschrift

φ

( xn

):=

φ(x)φ(n)

zu einer Abbildung vonQ nachK fortsetzen. Man beachte hier, dass ausxn =

xn

folgt, dassxn = xnund daherφ(x)φ(n) = φ(x)φ(n) bzw. φ(x)φ(n) =

φ(x)φ(n) . Also ist diese

Abbildung wohldefiniert.

Diese Fortsetzung erhalt ebenfalls die Addition und Multiplikation, denn furxn ,

ym ∈ Q gilt

φ

( xn+

ym

)= φ

( xm+ ynnm

)=φ(xm+ yn)φ(nm)

=

φ(x)φ(m) + φ(y)φ(n)φ(n)φ(m)

=φ(x)φ(n)

+φ(y)φ(m)

= φ

( xn

)+ φ

( ym

),

φ

( xn· y

m

)= φ

( xynm

)=φ(xy)φ(nm)

=

φ(x)φ(y)φ(n)φ(m)

=φ(x)φ(n)

· φ(y)φ(m)

= φ

( xn

)· φ

( ym

).

Sie erhalt auch die Ordnung, denn es gilt

xn<

ym⇐⇒ xm< yn ⇐⇒ φ(x)φ(m) < φ(y)φ(n) ⇐⇒ φ(x)

φ(n)<φ(y)φ(m)

.

Es folgt insbesondere, dassφ injektiv ist.

Um die Eindeutigkeit vonφ nachzuweisen, seiφ eine weitere mit Addition undMultiplikation vertragliche Abbildung, sodassφ(x) , 0 fur zumindest einx ∈ Q.Aus φ(x)φ(1) = φ(x1) = φ(x) folgt φ(1) = 1K , und ausφ(0)+ φ(0) = φ(0+ 0) =φ(0) folgt φ(0) = 0K .

Durch vollstandige Induktion zeigt man, dassφ(n) = φ(n) fur n ∈ N. Ausφ(−n)+φ(n) = φ(0) = 0K = φ(−n) + φ(n) folgt φ(p) = φ(p), p ∈ Z. Schließlich folgt ausφ( p

n )φ(n) = φ(p) = φ(p) = φ( pn )φ(n), dassφ = φ.

Das letzte Resultat zeigt uns, dass die rationalen Zahlen ineinem gewissen Sinnder kleinste angeordnete Korper ist.

Wenn wir im Folgenden von den naturlichen (ganzen, rationalen) Zahlen als Teil-menge eines angeordneten Korpers sprechen, so wollen wir darunter die gemaß Pro-position 2.5.8 existierende isomorphe Kopieφ(N) = {n1k : n ∈ N}, φ(Z), bzw.φ(Q)verstehen und nicht mehr z.B. zwischenn undn · 1K unterscheiden.

2.5.9 Bemerkung.Die am Beginn vom Beweis von Proposition 2.5.8 konstruierteEinbettungφ der naturlichen Zahlen ineinen angeordneten Korper lasst sich auch auf beliebigenKorpernK durchfuhren.

Dabei kann es passieren, dassφ(n) = 0K fur ein n ∈ N. Das kleinste derartigen ist dann eine Primzahl und heißt dieCharakteristikdes KorpersK.

Ist hingegen immerφ(n) , 0K , so sagt man, dassK von Charakteristik Null ist. Insbesondere sind angeordnete Korpervon Charakteristik Null. Man sieht leicht ein, dass dannφ injektiv ist, und man denselben Beweis wie den von Proposition2.5.8 hernehmen kann, um zu zeigen, dass sichQ injektiv in jeden Korper der Charakteristik Null einbetten lasst.

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2.6. ARCHIMEDISCH ANGEORDNETE KORPER 39

2.5.10 Bemerkung.Die angegebene Art und Weise, ausZ die rationalen Zahlen zu konstruieren, lasst sich auf beliebigekommutative IntegritatsringeR ausdehnen. Dazu betrachtet manR× (R \ {0}) und dieAquivalenzrelation∼ mit (x, a) ∼(y, b)⇔ xb= yadarauf.

Die in diesem Abschnitt gebrachten Ergebnisse (samt Beweise) gelten sinngemaß auch in dieser allgemeineren Si-tuation, wobei man hier i.A. keine sgn-Funktion hat, und wobei das multiplikativ Inverse zu [(x,n)]∼ genau [(n, x)]∼ ist.(R× (R\ {0}))/∼ ist dann ein Korper (Quotientenkorpervon R), aber i.A. kein angeordneter Korper.

Wendet man diese Konstruktion aufZ an, so erhalt man wiederQ.

2.6 Archimedisch angeordnete Korper

2.6.1 Definition. Sei〈K,+, ·,P〉 ein angeordneter Korper. Dann heißtK archimedischangeordnet, wennN als Teilmenge vonK nicht nach oben beschrankt ist.

In Satz 2.5.7 haben wir gesehen, dass die rationalen Zahlen archimedisch ange-ordnet sind. Wir werden auch sehen, dass die reellen Zahlen archimedisch angeordnetsind.

2.6.2 Beispiel.Die Eigenschaft, dass〈K,+, ·,P〉 ein archimedisch angeordneter Korperist, ermoglicht es uns etwa das Infimum von Mengen wie

M =

{1n

: n ∈ N}

zu berechnen. Der Vermutung nach ist infM = 0.Um das zu beweisen, sei zunachst bemerkt, dass 0 offensichtlich eine untere

Schranke vonM ist. Wareǫ > 0 eine weitere untere Schranke vonM, d.h. 0< ǫ <1n , n ∈ N, so folgten < 1

ǫ, was aber der Eigenschaft vonK, archimedisch angeordnet

zu sein, widerspricht.

In archimedisch angeordneten Korpern gilt der folgende f¨ur die spater zu entwi-ckelnde Konvergenztheorie wichtige

2.6.3 Satz.Sei〈K,+, ·,P〉 ein archimedisch angeordneter Korper. Sind x, y ∈ K, x < y,dann existiert p∈ Q mit x< p < y 10.

Beweis.Seien zunachstx, y ∈ K mit 0 ≤ x < y gegeben. Dann isty− x > 0 und damitauch 1

y−x > 0. DaK archimedisch angeordnet ist, gibt es einn ∈ N mit n > 1y−x und

dahern(y− x) > 1.Nach Satz 2.3.10 hat{k ∈ N : k > nx} ein Minimum, und somit gibt es eine kleinste

naturliche Zahlm ∈ N, sodassm > nx. Ist m > 1, so folgt aus der Wahl vonm, dassm− 1 ≤ nx. Ist m= 1, so folgt gemaß unserer Voraussetzungm− 1 = 0 ≤ nx. Also giltimmerm− 1 ≤ nx< m. Kombiniert man diese Ungleichung mitn(y− x) > 1, so folgt

nx< m≤ nx+ 1 < ny,

und damitx < mn < y.

Ist schließlichx < 0, so konnen wir eink ∈ N wahlen mitk ≥ |x|, daN ja nichtnach oben beschrankt ist. Es folgt 0≤ x + k < y + k, und nach dem eben bewiesenenx+ k < m

n < y+ k. Nun ist mn − k eine rationale Zahl mitx < m

n − k < y.❑

10Diese Aussage nennt man auch dieDichteeigenschaftvonQ in K.

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40 KAPITEL 2. DIE REELLEN ZAHLEN

2.6.4 Bemerkung.Da man obigen Satz induktiv immer wieder anwenden kann, siehtman, dass zwischen zwei Zahlen sogar unendlich viele rationale Zahlen liegen.

Ist Q ( K, so kann man mit einer linearen Transformation sogar zeigen, dass eseine nicht rationale Zahl zwischen 0 und 1 gibt, und weiters unter Verwendung vonSatz 2.6.3, dass es zwischen zwei Zahlen vonK auch eine nicht rationale Zahl gibt.

2.7 Das Vollstandigkeitsaxiom

Wie wir spater sehen werden, ist die Vollstandigkeit die Eigenschaft der reellen Zahlen,die sie unverwechselbar von anderen angeordneten Korpernunterscheidet.

2.7.1 Definition. Sei 〈K,+, ·,P〉 ein angeordneter Korper. Dann heißtK vollstandigangeordnet, wenn jede nach oben beschrankte Menge ein Supremum hat. Diese Eigen-schaft nennen wir (s).

Wie schon im vorhergehenden Abschnitt erwahnt, gilt

2.7.2 Lemma. Ist 〈K,+, ·,P〉 ein vollstandig angeordneter Korper, so ist er archime-disch angeordnet.

Beweis.Ware namlichN nach oben beschrankt, so existierte wegen (s)

η = supN.

Sei n beliebig inN. Mit n gehort aber auchn + 1 zuN. Also gilt n + 1 ≤ η, undsomit n ≤ η − 1. Daher istη − 1 eine obere Schranke vonN, was den Widerspruchη − 1 ≥ supN = η nach sich zieht.

Nun gilt folgender wichtige Satz, dessen Beweis wir spater(am Ende dieses Ab-schnittes bzw. im Kapitel 4) bringen werden.

2.7.3 Satz.Es gibt einen vollstandig angeordneten Korper〈L,+, ·, L+〉.Ist 〈K,+, ·,P〉 ein weiterer vollstandig angeordneter Korper, so gibt eseinen ein-

deutigen Isomorphismusφ : L→ K, also eine Bijektion, sodassφ mit den Operationenvertraglich ist und sodassφ(L+) = P.

Wenn wir ab jetzt von den reellen Zahlen sprechen, dann sei immer einvollstandig angeordneter Korper〈L,+, ·, L+〉 gemeint. Wir schreiben im Folgenden im-mer 〈R,+, ·,R+〉 dafur. Wegen Satz 2.7.3 ist〈R,+, ·,R+〉 bis auf Kopien eindeutig. Essei aber bemerkt, dass diese Eindeutigkeit fur die restlichen Aussagen dieses Kapitelsund auch fur Kapitel 3 unerheblich sind – diese also in jedemvollstandig angeordnetenKorper gelten.

2.7.4 Bemerkung.Zusammenfassend sei nochmals betont, dass die reellen ZahlenReinen vollstandig angeordneter Korper bilden, der die K¨orperaxiome (a1)-(a4), (m1)-(m4), (d), die Axiome eines angeordneten Korpers (p1)-(p3) und das Vollstandig-keitsaxiom (s) erfullt.

Alle bisher gezeigten Rechenregeln und Eigenschaften vonR lassen sich alle ausdiesen Axiomen herleiten, bzw. haben wir hergeleitet. Auchdie im Folgenden aufge-baute Analysis setzt nur auf diese Axiome auf.

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2.7. DAS VOLLSTANDIGKEITSAXIOM 41

Die Vollstandigkeit vonR garantiert zum Beispiel, dass esn-te Wurzeln von nicht-negativen Zahlen gibt.

2.7.5 Satz.Sei x∈ R, x ≥ 0, und n∈ N. Dann existiert genau eine Zahl y∈ R, y ≥ 0,sodass yn = x.

Beweis. Im Fall n = 1 ist die Aussage trivial. Sei alson ≥ 2.Die Eindeutigkeit vony folgt unmittelbar aus Lemma 2.4.8, da aus 0≤ y1 < y2

immeryn1 < yn

2 folgt. Somit konnen nicht beide der Gleichungyn = x genugen.Zur Existenz: Istx = 0, so ist klarerweiseyn = x fur y = 0. Im Fall x > 0 sei

E := {t ∈ R : t > 0, tn < x}.

Diese Menge ist nicht leer, denn furs= x1+x gilt 0 < s< min(x, 1) und dahersn < s<

x; alsos ∈ E.Fur τ := 1 + x gilt τ > 1 und daherτn > τ > x. Aus t ≥ τ folgt danntn ≥ τn > x

und damitt < E. Also mussτ eine obere Schranke vonE sein.DaR vollstandig angeordnet ist, existierty := supE. Wegen 0< x

1+x ∈ E ist sichery > 0. Wir zeigen im Folgenden, dassyn = x, und zwar indem wir die beiden anderenMoglichkeitenyn < x undyn > x ausschließen.

Dazu benotigen wir, dass die fur beliebige Elementea, b ∈ R geltende und mitvollstandiger Induktion nachn zu beweisende Gleichung

bn − an = (b− a)(bn−1 + bn−2a+ . . . + ban−2 + an−1) . (2.10)

Fur 0< a < b erhalten wir daraus die Abschatzung

bn − an < (b− a)nbn−1 . (2.11)

Angenommenyn < x, so gibt es gemaß Satz 2.6.3 einǫ ∈ Qmit

0 < ǫ < min

(x− yn

n(y+ 1)n−1, 1

).

Setzen wir in (2.11)a = y undb = y+ ǫ, so folgt

(y+ ǫ)n − yn < ǫn(y+ ǫ)n−1 < ǫn(y+ 1)n−1 < x− yn .

Also gilt (y+ ǫ)n < x und dahery+ ǫ ∈ E im Widerspruch zuy = supE.Wareyn > x, so setze man

δ :=yn − xnyn−1

.

Dann gilt 0< δ < yn < y.

Wir zeigen, dassy− δ eine obere Schranke vonE ist. Ware dem nicht so, dann giltt > y− δ fur ein t ∈ E. Aus (2.11) folgt aber mitb = y, a = (y− δ)

yn − tn < yn − (y− δ)n < δnyn−1 = yn − x .

Also tn > x, und daher der Widersprucht < E.Die Tatsache, dassy−δ eine obere Schranke vonE ist, widerspricht abery = supE.

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42 KAPITEL 2. DIE REELLEN ZAHLEN

2.7.6 Definition. Die nach obigem Satz eindeutig bestimmte Zahly ≥ 0, die n-teWurzelvon x, schreibt man auch alsn

√x oderx

1n .

2.7.7 Bemerkung.Man betrachte die Funktion{R+ ∪ {0} → R+ ∪ {0}

y 7→ yn .

Gemaß Lemma 2.4.8 ist diese Funktion streng monoton wachsend und daher injektiv.Zu gegebenemx ist y = n

√x jene Zahl, sodassyn = x. Also isty 7→ yn auch surjektiv

als Funktion vonR+ ∪ {0} nachR+ ∪ {0}. Sie ist also bijektiv und ihre Umkehrfunktionist genaux 7→ n

√x. Wegen Lemma 2.4.8 ist auchx 7→ n

√x streng monoton wachsend.

2.7.8 Bemerkung.Nun sehen wir auch, dassR nicht nur aus rationalen Zahlen bestehenkann, alsoQ ( R gilt. Ware namlich

√2 =

pq∈ Q, (2.12)

so kann manp, q teilerfremd wahlen, d.h. es gibt keink ∈ N \ {1}, welchesp und qteilt11. Insbesondere ist nur hochstens eine der Zahlenp oderq gerade. Ausquadrierenund mitq2 Multiplizieren in (2.12) ergibt 2q2 = p2. Da eine Zahl genau dann geradeist, wenn ihr Quadrat es ist, folgt, dassp gerade und damitq ungerade ist; siehe Satz2.4.24. Schreibt manp = 2m, so folgt 2q2 = 4m2, und damitq2 = 2m2. Wir erhaltendaraus den Widerspruch, dass auchq gerade sein musste.

2.7.9 Definition. Ist x > 0 und istr ∈ Q dargestellt in der Formr = pq mit p ∈ Z, q ∈ N,

so definieren wirxr :=

(q√

x)p.

Da die Darstellung einer rationalen Zahl als Bruch nicht eindeutig ist, mussen wirnachweisen, dass die Definition vonxr nicht von der Wahl vonp, q abhangt. Dazubrauchen wir

2.7.10 Lemma. Sind x> 0, z > 0 und p∈ Z, q ∈ N, so gilt q

√1x =

1q√x

, q√

xz= q√

x q√

zsowie

( q√

x)p =q√xp. (2.13)

Beweis. q

√1x =

1q√x

folgt aus ( 1q√x

)q = 1( q√x)q =

1x und der Tatsache, dass nach Satz 2.7.5

q

√1x die eindeutige Losungy vonyq = 1

x ist.

Wegen (q√

x q√

z)q = ( q√

x)q( q√

z)q = xzmuss q√

x q√

zmit q√

xz ubereinstimmen.Ist p = 0, so ist (2.13) trivialerweise richtig, da ja

q√1 = 1. Sonst folgt (2.13) wegen

(2.6) aus ((q√

x)p)q = (( q√

x)q)p = xp und aus der Tatsache, dass nach Satz 2.7.5q√xp dieeindeutige Losungy vonyq = xp ist.

Ist jetztr = pq =

mn , so folgt wegenpn= qm

( q√

xp)n =

q√

xpn=

q√

xqm= ( q√

xq)m = xm.

11Eine ganze Zahlk , 0 teilt eine ganze Zahln, wenn es einm ∈ Z gibt, sodasskm= n.

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2.7. DAS VOLLSTANDIGKEITSAXIOM 43

Zieht man links und rechts dien-te Wurzel, so gilt wegen (2.13)

q√

xp=

n√

xm,

und damit istxr wohldefiniert. Außerdem gelten die (mit einer Beweisfuhrung ahnlichwie der von Lemma 2.7.10 zu zeigenden) Rechenregeln (r, s ∈ Q, x > 0)

xr+s = xr xs, (xr )s = xrs, x−r =1xr.

2.7.11 Lemma(Lemma vom iterierten Supremum). Seien M,N zwei nichtleere Men-gen und f: M × N → R eine nach oben beschrankte Funktion, dh.{ f (m, n) : (m, n) ∈M × N} ist nach oben beschrankt. Dann gilt

sup{sup{ f (m, n) : m ∈ M} : n ∈ N} = sup{ f (m, n) : (m, n) ∈ M × N} =

sup{sup{ f (m, n) : n ∈ N} : m ∈ M}.

Sind umgekehrt alle Mengen{ f (m, n) : m ∈ M}, n ∈ N, nach oben beschrankt genausowie {sup{ f (m, n) : m ∈ M} : n ∈ N}, bzw. gilt entsprechendes mit M und N vertauscht,so ist auch{ f (m, n) : (m, n) ∈ M × N} nach oben beschrankt, womit obige Gleichungwieder gilt.12

Eine entsprechende Aussage gilt furs Infimum.

Beweis. Wir setzens = sup{ f (m, n) : (m, n) ∈ M × N} und fur festesq ∈ N auchsq = sup{ f (m, q) : m ∈ M}. Aus { f (m, q) : m ∈ M} ⊆ { f (m, n) : (m, n) ∈ M × N} folgtdannsq ≤ s fur jedesq ∈ N; also auch sup{sq : q ∈ N} ≤ s.

Umgekehrt folgt fur festes (m, n) ∈ M ×N, dassf (m, n) ∈ { f (m, q) : m ∈ M}, wennnur q = n. Fur diesesq ist f (m, n) ≤ sq; also gilt auchf (m, n) ≤ sup{sq : q ∈ N}. Da(m, n) ∈ M × N beliebig war, folgt schließlichs≤ sup{sq : q ∈ N}.

Die Existenz und Eindeutigkeit der reellen ZahlenAm Ende dieses Abschnitts werden wir beweisen, dass vollst¨andig angeordnete Korper tatsachlich existieren, und dass allesolche immer Kopien von einander sind. Eine andere Art und Weise, das zu tun, findet sich in Kapitel 4.

Um diese anspruchsvolle Konstruktion zu motivieren, denken wir uns eine Gerade gemeinsam mit einer Einheitsstreckegezeichnet. Auf dieser Geraden denken wir uns die rationalen Zahlen durch fortgesetztes unterteilen der Einheitsstreckeaufgetragen. Obwohl es anschaulich beliebig nahe an jedem Punkt eine rationale Zahl gibt, gibt es gemaß Bemerkung 2.7.8Punkte, welche nicht rational sind.

Unsere Konstruktion beruht auf der folgenden Bemerkung, die R.Dedekind13 gemacht hat: Zerfallen alle Punkte derGeraden in zwei Klassen von der Art, dass jeder Punkt der ersten Klasse links von jedem Punkt der zweiten Klasse liegt, soexistiert ein und nur ein Punkt, welcher diese Einteilung aller Punkte in zwei Klassen, diese Zerschneidung der Geradeninzwei Stucke, hervorbringt.

Man kann also einen PunktP der Geraden identifizieren mit der Menge aller Punkte, die links von ihm liegen. Da mannun aber mit den rationalen Punkten beliebig nahe an den Punkt P herankommt, genugt es, alle rationalen Punkte die linksvon P liegen zu kennen, umP selbst eindeutig zu rekonstruieren.

2.7.12 Satz. Es gibt einen vollstandig angeordneten Korper. Dieser ist bis auf Isomorphie eindeutig bestimmt.

Beweis.Der Beweis dieses Satzes ist relativ lang und wird in mehreren Schritten gefuhrt von denen wir auch nicht alle imDetail ausfuhren werden.

12Also gilt obige Gleichung auch fur nicht notwendigerweisenach oben beschrankte Funktionen, wennman auch den Wert+∞ zulasst.

13Richard Dedekind. 6.10.1831 Braunschweig - 12.2.1916 Braunschweig

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44 KAPITEL 2. DIE REELLEN ZAHLEN

Schritt 1: Eine Teilmengeα vonQ heißt einDedekindscher Schnitt, wenn sie die folgenden drei Eigenschaften besitzt:

(I ) α , ∅, α , Q.

(II ) Aus p ∈ α folgt (−∞, p] ⊆ α.

(III ) Ist p ∈ α, so existiert einǫ ∈ Q, ǫ > 0, sodassp+ ǫ ∈ α.

Die Menge aller Dedekindschen Schnitte bezeichnen wir mitK.

Dieser Begriffmodelliert die Anschauung der Menge aller rationalen Punkte, die”links von dem Punkt der Geraden

liegen“.

Die Eigenschaft (III ) besagt, dassα kein großtes Element hat. Aus der Eigenschaft (II ) erhalt man unmittelbar diefolgenden beiden Aussagen.

(i) Ist p ∈ α undq < α, dann istp < q.

(ii ) Ist r < α und s> r, so ists < α.

Schritt 2: Wir definieren eine Relation≤ auf K durch

α ≤ β :⇐⇒ α ⊆ β, α, β ∈ K ,

Diese Relation ist offenbar eine Halbordnung. Wir zeigen, dass sie sogar eine Totalordnung ist. Seienα, β ∈ K undsei angenommen, dassα � β, d.h.α * β. Dann existiert alsop ∈ α mit p < β. Also folgt folgt ausq > p, dassq < β,und ausq < p, dassq ∈ α. Ist alsoq ∈ β, so mussq < p sein und daher zuα gehoren. Somit giltβ ≤ α.

Furα ( β schreiben wir auchα < β.

Schritt 3: In diesem Schritt zeigen wir, dassK mit der Ordnung≤ die Supremumseigenschaft besitzt. SeiA ⊆ K einenichtleere und nach oben beschrankte Teilmenge vonK, und setze

γ :=⋃

α∈Aα .

Wir zeigen, dassγ ∈ K. Da A nichtleer ist, existiert einα0 ∈ A. Nun istα0 nichtleer undα0 ⊆ γ, also gilt auchγ , ∅. Da A nach oben beschrankt ist, existiertβ ∈ K mit α ⊆ β fur alleα ∈ A, wasγ ⊆ β nach sich zieht. Wegenβ , Q ist auchγ , Q. Also erfullt γ die Eigenschaft (I ). Ist p ∈ γ, so existiertα ∈ A mit p ∈ α. Also folgt(−∞, p] ⊆ α ⊆ γ. Weiters existiert ein rationalesǫ > 0 mit r + ǫ ∈ α ⊆ γ. Wir sehen also, dassγ die Eigenschaften(II ) und (III ) hat.

Es bleibtγ = supA zu zeigen. Offenbar giltα ≤ γ fur alleα ∈ A. Ist β ∈ K mit β ≥ α bzw.β ⊇ α fur alleα ∈ A, sofolgt β ⊇ γ. Also istγ tatsachlich die kleinste obere Schranke vonA.

Schritt 4: Wir definieren eine Addition aufK. Furα, β ∈ K setze

α + β :={r + s : r ∈ α, s∈ β} .

Weiters setze 0∗ := {p ∈ Q : p < 0}.Als erstes zeigen wir, dassα + β ∈ K. Daα , ∅ undβ , ∅, folgt auchα + β , ∅. Wahler ′ < α und s′ < β, dann istr ′ > r, r ∈ α, unds′ > s, s ∈ β. Also erhalten wirr ′ + s′ > r + s, r ∈ α, s ∈ β. Damit kannr ′ + s′ nicht zuα + βgehoren. Wir sehen, dassα + β die Eigenschaft (I ) besitzt. Sei nunp ∈ α + β gegeben, und schreibep = r + s mitgewissenr ∈ α, s ∈ β. Furq < p folgt q− s< r und daherq− s ∈ α. Also q = (q− s) + s ∈ α + β, und wir sehen,dass (II ) gilt. Zu p = r + s ∈ α + β wahle ein rationalesǫ > 0 mit r + ǫ ∈ α, dann folgtr + s+ ǫ ∈ α + β, also giltauch (III ).

Die Addition ist kommutativ, denn

α + β = {r + s : r ∈ α, s∈ β} = {s+ r : r ∈ α, s∈ β} = β + α .

Sie ist assoziativ, dennα + (β + γ) =

{r + u : r ∈ α,u ∈ (β + γ)

}=

={r + (s+ t) : r ∈ α, s ∈ β, t ∈ γ} = {

(r + s) + t : r ∈ α, s∈ β, t ∈ γ} =

={v+ t : v ∈ (α + β), t ∈ γ} = (α + β) + γ .

Nun identifizieren wir 0∗ als das neutrale Element bezuglich der Addition: Istr ∈ α und s ∈ 0∗, so folgtr + s< r,alsor + s ∈ α. D.h.α + 0∗ ≤ α.

Sei umgekehrtp ∈ α, und wahle ein rationalesǫ > 0 mit p+ ǫ ∈ α. Dann giltp = p+ ǫ + (−ǫ) ∈ α + 0∗.

Es bleibt zu zeigen, dass jedes Element vonK ein additives Inverses besitzt. Sei alsoα ∈ K gegeben. Setze

β :={p ∈ Q : ∃ ǫ > 0 : p+ ǫ < −α} .

Als erstes zeigen wir, dassβ ∈ K. Seis< α und setzep := −s− 1, dann istp+ 1 = −s < −α, alsop ∈ β, d.h.β , ∅.Aus q ∈ α folgt −q < β, da sonstq− ǫ < α, und somitq < α; alsoβ , Q. Damit gilt (I ). Sei nunp ∈ β gegeben.

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2.7. DAS VOLLSTANDIGKEITSAXIOM 45

Wahleǫ > 0, sodass−p− ǫ < α. Ist q < p, so gilt−q− ǫ > −p− ǫ und daher−q− ǫ < α, d.h.q ∈ β. Es gilt also(II ). Mit t := p+ ǫ

2 ist t > p und−t − ǫ2 = −p− ǫ < α, d.h.t ∈ β. Also gilt (III ).

Ist r ∈ α unds∈ β, so ist−s< α und daherr < −s. Daher istr + s< 0, bzw,r + s ∈ 0∗. Wir sehen, dassα+ β ≤ 0∗.

Umgekehrt seiv ∈ 0∗. Setzew := − v2 > 0. Seiq < α. DaQ archimedisch angeordnet ist, gibt es einn1 ∈ N mit

n1w > q und daher mitn1w < α. Zu q ∈ α gibt es auch einn2 ∈ N mit n2w > −q und daher mit−n2w ∈ α.

Es existiert also einn ∈ Z mit nw ∈ α und (n+ 1)w < α. Setzep := −(n+ 2)w. Dann istp ∈ β, denn−p− w < α.Wir haben also

v = nw+ p ∈ α + β .

Schritt 5: Die Addition ist mit der Ordnung vertraglich. Ist namlichα ≤ β, d.h.α ⊆ β, und istγ ∈ K, so folgtα+γ ⊆ β+γ.Addieren von−γ zeigt, dass in der Tatα ≤ β⇔ α + γ ≤ β + γ.

Daraus folgt unmittelbarα < β ⇔ β − α ∈ P := {γ ∈ K : γ > 0}, und die Tatsache, dass mitα, β ∈ P auchα + β > α + 0∗ > 0∗ und somitα + β ∈ P.

Schritt 6: Wir definieren eine Multiplikation aufK. Seien zunachstα, β > 0. Dann setze

α · β :={p ∈ Q : ∃r ∈ α, s∈ β, r, s> 0 : p ≤ rs

}.

Man zeigt genauso wie in Schritt 4, dassα ·β tatsachlich ein Element vonK ist, dass die Multiplikation kommutativund assoziativ ist, und dass das Distributivgesetz gilt.

Weiters definieren wir1∗ := {p ∈ Q : p < 1} .

Wieder sieht man analog wie in den vorherigen Beweisschritten, dass 1∗ neutrales Element bezuglich der Multipli-kation ist, und dass jedes Elementα > 0 ein multiplikatives Inverses

β :={p ∈ Q : ∃ ǫ > 0 : p+ ǫ < { 1

q: q ∈ α, q > 0}}

besitzt.

Um nun die Multiplikation auch fur Elementeα < 0 zu definieren, setze

α · β :=

(−α) · (−β) , falls α < 0∗ , β < 0∗

(−α) · β , falls α < 0∗ , β > 0∗

α · (−β) , falls α > 0∗ , β < 0∗

0∗ , falls α = 0∗ oderβ = 0∗

Der Beweis der Rechengesetze folgt aus den bereits bekannten Regeln fur die Multiplikation von positiven Zahlendurch Fallunterscheidungen.

Um α, β ∈ P ⇒ α · β ∈ P einzusehen, wahle mana ∈ α \ 0∗, b ∈ β \ 0∗. Also a, b ≥ 0. Wegen (III ) konnen wirsogara,b > 0 annehmen. Es folgta · b ∈ α · β \ 0∗ und somitα, β ∈ P.

Wir haben also bewiesen, dass〈K,+, ·,P〉 ein vollstandig angeordneter Korper ist.

Schritt 7: Wie jeder angeordnete Korper enthaltK eine Kopie vonQ, daher eine mit den Operationen und mit≤Vertragliche Injektionφ : Q → K, vgl. Proposition 2.5.8. Ausφ(1) = 1∗ folgt mit vollstandiger Induktionφ(n) = {p ∈ Q : p < n}.Außerdem zeigt man, dass furr, s ∈ Q undαr = {p ∈ Q : p < r}, αs = {p ∈ Q : p < s}

αr + αs = {p ∈ Q : p < r + s}, − αr = {p ∈ Q : p < −r},

αr · αs = {p ∈ Q : p < rs}, α−1r = {p ∈ Q : p <

1r}.

Fur r > 0 sieht man z.B. letztere Tatsache folgendermaßen.

α−1r =

{p ∈ Q : ∃ ǫ > 0 : p+ ǫ < { 1

q: q ∈ Q,0 < q < r}} = {

p ∈ Q : ∃ ǫ > 0 : p+ ǫ ≤ 1r

}= {p ∈ Q : p <

1r}.

Ausφ( xn ) = sgn(x) φ(|x|)

φ(n) fur x ∈ Z, n ∈ N, folgt somitφ(r) = αr , r ∈ Q.

Schritt 8: Wir zeigen, dass jeder vollstandig angeordnete KorperL isomorph zu dem oben konstruierten KorperK ist.Beachte, dassL undK als angeordnete Korper den Korper der rationalen Zahlen enthalten. Definiere

ω :

{L → Kx 7→ {p ∈ Q : p < x} , ψ :

{K → Lα 7→ supα

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46 KAPITEL 2. DIE REELLEN ZAHLEN

Die Abbildungω ist wohldefiniert, denn{p ∈ Q : p < x} ist, wie man unmittelbar uberpruft, ein DedekindscherSchnitt. Auchψ ist wohldefiniert, dennα ist eine nichtleere und beschrankte Teilmenge vonQ ⊆ L und besitztdaher inL ein Supremum.

Außerdem sind diese beiden Abbildungen streng monoton wachsend, und furp ∈ Q gilt ω(p) = αp undψ(αp) =supαp = p.

Aus dem noch zu zeigenden Lemma 2.7.13 folgt, dassω undψ mit den Operationen vertraglich sind. Wendet manLemma 2.7.13 nun auch aufω ◦ ψ undψ ◦ ω an, so folgt aus der Eindeutigkeitsaussage, dassω ◦ ψ = idK undψ ◦ ω = idL. Also sindω undψ zueinander inverse Bijektionen, welche mit Addition, Multiplikation und Ordnungvertraglich sind. Daher sindL und K als angeordnete Korper isomorph. Mit derselben Argumentation zeigt manauch, dass der von uns angegebene Isomorphismus eindeutig ist.

2.7.13 Lemma. Seien K1 und K2 zwei vollstandig angeordnete Korper, und bezeichneQ1 bzw.Q2 die gemaß Proposition2.5.8 existierende Kopie vonQ, welche in K1 bzw. K2 enthalten ist. Seienφ j : Q → K j , j = 1,2, die entsprechendenEinbettungen.

Ist ω : K1 → K2 streng monoton wachsend und so, dassω(φ1(p)) = φ2(p) fur alle p ∈ Q, dann istω mit + und ·vertraglich.

Weiters muss jede weitere streng monoton wachsend Abbildung ω : K1 → K2 mit ω(φ1(p)) = φ2(p), p ∈ Q schon mitω ubereinstimmen.

Beweis. Zunachst beweisen wir die letzte Aussage. Angenommen es g¨abe einx ∈ K1, sodassω(x) , ω(x). O.B.d.A. seiω(x) < ω(x). Nach Satz 2.6.3 gibt es einp ∈ Q mit ω(x) < φ2(p) < ω(x).

Nun mussx < φ1(p), da widrigenfallsφ1(p) ≤ x und daherω(φ1(p)) = φ2(p) ≤ ω(x). Andererseits muss aberφ1(p) < x, da sonstx ≤ φ1(p) und daher ˜ω(x) ≤ φ2(p) = ω(φ1(p)). Beides kann aber nicht gleichzeitig gelten. Somit mussω = ω.

Zur Vertraglichkeit mit+ halte man zunachst einp ∈ Q fest, und betrachte

ωp :

{K1 → K2x 7→ ω(x+ φ1(p)) − φ2(p) .

Wegen den Eigenschaften vonφ1, φ2 aus Proposition 2.5.8 folgtωp(φ1(q)) = ω(φ1(q+ p)) − φ2(p) = φ2(q) fur alle q ∈ Q.Außerdem istωp offensichtlicherweise streng monoton wachsend.

Nach obiger Eindeutigkeitsaussage folgtω = ωp bzw.ω(x+ φ1(p)) = ω(x) + φ2(p) = ω(x) + ω(φ1(p)) fur alle x ∈ K1

und wegen der Beliebigkeit vonp auch fur allep ∈ Q.Nun betrachte man fur ein festesy ∈ K1 die Abbildungωy(x) = ω(x + y) − ω(y). Wegen dem eben gezeigten erfullt

dieseωy(φ1(q)) = φ2(q), q ∈ Q, und sie ist ebenfalls streng monoton wachsend. Also folgtωy = ω, bzw.ω(x + y) =ω(x) +ω(y), x, y ∈ K1.

Indem man zunachstx 7→ ω(x·φ1(p))φ1(p) fur festesp ∈ Q \ {0} und dannx 7→ ω(x·y)

ω(y) fur festesy ∈ K1 \ {0} betrachtet, folgtwie oben auch die Vertraglichkeit mit· .

2.8 Die komplexen Zahlen

Betrachtet man die quadratische Gleichungx2 + 1 = 0, und sucht die Losungen davon,indem man formal rechnet, so erhalt manx1,2 = ±

√−1, also eigentlich kein Ergebnis.

Das stimmt mit der Tatsache uberein, dass die Gleichungx2 + 1 = 0 keine reellenLosungen hat. Aus vielen Grunden ware es trotzdem wunschenswert mit Wurzeln ausnegativen Zahlen rechnen zu konnen. Insbesondere hattex2 + 1 = 0 zwei Losungen.

Wir formalisieren nun das Konzept der Wurzel aus einer negativen Zahl.

2.8.1 Definition. Die Menge derkomplexen ZahlenC wird definiert als die Menge derPaare reeller Zahlen,C := R2 = R × R. Wir schreiben eine komplexe Zahl (a, b) ∈ Can alsa+ ib. Hierbei isti ein formales Symbol, die sogenannteimaginare Einheit.

Ist z= a+ ib ∈ C, so heißta derRealteilundb derImaginarteilvonz. Man schreibtaucha = Rezundb = Im z.

Fur zwei komplexe Zahlena+ ib undc+ id definieren wir eine Addition und eineMultiplikation, indem wir

(a+ ib) + (c+ id) := (a+ c) + i(b+ d), (2.14)

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2.8. DIE KOMPLEXEN ZAHLEN 47

(a+ ib) · (c+ id) := (ac− bd) + i(bc+ ad). (2.15)

setzen.Ist (a, b) ∈ C mit b = 0, so schreibt man aucha anstatta + i0, und ista = 0, so

schreibt manib anstatt 0+ ib. Fallsa = 0 undb = 1, so schreibt man kurzi. Anstatt0+ i0 schreibt man auch 0.

Wir wollen die triviale aber nutzliche Tatsache bemerken,dass zwei komplexe Zah-len genau dann ubereinstimmen, wenn ihre Realteile und ihre Imaginarteile uberein-stimmen.

Die imaginare Einheit modelliert den Ausdruck√−1. Tatsachlich gilt gemaß

(2.15), dassi2 = −1 sowie (−i)2 = −1.

2.8.2 Satz.Die komplexen Zahlen〈C,+, ·〉 sind ein Korper, wobei0+ i0 das neutraleElement bezuglich+, 1+ i0 das neutrale Element bezuglich·, (−a) + i(−b) die additivInverse zu a+ ib, und

aa2 + b2

+ i−b

a2 + b2(2.16)

die multiplikativ Inverse zu a+ ib , 0+ i0 ist.

Beweis.Wir mussen die Korperaxiome aus Definition 2.1.1 nachweisen. Die Kommu-tativitat von+ und ·, daher Axiome (a4),(m4), folgt unmittelbar aus der Definition in(2.14) und (2.15). Genauso schnell uberzeugt man sich von der Gultigkeit der Assozia-tivitat von+, dh. (a1). Wegen

((a+ ib) · (c+ id)) · (x+ iy) = ((ac− bd) + i(bc+ ad)) · (x+ iy) =

(acx− bdx− bcy− ady) + i(bcx+ adx+ acy− bdy) =

= (a+ ib) · ((cx− dy) + i(cy+ dx)) = (a+ ib) · ((c+ id) · (x+ iy))

gilt (m1). Ganz leicht sieht man, dass 0+ i0 das additiv neutrale Element vonC ist –(a2) –, und dass (−a) + i(−b) das zua+ ib additiv inverse Element ist, dh. (a3).

Genauso elementar sieht man, dass 1+ i0 das multiplikativ neutrale Element ist –(m2) –, und dass die in (2.16) angegebene komplexe Zahl das zua + ib multiplikativinverse Element ist, dh. (m3). Schließlich gilt (d), da inR das Distributivgesetz gilt undda

(x+ iy) · ((a+ ib) + (c+ id)) = (x+ iy) · ((a+ c) + i(b+ d)) =

(xa+ xc− yb− yd) + i(xb+ xd+ ya+ yc) =

((xa− yb)+ i(xb+ ya))+ ((xc− yd)+ i(xd+ yc)) = (x+ iy) · (a+ ib)+ (x+ iy) · (c+ id).

Die reellen Zahlen sind inC eingebettet vermoge der Abbildunga 7→ a+ i · 0. Of-fenbar ist diese Einbettung ein Korperhomomorphismus, dh. vertraglich mit den Ver-knupfungen+, ·. Insbesondere sehen wir, dassC einR-Vektorraum ist. Die dafur noti-gen Rechengesetze gelten, da sie einfach Spezialfalle derRechenregeln des KorpersCsind. Eine Basis vonC alsR-Vektorraum lasst sich leicht angeben, namlich{1, i}. Dennes lasst sich ja jede komplexe Zahl in eindeutiger Weise alsLinearkombinationa·1+b·imit den reellen Koeffizientena, b anschreiben. Wir sehen also, dass die Dimension vonC alsR-Vektorraum zwei ist.

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48 KAPITEL 2. DIE REELLEN ZAHLEN

C

Re

Im

ib

−ib

a

z= a+ ib

z= a− ib

0

|z|

|z| = |z|

Abbildung 2.3: Zahlenebene

Graphisch lassen sich die Zahlen ausC als Punkte in der Ebene veranschaulichen,man spricht auch von derGaußschen Zahlenebene14. Dabei ist

|z| :=√

a2 + b2 (≥ 0) (2.17)

die Lange des Vektors von (0, 0) nach (a, b). Wir nennen|z| auch denBetragvonz.Der Betrag auf den komplexen Zahlen wird gleich wie die Betragsfunktion auf

einem bewerteten Korper bezeichnet. Es gelten namlich vergleichbare Regeln (z,w ∈C):

(i) |Rez| ≤ |z|, | Im z| ≤ |z|

(ii ) |zw| = |z||w|.

(iii ) |z+ w| ≤ |z| + |w|.

(iv) |z+ w| ≥ ||z| − |w||.

(i) und (ii ) lassen sich dabei elementar nachprufen. Die Dreiecksungleichung folgtdurch Ausquadrieren, und die Dreiecksungleichung nach unten beweist man genauso,wie bei den angeordneten Korpern (siehe (2.1)).

Eine weiters Begriffsbildung im Zusammenhang mit den komplexen Zahlen ist diederkonjugiert komplexenZahlzzu einer komplexen Zahlz= a+ ib:

z := a− ib .

14Carl-Friedrich Gauß. 30.4.1777 Braunschweig - 23.2.1855 Gottingen

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2.8. DIE KOMPLEXEN ZAHLEN 49

Offenbar gilt|z| = |z|, |z|2 = zz, undz−1 = z|z|2 wennz , 0. Der Ubergang vonz zu

seiner konjugierten ¯zentspricht bei der graphischen Veranschaulichung der komplexenZahlen genau dem Spiegeln an der reellen Achse.

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50 KAPITEL 2. DIE REELLEN ZAHLEN

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Kapitel 3

Der Grenzwert

In der Mathematik hat sich schon bald herausgestellt, dass eine rein algebraische Be-trachtungsweise der reellen Zahlen nicht immer das geeignete Instrument zur Modellie-rung der in den Naturwissenschaften auftretenden Phanomene ist. Probleme wie

”un-

endlich oft immer kleiner werdende Großen zusammenzahlen“ oder”einer gewissen

Zahl immer naher kommen“, lassen sich mit den bisher rein algebraischen Methodennicht betrachten.

Man denke zum Beispiel an die Approximation der Zahl 2π, indem man einemKreis mit Radius eins regelmaßigen-Ecke einschreibt, von diesen den Umfang berech-net, und dannn immer großer werden lasst.

Das fuhrt zu dem Begriff des Grenzwertes einer Folge von Zahlen. Dazu wollenwir das

”einer Zahl immer naher Kommen“ bzw. Konvergieren mathematisch exaktifi-

zieren:Eine Folgex1, x2, x3, . . . von reellen Zahlen heißtkonvergentgegen eine reelle Zahl

x, falls es zu jedem beliebig kleinen Abstandǫ > 0 einen FolgenindexN gibt, sodassab diesem Index alle Folgenglieder einen Abstand vonx kleiner alsǫ haben; sodassalso

|xn − x| < ǫ,

fur alle n ≥ N.Wir wollen nun aber Konvergenzbetrachtungen nicht nur furFolgen von reellen

Zahlen betrachten, sondern auch z.B. fur Folgen von komplexen Zahlen oder fur Folgenvon Punkten im Raum. Wie man aus der Definition der Konvergenzerahnen kann,benotigt man dazu lediglich einen Abstandsbegriff auf dem betrachteten Objekt. Wirfuhren dazu den Begriff des metrischen Raumes ein.

3.1 Metrische Raume

Um zu sagen, wann ein Punktx”nahe“ bei einem anderen Punkty liegt, mussen wir in

irgendeiner Weise den Abstand vonx zuy messen konnen. Betrachten wir zum Beispieldie MengeX aller Punkte der Ebene. Dann ist es naheliegend, als Abstandzwischenx undy die Langelx,y der Strecke, die die beiden Punkte verbindet, zu nehmen. Manerkennt dabei, dass folgende Regeln gelten: Stets istlx,y ≥ 0, denn Langen sind im-mer positiv. Dabei gilt

”=“ genau dann, wennx = y, denn eine Strecke hat dann und

nur dann Lange 0, wenn Anfangs- und Endpunkt gleich sind. Esist stetslx,y = ly,x,denn vertauscht man Anfangs- und Endpunkt so bleibt die Lange der Strecke erhalten.

51

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52 KAPITEL 3. DER GRENZWERT

Schwieriger einzusehen, aber anschaulich doch klar, ist die Gultigkeit der Dreiecks-ungleichung: In jedem Dreieck ist die Lange einer Seite hochstens so groß, wie dieSumme der Langen der anderen Seiten; also fur je drei Punkte – die Eckpunkte desDreiecks – giltlx,z ≤ lx,y + ly,z.

Es sind genau diese drei Eigenschaften, die es ausmachen, dass”die Lange der

Verbindungsstrecke“ ein vernunftiger Abstandsbegriff ist.

3.1.1 Definition. SeiX eine Menge,d : X× X→ R1 eine Funktion. Dann heißtd eineMetrik auf X, und〈X, d〉 einmetrischer Raum, wenn gilt

(M1) Fur allex, y ∈ X ist d(x, y) ≥ 0. Dabei giltd(x, y) = 0 genau dann, wennx = y.

(M2) Fur allex, y ∈ X gilt d(x, y) = d(y, x).

(M3) Sindx, y, z ∈ X, so gilt dieDreiecksungleichung:

d(x, z) ≤ d(x, y) + d(y, z) .

3.1.2 Bemerkung.Man kann allgemeiner auch Metrikend betrachten, dieX × X nichtnachR, sondern nachK abbilden, wobei〈K,+, ·,P〉 ein archimedisch angeordneterKorper ist. Wir werden darauf im Kapitel 4 zuruck kommen.

3.1.3 Beispiel.

Ist X = R undd(x, y) = |x − y| fur x, y ∈ R, so sieht man sofort, dass (M1) und(M2) erfullt sind. (M3) folgt aus der Dreiecksungleichung fur den Betrag (sieheLemma 2.2.11):

|x− z| = |(x− y) + (y− z)| ≤ |x− y| + |y− z|, x, y, z ∈ R. (3.1)

Ist X = C � R2 undd(z,w) = |z− w| fur z,w ∈ C, wobei |.| hier der komplexeBetrag ist, so erfulltd offensichtlich (M2) undd(z,w) ≥ 0. Schreibt manz= a+ibund w = c + id, so gilt d(z,w) =

√(a− c)2 + (b− d)2 = 0 genau dann, wenn

a − c = 0 undb− d = 0, alsoz = w. Somit ist (M1) erfullt. (M3) folgt aus derDreiecksungleichung fur den komplexe Betrag ahnlich wiein (3.1).

Um eine Metrik aufX := Rp zu definieren, setzen wir

d2(x, y) :=( p∑

j=1

(x j − y j)2) 1

2, x = (x1, . . . , xp), y = (y1, . . . , yp) ∈ X .

Man spricht von dereuklidischen MetrikaufRn. Die Gultigkeit von (M1) und(M2) ist aus der Definition offensichtlich. Die Dreiecksungleichung (M3) folgthingegen aus dem unten folgenden Lemma 3.1.4.

Im Falle p = 1, alsoX = R, gilt d2(x, y) = |x− y|. Damit ist der Abstand zweierZahlen bzgl. der euklidischen Metrik nichts anderes als derBetrag der Differenzdieser Zahlen.

Die euklidische Metrik aufR2 hat eine analoge Interpretation mit Hilfe des Be-trages einer komplexen Zahl. Furz= a+ib ∈ C haben wir den Betrag definiert als|z| =

√a2 + b2. Daraus erkennt man, dass die euklidische Metrik aufR2 gerade

d2(z,w) = |z− w|, z,w ∈ C ,1Wie unmittelbar nach Satz 2.7.3 bemerkt, istR ein vollstandig angeordneter Korper.

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3.1. METRISCHE RAUME 53

ist, wobei wir hier die komplexen Zahlen in der Gaußschen Zahlenebene, alsoals Elemente vonR2 interpretieren.

(M3) folgt in den Fallenp = 1, 2 wie schon oben gezeigt, aus der bereits bewie-senen Dreiecksungleichung fur die Betragsfunktion

3.1.4 Lemma. Seien p ∈ N, a1, . . . , ap, b1, . . . , bp ∈ R. Dann gilt (Cauchy-Schwarzsche Ungleichung2)

p∑

i=1

aibi

2

p∑

i=1

a2i

·

p∑

i=1

b2i

,

und (Minkowskische Ungleichung3)

p∑

i=1

(ai + bi)2

12

p∑

i=1

a2i

12

+

p∑

i=1

b2i

12

.

Beweis. Wir verwenden die Bezeichnungena := (a1, . . . , ap), b := (b1, . . . , bp) ∈ Rp

und definieren4

(a, b) :=p∑

i=1

aibi.

Fur Zahlenλ, µ ∈ R unda, b ∈ Rp setzen wir

λa+ µb := (λa1 + µb1, . . . , λap + µbp) .

Offenbar gilt fura, b, c ∈ Rp

(λa+ µb, c) =p∑

i=1

(λai + µbi)ci =

p∑

i=1

λaici +

p∑

i=1

µbici = λ(a, c) + µ(b, c) .

Man spricht von der Linearitat von (., .) in der vorderen Komponente. Wegen (a, b) =(b, a) ist (., .) auch in der hinteren Komponente linear (vgl. den Begriff des Skalarpro-duktes auf einem Vektorraum in der Linearen Algebra).

Um die Cauchy-Schwarzsche Ungleichung zu zeigen, gehen wirvon der trivialenBemerkung aus, dass fur jedesp-Tupelx = (x1, . . . , xp) ∈ Rp

(x, x) =p∑

i=1

x2i ≥ 0. (3.2)

Fur allet ∈ R gilt nun

0 ≤ (a+ tb, a+ tb) = (a, a) + 2t(a, b) + t2(b, b).

2Hermann Amandus Schwarz. 25.1.1843 Hermsdorf (Sobiecin, Polen) - 30.11.1921 Berlin3Hermann Minkowski. 22.6.1864 Alexoten (bei Kaunas, Litauen) - 12.1.1909 Gottingen4Also ist (., .) eine Abbildung vonRp × Rp nachR.

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54 KAPITEL 3. DER GRENZWERT

Ist (b, b) , 0, so setze mant = − (a,b)(b,b) in obige Ungleichung ein, und erhalt

0 ≤ (a, a) − (a, b)2

(b, b).

Daraus folgt unmittelbar die Cauchy-Schwarzsche Ungleichung.Im Falle (b, b) = 0 folgt b = (0, . . . , 0), und damit (a, b) = 0. Es gilt also auch in

diesem Fall die Cauchy-Schwarzsche Ungleichung.Die Minkowskische Ungleichung folgt wegen (ai + bi)2 = ai · (ai + bi) + bi(ai + bi)

aus

p∑

i=1

(ai + bi)2 =

p∑

i=1

ai(ai + bi) +p∑

i=1

bi(ai + bi) ≤∣∣∣∣∣∣∣

p∑

i=1

ai · (ai + bi)

∣∣∣∣∣∣∣+

∣∣∣∣∣∣∣

p∑

i=1

bi · (ai + bi)

∣∣∣∣∣∣∣

p∑

i=1

a2i

12

·

p∑

i=1

(ai + bi)2

12

+

p∑

i=1

b2i

12

·

p∑

i=1

(ai + bi)2

12

=

=

p∑

i=1

a2i

12

+

p∑

i=1

b2i

12 ·

p∑

i=1

(ai + bi)2

12

.

Beispiele von Metriken gibt es viele, und sie treten in verschiedensten Zusam-menhangen auf.

3.1.5 Beispiel.

(i) Sei noch einmalX := R2 und setze

d1(x, y) := |x1 − y1| + |x2 − y2|, x = (x1, x2), y = (y1, y2) ∈ R2 .

Dann istd1 eine Metrik. Die Gultigkeit von (M1) und (M2) ist wieder aus derDefinition offensichtlich. Um die Dreiecksungleichung einzusehen, seien x, y, z ∈R gegeben. Dann folgt mit Hilfe der Dreiecksungleichung fur|.|

d1(x, z) = |x1 − z1| + |x2 − z2| ≤(|x1 − y1| + |y1 − z1|

)+

(|x2 − y2| + |y2 − z2|)=

=(|x1 − y1| + |x2 − y2|

)+

(|y1 − z1| + |y2 − z2|)= d1(x, y) + d1(y, z) .

Diese Metrik ist offenbar ungleich der euklidischen Metrik, denn es gilt etwad1((0, 0), (2, 1))= 3 ,

√5 = d2((0, 0), (2, 1)).

Anschaulich interpretiert bezeichnet mand1 manchmal als New York-Metrik.Denn stellt man sich in der Ebene einen Stadtplan mit lauter rechtwinkeligenStraßen – wie etwa in New York – vor, dann misstd1(x, y) gerade die Lange desFußweges von der Kreuzungx zur Kreuzungy.

Ganz analog definiert man eine Metrik amRp

d1(x, y) =p∑

j=1

|x j − y j |, x = (x1, . . . , xp), y = (y1, . . . , yp) ∈ Rp .

Der Nachweis von (M1)-(M3) geht genauso wie im oben betrachteten Fallp = 2.

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3.1. METRISCHE RAUME 55

(ii ) Ist wiederX = Rp, so definieren wir nun die Metrik

d∞(x, y) := maxj=1,...,p

|x j − y j |, x = (x1, . . . , xp), y = (y1, . . . , yp) ∈ Rp .

(M1),(M2) sind klar. Die Dreiecksungleichung folgt aus der Tatsache, dass furalle nichtnegativen Zahlen

max{a1 + b1, . . . , ap + bp} ≤ max{a1, . . . , ap} +max{b1, . . . , bp} .

Auch diese Metrik unterscheidet sich tatsachlich von den schon eingefuhrten Me-trikend1 undd2, da etwa im Fallep = 2 gilt, dassd∞((0, 0), (2, 1))= 2.

(iii ) Ist X = Cp, so definiert man furz= (z1, . . . , zp),w = (w1, . . . ,wp) ∈ Cp

d2(z,w) =

√√√ p∑

j=1

|zj − w j |2 .

Identifiziert manz mit dem Vektor x ∈ R2p, indem manx1 = Rez1, x2 =

Im z1, . . . , x2p−1 = Rezp, x2p = Im zp setzt, und identifiziert manw entsprechendmit dem Vektory ∈ R2p, so gilt

d2(z,w) =

√√√ p∑

j=1

(Re(zj − w j)2 + Im(zj − w j)2) = d2(x, y) .

Insbesondere ist auchCp versehen mitd2 ein metrischer Raum.

(iv) Eine hauptsachlich aus theoretischer Sicht wichtige Metrik ist diediskrete Metrik.Sie findet man auf jeder nichtleeren MengeX, indem man

d(x, y) =

{0 , falls x = y1 , falls x , y

setzt.

(v) Betrachte die ganzen ZahlenX := Z und halte eine Primzahlp fest. Setze

d(p)(x, y) :=

1

pn(p) , falls x , y, x− y = ±∏q prim qn(q)

0 , falls x = y

Dabei ist±∏q prim qn(q) die eindeutige Primfaktorzerlegung vonx− y. Dann istd(p) eine Metrik aufZ. Denn (M1)

ist nach Definition erfullt, (M2) ist ebenfalls richtig, denn vertauscht manx undy, so andert sich bei der Differenzx − y nur das Vorzeichen, nicht jedoch die Primfaktoren und ihre Potenzen. Die Dreiecksungleichung ist wiederschwieriger einzusehen. Wir zeigen, dass in diesem Fall sogar die starkere Ungleichung

d(p)(x, z) ≤ max{d(p)(x, y),d(p)(y, z)}, x, y, z ∈ Z ,

gilt. Diese Ungleichung impliziert tatsachlich sofort die Dreiecksungleichung, denn fur je zwei Zahlena,b ≥ 0 iststets max(a, b) ≤ a+ b.

Schreibex− z= ±

q prim

qn1(q), x− y = ±∏

q prim

qn2(q), y− z= ±∏

q prim

qn3(q) ,

sodass also

d(p)(x, z) =1

pn1(p), d(p)(x, y) =

1

pn2(p), d(p)(y, z) =

1

pn3(p).

Betrachte den Fall, dassd(p)(x, y) ≥ d(p)(y, z), d.h.n2(p) ≤ n3(p). Wegenn2(p) ≤ n3(p) teilt pn2(p) sowohlx− y alsauchy− z, und daher auch (x− y) + (y− z) = x− z. Es folgtn2(p) ≤ n1(p), und somitd(p)(x, y) ≥ d(p)(x, z).

Der Falld(p)(x, y) ≤ d(p)(y, z) wird genauso behandelt.

Auf Z haben wir naturlich auch die euklidische Metrikd2(x, y) = |x− y|, dennZ ist ja eine Teilmenge vonR. Diese

ist verschieden von der Metrikd(p), denn zum Beispiel istd(p)(0, p) = 1p , wogegend2(0, p) = p.

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56 KAPITEL 3. DER GRENZWERT

3.1.6 Bemerkung.Auf R stimmen die Metrikend1, d2, d∞ alle uberein.

3.1.7 Bemerkung.Die oben kennengelernten Metrikend2, d1, d∞ auf demRp sind al-lesamt vonNormenerzeugte Metriken.

Eine Norm‖.‖ auf Rp ist eine Funktion vonRp → R mit folgenden drei Eigen-schaftenx, y ∈ Rp, λ ∈ R:

(i) ‖x‖ ≥ 0, wobei‖x‖ = 0⇔ x = 0.

(ii ) ‖λx‖ = |λ| · ‖x‖.

(iii ) ‖x+ y‖ ≤ ‖x‖ + ‖y‖.

Es gilt nund(x, y) = ‖x − y‖2, d1(x, y) = ‖x − y‖1, d∞(x, y) = ‖x − y‖∞, wobei diese

drei Normen durch‖x‖2 :=√∑p

j=1 |x j |2, ‖x‖1 :=∑p

j=1 |x j |, ‖x‖∞ = max{|x1|, . . . , |xp|}definiert sind.

3.2 Der Grenzwert in metrischen Raumen

Wir kommen nun zuruck zu dem am Anfang des Kapitels motivierten Begriff der Kon-vergenz einer Folge.

3.2.1 Definition. Eine Folge in einer MengeX ist aus mathematischer Sicht nichtsanderes als eine Funktion

y : N→ X,

wobei der Funktionswerty(n) von y an der Stellen meist alsyn geschrieben wird.Fur die Folgey als solche schreiben wir meist (yn)n∈N. Folgen werden auch oft alsy1, y2, y3, . . . angeschrieben.

3.2.2 Definition. Sei 〈X, d〉 ein metrischer Raum, (xn)n∈N eine Folge inX, und x einElement vonX. Dann heißt (xn)n∈N konvergent gegen x, wenn gilt5

∀ǫ ∈ R, ǫ > 0∃N ∈ N : d(xn, x) < ǫ fur alle n ≥ N . (3.3)

In diesem Fall schreibt man limn→∞ xn = x.

ǫ′

xN′

ǫ

xN

x

x1

Ist (xn)n∈N eine Folge, und gibt es ein Ele-ment x ∈ X, sodass limn→∞ xn = x, so sagtman die Folge (xn)n∈N ist konvergent. Isteine Folge nicht konvergent, so sagt mansie istdivergent.Man verwendet auch andere Schreibwei-sen fur limn→∞ xn = x, wie zum Beispiel

(xn)n∈N → x, n → ∞, oderxn→∞−→ x, oder

auch nurxn→ x.

5Kurzer lasst sich folgendermaßen schreiben:∀ǫ ∈ R, ǫ > 0∃N ∈ N : ∀n ≥ N⇒ d(xn, x) < ǫ.

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3.2. DER GRENZWERT IN METRISCHEN RAUMEN 57

3.2.3 Bemerkung.Wegen|d(x, xn) − 0| = d(x, xn) konvergiert eine Folge (xn)n∈N in ei-nem metrischen Raum〈X, d〉 genau dann gegen einx ∈ X, wenn die Folge (d(x, xn))n∈Nin R (versehen mit der euklidischen Metrik) gegen 0 konvergiert.

Folgen mussen nicht immer mit dem Index 1 anfangen. Istk eine feste ganze Zahl,so setzen wirZ≥k := {n ∈ Z : n ≥ k}. Eine Abbildungx : Z≥k→ X nennen wir ebenfallsFolge, wobei ihre Konvergenz in analoger Weise wie in Definition 3.2.2 definiert ist.

3.2.4 Beispiel.

(i) Sei〈X, d〉 ein beliebiger metrischer Raum, und seix ∈ X. Betrachte die konstanteFolgex1 = x2 = x3 = . . . = x. Dann gilt limj→∞ x j = x.

Um dies einzusehen, sei einǫ ∈ R, ǫ > 0, gegeben. Wir mussen eine ZahlN ∈ Nfinden, sodassd(x j, x) < ǫ fur alle j ≥ N. WahleN := 1, dann gilt

d(x j , x) = d(x, x) = 0 < ǫ fur alle j ≥ N .

Dieses Beispiel ist naturlich in gewissem Sinne trivial, denn die Folgengliederx j

sind ja schon alle gleich dem Grenzwertx, kommen diesem also naturlich beliebignahe.

(ii ) Sei X = R und d = d2 die euklidische Metrikd2(x, y) = |x − y|. Dann giltlim j→∞

1j = 0.

Um dies einzusehen, sei einǫ ∈ R, ǫ > 0, gegeben. Wir mussen eine ZahlN ∈ Nfinden, sodass| 1j − 0| = 1

j < ǫ gilt, wenn nur j ≥ N. Dazu benutzen wir dieTatsache, dassN als Teilmenge vonR nicht nach oben beschrankt ist. WahleN ∈ N mit 1

ǫ< N. Fur alle j ∈ N mit j ≥ N gilt dann 1

j ≤1N < ǫ.

(iii ) Aus dem letzten Beispiel zusammen mit Bemerkung 3.2.3 schließen wir auflim j→∞(1+ 1

j ) = 1, da|(1+ 1j ) − 1| = 1

j → 0.

(iv) Seiq ∈ R, 0 ≤ q < 1, und betrachte die Folge (qn)n∈N. Dann gilt limn→∞ qn = 0.

Um das einzusehen, konnen wirq > 0 voraussetzen, da sonst die betrefflicheFolge identisch gleich Null ist. Wir verwenden zum Beweis die BernoullischeUngleichung aus Lemma 2.3.6. Setzt man in der Bernoullischen Ungleichungx = 1

q − 1 > 0, so erhalt man

(1q

)n

≥ 1+ n

(1q− 1

).

DaR archimedisch angeordnet ist, gibt es zu jedemǫ > 0 eine ZahlN ∈ N mit1+ N( 1

q − 1) > 1ǫ

und damit auch (1q)N > 1ǫ, alsoqN < ǫ. Es folgtd(0, qn) = qn ≤

qN < ǫ fur alle n ≥ N.

(v) Seiz ∈ C mit |z| < 1. Setzen wirq := |z|, so folgt aus dem vorherigen Beispiel,dassd(0, zn) = |zn − 0| = qn→ 0 fur n→ ∞. Also gilt auch limn→∞ zn = 0 inC.

3.2.5 Beispiel.Es gibt viele Folgen, die nicht konvergieren. Die Folgezn := in in C,dh.

i,−1,−i, 1, i,−1,−i, 1, . . . ,

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58 KAPITEL 3. DER GRENZWERT

zum Beispiel, ist divergent, wobei wir immer, wenn wir nichts anderes explizit ange-ben,Cmit der euklidischen Metrik versehen.

Um das nachzuprufen, nehmen wir an, dasszn → z fur ein gewissesz ∈ C. WahltmanN ∈ N, sodass|zn − z| < 1

2 fur alle n ≥ N, und nimmt einn0 ≥ N, welches durch 4teilbar ist, so folgt der Widerspruch

2 = |1− (−1)| = |zn0 − zn0+2| ≤ |zn0 − z| + |z− zn0+2| <12+

12= 1 .

Es gelten folgende, zu (3.3) aquivalente Konvergenzbedingungen.

3.2.6 Lemma. Sei〈X, d〉 ein metrischer Raum, x∈ X und(xn)n∈N eine Folge aus X.Dann gilt limn→∞ xn = x, dh. es gilt(3.3), genau dann, wenn fur gewisse K∈ (0,+∞)undα ∈ (0,+∞) ∪ {+∞}

∀ǫ ∈ (0, α)∃N ∈ N : d(xn, x) < K · ǫ fur alle n≥ N. (3.4)

Die Konvergenz von(xn)n∈N gegen x ist auch aquivalent zu(3.3)bzw.(3.4), wenn manin diesen Bedingungen· · · < ǫ bzw.· · · < K · ǫ durch· · · ≤ ǫ bzw.· · · ≤ K · ǫ ersetzt.

Beweis. Offenbar folgt (3.4) aus (3.3). Gelte umgekehrt (3.4). Furǫ > 0 giltmin

( ǫK ,

α2

) ∈ (0, α). Nimmt man diese Zahl alsǫ in (3.4), so gibt es einN ∈ N, so-dass

d(xn, x) < K ·min(ǫ

K,α

2

)≤ ǫ, fur alle n ≥ N .

Also gilt auch (3.3).Dass aus (3.3) bzw. (3.4) die jeweiligen Bedingungen mit≤ anstatt< folgt, ist klar,

da aus< ja immer≤ folgt.Fur die Umkehrung wende die Bedingungen mit≤ statt< auf ǫ

2 an. Man erhaltdann· · · ≤ ǫ

2 < ǫ bzw. · · · ≤ K · ǫ2 < K · ǫ.❑

3.2.7 Definition. Ist (xn)n∈N eine Folge undn : N→ N eine streng monoton wachsendeFunktion6, dh. n(1) < n(2) < n(3) < . . . , so nennt man (xn( j)) j∈N eineTeilfolgevon(xn)n∈N.

Folgende elementare Sachverhalte sind von großer Bedeutung und werden in Be-weisen immer wieder Verwendung finden.

3.2.8 Satz.Sei〈X, d〉 ein metrischer Raum und sei(xn)n∈N eine Folge von Elementenaus X.

(i) Die Folge(xn)n∈N hat hochstens einen Grenzwert.

(ii ) (xn)n∈N konvergiert gegen x∈ X genau dann, wenn es ein k∈ N gibt, sodass(xn)n∈Z≥k gegen x∈ X konvergiert. Es kommt also nicht auf endlich viele Folgen-glieder an, ob und wogegen eine Folge konvergiert.

(iii ) Ist limn→∞ xn = x und k ∈ N, so konvergieren auch(xn+k)n∈N und (xn−k)n∈Z≥k+1

gegen x.

(iv) Ist limn→∞ xn = x, so konvergiert auch jede Teilfolge(xn( j)) j∈N gegen x.

6Klarerweise ist eine solche Funktionn immer injektiv, und es giltn( j) ≥ j.

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3.2. DER GRENZWERT IN METRISCHEN RAUMEN 59

Beweis. Wir zeigen zunachst (i). Es geltexn → x und xn → y, wobei x , y, dh.d(x, y) > 0. WahleN1 ∈ N, sodassd(xn, x) < d(x,y)

3 , n ≥ N1, und N2 ∈ N, sodass

d(xn, y) < d(x,y)3 , n ≥ N2. Dann folgt furN := max{N1,N2} der Widerspruch

d(x, y) ≤ d(x, xN) + d(xN, y) <d(x, y)

3+

d(x, y)3=

2d(x, y)3

< d(x, y) ,

Wir zeigen auch noch (iv). Die restlichen Aussagen sind noch elementarer nachzuwei-sen. Sei also (xn( j)) j∈N eine Teilfolge der gegenx konvergenten Folge (xn)n∈N. Ist ǫ > 0,so gibt es einN ∈ N, sodassd(xn, x) < ǫ, wenn nurn ≥ N.

Ist nun i0 ∈ N so groß, dassn(i0) ≥ N (z.B. i0 = N), so folgt fur i ≥ i0 auchn(i) ≥ N und somitd(xn(i), x) < ǫ. Somit gilt limj→∞ xn( j) = x.

3.2.9 Beispiel.

(i) Ist p ∈ N, so gilt limn→∞1np = 0. Das folgt unmittelbar aus Satz 3.2.8 und der

Tatsache, dass diese Folge eine Teilfolge von(

1n

)n∈N

ist.

(ii ) Seiz ∈ C, |z| < 1. Betrachte die Folge (die sogenanntegeometrische Reihe)

Sn :=n∑

k=0

zk = 1+ z+ z2 + . . . + zn .

Aus (2.10) folgt

1n − zn = (1− z)(1n−1 + 1n−2z+ . . . + 1zn−2 + zn−1) = (1− z)(1+ z+ . . . + zn−1) ,

und wir erhalten

Sn−1 =1

1− z− zn

1− z. (3.5)

Sei nun beliebigǫ > 0 vorgegeben. WahleN ∈ N mit |z|n < ǫ, n ≥ N (vgl.Beispiel 3.2.4, (iv)), dann folgt

∣∣∣Sn−1 −1

1− z

∣∣∣ = |z|n|1− z| <

ǫ

|1− z| , n ≥ N .

Wegen Lemma 3.2.6 gilt somitSn−1 → 11−z, und wegen Satz 3.2.8 auch

limn→∞ Sn =1

1−z.

3.2.10 Lemma. Sei〈X, d〉 ein metrischer Raum und seien(xn)n∈N, (yn)n∈N Folgen vonElementen von X, sodasslimn→∞ xn = x undlimn→∞ yn = y. Dann folgt

limn→∞

d(xn, yn) = d(x, y).

Beweis.Zunachst wollen wir folgende Ungleichung∣∣∣d(a1, b1) − d(a2, b2)

∣∣∣ ≤ d(a1, a2) + d(b1, b2), a1, a2, b1, b2 ∈ X . (3.6)

beweisen. Aus der Dreiecksungleichung folgtd(a1, b1) − d(a2, b1) ≤ d(a1, a2) sowied(a2, b1) − d(a1, b1) ≤ d(a1, a2). Also gilt

∣∣∣d(a1, b1) − d(a2, b2)∣∣∣ ≤

∣∣∣d(a1, b1) − d(a2, b1)∣∣∣ +

∣∣∣d(a2, b1) − d(a2, b2)∣∣∣ ≤

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60 KAPITEL 3. DER GRENZWERT

d(a1, a2) + d(b1, b2) .

Sei nunǫ > 0 undN ∈ N so groß, dassd(xn, x), d(yn, y) < ǫ2, wennn ≥ N. Aus (3.6)

folgt|d(xn, yn) − d(x, y)| ≤ d(xn, x) + d(yn, y) < ǫ

fur alle n ≥ N.❑

Ein weiterer Begriff, der im Zusammenhang mit konvergenten Folgen auftritt, istder der Beschranktheit.

3.2.11 Definition. Sei 〈X, d〉 ein metrischer Raum, und seiY ⊆ X. Dann heißtY be-schrankt, wenn es eine ZahlC > 0 und einen Punktx0 ∈ X gibt, sodass

d(x0, y) ≤ C, y ∈ Y .

Eine Folge (xn)n∈N heißt beschrankt, wenn die Bildmenge{xn : n ∈ N} beschrankt ist.Allgemeiner heißt eine Funktionf : E→ X beschrankt, wenn die Bildmengef (E)

beschrankt ist.

Die MengeY ist also beschrankt, wenn sie ganz in einem gewissen Kreis7 (Mittel-punktx0, RadiusC) liegt.

3.2.12 Bemerkung. Yist beschrankt genau dann, wenn es zu jedem Punktx ∈ X eineZahl Cx > 0 gibt mit d(x, y) ≤ Cx, y ∈ Y. Denn istx ∈ X gegeben, so setzeCx :=d(x, x0) +C. Dann gilt fur jedesy ∈ Y

d(x, y) ≤ d(x, x0) + d(x0, y) ≤ d(x, x0) +C = Cx .

Mit Hilfe dieser Tatsache sieht man auch, dassY ⊆ C (Y ⊆ R) versehen mit dereuklidischen Metrik genau dann beschrankt ist, wenn fur ein gewissesC > 0 gilt, dass

∀x ∈ Y⇒ |x| = d(x, 0) ≤ C.

Im FalleY ⊆ R stimmt somit diese Definition von Beschranktheit mit der von Defini-tion 2.2.4 uberein.

3.2.13 Proposition.In einem metrischen Raum ist jede konvergente Folge(xn)n∈N auchbeschrankt.

Beweis.WahleN ∈ Nmit d(xn, x) < 1 fur allen ≥ N. Setzt man

C := 1+max{d(x1, x), . . . , d(xN−1, x)} ,

so erhalt mand(xn, x) ≤ C fur jedesn ∈ N.❑

Insbesondere gibt es zu jeder konvergenten reell- bzw. komplexwertigen Folge(xn)n∈N ein KonstanteC > 0, sodass|xn| ≤ C, n ∈ N.

3.2.14 Bemerkung.Die Umkehrung von Proposition 3.2.13 ist falsch und zwar in jedem metrischen Raum, der mehr alseinen Punkt enthalt. In der Tat gilt furx, y ∈ X mit x , y, dass die Folgex, y, x, y, x, y, x, . . . zwar beschrankt, aber nichtkonvergent ist.

7Ein Kreis in einem metrischen Raum〈X, d〉 ist hier zu verstehen als{y ∈ X : d(x0, y) ≤ C}.

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3.3. FOLGEN REELLER UND KOMPLEXER ZAHLEN 61

3.2.15 Beispiel.Man betrachte die Folge (Sn)n∈N aus Beispiel 3.2.9, (ii ), fur den Fall|z| = 1 aberz, 1. Wegen (3.5) gilt

Sn =1− zn+1

1− z;

also|Sn| ≤ 1+|zn+1||1−z| =

2|1−z| . Die Folge (Sn)n∈N ist damit beschrankt. Sie ist aber nicht kon-

vergent, denn gemaß den Ergebnissen im nachsten Abschnitt ware dann auch (zn)n∈Nkonvergent. Das ist aber nicht der Fall. Man setze z.B.z= i oderz= −1.

3.3 Folgen reeller und komplexer Zahlen

Wir wollen uns hier zunachst mit dem metrischen Raum〈R, d〉 beschaftigen, und fol-gendes einfaches, aber sehr nutzliches Lemma bringen.

3.3.1 Lemma. Fur zwei konvergente Folgen(xn)n∈N, (yn)n∈N reeller Zahlen mit denGrenzwerten x bzw. y gilt:

(i) Ist c ∈ R mit x < c (c < x), so gibt es ein N∈ N, sodass xn < c (c < xn) fur allen ≥ N.

(ii ) Ist x< y, so gibt es ein N∈ N, sodass xn < yn fur alle n≥ N.

(iii ) Gilt ab einem gewissen N∈ N die Ungleichung xn ≤ yn, so folgt x≤ y.

Beweis.

(ii ) Setzt manǫ = y−x2 , so folgt aus der Konvergenz die Existenz einesN ∈ N, sodass

|xn − x| < y−x2 und |yn − y| < y−x

2 fur n ≥ N. Somit gilt

−(yn − y) − (x− xn) ≤ |yn − y| + |x− xn| < (y− x) ;

alsoyn − xn = (y− x) + (yn − y) + (x− xn) > 0.

(i) Folgt aus (ii ), wenn wir (yn)n∈N ((xn)n∈N) als die identische Folge (c)n∈N wahlen.

(iii ) Ware x > y, so wurde aus (ii ) folgen, dassxn > yn fur alle n ≥ k mit einemhinreichend großenk ∈ N. Das widerspricht der Annahme.

Der nachste Satz dient haufig als Werkzeug zur Berechnung von Grenzwerten.

3.3.2 Satz(Einschluss-Satz). Seien(xn)n∈N, (yn)n∈N und(an)n∈N drei reelle Folgen mit

xn ≤ an ≤ yn fur alle bis auf endlich viele n∈ N.

Existieren zudem die Grenzwertelimn→∞ xn und limn→∞ yn, und gilt

limn→∞

xn = limn→∞

yn,

so existiert auch der Grenzwertlimn→∞ an und stimmt mit dem gemeinsamen Grenzwertvon(xn)n∈N und(yn)n∈N uberein.

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62 KAPITEL 3. DER GRENZWERT

Beweis. Setzea := limn→∞ xn. Zu ǫ > 0 wahleN ∈ N mit |xn − a|, |yn − a| < ǫ undxn ≤ an ≤ yn fur n ≥ N. Fur solchen folgt

−ǫ < xn − a ≤ an − a ≤ yn − a < ǫ,

d.h. |an − a| < ǫ.❑

3.3.3 Beispiel.Als einfaches Beispiel betrachte man die Folge(

1n2−3n+3

)n∈N

. Man siehtleicht, dass

0 ≤ 1n2 − 3n+ 3

≤ 1n, fur n ≥ 3.

Also folgt mit Satz 3.3.2, dass limn→∞ 1n2−3n+3 = 0.

3.3.4 Beispiel.

Jede Zahlx ∈ R ist Limes einer Folge (rn)n∈N bestehend aus rationalen Zahlen.Um das einzusehen, wahle gemaß Satz 2.6.3 fur jedesn ∈ N eine Zahlrn ∈ Q,sodassx < rn < x + 1

n. . Aus Satz 3.3.2 folgt limn→∞ rn = x. Genauso gibt eineFolge irrationaler Zahlen großerx, die gegenx konvergiert.

Arbeitet man mit großerer mathematischen Strenge, so mussman obiges Argument folgendermaßen prazisieren:

Nach Satz 2.6.3 ist die MengeMn der r ∈ Q mit x < r < x + 1n nicht leer. Nun seiρ einfach eine nach dem

Auswahlaxiomexistierende Funktion vonN nach∪n∈NMn, sodassρ(n) ∈ Mn. Nun setze einfachrn = ρ(n).

Mit einer etwas feineren Argumentation kann man (rn)n∈N sogarstreng monotonfallend (rn1 > rn2 wennn1 < n2) wahlen. Dazu definiert manrn induktiv so, dassx < rn < min(x + 1

n , rn−1). Genauso kann man eine streng monoton wachsendeFolge ausQ konstruieren, die gegenx konvergiert.

Lasst man auch hier mehr Strenge walten, so benotigt man zur Existenz der Folge (rn)n∈N den Rekursionssatz:

Fur jedesy > x und jedesn ∈ N ist die MengeQ ∩ (x,min(y, x + 1n )) nicht leer. Sei : N × (x,+∞) → Q eine

Auswahlfunktion, sodass(n, y) ∈ Q ∩ (x,min(y, x + 1n )). Nun seia := (1, r1) ∈ N × ((x,+∞) ∩ Q) =: A und

g : A → A definiert durchg(n, y) = (n + 1, (n, y)). Nach dem Rekursionssatz gibt es eine Funktionφ : N → A

mit φ(1) = a undφ(n + 1) = g(φ(n)). Ist fur n ∈ N nun rn die zweite Komponente vonφ(n), so hat (rn)n∈N die

geforderten Eigenschaften.

Sei F ⊆ R nach oben beschrankt undx := supF. Gemaß der Definition desSupremums gilt (x− 1

n , x]∩F , ∅ fur allen ∈ N. Wahlt man fur jedesn ∈ N einereelle Zahlxn ∈ (x− 1

n , x] ∩ F, so erhalt man eine Folge (xn)n∈N, in F, die gegensupF konvergiert. Man kann ahnlich wie oben (xn)n∈N sogar monoton wachsendwahlen.

Entsprechendes gilt fur nach unten beschrankte Mengen und deren Infimum.

Im nachsten Satz wollen wir zeigen, dass die algebraischenOperationen und dieBetragsfunktion aufR undCmit dem Grenzwertbegriff vertraglich sind.

3.3.5 Satz(Rechenregeln fur Folgen). Seien(zn)n∈N und (wn)n∈N konvergente Folgenreeller oder komplexer Zahlen,limn→∞ zn =: z, limn→∞ wn =: w, und seiλ ∈ R bzw.λ ∈ C. Dann gilt fur k∈ N

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3.3. FOLGEN REELLER UND KOMPLEXER ZAHLEN 63

(i) limn→∞ |zn| = |z|, limn→∞ zn = z.

(ii ) limn→∞(zn + wn) = z+ w, limn→∞(−zn) = −z.

(iii ) Ist z= 0, also zn→ 0, n→ ∞, und ist(un)n∈N eine beschrankte Folge ausR bzw.C, dann giltlimn→∞(zn · un) = 0.

(iv) limn→∞(λzn) = λz undlimn→∞(zn · wn) = z · w.

(v) limn→∞ zkn = zk.

(vi) Falls z, 0 ist, gilt limn→∞1zn= 1

z .

(vii) Ist zn ∈ R und zn ≥ 0, so folgtlimn→∞ k√

zn =k√

z.

3.3.6 Bemerkung.Bis auf den letzten Punkt werden wir Satz 3.3.5 fur komplexeFolgenbeweisen. Fast derselbe Beweis funktioniert fur reellwertige Folgen.

Man kann aber die Rechenregeln fur reellwertige Folgen auch aus denen furkomplexwertige Folgen herleiten, da – wie wir gleich zeigenwollen – eine Folge(xn)n∈N in R genau dann konvergiert, wenn (xn + i0)n∈N in C konvergiert. Dabei giltlimn→∞(xn + i0) = (limn→∞ xn) + i0.

Ist (xn)n∈N eine reellwertige Folge, welche gegen einx ∈ R konvergiert, so konver-giert (xn+ i0)n∈N gegenx+ i0, da ja|(xn+ i0)− (x+ i0)| = |xn− x| → 0; vgl. Bemerkung3.2.3.

Konvergiert umgekehrt fur eine reellwertige Folge (xn)n∈N die Folge (xn + i0)n∈N inC gegenx+ iy ∈ C, so muss wegen

0 ≤ max(|xn − x|, |0− y|) ≤ |(xn + i0)− (x+ iy)| → 0, n→ ∞,

gemeinsam mit Satz 3.3.2 folgen, dassxn→ x und |y| → 0, d.h.y = 0.

Beweis. (Satz 3.3.5)

(i) Zu ǫ > 0 wahleN ∈ N, sodass|zn−z| < ǫ fur n ≥ N. Mit der Dreiecksungleichungnach unten erhalt man

∣∣∣|zn| − |z|∣∣∣ ≤ |zn − z| < ǫ, |zn − z| = |zn − z| < ǫ.

Man kann limn→∞ |zn| = |z| auch als Spezialfall von Lemma 3.2.10 sehen:|zn| =d(zn, 0)→ d(z, 0) = |z|.

(ii ) Seiǫ > 0 gegeben. WahleN so, dass|zn − z| < ǫ2 und auch|wn − w| < ǫ

2 fur allen ≥ N. Es gilt fur solchen

|(zn + wn) − (z+ w)| = |(zn − z) + (wn − w)| ≤ |zn − z| + |wn − w| < ǫ

2+ǫ

2= ǫ.

Also ist (zn + wn)n∈N konvergent und der Grenzwert istz+ w. Weiters gilt furNso groß, dass|zn − z| < ǫ, wenn nurn ≥ N, auch

|(−zn) − (−z)| = | − (zn − z)| = |zn − z| < ǫ, n ≥ N.

Also konvergiert (−zn)n∈N gegen−z.

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64 KAPITEL 3. DER GRENZWERT

(iii ) Ist C > 0 so, dass|un| ≤ C, n ∈ N, und istǫ > 0, so gibt es wegenzn → 0 einN ∈ N, sodass|zn| < ǫ

C , n ≥ N. Es folgt|zn ·un| < ǫ fur allen ≥ N, alsozn ·un→ 0.

(iv) Ist N so groß, dass|zn − z| < ǫ fur n ≥ N, so gilt

|λzn − λz| = |λ| · |zn − z| < λ · ǫ, n ≥ N.

Gemaß (3.4) folgt daherλzn→ λz.

Um znwn → zwnachzuweisen, sei daran erinnert, dass gemaß Proposition3.2.13konvergente Folgen beschrankt sind. Nach (ii ) konvergiert (zn − z) gegen Null,und mit (iii ) daher auch (zn − z)wn → 0, n→ ∞. Der schon bewiesene Teil von(iv) gibt nun zusammen mit (ii )

znwn = (zn − z)wn + zwnn→∞−→ 0+ zw.

(v) Das folgt durch vollstandige Induktion nachk aus (iv).

(vi) Sei nunz, 0. Wegen (i) und Lemma 3.3.1 folgt auszn → z fur hinreichendgroßesn, dass|zn| > |z|

2 . Es folgt die Abschatzung

∣∣∣∣∣1zn− 1

z

∣∣∣∣∣ =|z− zn||z| · |zn|

≤ |z− zn| ·2|z|2 ,

und damit wird die Differenz 1zn− 1

z fur großen beliebig klein.

(vii) Sei zunachstz> 0. Wegen (i) und Lemma 3.3.1 folgt auszn→ zdie Existenz vonN ∈ N, sodass furn ≥ N sicherzn >

z2 > 0 und|zn − z| < ǫ. Gemaß (2.10) gilt fur

solchen

| k√

zn − k√

z| = |zn − z|| k√

zk−1+ k√

zk−2 k√

zn + . . . +k√

znk−2 k√

z+ k√

znk−1|≤

|zn − z|| k√ z

2k−1+ k

√ z2

k−2 k√ z

2 + . . . +k√ z

2k−2 k

√ z2 +

k√ z

2k−1|

k k√ z

2k−1

,

da klarerweise auchz> z2. Gemaß (3.4) folgtk

√zn → k

√z.

Ist z = 0, so seiǫ > 0 vorgegeben. Ist nunN ∈ N so, dasszn = |zn − 0| < ǫk furn ≥ N, dann folgt aus der Monotonie der Wurzelfunktion (vgl. Bemerkung 2.7.7)| k√

zn − 0| = k√

zn < ǫ. Also k√

zn → 0.

3.3.7 Beispiel.

(i) Wegen limn→∞1n = 0 folgt aus Satz 3.3.5, (vii), dass limn→∞

1p√n= 0. Zusammen

mit Satz 3.3.5, (v), erhalt man also, dass fur aller ∈ Q, r > 0,

limn→∞

1nr= 0 .

Page 71: ANA1.pdf

3.4. MONOTONE FOLGEN 65

(ii ) Um fur xn =√

n3 + 1−√

n3 + 2n den Grenzwert zu berechnen, verwenden wir(2.10) und erhalten

√n3 + 1−

√n3 + 2n =

(n3 + 1)− (n3 + 2n)√

n3 + 1+√

n3 + 2n=

1− 2n√

n3 + 1+√

n3 + 2n=

1n − 2

√n+ 1

n2 +

√n+ 2

n

.

Wegen

0 ≤ 1√

n+ 1n2 +

√n+ 2

n

≤ 1√

n

ergibt Satz 3.3.2, dass der mittlere Ausdruck gegen Null konvergiert. Zusammenmit Satz 3.3.5, (iv), folgt limn→∞ xn = 0.

(iii ) Die Folgexn =n√

n konvergiert gegen 1. In der Tat gilt fur die Folgean := xn − 1,dassan ≥ 0 und (1+ an)n = n. Nach dem Binomischen Lehrsatz gilt

n = (an + 1)n =n∑

k=0

(nk

)ak

n1n−k ≥ 1+

n(n− 1)2

a2n.

Damit folgta2n ≤

2(n−1)n(n−1) =

2n → 0. Gemaß Satz 3.3.5, (vii), gilt an → 0 und damit

xn → 1, n→ ∞.

(iv) Ist q > 0 fest, so gilt limn→∞ n√

q = 1. Betrachte zunachst den Fallq ≥ 1. Danngilt fur n ≥ q

1 ≤ n√

q ≤ n√

n .

Nach Satz 3.3.2 folgtn√

q → 1. Im Fall 0 < q < 1 betrachte 1n√q =

n

√1q und

verwende Satz 3.3.5.

(v) Um fur z ∈ C mit |z| < 1 undk ∈ N den Grenzwert limn→∞ nk · zn zu berechnen,sei N ∈ N so groß, dass|

√nk · z| < 1+|z|

2 (< 1) fur alle n ≥ N, was wegen

limn→∞√

nk · |z| = |z| zusammen mit Lemma 3.3.1 moglich ist. Furn ≥ N giltdann

0 ≤ |nk · zn| ≤(1+ |z|

2

)n

,

und somit limn→∞ nk · zn = 0.

3.4 Monotone Folgen

Bisher haben wir zwar gesehen, was aus der Konvergenz einer oder mehrerer Folgenfolgt. Das Problem, ob eine gegebene Folge konvergiert odernicht haben wir jedochnicht betrachtet. Die definierende Eigenschaft vonR, vollstandig angeordnet zu sein,wird uns inR die Existenz von Grenzwerten bestimmter Folgen liefern.

3.4.1 Definition. Eine Folge (an)n∈N in R heißtmonoton wachsend, falls an ≤ an+1 furalle n ∈ N, dh.

a1 ≤ a2 ≤ a3 ≤ . . .

Page 72: ANA1.pdf

66 KAPITEL 3. DER GRENZWERT

Sie heißtmonoton fallend, falls an ≥ an+1 fur allen ∈ N, dh.

a1 ≥ a2 ≥ a3 ≥ . . .

Eine Folge heißtmonoton, wenn monoton wachsend oder monoton fallend ist.

3.4.2 Satz.Sei (xn)n∈N eine monoton wachsende und nach oben beschrankte Folge.Dann konvergiert(xn)n∈N, wobei

limn→∞

xn = sup{xn : n ∈ N} .

Entsprechend konvergiert eine monoton fallende und nach unten beschrankte Folge(xn)n∈N gegeninf {xn : n ∈ N}.

Beweis. Sei (xn)n∈N monoton wachsend und nach oben beschrankt. Somit existiertx := sup{xn : n ∈ N}. Wir zeigen, dass limn→∞ xn = x. Seiǫ > 0. Wegenx− ǫ < x kannx − ǫ keine obere Schranke der Menge{xn : n ∈ N} sein. Es gibt also einN ∈ N mitxN > x− ǫ. Wegen der Monotonie folgt auchxn > x− ǫ fur allen ≥ N. Da stetsx ≥ xn

gilt, erhalt man furn ≥ N0 ≤ x− xn < ǫ,

und damit|xn − x| < ǫ.Fur monoton fallende Folgen schließt man in analoger Art und Weise.

3.4.3 Beispiel.

(i) Betrachte die Folge(

1n

)n∈N

. Gemaß Beispiel 2.6.2 gilt inf{ 1n : n ∈ N} = 0. Also

folgt aus Satz 3.4.2, dass limn→∞ 1n = 0. Dieses Konvergenzverhalten haben wir

ubrigens auch schon in Beispiel 3.2.4, (ii ), festgestellt.

(ii ) Die Bedingung in Satz 3.4.2 ist hinreichend fur Konvergenz, aber nicht notwen-dig. Betrachte dazu die Folge

((−1)n

n

)n∈N

.

(iii ) Nach dem Rekursionssatz Satz 2.3.3 ist durcha1 =√

2 undan+1 =√

2+ an eineFolge in [0,+∞) wohldefiniert. Wir behaupten, dass dabeian ≤ 2 undan ≤ an+1

fur alle n ∈ N, was wir mittels vollstandiger Induktion zeigen wollen.

Furn = 1 gilt offenbara1 =√

2 ≤ 2 unda1 =√

2 ≤√

2+√

2 ≤ a2.

Gelte nunan ≤ 2 undan ≤ an+1. Daraus folgtan+1 =√

2+ an ≤√

2+ 2 = 2 undauchan+1 =

√2+ an ≤

√2+ an+1 = an+2.

Gemaß Satz 3.4.2 konvergiert (an)n∈N gegena = sup{an : n ∈ N}, welches sichera ≥ a1 =

√2 > 0 erfullt. Uma genau zu berechnen, sei bemerkt, dass auch (vgl.

Satz 3.3.5)a = lim

n→∞an+1 = lim

n→∞

√2+ an =

√2+ a .

Somit erfullta die Gleichunga2 − a− 2 = 0. Also gilt a = 2 odera = −1, wobeidie zweite Moglichkeit wegena > 0 ausgeschlossen werden kann.

(iv) Furn ∈ N sei

en =

(1+

1n

)n

und fn =

(1+

1n

)n+1

.

Page 73: ANA1.pdf

3.4. MONOTONE FOLGEN 67

Offenbar gilt immer 1< en < fn. Wir rechnen mit Hilfe der Version der Bernoul-lische Ungleichung aus Beispiel 2.3.11

en+1

en=

(1+

1n

) 1+ 1

n+1

1+ 1n

n+1

=n+ 1

n

(n2 + 2n+ 1− 1

n2 + 2n+ 1

)n+1

=

n+ 1n

(1− 1

(n+ 1)2

)n+1

>n

n+ 1

(1− (n+ 1)

1(n+ 1)2

)=

n+ 1n

nn+ 1

= 1.

Ahnlich gilt

fnfn+1=

1

1+ 1n

1+ 1

n

1+ 1n+1

n+2

=n

n+ 1

(n2 + 2n+ 1

n2 + 2n

)n+2

=

nn+ 1

(1+

1n2 + 2n

)n+2

>n

n+ 1

(1+ (n+ 2)

1n2 + 2n

)=

nn+ 1

n+ 1n= 1 .

Also ist (en)n∈N streng monoton wachsend und (fn)n∈N streng monoton fallend.Wegen 1< en < fn ≤ f1 = 4 fur allen ∈ N sind diese Folgen auch beschrankt,und somit konvergent, wobei

limn→∞

fn = limn→∞

(1+

1n

)· en = 1 · lim

n→∞en .

Den gemeinsamen Grenzwert dieser Folgen nennt man dieEulersche Zahl e.

Fur nach oben beschrankte, aber nicht notwendigerweise monotone Folgen gilt fol-gende schwachere Aussage.

3.4.4 Lemma. Sei(xn)n∈N eine beschrankte Folge ausR. Fur N ∈ N sei

yN := inf{xn : n ≥ N}.

Dann ist die Folge(yN)N∈N monoton wachsend, beschrankt, und konvergiert daher ge-gensup{yN : N ∈ N}. Also existiert der sogenannteLimes Inferior

lim infn→∞

xn := supN∈N

infn≥N

xn = limN→∞

infn≥N

xn.

Schließlich gibt es eine Teilfolge(xn( j)) j∈N von (xn)n∈N, die ebenfalls gegenlim inf n→∞ xn konvergiert.

Entsprechendes gilt, wenn man alle Infima durch Suprema und umgekehrt ersetzt.Also ist (zN)N∈N mit zN = sup{xn : n ≥ N} monoton fallend und beschrankt. IhrenGrenzwert nennt manLimes Superior

lim supn→∞

xn := infN∈N

supn≥N

xn = limN→∞

supn≥N

xn.

Beweis. Gemaß Voraussetzung gilt|xn| ≤ C, n ∈ N fur ein reellesC > 0. Somitexistiert fur jedesN ∈ N

yN := inf{xn : n ≥ N} ≤ C ,

Page 74: ANA1.pdf

68 KAPITEL 3. DER GRENZWERT

und in Folge auchy := sup{yN : N ∈ N}. Aus {xn : n ≥ N + 1} ⊆ {xn : n ≥ N} folgtyN+1 ≥ yN, und aus Satz 3.4.2 die Tatsache limn→∞ yn = y, wobeiym ≤ y fur allem ∈ N.

Wir definieren nun rekursiv eine Teilfolge8 (xn( j)) j∈N von (xn)n∈N, indem wirzunachstn(1) = 1 setzen. Istn( j) ∈ N definiert, so existiert wegenyn( j)+1 ≤ y einn( j + 1) ∈ N derart, dassn( j + 1) > n( j) und

yn( j)+1 = inf{xk : k > n( j)} ≤ xn( j+1) < y+1

j + 1.

Wegenyn( j) ≤ yn( j)+1 ≤ xn( j+1) < y+ 1j+1 liefert das Einschlusskriterium Satz 3.3.2 die

Konvergenz von (xn( j)) j∈N gegeny.Der Beweis fur den Limes Superior verlauft entsprechend.

3.4.5 Fakta.

1. Aus infn≥N xn ≤ supn≥N xn, N ∈ N folgt unmittelbar

lim infn→∞

xn ≤ lim supn→∞

xn.

2. Weiters folgt aus den Rechenregeln fur Suprema und Infimasofort, dasslim supn→∞(−xn) = − lim inf n→∞ xn sowie lim supn→∞ an ≤ lim supn→∞ bn undlim inf n→∞ an ≤ lim inf n→∞ bn fur beschrankte Folgen (an)n∈N, (bn)n∈N mit an ≤bn ab einem IndexN ∈ N.

3. Ist (xn)n∈N konvergent, so folgt aus Lemma 3.4.4 und Satz 3.2.8, (iv), dass

lim infn→∞

xn = limn→∞

xn = lim supn→∞

xn. (3.7)

4. Gilt umgekehrty := lim inf n→∞ xn = lim supn→∞ xn, so gibt es zu jedemǫ > 0ein N1 ∈ N, sodassy− ǫ < infn≥N xn ≤ y fur alle N ≥ N1, und einN2 ∈ N, sodassy ≤ supn≥N < y+ ǫ fur alle N ≥ N2. FurN ≥ max(N1,N2) folgt

y− ǫ < infn≥N

xn ≤ xN ≤ supn≥N

< y+ ǫ ,

und damit die Konvergenz von (xn)n∈N gegeny; also gilt (3.7).

5. Aus lim supn→∞ xn = limN→∞ supn≥N xn zusammen mit Satz 2.6.3 und Lemma3.3.1 zeigt man, dass lim supn→∞ xn < ξ genau dann, wenn es einq < ξ gibt,sodassxn ≤ q fur alle bis auf endlich vielen ∈ N. Entsprechendes gilt furlim inf n→∞ xn > ξ.

6. Ahnlich gilt lim supn→∞ xn > ξ genau dann, wenn es einq > ξ gibt, sodassxn ≥ qfur unendlich vielen ∈ N. Entsprechendes gilt fur lim infn→∞ xn < ξ.

7. In der Tat ist lim supn→∞ xn jene eindeutige Zahlx, fur die gilt:

Fur jedesǫ > 0 gibt es nur fur endlich vielen ∈ N, die der Ungleichungxn ≥ x+ ǫ genugen, wogegen fur unendlich

viele n ∈ N die Ungleichungxn ≥ x− ǫ gilt. Auch hier gilt entsprechendes fur lim infn→∞ xn.

8Dass man so verfahren kann, wird durch den Rekursionssatz gewahrleistet.

Page 75: ANA1.pdf

3.5. CAUCHY-FOLGEN 69

3.5 Cauchy-Folgen

Um in Allgemeinen metrischen Raumen Folgen auf Konvergenzzu untersuchen, fuhrtman den Begriff der Cauchy-Folge ein.

3.5.1 Definition. Sei 〈X, d〉 ein metrischer Raum. Eine Folge (xn)n∈N von ElementenausX heißtCauchy-Folge9, falls

∀ǫ ∈ R, ǫ > 0∃N ∈ N : d(xn, xm) < ǫ fur alle n,m≥ N . (3.8)

3.5.2 Bemerkung.Da es wegen Satz 2.6.3 zwischen jedemǫ ∈ R, ǫ > 0 und der Zahl 0einε ∈ Qmit 0 < ε < ǫ gibt, erhalt man eine zu Definition 3.5.1 aquivalente Definition,wenn man in (3.8) statt∀ǫ ∈ R, ǫ > 0 . . . den Ausdruck∀ǫ ∈ Q, ǫ > 0 . . . schreibt.

Aus dem selben Grund lasst sich die Konvergenz einer Folge durch (3.3) charakte-risieren, wenn man in eben dieser Gleichung∀ǫ ∈ Q, ǫ > 0 . . . anstatt∀ǫ ∈ R, ǫ > 0 . . .schreibt.

Ahnlich wie in Proposition 3.2.13 gilt.

3.5.3 Proposition. Sei(xn)n∈N eine Cauchy-Folge. Dann ist{xn : n ∈ N} beschrankt.

Beweis.WahleN ∈ N mit d(xn, xm) < 1 fur n,m≥ N. Setzt man

C := 1+max{d(x1, xN), . . . , d(xN−1, xN)} ,

so gilt d(xn, xN) ≤ C fur jedesn ∈ N.❑

Aus dem nachsten Resultat erkennt man einen Zusammenhang zum Begriff derKonvergenz.

3.5.4 Proposition. Ist die Folge(xn)n∈N konvergent, so ist sie eine Cauchy-Folge.

Beweis. Sei ǫ > 0 gegeben. Aus der Definition der Konvergenz folgt die Existenzeiner ZahlN ∈ N mit der Eigenschaft, dassd(xn, x) < ǫ

2, n ≥ N. Hier bezeichnetx den Grenzwert der Folge (xn)n∈N, der zwar nach Voraussetzung existiert, uber densonst aber nichts bekannt zu sein braucht. Dann gilt nach derDreiecksungleichung furn,m≥ N

d(xn, xm) ≤ d(xn, x) + d(x, xm) <ǫ

2+ǫ

2= ǫ.

Also ist jede konvergente Folge eine Cauchy-Folge. Wurde nun umgekehrt jedeCauchy-Folge konvergieren, so konnten wir die Konvergenzeiner Folge nachweisen,ohne ihren Grenzwert explizit in der Hand zu haben. Leider ist dies bei vielen metri-schen Raumen nicht der Fall.

3.5.5 Definition. Ein metrischer Raum〈X, d〉 heißtvollstandig, wenn jede Cauchy-Folge von Elementen ausX in X einen Grenzwert besitzt.

9Augustin Louis Cauchy. 21.8.1789 Paris - 22.5.1857 Sceaux (bei Paris)

Page 76: ANA1.pdf

70 KAPITEL 3. DER GRENZWERT

3.5.6 Beispiel.Die rationalen Zahlen sind nicht vollstandig. Dazu betrachte man z.B.eine Folge (rn)n∈N bestehend aus rationalen Zahlen wie in Beispiel 3.3.4, die gegen√

2 ∈ R \ Q konvergiert.Diese ist eine Cauchy-Folge inR und daher auch inQ. Sie konvergiert aber nicht

in Q. Denn wurde sie das tun, so wurde sie inR einerseits gegen√

2 und anderer-seits gegen einen Grenzwert inQ konvergieren. Das widerspricht der Eindeutigkeit desGrenzwertes inR.

3.5.7 Lemma. Sei (xn)n∈N eine Cauchy-Folge in einem metrischen Raum〈X, d〉, dieeine konvergente Teilfolge hat. Dann ist(xn)n∈N konvergent.

Proof. Sei (xn(k))k∈N die konvergente Teilfolge mit limk→∞ xn(k) = x. Zu ǫ > 0 wahleN1 so groß, dassd(xn, xm) < ǫ fur n,m≥ N1. WahleN2 so groß, dassd(xn(k), x) < ǫ furk ≥ N2. SetzeN := max{N1,N2}. Wahlt man nunk ≥ N, so folgtn(k) ≥ k ≥ N, undman erhalt furn ≥ N

d(xn, x) ≤ d(xn, xn(k)) + d(xn(k), x) < ǫ + ǫ = 2ǫ.

Das wichtigste Beispiel fur einen vollstandige metrischen Raum sind die reellenZahlen.

3.5.8 Satz(Cauchysches Konvergenzkriterium). Sei(xn)n∈N eine Cauchy-Folge reellerZahlen. Dann existiert eine reelle Zahl x, sodass(xn)n∈N gegen x konvergiert.

Beweis. Gemaß Proposition 3.5.3 ist die Cauchy-Folge (xn)n∈N beschrankt. NachLemma 3.4.4 hat (xn)n∈N eine konvergente Teilfolge. Schließlich konvergiert gem¨aßLemma 3.5.7 auch die Folge (xn)n∈N selbst.

3.5.9 Beispiel.

Der metrische RaumX = [0, 1] versehen mit der euklidischen Metrik ist auchvollstandig, denn ist (xn)n∈N eine Cauchy-Folge inX, so ist sie das auch inR.Wegen Satz 3.5.8 gilt limn→∞ xn = x fur ein x ∈ R.

Wegen 0≤ xn ≤ 1, n ∈ N, folgt aus Lemma 3.3.1, (iii ), dass auchx ∈ X. Alsohat jede Cauchy-Folge inX einen Grenzwert inX.

Ist dagegen etwaX = (0, 1] versehen mit der euklidischen Metrik, so ist(

1n

)n∈N

eine Cauchy-Folge inX. Sie hat aber inX keinen Grenzwert, denn sonst wurde(1n

)n∈N

auch inR gegen diesen Grenzwertx ∈ X ⊆ R und andererseits gegen 0streben. Wegen 0< X mussx , 0 im Widerspruch zu Satz 3.2.8, (i).

3.6 Konvergenz in weiteren metrischen Raumen

Wir betrachten die MengeRp (p ∈ N) und versehen diesen mit den drei schon vor-gestellten Metrikend1, d2, d∞. Wie bereits bemerkt, unterscheiden sich diese Metrikenvoneinander.

Page 77: ANA1.pdf

3.6. KONVERGENZ IN WEITEREN METRISCHEN RAUMEN 71

Der Unterschied ist aber nicht allzu groß. In der Tat werden wir sehen, dass wenneine Folge bezuglich einer der drei Metriken konvergiert,diese dann auch bezuglicherder anderen zwei konvergiert10.

Der Grund dafur liegt in der Ungleichungskette

maxk=1,...,p

{|xk|} ≤( p∑

k=1

|xk|2) 1

2 ≤p∑

k=1

|xk| ≤ p · maxk=1,...,p

{|xk|} . (3.9)

Das zweite”≤“ sieht man durch quadrieren. Das erste und dritte ist klar.

3.6.1 Proposition. Sei(xn)n∈N eine Folge von Punkten xn = (xn,1, . . . , xn,p) ∈ Rp, undx = (x1, . . . , xp) ∈ Rp. Dann impliziertlimn→∞ xn = x bezuglich einer der Metriken d1,d2, d∞ auchlimn→∞ xn = x bezuglich der anderen zwei Metriken aus d1, d2, d∞.

Die Konvergenz von(xn)n∈N gegen x bezuglich einer und daher aller dieser Metri-ken ist wiederum aquivalent zurkomponentenweisen Konvergenz11

limn→∞

xn,k = xk fur alle k= 1, . . . , p . (3.10)

Insbesondere konvergiert eine Folge(zn)i∈N komplexer Zahlen gegen ein z∈ C genaudann, wenn12

limn→∞

Re(zn) = Rez und limn→∞

Im(zn) = Im z.

Beweis.Aus Ungleichung (3.9) schließen wir auf

d∞(xn, x) ≤ d2(xn, x) ≤ d1(xn, x) ≤ p · d∞(xn, x).

Das Einschlusskriterium Satz 3.3.2 liefert nun sofort, dass, wenn eine der Folgen(d1(xn, x)

)n∈N,

(d2(xn, x)

)n∈N bzw.

(d∞(xn, x)

)n∈N eine Nullfolge ist, es dann die beiden

anderen Folgen auch sind. Aus Bemerkung 3.2.3 folgt, dass die Konvergenzbegriffebzgl. der drei Metriken ubereinstimmen.

Sei nun limn→∞ xn = x bezuglich bezuglich einer dieser Metriken und daher insbe-sondere bezuglichd∞. Furk = 1, . . . , p gilt

0 ≤ |xn,k − xk| ≤ maxj=1,...,p

{|xn, j − x j |} = d∞(xn, x) .

Wieder nach dem Einschlusskriterium Satz 3.3.2 zusammen mit Bemerkung 3.2.3 folgtlimn→∞ xn,k = xk.

Sei umgekehrt (3.10) vorausgesetzt undǫ > 0 gegeben. WahleN1, . . . ,Np, sodassfur k = 1, . . . , p folgt |xn,k − xk| < ǫ, n ≥ Nk. Setzt manN := max{N1, . . . ,Np}, so folgt

d∞(xn, x) = maxk=1,...,p

{|xn,k − xk|} < ǫ .

Also gilt xn→ x bezuglichd∞.❑

10Es sei aber hier auch darauf hingewiesen, dass es auf ein und der selben Menge Metrikend, d gebenkann, sodass eine gewissen Folge (xn)n∈N in dieser Menge bezuglichd konvergiert, aber bezuglichd diver-giert.

11Diese Konvergenz versteht sich inR bezuglich der euklidischen Metrik.12Vergleiche Bemerkung 3.3.6.

Page 78: ANA1.pdf

72 KAPITEL 3. DER GRENZWERT

3.6.2 Beispiel.Man betrachte die Folge (xn)n∈N im R3 gegeben durch

xn =1n·(−1)n, 2− 3n,

n∑

k=0

12k

.

Wegen| 1n · (−1)n| = 1n → 0 und

∣∣∣ 1n ·

∑nk=0

12k

∣∣∣ ≤ 2n → 0 konvergieren die erste und die

dritte Komponente gegen 0.Die zweite konvergiert wegen1n(2−3n) = 2

n −3 gegen−3. Also konvergiert unsereFolge bezuglichd1, d2, d∞ gegen (0,−3, 0).

3.6.3 Korollar. Der Raum Rp versehen mit einer der Metriken d1, d2, d∞ istvollstandig. Insbesondere sind die komplexen Zahlen vollstandig.

Beweis.Zunachst sei bemerkt, dass wenn eine Folge (xn)n∈N von Punkten desRp eineCauchy-Folge bezuglich einer der Metrikend1, d2, d∞ ist, so ist sie das wegen

d∞(xn, xm) ≤ d2(xn, xm) ≤ d1(xn, xm) ≤ p · d∞(xn, xm)

auch bezuglich der beiden anderen Metriken.Sei nun (xn)n∈N eine Cauchy-Folge von Punkten desRp (bzgl. d1, d2, d∞), wobei

xn = (xn,1, . . . , xn,p). Dann gibt es zu jedem vorgegebenenǫ > 0 eine ZahlN ∈ N mitd∞(xn, xm) < ǫ fur n,m≥ N. Es folgt fur jedesk ∈ {1, . . . , p}

|xn,k − xm,k| ≤ d∞(xn, xm) < ǫ, n,m≥ N ,

d.h. jede der Folgen (xn,k)n∈N, k = 1, . . . , p, ist eine Cauchy-Folge reeller Zahlen. Daherexistiereny1, . . . , yp ∈ Rmit

limi→∞

xi,k = yk, k = 1, . . . , p .

Wegen Proposition 3.6.1 folgt limn→∞ xn = y mit y = (y1, . . . , yp).❑

3.6.4 Bemerkung.Die in Satz 3.3.5 hergeleiteten Rechenregeln gelten zum Teil auchin Rp, wennRp mit der euklidischen Metrik und mit den Verknupfungen

”+“ und

”skalares Multiplizieren“ wie aus der Linearen Algebra bekannt versehen wird. Sind

also (xn)n∈N, (yn)n∈N Folgen inRp, die gegenx bzw. y konvergieren, und ist (λn)n∈Neine gegen einλ ∈ R konvergente Folge inR, so gilt

(i) limn→∞(xn + yn) = x+ y.

(ii ) limn→∞ λnxn = λx.

(iii ) limn→∞(xn, yn) = (x, y) (∈ R) (vgl. (3.2)).

Das folgt aus Proposition 3.6.1, da man die jeweiligen Konvergenzen auf die Kompo-nenten vonRp zuruckfuhren kann. Eine andere Moglichkeit, diese Behauptungen zubeweisen, besteht darin, den euklidischen Abstandd2(x, y) zweier Punktex, y ∈ Rp als

‖x − y‖2 zu schreiben, wobei‖x‖2 =√∑p

k=1 |xk|2, und im Beweis von Satz 3.3.5 den

Betrag durch‖.‖ ersetzt. Siehe Bemerkung 3.1.7.

Page 79: ANA1.pdf

3.7. KONVERGENZ GEGEN UNENDLICH 73

Dass es auf ein und derselben Menge zwei Metriken geben kann,sodass die Kon-vergenz einer Folge bezuglich der einen Metrik nicht die Konvergenz bezuglich deranderen bedingt, zeigt folgendes Beispiel.

3.6.5 Beispiel.Man betrachteR einerseits versehen mit der Euklidischen Metrikd2, al-so die von|.| induzierte Metrik, und andererseits mit der diskreten Metrik d aus Beispiel3.1.5, (iv).

Außerdem betrachte man die Folge(

1n

)n∈N

, welche bekannterweise gegen 0 kon-

vergiert. Bezuglichd tut sie das nicht, da ja immerd(0, 1n) = 1, n ∈ N.

Man zeigt unschwer, dass eine Folge (xn)n∈N bezuglichd genau dann gegenx kon-vergiert, wennxn = x ab einem Indexn0.

3.6.6 Beispiel.Seipeine feste Primzahl. Die Folge (pn)n∈N ist bezuglich der Metrikd(p) aufZ gegen 0 konvergent, bezuglichder euklidischen Metrikd2 aufZ jedoch divergent. Um das einzusehen, seiǫ > 0 gegeben. Wahlt manN ∈ N mit 1

pN < ǫ,

so gilt fur allen ≥ N

d(p)(pn,0) =

1pn≤ 1

pN< ǫ .

Angenommen es existierex ∈ Z, sodasspn → x bezuglichd2. WahleN ∈ N, sodassd2(pn, x) < 1, n ≥ N. Dann folgt mitder Bernoullischen Ungleichung

1+ n(p− 1) ≤ pn = d2(pn, 0) ≤ d2(pn, x) + d2(x, 0) < 1+ |x|, n ≥ N ,

und weiter, dassn(p− 1) ≤ |x|, n ≥ N, was der Tatsache widerspricht, dassR archimedisch angeordnet ist.Tatsachlich sind in〈Z,d2〉 nur die ab einem Index konstanten Folgen konvergent, da konvergente Folgen auch Cauchy-

Folgen sind, und damit insbesondere ab einem gewissen Indexder Abstand zweier Folgenglieder kleiner als 1 ist. Zweiverschiedene ganze Zahlen haben aber sicher einen Abstand von mindestens 1.

3.7 Konvergenz gegen unendlich

Die Folgexn = n, n ∈ N, als Folge inR ist nicht konvergent. Sie ist ja nicht einmalbeschrankt. Trotzdem zeigt sie ein doch recht determiniertes Verhalten. Aus dem Bauchheraus wurde man sagen, dass sie

”gegen unendlich“ strebt.

3.7.1 Definition. Eine Folge (xn)n∈N ausR heißt konvergent gegen+∞, in Zeichenxn → +∞, n→ ∞, falls

∀M > 0∃N ∈ N : xn > M fur n ≥ N . (3.11)

Entsprechend sagen wir, dass eine Folge (xn)n∈N ausR gegen−∞ strebt, in Zeichenxn → −∞, n→ ∞, wenn

∀M < 0∃N ∈ N : xn < M fur n ≥ N . (3.12)

Folgen, die im obigen Sinne gegen+∞ oder−∞ streben, heißen auchbestimmt diver-gent.

3.7.2 Bemerkung.Unmittelbar aus (3.11) bzw. (3.12) und Lemma 3.3.1, (i), erkenntman, dass sich fur eine Folge (xn)n∈N und einx ∈ R die Konvergenzen limn∞∞ xn = +∞und limn∞∞ xn = x gegenseitig ausschließen. Genauso kann limn∞∞ xn = −∞ undlimn∞∞ xn = x nicht gleichzeitig stattfinden. Ebenso schließen sich limn∞∞ xn = +∞und limn∞∞ xn = −∞ gegenseitig aus.

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74 KAPITEL 3. DER GRENZWERT

Ist (xn)n∈N in R und x ∈ R oderx = ±∞, so kann manx = limn→∞ xn einheitlichfolgendermaßen schreiben:

(∀ξ ∈ R, ξ < x∃N ∈ N : ∀n ≥ N ⇒ xn > ξ) ∧(∀η ∈ R, η > x∃N ∈ N : ∀n ≥ N⇒ xn < η).

Fur die Konvergenzbegriffeaus Definition 3.7.1 gelten ahnliche Regeln, wie bei derKonvergenz gegen Zahlen.

3.7.3 Satz. Fur Folgen (xn)n∈N und (yn)n∈N ausR, sodasslimn→∞ xn = +∞, geltenfolgende Aussagen.

(i) Ist die Menge{yn : n ∈ N, n ≥ k} fur ein gewisses k∈ N nach unten beschrankt,dann gilt

limn→∞

(xn + yn) = +∞.

(ii ) limn→∞(−xn) = −∞.

(iii ) Ist yn ≥ C fur ein gewisses C> 0 und fur alle n∈ N, n ≥ k mit einem gewissenk ∈ N, so gilt limn→∞ xnyn = +∞.

(iv) Ist xn ≤ yn, fur alle n ∈ N, n ≥ k fur einen gewissen Index k∈ N, so folgtlimn→∞ yn = +∞.

(v) Seien alle bis auf endlich viele, d.h. alle ab einem Index k∈ N, yn positiv (negativ).Dann gilt limn→∞ yn = +∞ (−∞) genau dann, wennlimn→∞

1yn= 0.

(vi) Sei(yn)n∈N monoton wachsend (fallend). Ist(yn)n∈N beschrankt, so ist diese Folgekonvergent gegen eine reelle Zahl. Ist(yn)n∈N unbeschrankt, so konvergiert siegegen+∞ (−∞).

Analoge Aussagen gelten im Falllimn→∞ xn = −∞.

Beweis.

(i) SeiC eine untere Schranke von{yn : n ∈ N, n ≥ k}. Zu M > 0 wahleN so groß,dassxn > M −C fur alle n ≥ N, so folgt furn ≥ max(N, k)

xn + yn > (M −C) +C = M ;

also (xn + yn)→ +∞.

(ii ) Folgt unmittelbar ausxn > M ⇔ −xn < −M.

(iii ) WahleN so, dassxn >MC fur n ≥ N und sodassN ≥ k. Dann folgt furn ≥ N auch

xnyn >MC·C = M,

d.h.xnyn→ +∞.

(iv) Ist xn > M, so erst rechtyn > M.

Page 81: ANA1.pdf

3.7. KONVERGENZ GEGEN UNENDLICH 75

(v) Seien alleyn mit n ≥ k positiv. Wir nehmen zuerst an, dass1yn→ 0. Zu vorgege-

benemM wahleN ≥ k so groß, dass furn ≥ N gilt 1yn< 1

M . Es folgtyn > M.

Gilt umgekehrtyn → +∞, und istǫ > 0, so wahleN so groß, dass furn ≥ N giltyn >

1ǫ. Daraus folgt| 1yn

| = 1yn< ǫ.

(vi) Ist (yn)n∈N beschrankt, so folgt die Aussage aus Satz 3.4.2. Im Fall derUnbe-schranktheit gibt es eben wegen dieser zu jedemM > 0 ein N ∈ N, sodassyN > M. Wegen der Monotonie folgt dann auchyn > M fur alle n ≥ N

3.7.4 Beispiel.Seiq ∈ R und betrachte die Folgeqn, n ∈ N. Dann gilt

limn→∞

qn =

+∞ , falls q > 11 , falls q = 10 , falls −1 < q < 1∄ , falls q ≤ −1

Dabei haben wir den Fall 0≤ q < 1 schon in Beispiel 3.2.9 behandelt. Der Fallq = 1 istklar. Furq > 1 folgt aus 0< 1

q < 1 durch Anwendung von Satz 3.7.3, dassqn → +∞.Ist −1 < q < 0, so beachte|qn| = |q|n → 0. Istq ≤ −1, so hat manqn ≥ 1 fur n geradeundqn ≤ −1 fur n ungerade. Insbesondere ist der Abstand zweier aufeinanderfolgenderFolgenglieder≥ 2, und wir sehen, dassqn keine Cauchy-Folge und erst recht keinekonvergente Folge sein kann. Konvergenz gegen+∞ oder−∞ kann aber auch nichtstattfinden, denn dann mussten ja die Folgenglieder insbesondere ab einem Index alledas gleiche Vorzeichen haben.

3.7.5 Beispiel.Seienp, q ausR[x], p, q , 0, dh. zwei Polynome mit reellen Koeffizi-enten ungleich dem Nullpolynom. Betrachte die Folge

xn :=p(n)q(n)

fur alle n ∈ N mit q(n) , 0. Da Polynome nur endlich viele Nullstellen haben, istxn

sicher fur allen ∈ N, n ≥ n0 mit einem gewissenn0 ∈ N definiert. Schreiben wirp undq als p(x) = amxm+ . . . + a0 undq(x) = bkxk + . . . + b0 mit am, bk , 0 an, so gilt gilt

limn→∞

xn =

0 , falls m< kambk

, falls m= k+∞ , falls m> k, am

bk> 0

−∞ , falls m> k, ambk< 0

Um dieses einzusehen, betrachte zuerst den Fall, dassm≤ k, und schreibe

xn =amnm+ am−1nm−1 + . . . + a0

bknk + bk−1nk−1 + . . . + b0=

amnm−k + am−1nm−1−k + . . . + a0n−k

bk + bk−1n−1 + . . . + b0n−k.

Dann konvergiert der Nenner dieses Bruches gegenbk , 0. Ist m < k, so konvergiertder Zahler gegen 0, insgesamt alsoxn → 0. Ist m = k, so strebt der Zahler gegenam

und wieder folgt unsere Behauptung.

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76 KAPITEL 3. DER GRENZWERT

R +∞−∞

Abbildung 3.1: Veranschaulichung vonR

Ist m> k, so schreiben wirxn als

nm−k am+ am−1n−1 + . . . + a0n−m

bk + bk−1n−1 + . . . + b0n−k.

Also gilt xn = nm−kyn, wobeiyn→ ambk

. Nach Lemma 3.3.1 hatyn fur hinreichend große

Indizes dasselbe Vorzeichen, wieambk

. Wegen 1xn→ 0 folgt aus Satz 3.7.3 das behauptete

Konvergenzverhalten furxn.

3.7.6 Beispiel.Ist (xn)n∈N eine Folge ausR, die nicht nach oben beschrankt ist, es alsokein reellesC > 0 gibt mit xn ≤ C fur allen ∈ N, so hat (xn)n∈N eine Teilfolge (xn(k))k∈N,die limk→∞ xn(k) = +∞ erfullt.

Dazu wahlt mann(1) ∈ N so, dassxn(1) ≥ 1, und definiertn(k+ 1) ∈ N rekursiv so,dassn(k+1) > n(k) undxn(k+1) ≥ k+1. Aus Satz 3.7.3, (iv), folgt dann wegenxn(k) ≥ k,dass limk→∞ xn(k) = +∞.

Am Ende diese Kapitels wollen wir eine Moglichkeit vorstellen, wie man die eingefuhrte Konvergenz gegen±∞ alsherkommliche Konvergenz in einem metrischen Raum auffassen kann.

Als erstes mussen wir±∞ als Elemente unseres Raumes anerkennen, denn eine Folge vonElementen eines RaumesXkann gegen ein Element vonX konvergieren aber nicht gegen irgendetwas. Betrachte alsodie MengeR = R ∪ {+∞,−∞},wobei+∞ und−∞ zwei verschiedene formale Elemente sind, die nicht inR liegen.

Nun versehen wir die MengeR in naheliegender Weise mit einer Relation:

x ≤ y : ⇐⇒ (x ≤ y, x, y ∈ R) oderx = −∞ odery = +∞ .

Diese Relation ist offensichtlicherweise eine Totalordnung, die die Supremumseigenschaft hat. Somit lasst sichR folgen-dermaßen veranschaulichen.

3.7.7 Lemma. Die Funktionφ : R → (−1,1), wobeiφ(x) = x1+|x| , bildetR bijektiv auf das offene Intervall(−1, 1) ab. Ihre

Inverseφ−1 : (−1, 1)→ R ist gegeben durchφ−1(y) = y1−|y| .

Schließlich sindφ und ihre Inverseφ−1 streng monoton wachsend.

Beweis.Als erstes wollen wir festhalten, dass furx ∈ R stets|φ(x)| < 1, d.h.φ(x) ∈ (−1,1) gilt, und dassφ(x) das gleicheVorzeichen wiex hat.

Ist ψ : (−1, 1)→ R definiert durchψ(y) = y1−|y| , so folgt

φ ◦ ψ(y) =

y1−|y|

1+ |y|1−|y|

=y

(1− |y|) + |y| = y,

und

ψ ◦ φ(x) =x

1+|x|

1− |x|1+|x|

=x

(1+ |x|) − |x| = x.

Somit ist nach Satz 1.2.18 die Abbildungφ bijektiv undψ ist die Inverse vonφ.Fur die behaupteten Monotonieeigenschaft seienx1, x2 ∈ R mit x1 = 0 oderx2 = 0 oder sgn(x1) = sgn(x2). Wegen

x1|x2| = |x1|x2 gilt dann

x1 < x2 ⇔ x1(1+ |x2|) = x1 + x1|x2| < x2 + x2|x1| = x2(1+ |x1|)⇔ φ(x1) < φ(x2).

Da x undφ(x) dasselbe Vorzeichen haben, folgt fur den verbleibenden Fall x1, x2 , 0, sgn(x1) = − sgn(x2), wobei o.B.d.A.x1 < x2, dass sowohlx1 < 0 < x2 als auchφ(x1) < 0 < φ(x2).

Page 83: ANA1.pdf

3.7. KONVERGENZ GEGEN UNENDLICH 77

R

+∞

−∞

φ

φ−1

[−1, 1]

Abbildung 3.2: Die Abbildungφ

Nun setzten wirφ fort zu einer AbbildungR→ [−1, 1], indem wir

φ(x) :=

x1+|x| , falls x ∈ R

1 , falls x = +∞−1 , falls x = −∞

definieren.Offensichtlicher ist diese Fortsetzung, die wir ebenfallsφ nennen wollen, auch bijektiv und streng monoton wachsend,

wobei

φ−1(y) :=

y1−|y| , falls −1 < y < 1+∞ , falls y = 1−∞ , falls y = −1

Wir definieren nun eine Metrik aufR, indem wir die euklidische Metrik mittelsφ nachR ubertragen.

3.7.8 Definition. Definiere eine Abbildungd : R × R→ R als

d(x, y) :=∣∣∣φ(x) − φ(y)

∣∣∣ .

3.7.9 Lemma. Die Abbildung d ist eine Metrik.Dabei konvergiert eine Folge(xn)n∈N in R gegen ein x∈ R bezuglich d genau dann, wenn die Folge(φ(xn))n∈N in

[−1, 1] gegenφ(x) ∈ [−1,1] bezuglich der euklidischen Metrik d2 konvergiert.

Beweis. Da die Abbildung (a, b) 7→ |a− b| eine Metrik undφ injektiv ist, verifizieren die verlangten Eigenschaften (M1)-(M3) vond folgendermaßen.

Setzea := φ(x), b := φ(y), dann gilt

(M1): d(x, y) = |a−b| ≥ 0, undd(x, y) = 0 genau dann, wenna = b. Daφ injektiv ist, ist dieses aquivalent dazu dasx = y.

(M2): d(x, y) := |a− b| = |b− a| = d(y, x)

(M3): Sei zusatzlichz∈ R und setzec := φ(z). Dann ist

d(x, z) = |a− c| ≤ |a− b| + |b− c| = d(x, y) + d(y, z) .

Die Aussage uber die Konvergenz folgt leicht aus Bemerkung3.2.3, da

xn → x (bzgl.d)⇔ d(xn, x) = d2(φ(xn)→ 0⇔ φ(xn)→ φ(x) (bzgl.d2).

❑Wir wissen jetzt also, was es bedeutet, dass eine Folge reeller Zahlen in〈R,d〉 gegen+∞ bzw.−∞ konvergiert. Haben

wir unser Modell nun richtig in dem Sinne gebaut, dass dieserBegriff von Konvergenz gegen±∞ tatsachlich mit demeingangs eingefuhrten Begriff von Konvergenz gegen±∞ ubereinstimmt?

3.7.10 Proposition. Sei (xn)n∈N eine Folge reeller Zahlen. Dann giltlimn→∞ xn = +∞ im Sinne einer Konvergenz immetrischen Raum〈R,d〉 genau dann, wenn(3.11)gilt. Analog gilt limn→∞ xn = −∞ in 〈R,d〉 genau dann, wenn(3.12)gilt.

Bleibt die Folge weg von±∞, so bleibt unser alter Konvergenzbegriff reeller Zahlen erhalten: Sei x∈ R, dann giltlimn→∞ xn = x in 〈R,d〉 genau dann, wennlimn→∞ xn = x inR bezuglich der euklidischen Metrik d2.

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78 KAPITEL 3. DER GRENZWERT

Beweis.Angenommenxn → +∞ in 〈R,d〉. Zu gegebenenM > 0 gegeben setzeǫ := 1− φ(M) > 0, und wahleN ∈ N mitd(xn,+∞) < ǫ, n ≥ N. Dann folgt

1− φ(xn) = |φ(xn) − 1| = d(xn,+∞) < ǫ = 1− φ(M) ,

und daherφ(M) < φ(xn), alsoxn > M.Gelte umgekehrt (3.11), und sei 0< ǫ < 1 gegeben. SetzeM := φ−1(1− ǫ) > 0, und wahleN ∈ N so, dassxn > M fur

n ≥ N. Dann folgtd(xn,+∞) = |φ(xn) − 1| = 1− φ(xn) < 1− φ(M) = ǫ, n ≥ N .

Wir sehen, dassxn → +∞ in 〈R,d〉 aquivalent zu (3.11) ist. Die Behauptung furxn → −∞ sieht man genauso.Sei nunx ∈ R, und xn → x in R bezuglichd2. Dann folgt, wegen unserer Rechenregeln fur Folgen, Satz 3.3.5, dass

auchφ(xn)→ φ(x). Wegen Lemma 3.7.9 erhalten wirxn → x in 〈R, d〉.Gelte nunxn → x in 〈R,d〉, d.h.φ(xn) → φ(x) in R (Lemma 3.7.9). Die Abbildungφ−1 ist von der gleichen Gestalt

wie φ, und wir schließen wieder wegen unserer Rechenregeln fur Folgen, dassxn = φ−1(φ(xn)) → φ−1(φ(x)) = x in Rbezuglichd2.

❑Wir haben nun unser Zahlensystem etwas erweitert, um den Begriff des

”Strebens gegen unendlich“ als Konvergenz in

metrischen Raumen interpretieren zu konnen. Wir haben dabei jedoch auch sehr viel verloren, namlich unsere algebraischenOperationen+ und ·. Gemaß Satz 3.7.3 macht es zwar Sinn

x+ (+∞) = +∞,−(+∞) = −∞,y(+∞) = +∞, 1±∞ = 0,usw.

fur x, y ∈ R, y > 0 zu setzen, damit die Operationen mit den Grenzwertregeln vertraglich bleiben. Aber wie sollte man z.B.+∞ + (−∞) oder 0· (+∞) definieren?

Als einfachstes Beispiel betrachte manxn = 2n, yn = n. Es gilt xn, yn → +∞. Es gilt aberxn − yn = n→ +∞, was auf

”(+∞) − (+∞) = +∞“ deuten wurde, wogegenyn − xn = −n→ −∞, also

”(+∞) − (+∞) = −∞“.

3.8 Unendliche Reihen

Wir sind schon einmal einer Folge (Sn)n∈N begegnet, die von der speziellen GestaltSn =

∑nk=0 ak mit gewissen Zahlenak war. In Beispiel 3.2.9 haben wir namlich die

FolgeSn = 1 + z+ . . . + zn mit |z| < 1 betrachtet. Dort haben wir gezeigt, dass dieseFolge gegen den Grenzwert11−z konvergiert. Das heißt also, dass fur große Werte vonn die Summe

∑nk=0 zk den Wert 1

1−z beliebig gut approximiert. Es ist also naheliegendzu schreiben

11− z

=

∞∑

k=0

zk .

3.8.1 Definition. Sei (ak)k∈N eine Folge reeller oder komplexer Zahlen13. Bezeichnemit Sn, n ∈ N dien-tePartialsumme

Sn := a1 + a2 + . . . + an.

Die Folge (Sn)n∈N nennen wir auch dieReihemit den Summandenak.Hat die Folge (Sn)n∈N einen Grenzwert, so sagen wir die Reihe seikonvergent. In

diesem Fall nennen wir ihren Grenzwert limn→∞

Sn die Summe der Reiheund benutzen

die Schreibweise∞∑

k=1

ak := limn→∞

Sn .

Falls der Grenzwert limn→∞

Sn nicht existiert, so heißt die Reihedivergent.

13Allgemeiner kann (ak)k∈N auch eine Folge von Elementen eines metrischen Raumes sein,auf dem maneine Verknupfung+ hat; zum Beispiel imRp.

Page 85: ANA1.pdf

3.8. UNENDLICHE REIHEN 79

Sind dieak alle reell und, gilt limn→∞

Sn = +∞ bzw. limn→∞

Sn = −∞ im Sinne von

Definition 3.7.1, so heißt die Reihekonvergent gegen+∞ bzw.−∞ und schreibt

∞∑

k=1

ak = +∞ bzw.∞∑

k=1

ak = −∞.

Man nennt die Reihe dann auchbestimmt divergent gegen+∞ bzw.−∞.

Um die Notation zu vereinfachen, benutzt man die Schreibweise∞∑

k=1ak auch fur die

Reihe (Sn)n∈N selbst, und sagt dann∞∑

k=1ak sei konvergent oder divergent.

Ausdrucke, wie etwa∞∑

k=6ak haben eine sinngemaß analoge Interpretation durch

Grenzwerte von Partialsummen.

3.8.2 Bemerkung.Eine unendliche Reihe ist per definitionem die Folge ihrer Partialsummen, d.h. die Theorie der Reihenist ein Spezialfall jener der Folgen. Umgekehrt kann man auch jede Folge reeller oder komplexer Zahlen als Folge derPartialsummen einer Reihe auffassen: Ist (cn)n∈N irgendeine Folge, so setze

a1 := c1, a2 := c2 − c1, a3 := c3 − c2, . . . ,ak := ck − ck−1, . . . .

Dann giltcn =n∑

k=1ak.

Auf Grund der Definition einer unendlichen Reihe als Limes ihrer Partialsummenkonnen wir Aussagen uber Folgen sofort auf Reihen ubertragen.

3.8.3 Korollar. Sind∞∑

k=1ak, und

∞∑k=1

bk konvergent, so ist auch∞∑

k=1(ak + bk) konvergent.

Es gilt∞∑

k=1

(ak + bk) =

∞∑

k=1

ak

+∞∑

k=1

bk

.

Ist∑∞

k=1 ak konvergent undλ eine feste (reelle oder komplexe) Zahl, so sind auch∑∞k=1 ak und

∑∞k=1(λak) konvergent. Weiters gilt

∞∑

k=1

ak =

∞∑

k=1

ak,

∞∑

k=1

(λak) = λ ·∞∑

k=1

ak.

Beweis. Fur die entsprechenden PartialsummenSn =n∑

k=1ak, Tn =

n∑k=1

bk und Un =

n∑k=1

(ak + bk) gilt Sn + Tn = Un.

Weiters gilt furVn =n∑

k=1(λak) undWn =

n∑k=1

ak sicherVn = λSn undWn = Sn. Also

folgen auch diese Rechenregeln aus den entsprechenden Regeln fur Folgen.❑

Beim letzten Beweis haben wir die Rechengesetze wie Kommutativitat, Distributi-vitat u.a. fur endliche Summen benutzt. Das Verhalten dieser Rechenregeln bei unend-lichen Reihen ist wesentlich komplizierter, vgl. u.a. Beispiel 5.4.1.

3.8.4 Fakta.

Page 86: ANA1.pdf

80 KAPITEL 3. DER GRENZWERT

1. Man beachte, dass man endlich viele Reihenglieder beliebig abandern kann, oh-ne das Konvergenzverhalten zu storen. Das gilt deshalb, weil sich dabei die neueFolge der Partialsummen ab einem gewissen Index von der alten nur um eineadditive Konstante unterscheidet. Naturlich verandertsich dabei die Summe derReihe.

Ahnlich konvergiert fur eink ∈ Z \ {0} mit∑∞

n=1 an auch die Reihe∑∞

n=1 an+k,wobei man im Fallek < 0 die Summandenak+1, . . . , a−1, a0 alle Null setzt. Inder Tat gilt furk > 0 immer

∑Nn=1 an+k =

∑N+kn=1 an −

(∑kn=1 an

)und damit fur

N → ∞, dass mit der rechten Seite auch die linke konvergiert. Furk < 0 gilt∑Nn=1 an+k =

∑N+kn=1 an fur alle N ∈ N, N > −k.

2. Hat man eine konvergente Reihe∑∞

j=1 a j gegeben, so durfen beliebig Klammerngesetzt werden, ohne das Konvergenzverhalten der Reihe zu verandern. Exaktformuliert bedeutet das, dass fur jede streng monoton wachsende Folge (k(n))n∈Nnaturlicher Zahlen

∞∑

j=1

a j =

∞∑

n=1

An,

gilt, wobeiA1 = a1 + · · · + ak(1) undAn = ak(n−1)+1 + · · · + ak(n) fur n ≥ 2.

Dieser Sachverhalt folgt aus der einfachen Beobachtung, dass die Folge der Par-tialsummen unserer neuen Reihe

∑∞n=1 An genau die Teilfolge (Sk(n))n∈N der Folge

(Sk)k∈N der Partialsummen von∑∞

j=1 a j ist; vgl. Satz 3.2.8, (iv).

Die Umkehrung gilt hier nicht. Es kann namlich vorkommen, dass∑∞

n=1 An kon-vergiert, aber

∑∞k=1 ak nicht. Man betrachte nur die Reihe 1− 1+ 1− 1+ . . . und

klammere immer zwei aufeinanderfolgende Summanden ein.

3. Sind∞∑

k=1ak und

∞∑k=1

bk zwei konvergente Reihen mit reellen Summanden, sodass

ak ≤ bk fur alle k ∈ N, so gilt fur die Partialsummen klarerweise auchn∑

k=1ak ≤

n∑k=1

bk fur alle n ∈ N. Aus Lemma 3.3.1 erhalten wir dann fur die Grenzwerte

dieser zwei Folgen von Partialsummen

∞∑

k=1

ak ≤∞∑

k=1

bk.

Ist nun zusatzlich sogaral < bl fur zumindest einl ∈ N, so folgtal + δ ≤ bl fur

ein hinreichend kleinesδ > 0. Somit gilt furn ≥ l, dassδ +n∑

k=1ak ≤

n∑k=1

bk. Fur

n→ ∞ folgt wieder aus Lemma 3.3.1, dass

∞∑

k=1

ak < δ +

∞∑

k=1

ak ≤∞∑

k=1

bk.

3.8.5 Beispiel.

Betrachte die Reihe∞∑

k=1

1k(k+1). Wegen 1

k(k+1) =1k −

1k+1 gilt

Sn :=n∑

k=1

1k(k+ 1)

=

n∑

k=1

(1k− 1

k+ 1

)= 1− 1

n+ 1.

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3.8. UNENDLICHE REIHEN 81

Die Reihe∞∑

k=1

1k(k+1) konvergiert also gegen lim

n→∞Sn = 1. Reihen, deren Grenzwert

sich derartig berechnen lasst, nennt man auchTeleskopreihen.

Lasst man die ersten drei Terme weg, d.h. ersetzt sie durch 0, so gilt fur dieentsprechenden PartialsummenS′n stets (n ≥ 3)

S′n = Sn −1

1 · 2 −1

2 · 3 −1

3 · 4 =(1− 1

n+ 1

)− 3

4→ 1

4.

Somit ist die Reihe∞∑

k=4

1k(k+1) ebenfalls konvergent. Ihre Summe ist1

4 .

Fasst man immer zwei Summanden der Reihe∞∑

k=1

1k(k+1) zusammen, so erhalt man

die Reihe∞∑

k=1

2(2k−1)(2k+1) , welche nach Fakta 3.8.4, 2, ebenfalls die Summe 1 hat.

3.8.6 Bemerkung.Aus dem entsprechenden Resultat fur Folgen erhalt man, dass ei-ne Reihe

∑∞n=1 zn bestehend aus komplexen Zahlen genau dann konvergiert, wenn die

reellen Reihen∑∞

n=1 Rezn und∑∞

n=1 Im zn beide konvergieren. In diesem Fall gilt

∞∑

n=1

zn = (∞∑

n=1

Rezn) + i(∞∑

n=1

Im zn).

Folgendes Resultat liefert uns eine einfache notwendige Bedingung fur die Kon-vergenz einer Reihe. Wie wir in Beispiel 3.8.9 sehen werden,ist diese notwendigeBedingung bei weitemnicht hinreichend.

3.8.7 Proposition. Ist∞∑

k=1ak konvergent, so folgtlimk→∞ ak = 0.

Beweis.Betrachte die Reihe∞∑

k=1bk, wobeib1 = 0 undbk+1 = ak fur k ∈ N. Sind (Sn)n∈N

und (Tn)n∈N die Folgen der Partialsummen von∞∑

k=1ak bzw.

∞∑k=1

bk, so folgt

Sn − Tn =

n∑

k=1

ak −n∑

k=2

ak−1 = an.

WegenTn+1 = Sn folgt aus Satz 3.2.8, dass (Tn)n∈N gegen den gleichen Grenzwert,wie (Sn)n∈N konvergiert. Somit erhalten wirSn − Tn = an→ 0.

3.8.8 Lemma. Sei∞∑

k=1ak eine Reihe mit reellen nichtnegativen Summanden, d.h. ak ∈

R, ak ≥ 0.

(i) Die Reihe ist genau dann konvergent, wenn die Folge(Sn)n∈N der Partialsummen

beschrankt ist. In diesem Fall ist auchn∑

k=1ak ≤

∞∑k=1

ak fur alle n ∈ N. Anderenfalls

ist sie bestimmt gegen+∞ divergent.

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82 KAPITEL 3. DER GRENZWERT

(ii ) Ist∞∑

k=1bk eine divergente Reihe nichtnegativer reeller Zahlen mit ak ≥ bk, k ∈ N,

so ist auch∞∑

k=1ak divergent (Minorantenkriterium).

(iii ) Ist∞∑

k=1bk eine konvergente Reihe nichtnegativer reeller Zahlen mit ak ≤ bk, k ∈ N,

so ist auch∞∑

k=1ak konvergent (Majorantenkriterium), und

∞∑k=1

ak ≤∞∑

k=1bk.

Beweis.Wegen der Voraussetzungak ≥ 0 ist (Sn)n∈N monoton wachsend. Somit folgt(i) aus Satz 3.7.3, (vi). Die behauptete Ungleichung gilt, da im Falle der Konvergenzder monoton wachsenden Folge (Sn)n∈N der Grenzwert gemaß Satz 3.4.2 nichts anderesals sup{Sn : n ∈ N} ist.

Ist nunbk ≥ 0 und (Tn)n∈N der Folge Partialsummen der Reihe∞∑

k=1bk, so ist auch

diese monoton wachsend.Ist diese divergent, undak ≥ bk, so gilt sicherlichSn ≥ Tn. Also kann die Folge

(Sn)n∈N nicht beschrankt sein.

Ist dagegen∞∑

k=1bk konvergent, undak ≤ bk, so istSn ≤ Tn, und mit (Tn)n∈N ist auch

die Folge (Sn)n∈N ist nach oben beschrankt. Die behauptete Ungleichung folgt ausFakta 3.8.4, 3.

3.8.9 Beispiel.Betrachte dieharmonische Reihe

∞∑

k=1

1k.

Diese Reihe ist nicht konvergent. Genauer gesagt ist sie bestimmt divergent gegen+∞.Betrachtet man namlich die PartialsummenSn = 1+ 1

2 + · · · +1n, so ist diese monoton

wachsend. Fur die Existenz des Limes ist es also notwendig und hinreichend, dass dieseFolge beschrankt ist; vgl. Lemma 3.8.8, i. Somit ware auchjede Teilfolge beschrankt.Nun gilt jedoch

S2l = 1+12+

13+

14+

15+

16+

17+

18+

19+ . . . +

12l≥

1+12+

14+

14︸ ︷︷ ︸

= 12

+18+

18+

18+

18︸ ︷︷ ︸

= 12

+116+ . . . +

12l= 1+ l · 1

2,

Insbesondere ist die Teilfolge (S2l )l∈N nicht beschrankt.

3.8.10 Beispiel.Durch Vergleich mit der harmonischen Reihe ist nach dem Minoran-

tenkriterium die Reihe∞∑

k=1

1kα fur α < 1 divergent14.

14Bemerke, dass wirkα erst fur rationalesα definiert haben.

Page 89: ANA1.pdf

3.9. KONVERGENZKRITERIEN 83

3.8.11 Lemma(Cauchysches Konvergenzkriterium). Die Reihe∞∑

k=1ak mit reellen oder

komplexen Summanden ist genau dann konvergent, wenn gilt

∀ǫ > 0∃N ∈ N :

∣∣∣∣∣∣∣

n∑

k=m+1

ak

∣∣∣∣∣∣∣< ǫ, n > m≥ N. (3.13)

Beweis. Da R und C vollstandig metrische Raume sind, ist die Konvergenz der

Folge der PartialsummenSn =n∑

k=1ak mit der Tatsache gleichbedeutend, dass (Sn)n∈N

eine Cauchy-Folge ist. WegenSn−Sm =∑n

k=m+1 ak ist das aber zu (3.13) aquivalent.❑

Wir werden spater weitere Konvergenzkriterien kennenlernen. Diesen Abschnittbeenden wir mit einer weiteren ganz wichtigen Begriffsbildung.

3.8.12 Definition. Sei (ak)k∈N eine Folge reeller oder komplexer Zahlen. Die Reihe∑∞k=1 ak heißtabsolut konvergent, wenn die Reihe der Betrage

∑∞k=1 |ak| konvergiert.

3.8.13 Lemma.Jede absolut konvergente Reihe ist auch konvergent.

Beweis. Laut Voraussetzung und gemaß Lemma 3.8.11 gibt es zu jedemǫ > 0 einN ∈ N, sodass

∑nk=m+1 |ak| =

∣∣∣∑nk=m+1 |ak|

∣∣∣ < ǫ fur alle n > m ≥ N. Daraus und derDreiecksungleichung erhalt man

∣∣∣∣∣∣∣

n∑

k=m+1

ak

∣∣∣∣∣∣∣≤

n∑

k=m+1

| ak |< ǫ .

Wieder wegen Lemma 3.8.11 konvergiert damit die Reihe.❑

Die Umkehrung von Lemma 3.8.13 gilt im Allgemeinen nicht.

3.8.14 Beispiel.Die alternierende harmonische Reihe∑∞

k=1(−1)k+1 1k ist konvergent,

wie man aus dem Leibnizschen Konvergenzkriterium, Korollar 3.9.7, weiter unten er-kennt. Die Reihe der Betrage

∑∞k=1

1k ist gemaß Beispiel 3.8.9 aber divergent.

3.9 Konvergenzkriterien

Wir wollen das Majorantenkriterium ausnutzen, um durch Vergleich mit der geometri-schen Reihe zwei oft einsetzbare hinreichende Bedingungenfur die absolute Konver-genz einer Reihe herzuleiten.

3.9.1 Satz(Wurzelkriterium). Sei∞∑

n=1an eine Reihe mit reellen oder komplexen Sum-

manden.Gibt es eine feste Zahl q∈ [0, 1) und ein N∈ N, sodass

n√|an| ≤ q fur alle n≥ N , (3.14)

oder gilt die aquivalente Bedingung, dass( n√|an|)n∈N beschrankt ist mit

lim supn→∞n√|an| < 1, so ist die Reihe

∞∑n=1

an absolut konvergent.

Page 90: ANA1.pdf

84 KAPITEL 3. DER GRENZWERT

Gibt es dagegen eine Teilfolge(an(k))k∈N mit n(k)√|an(k)| ≥ 1, k ∈ N, so ist die Rei-

he∞∑

n=1an divergent. Diese Teilfolgenbedingung ist sicher dann erf¨ullt, wenn( n

√|an|)n∈N

nach oben nicht beschrankt ist oder wennlim supn→∞n√|an| > 1.

Beweis. Dass (3.14) zur Beschranktheit von (n√|an|)n∈N samt der Bedingung

lim supn→∞n√|an| < 1 aquivalent ist, folgt unmittelbar aus Fakta 3.4.5, 5.

Aus n√|an| ≤ q folgt |an| ≤ qn fur alle n ≥ N. Da die Reihe

∞∑n=N

qn konvergiert,

zeigt das Majorantenkriterium aus Lemma 3.8.8, dass auch∞∑

n=N|an|, und damit

∞∑n=1|an|

konvergiert.Ist ( n√|an|)n∈N nach oben nicht beschrankt, so haben wir in Beispiel 3.7.6 eine Teil-

folge konstruiert, dien(k)√|an(k)| ≥ k, k ∈ N, erfullt. Ist ( n

√|an|)n∈N nach oben beschrankt

und gilt lim supn→∞n√|an| > 1, so folgt aus Fakta 3.4.5, 6, und Lemma 3.3.1, (i), dass

n(k)√|an(k)| > 1, k ∈ N, fur eine gewisse Teilfolge von (n

√|an|)n∈N.

Gibt es eine Teilfolge (an(k))k∈N mit n(k)√|an(k)| ≥ 1, so folgt|an(k)| ≥ 1. Also kann

(|an(k)|)k∈N keine und damit auch (an)n∈N keine Nullfolge sein. Wegen Proposition 3.8.7

ist∞∑

n=1an divergent.

3.9.2 Beispiel.

(i) Betrachte die Reihe∑∞

n=11

(3+(−1)n)n . Die Folge dern-ten Wurzeln

n

√1

(3+ (−1)n)n=

1(3+ (−1)n)

hat zwar keinen Grenzwert, aber ihre Glieder sind alle≤ 12. Somit kann man auch

Satz 3.9.1 anwenden. Der Grenzwert der Reihe lasst sich mitHilfe der hergelei-teten Regeln fur Reihen berechnen:

∞∑

n=1

1(3+ (−1)n)n

=

∞∑

k=1

(1

22k−1+

142k

)=

∞∑

k=1

122k−1

+

∞∑

k=1

142k=

2∞∑

k=1

14k+

∞∑

k=1

116k= 2

1

1− 14

− 1

+

1

1− 116

− 1

.

(ii ) Wie wir in Beispiel 3.9.8 sehen werden ist die Reihe∞∑

n=1

1nα fur rationalesα > 1

absolut konvergent. Das Wurzelkriterium konnen wir wegen(vgl. Satz 3.3.5 undBeispiel 3.3.7)

lim supn→∞

n√|n−α| = lim

n→∞( n√

n)−α︸ ︷︷ ︸<1

= 1

weder dazu verwenden, um auf absolute Konvergenz noch auf Divergenz zuschließen.

Page 91: ANA1.pdf

3.9. KONVERGENZKRITERIEN 85

3.9.3 Satz(Quotientenkriterium). Sei∞∑

n=1an eine Reihe mit reellen oder komplexen

Summanden.Gibt es eine feste Zahl q∈ [0, 1) und ein N∈ N, sodass15

|an+1||an|

≤ q fur alle n≥ N , (3.15)

oder gilt die aquivalente Bedingung, dass( |an+1||an| )n∈Z≥N fur ein gewissen N∈ N be-

schrankt ist mitlim supn→∞|an+1||an| < 1, so ist die Reihe

∞∑n=1

an absolut konvergent.

Gibt es dagegen einen Index N∈ N, sodass an , 0 und |an+1||an| ≥ 1 fur n ≥ N, so ist

die Reihe∞∑

n=1an divergent.

Beweis. Dass (3.15) zur Beschranktheit von (|an+1||an| )n∈Z≥N samt der Bedingung

lim supn→∞|an+1||an| < 1 aquivalent ist, folgt unmittelbar aus Fakta 3.4.5, 5.

Unter dieser Voraussetzung gilt|an+1| ≤ q|an| fur alle n ≥ N. Durch vollstandigeInduktion erhalten wir

|an| ≤ qn |aN|qN

fur alle n ≥ N ,

woraus n√|an| ≤ q · n

√|aN |qN fur n ≥ N folgt. Da der zweite Faktor mitn → ∞ gegen 1

strebt, gilt wegen Lemma 3.3.1, (i), dass n√|an| < 1+q

2 fur allen ≥ N′ mit einemN′ ≥ N.Also konnen wir das Wurzelkriterium anwenden und erhaltendie absolute Konvergenz.

Aus |an+1||an| ≥ 1 fur n ≥ N folgt |an+1| ≥ |an| ≥ · · · ≥ |aN| > 0. Also kann (an)n∈N keine

Nullfolge sein.❑

3.9.4 Beispiel.

(i) Betrachte die Reihe∑∞

n=0zn

n! , wobein! := 1 · 2 · 3 · . . . · n die Zahln-faktoriellebezeichnet undz ∈ C beliebig ist. Diese Reihe ist konvergent, denn es gilt

∣∣∣∣∣∣∣∣

zn+1

(n+1)!zn

n!

∣∣∣∣∣∣∣∣=

1 · 2 · . . . · n1 · 2 · . . . · n · (n+ 1)

|z| = |z|n+ 1

→ 0 .

Insbesondere ist auch der Limes Superior der linken Seite gleich Null und damitkleiner 1.

(ii ) Bezeichne mitτ(n) die Anzahl der Teiler der naturlichen Zahln. Wir betrachtendie Reihe

∑∞n=1 τ(n)xn wobeix > 0 ist. Wegenτ(n) ≤ n gilt

n√τ(n)xn = x · n

√τ(n) ≤ x · n

√n→ x .

Ist alsox < 1, so ist die Reihe konvergent. Furx ≥ 1 ist sie sicher divergent, denndann bilden die Summanden keine Nullfolge.

Im Beweis von Satz 3.9.3 haben wir das Wurzelkriterium verwendet, um das Quo-tientenkriterium herzuleiten. Also ist ersteres starker, wenn auch nicht immer am

15Dies beinhaltet die Bedingungan , 0 fur n ≥ N.

Page 92: ANA1.pdf

86 KAPITEL 3. DER GRENZWERT

praktiabelsten. Das eben betrachtete Beispiel – genauso wie Beispiel 3.9.2 – istgerade eines, wo uns das Wurzelkriterium zum Ziel fuhrt, das Quotientenkriteri-um aber versagen wurde. Denn istn > 2 eine Primzahl, so giltτ(n) = 2. Wei-ters istn sicher ungerade, und damit kannn + 1 keine Primzahl sein. Also giltτ(n+ 1) ≥ 3. Wir erhalten damit

τ(n+ 1)xn+1

τ(n)xn≥ 3

2· x .

Fur x ≥ 23 ist daher der Quotient≥ 1. Da es unendlich viele Primzahlen gibt,

konnen wir somit das Quotientenkriterium nicht anwenden.

Die nachsten Kriterien basieren auf folgendem, auch spater verwendeten Lemma.

3.9.5 Lemma. Seien a1, . . . , am und b1, . . . , bm komplexe oder reelle Zahlen, so gilt

m∑

n=1

anbn = amβm−m−1∑

n=1

(an+1 − an)βn,

wobei dieβn die Partialsummenn∑

j=1b j = βn bezeichnen.

Beweis.m−1∑

n=1

(an+1 − an)βn =

m−1∑

n=1

an+1βn −m−1∑

n=1

anβn =

m∑

n=2

anβn−1 −m−1∑

n=1

anβn = amβm−1 −m−1∑

n=2

an(βn − βn−1) − a1β1 =

amβm − ambm−m−1∑

n=2

anbn − a1b1 = amβm−m∑

n=1

anbn.

3.9.6 Satz(Dirichletsches16Kriterium). Sei (an)n∈N eine monotone Nullfolge reellerZahlen und sei(bn)n∈N eine Folge reeller oder komplexer Zahlen. Gilt fur eine ZahlC > 0 ∣∣∣∣∣∣∣

N∑

n=1

bn

∣∣∣∣∣∣∣≤ C, N ∈ N,

so ist die Reihe∞∑

n=1anbn konvergent.

Beweis.SeiN so groß, dass|an| < ǫ fur n ≥ N. Dann folgt furm> k ≥ N aus Lemma3.9.5 und der Dreiecksungleichung

∣∣∣∣∣∣∣

m∑

n=k+1

anbn

∣∣∣∣∣∣∣≤

∣∣∣∣∣∣∣am

( m∑

i=k+1

bi

)∣∣∣∣∣∣∣+

m−1∑

n=k+1

|an+1 − an|∣∣∣∣∣∣∣

n∑

i=k+1

bi

∣∣∣∣∣∣∣

.

16Johann Peter Gustav Lejeune Dirichlet. 13.2.1805 Duren (bei Aachen) - 5.5.1859 Gottingen

Page 93: ANA1.pdf

3.9. KONVERGENZKRITERIEN 87

Wegen|∑ni=k+1 bi | ≤ |

∑ki=1 bi | + |

∑ni=1 bi | ≤ 2C schatzen wir diesen Ausdruck weiter

nach oben durch

2C|am| + 2Cm−1∑

n=k+1

|an+1 − an|

ab. Voraussetzungsgemaß haben die Ausdrucke der Form (an+1− an) niemals verschie-denes Vorzeichen. Also gilt

2C(|am| +

m−1∑

n=k+1

|an+1 − an|)= 2C

|am| +∣∣∣∣∣∣∣

m−1∑

n=k+1

(an+1 − an)

∣∣∣∣∣∣∣

2C (|am| + |am| + |ak+1|) ≤ 2C · 3ǫ.

Nach dem Cauchyschen Kriterium, Lemma 3.8.11, ist die Reihe∞∑

n=1anbn konvergent.

3.9.7 Korollar (Leibniz17Kriterium). Sei∞∑

n=1(−1)nan eine alternierende Reihe, d.h. an ∈

R, an ≥ 0, n ∈ N. Ist (ak)k∈N monoton fallend und giltlimn→∞

an = 0, so konvergiert∞∑

n=1(−1)nan.

Beweis.Setze im Dirichletschen Kriteriumbn = (−1)n.❑

3.9.8 Beispiel.Furα > 1 ist die Reihe∞∑

k=1

1kα konvergent18.

Wegenm+1m → 1 kann manm ∈ N so wahlen, dassm+1

m ≤ α. Nach dem Majoran-tenkriterium genugt es, die Behauptung fur den Exponenten m+1

m zu zeigen.

Betrachte die nach dem Leibnizschen Kriterium konvergenteReihe∞∑

k=1(−1)k+1 1

k1m

.

Fassen wir immer je zwei Summanden zusammen, so konvergiertnach Fakta 3.8.4, 2,auch die Reihe

∞∑

k=1

(1

(2k− 1)1m

− 1

(2k)1m

).

Nun ist1

(2k− 1)1m

− 1

(2k)1m

=(2k)

1m − (2k− 1)

1m

(2k− 1)1m (2k)

1m

=1

(2k− 1)1m (2k)

1m

·

· (2k) − (2k− 1)

(2k)m−1m + (2k)

m−2m (2k− 1)

1m + . . . + (2k)

1m (2k− 1)

m−2m + (2k− 1)

m−1m

≥ 1

(2k)2m m(2k)

m−1m

=1

m2m+1m

· 1

km+1

m

Nach dem Majorantenkriterium folgt somit, dass auch die Reihe∞∑

k=1

1

km+1

mkonvergiert.

3.9.9 Korollar (Abelsches19Kriterium). Sei die reell- oder komplexwertige Reihe∞∑

n=1bn konvergent, und sei(an)n∈N eine

monotone und beschrankte Folge ausR. Dann ist die Reihe∞∑

n=1anbn konvergent.

17Gottfried Wilhelm Leibniz. 1.7.1646 Leipzig - 14.11.1716 Hannover18Bemerke, dass wirkα erst fur rationalesα definiert haben.19Niels Henrik Abel. 5.8.1802 Finno (Norwegen) - 6.4.1829 Froland (Norwegen)

Page 94: ANA1.pdf

88 KAPITEL 3. DER GRENZWERT

Beweis.Gemaß Satz 3.4.2 konvergiert die Folge (an)n∈N gegen eina. FurN → ∞ existiert in

N∑

n=1

anbn =

N∑

n=1

(an − a)bn + aN∑

n=1

bn

fur jeden der beiden Summanden auf der rechten Seite der Grenzwert, denn die Reihe∑∞

n=1(an − a)bn konvergiert nach demDirichletschen Kriterium und die Reihe

∑∞n=1 bn nach Voraussetzung.

3.9.10 Satz(Kriterium von Raabe20). Sei(an)n∈N eine Folge reeller oder komplexer Zahlen. Gibt es eine Zahlβ > 1, sodassab einem Index k0 alle ak , 0 sind, und

|ak+1||ak|

≤ 1− β

k, k ≥ k0 ,

so ist die Reihe∞∑

k=1ak absolut konvergent.

Ist ab einem gewissen Index k0 jedoch|ak+1 ||ak|

≥ 1 − 1k , so ist sie nicht absolut konvergent, also hochstens bedingt

konvergent.

Beweis.Fur k ≥ k0 gilt wegen unserer Voraussetzungk|ak+1| ≤ k|ak| − β|ak| und daher

(β − 1)|ak| ≤ (k− 1)|ak| − k|ak+1|. (3.16)

Wegenβ > 1 ist (k−1)|ak| > k|ak+1| > 0. Somit ist die Folge ((k−1)|ak |)k∈Z≥2 monoton und beschrankt, und daher konvergent.Daraus ergibt sich die Konvergenz der Folge (ink)

k∑

n=2

((n− 1)|an| − n|an+1|) = |a2| − k|ak+1|

von Partialsummen. Wegen (3.16) konvergiert die Reihe∑∞

n=1 |an|.Gilt nun

|ak+1 ||ak|≥ 1− 1

k fur k ≥ k0(> 1), so folgtk|ak+1| ≥ (k − 1)|ak| ≥ (k0 − 1)|ak0 | := α > 0. Also ist |ak+1| ≥ αk , und

nach dem Minorantenkriterium kann∑∞

n=1 |an| nicht konvergieren.❑

Wir wollen noch anmerken, dass man die Konvergenz von (1nα )n∈N fur α ∈ N, n ≥ 2, mit dem Kriterium von Raabe

und der Bernouillsche Ungleichung zeigen kann.

20Josef Ludwig Raabe. 1801 - 1859

Page 95: ANA1.pdf

Kapitel 4

Die Konstruktion der reellenZahlen

Wir wollen in diesem Kapitel die am Anfang verschobene Konstruktion der reellenZahlen nachholen und zeigen, dass diese eindeutig dadurch charakterisiert sind, dassRein vollstandig angeordneter Korper ist.

4.1 Existenz

4.1.1 Bemerkung.Hat man die reellen Zahlen als vollstandig angeordneten K¨orper zurVerfugung – was ja noch nicht der Fall ist, so wissen wir aus Beispiel 3.3.4, dass sichjedesx ∈ R als Grenzwert einer Folge bestehend aus rationalen Zahlen darstellen lasst.Diese Folgen sind gemaß Proposition 3.5.4 auch Cauchy-Folgen.

Da R ein vollstandig metrischer Raum ist, konvergiert andererseits jede Cauchy-Folge bestehend aus rationalen Zahlen gegen einx ∈ R. Dabei konvergieren offenbarzwei solche Folgen genau dann gegen dieselbe reelle Zahl, wenn die Differenzenfolgeeine Nullfolge ist.

Die Uberlegung in Bemerkung 4.1.1 legt es nahe, einen vollstandig angeordnetenKorper mit Hilfe von rationalen Cauchy-Folgen zu konstruieren, wobei zwei solcheFolgen zu identifizieren sind, wenn ihre Differenzenfolge eine Nullfolge ist.

Ein Problem dabei ist, dass wir die Begriffe Cauchy-Folge bzw. konvergente Folgein Definition 3.5.1 bzw. Definition 3.2.2 mit Hilfe der reellen Zahlen definiert haben,da in (3.8) bzw. (3.3) dieǫ > 0 aus den reellen Zahlen sind. Wie wir Bemerkung 3.5.2gesehen haben, konnen wir dieseǫ > 0 auch ausQ wahlen, und erhalten den selbenBegriff von Cauchy-Folge bzw. von konvergenter Folge.

Eine weitere Obstruktion ist, die Tatsache, dass wir Konvergenztheorie immer vonFolgen in metrischen Raumen betrieben haben. Die Metrik hat definitionsgemaß aberWerte inR. Diesem Problem konnen wir dadurch begegnen, dass wir den Begriff desmetrischen Raumes〈X, d〉 leicht dadurch verandern, dass wir annehmen, dassd nurWerte inQ hat; siehe Definition 3.1.1 und Bemerkung 3.1.2. Ein solchermetrischerRaum ist klarerweise〈Q, d〉, wobeid(x, y) = |x− y|.

Eine Folge (xn)n∈N in einem solchen metrischen RaumX heißt dann konvergent

89

Page 96: ANA1.pdf

90 KAPITEL 4. DIE KONSTRUKTION DER REELLEN ZAHLEN

gegenx ∈ X, wenn

∀ǫ ∈ Q, ǫ > 0∃N ∈ N : d(xn, x) < ǫ fur alle n ≥ N ,

und sie heißt Cauchy-Folge, wenn

∀ǫ ∈ Q, ǫ > 0∃N ∈ N : d(xn, xm) < ǫ fur alle m, n ≥ N .

Fasst man eineQ-wertige Metrik wieder alsR-wertig auf, so wissen wir aus Bemer-kung 3.5.2, dass diese Konvergenzbegriffe mit den schon bekannten ubereinstimmen.

Die Konstruktion eines vollstandig angeordneten Korpers erfolgt nun in einigenSchritten.

(i) SeiX die Menge aller rationalen Cauchy-Folgen, und sei∼⊆ X × X die Relation

(rn)n∈N ∼ (sn)n∈N :⇐⇒ limn→∞

(rn − sn) = 0.

Diese Relation ist eineAquivalenzrelation. Dabei ist Reflexivitat und Symmetrieklar. Um die Transitivitat nachzuweisen, seien (rn)n∈N ∼ (sn)n∈N und (sn)n∈N ∼(tn)n∈N gegeben. Es ist limn→∞(rn − sn) = limn→∞(sn − tn) = 0, und somit gilt furdie Summe dieser Folgen limn→∞(rn − tn) = 0. Also ist (rn)n∈N ∼ (tn)n∈N.

Es sei bemerkt, dass wir die verwendeten Regeln fur Folgen inQ-wertigen metri-schen Raumen nicht hergeleitet haben, obwohl wir sie hier und im Folgenden desofteren verwenden. Das zu tun ist aber nur eine Abschreibubung fur die Ergeb-nisse aus Proposition 3.5.3, Lemma 3.3.1 und Satz 3.3.5 indem wir immer dann,wenn vonR die Rede ist, diese durchQ ersetzen.

(ii ) Unser Ziel soll sein,X/∼ zu einem vollstandig angeordneten Korper zu machen.Dazu brauchen wir Operationen, die wir zunachst aufX definieren:

(rn)n∈N + (sn)n∈N := (rn + sn)n∈N ,

−(rn)n∈N := (−rn)n∈N ,

(rn)n∈N · (sn)n∈N := (rn · sn)n∈N .

Mit ( rn)n∈N, (sn)n∈N sind auch (rn)n∈N + (sn)n∈N, −(rn)n∈N und (rn)n∈N · (sn)n∈NCauchy-Folgen. Um das z.B. fur die Multiplikation zu zeigen, seiC ∈ Q,C > 0,sodass|rn|, |sn| ≤ C, n ∈ N (siehe Proposition 3.5.3), und rechne

|rnsn − rmsm| ≤ |rnsn − rnsm| + |rnsm − rmsm| ≤ C|sn − sm| +C|rn − rm|.

Dieser Ausdruck ist kleiner als ein vorgegebenes rationales ǫ > 0, wenn manNso groß wahlt, dass|sn − sm|, |rn − rm| < ǫ

2C fur m, n ≥ N.

(iii ) Da die Verknupfungen+ und · gliedweise definiert sind, folgt aus den Rechenre-geln aufQ, dass fur+ und· das Kommutativgesetz, das Assoziativgesetz und dasDistributivgesetz gelten. Klarerweise gilt auch

(rn)n∈N + (0)n∈N = (rn)n∈N, − (rn)n∈N + (rn)n∈N = (0)n∈N,

(rn)n∈N · (1)n∈N = (rn)n∈N.

Wir konnen aberX nicht zu einem Korper machen, denn ist (rn)n∈N , (0)n∈N, sokonnen wir noch lange keine multiplikativ Inverses dazu finden.

Page 97: ANA1.pdf

4.1. EXISTENZ 91

(iv) Die Aquivalenzrelation∼ lasst sich nun mit Hilfe obiger Verknupfungen charak-terisieren:

(rn)n∈N ∼ (sn)n∈N ⇔ (rn)n∈N + (−(sn)n∈N) ist Nullfolge,

und(rn)n∈N ist Nullfolge ⇔ (rn)n∈N ∼ (0)n∈N.

Daraus sieht man leicht, dass obige Verknupfungen mit den Operationen ver-traglich sind. Sind namlich (rn)n∈N ∼ (r ′n)n∈N und (sn)n∈N ∼ (s′n)n∈N, so folgt(rn)n∈N + (sn)n∈N ∼ (r ′n)n∈N + (s′n)n∈N, −(rn)n∈N ∼ −(r ′n)n∈N sowie (rn)n∈N · (sn)n∈N ∼(r ′n)n∈N · (s′n)n∈N. Letztere Relation etwa folgt aus

(rn)n∈N · (sn)n∈N + (−(r ′n)n∈N · (s′n)n∈N) =

(rn(sn − s′n) + s′n(rn − r ′n)

)n∈N ∼ (0)n∈N,

da mit (sn − s′n)n∈N und (rn − r ′n)n∈N auch(rn(sn − s′n) + s′n(rn − r ′n)

)n∈N Nullfolgen

sind.

(v) Setzt man1

P = {(rn)n∈N ∈ X : ∃δ ∈ Q, δ > 0, rn ≥ δ fur fast allen ∈ N},

und−P = {(−rn)n∈N ∈ X : (rn)n∈N ∈ P}, so gehort jede Folge (rn)n∈N ∈ X zugenau einer der drei TeilmengenP, [(0)n∈N]∼, − P. Ist (rn)n∈N ∼ (ρn)n∈N, sogehort (ρn)n∈N zur selben Teilmenge.

Beweis. Da nicht gleichzeitig−rn ≥ δ und rn ≥ δ fur fast allen ∈ N sein kann,folgt −P∩P = ∅. Aus (rn)n∈N ∼ (0)n∈N folgt rn → 0. Also unterschreitet|rn| jedesvorgegebeneδ > 0, wenn nurn hinreichend groß ist. (rn)n∈N kann damit weder inP noch in−P liegen.

Seien (rn)n∈N, (ρn)n∈N ∈ X aquivalent, aber beide nicht aquivalent zu (0)n∈N. Alsosind beide keine Nullfolgen. Fur (rn)n∈N bedeutet das

∃δ ∈ Q, δ > 0 : ∀N ∈ N ∃ : m(N) ≥ N : |rm(N)| ≥ δ . (4.1)

SeiN ∈ N, sodass|rn − rm| < δ4 , |ρn − rn| < δ

4 , m, n ≥ N. Aus der Dreiecksunglei-chung folgt unmittelbar|ρn − rm| < δ

2 und weiter

|rn| ≥ |rm| − |rn − rm| > |rm| −δ

4, |ρn| ≥ |rm| − |ρn − rm| > |rm| −

δ

2. (4.2)

Wahlt man hierm = m(N) wie in (4.1), so folgt wegen|rm| ≥ δ aus|rn − rm| < δ4

und |ρn − rm| < δ2, dass

sgn(rn) = sgn(rm) = sgn(ρn) .

Aus (4.2) folgt |rn|, |ρn| ≥ δ2. Also liegen (rn)n∈N und (ρn)n∈N gemeinsam inP

bzw.−P je nach dem Vorzeichen vonrm.❑

1Fast alle bedeutet hier”alle bis auf endlich viele“.

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92 KAPITEL 4. DIE KONSTRUKTION DER REELLEN ZAHLEN

(vi) Man sieht auch ganz leicht, dass aus (rn)n∈N, (sn)n∈N ∈ P folgt, dass (rn)n∈N +(sn)n∈N, (rn)n∈N · (sn)n∈N ∈ P.

(vii) Nun betrachten wirX/∼ und definieren

[(rn)n∈N]∼ + [(sn)n∈N]∼ := [(rn)n∈N + (sn)n∈N]∼,

[(rn)n∈N]∼ · [(sn)n∈N]∼ := [(rn)n∈N · (sn)n∈N]∼,

−[(rn)n∈N]∼ = [−(rn)n∈N]∼,

P/∼ = {[(rn)n∈N]∼ : (rn)n∈N ∈ P}.

Aus (iv) wissen wir, dass die Verknupfungen damit wohldefiniert sind und aus (v),dassP/∼, [(0)n∈N]∼, −P/∼ paarweise disjunkte Mengen sind, deren VereinigungX/∼ ist.

Nun ubertragen sich das Kommutativgesetz, das Assoziativgesetz und das Distri-butivgesetz fur+ und· . Die Restklasse [(0)n∈N]∼ ist das additiv neutrale Element,und [(1)n∈N]∼ ist das multiplikativ neutrale Element. Weiters ist−[(rn)n∈N]∼ dasadditiv Inverse von [(rn)n∈N]∼.

WasX/∼ noch fehlt, ein Korper zu sein, ist die Existenz einer multiplikativ Inver-sen. Dazu sei [(rn)n∈N]∼ , [(0)n∈N]∼.

Nach (v) wissen wir, dass|rn| > δ fur ein rationalesδ > 0 und allen ∈ N, n ≥ N.Also gilt fur m, n ≥ N ∣∣∣∣∣

1rn− 1

rm

∣∣∣∣∣ ≤|rn − rm|

δ,

und wir sehen, dass (qn)n∈N mit qn =1rn

fur n ≥ N, undqn = 0 fur n < N, eineCauchy-Folge ist, und dass [(rn)n∈N]∼ · [(qn)n∈N]∼ = [(1)n∈N]∼.

Schließlich ist〈X/∼,+, ·,P/∼〉 wegen (vi) sogar ein angeordneter Korper. Wir be-merken noch, dass wegen (v) fur die Ordnung≤ aufX/∼ gilt, dass

[(rn)n∈N]∼ < [(sn)n∈N]∼ ⇔ rn + δ ≤ sn, n ≥ N

fur ein δ > 0 und einN ∈ N. Insbesondere gilt folgt ausrn ≤ sn, n ≥ N fur einN ∈ N, dass [(rn)n∈N]∼ ≤ [(sn)n∈N]∼.

(viii ) Die Abbildungr 7→ [(r)n∈N]∼ vonQ nachX/∼ ist offenbar nicht identisch gleich[(0)n∈N]∼ und mit der Addition und Multiplikation vertraglich. Somit ist dies dieeindeutige Abbildungφ : Q → X/∼ aus Proposition 2.5.8, die fur jeden angeord-neten Korper existiert. Wegen Proposition 2.5.8 ist dieseAbbildung auch injektivund mit−, < und≤ vertraglich.

(ix) 〈X/∼,+, ·,P/∼〉 ist ein archimedisch angeordneter Korper, denn fur jedes[(rn)n∈N]∼ ∈ X/∼, ist (rn)n∈N eine Cauchy-Folge und daher beschrankt. DaQ ar-chimedisch angeordnet ist, gibt es einN ∈ N, sodassrn ≤ N, n ∈ N. Das bedingtaber [(rn)n∈N]∼ ≤ [(N)]∼ < [(N+1)]∼, womit [(rn)n∈N]∼ keine obere Schranke von{[(k)n∈N]∼ : k ∈ N} sein kann.

(x) Nun wollen wir zeigen, dass unser Korper vollstandig angeordnet ist. Dazu seiA ⊆ X/∼ eine nach oben beschrankte, nicht leere Menge. Wegen dem vorherigenPunkt gilt somitA ≤ [(N+)]∼ fur ein festesN+ ∈ N. WegenA , ∅ existiert

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4.2. EINDEUTIGKEIT 93

ebenfalls nach dem vorherigen Punkt auch einN− ∈ Z, sodass [(N−)]∼ keineuntere Schranke vonA ist.

Fur j ∈ N sei 1j!Z die Menge aller rationalen Zahlen der Formpq mit p ∈ Z und

q = j!. Man sieht leicht, dassZ ⊆ 1j!Z ⊆

1( j+1)!Z ⊆ Q. Weiters sei

D j = {r ∈1j!Z : A ≤ [(r)n∈N]∼} ,

fur die D j ⊆ D j+1 gilt.

WegenN+ ∈ D j ist D j nicht leer und wegenN− < D j ist D j nach unten be-schrankt. Somit ist (j!)(D j −N−)+1 eine nicht leere Teilmenge vonN und hat so-mit ein Minimum. Also existiert auch das Minimumx j vonD j . WegenD j ⊆ D j+1

gilt x j+1 ≤ x j .

WegenD j = {r ∈ 1j!Z : x j ≤ r} ist die Zahly j := x j − 1

j! ∈1j!Z das Maximum aller

r ∈ 1j!Z, die keine obere Schranke vonA sind, also das Maximum von1j!Z \ D j .

Aus 1j!Z \ D j ⊆ 1

( j+1)!Z \ D j+1 folgt y j+1 ≥ y j . Wegen

0 ≤ xm− xn < xm− yn ≤ xm− ym =1m!

und

0 ≤ yn − ym < xn − ym ≤ xm − ym =1m!

fur m< n ,

fur m< n gilt (xn)n∈N, (yn)n∈N ∈ X, wobei (xn)n∈N ∼ (yn)n∈N; alsos := [(xn)n∈N]∼ =[(yn)n∈N]∼.

Nun gilt A ≤ s, denn anderenfalls gabe es eina ∈ A mit s < a und gemaß Satz2.6.3 weiter einr ∈ Q mit s< [(r)n∈N] < a. Fur j0 ∈ N mit r ∈ 1

j0!Z – ein solches

gibt es offenbar – giltr ∈ 1j!Z \ D j und somitr ≤ y j fur alle j ≥ j0. Es folgt der

Widerspruch [(r)n∈N] ≤ [(yn)n∈N]∼ = s.

Nun ist s die kleinste obere Schranke vonA, da ausA ≤ b < s wieder mit Satz2.6.3 die Existenz einesr ∈ Q mit A ≤ b < [(r)n∈N] < s folgte. Fur j0 ∈ Nmit r ∈ 1

j0!Z gilt r ∈ D j und somitx j ≤ r fur alle j ≥ j0. Das ergibt aber denWiderspruchs= [(xn)n∈N]∼ ≤ [(r)n∈N].

Also konnen wir uns nun sicher sein, dass es vollstandig angeordnete Korper gibt.

4.2 Eindeutigkeit

4.2.1 Satz.Ist 〈K,+, ·,P〉 ein vollstandig angeordneter Korper und〈X/∼,+, ·,P/∼〉 dersoeben konstruierte Korper, dann gibt es eine eindeutige Abbildungφ : X/∼ → K, dienicht identisch gleich0K und mit Addition und Multiplikation vertraglich ist. DieseAbbildung ist dann auch bijektiv, mit− sowie mit den Ordnungen< und≤ vertraglich.

Beweis.Nach Proposition 2.5.8 gibt es eine verknupfungs-und ordnungstreue injektiveAbbildungφ : Q → K. Wegen Bemerkung 3.5.2 sind die Bilder von Nullfolgen bzw.Cauchy-Folgen wieder Nullfolgen bzw. Cauchy-Folgen.

Ist [(rn)n∈N]∼ ∈ X/∼, so definieren wir

φ([(rn)n∈N]∼) := limn→∞

φ(rn).

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94 KAPITEL 4. DIE KONSTRUKTION DER REELLEN ZAHLEN

Man beachte, dass der Grenzwert existiert, daK wegen Satz 3.5.8 ein vollstandig an-geordneter Korper ist, und dass der Grenzwert nicht von derWahl des Reprasentanten(rn)n∈N der Restklasse [(rn)n∈N]∼ abhangt. Ist namlich (rn)n∈N ∼ (sn)n∈N, so folgt

limn→∞

φ(rn) = limn→∞

φ(sn) + limn→∞

φ(rn − sn) = limn→∞

φ(sn).

φ ist injektiv, da

[(rn)n∈N]∼ = [(sn)n∈N]∼ ⇔ limn→∞

(rn − sn) = 0⇔

limn→∞

φ(rn − sn) = 0⇔ limn→∞

φ(rn) = limn→∞

φ(sn).

Die Surjektivitat folgt aus der Tatsache, dass jede Zahl aus K durch eine Folge ratio-naler Zahlen approximiert werden kann; vgl. Beispiel 3.3.4. Die Vertraglichkeit mit+folgt aus (siehe Satz 3.3.5)

φ([(rn)n∈N]∼ + [(sn)n∈N]∼) = limn→∞

φ(rn + sn) =

limn→∞

φ(rn) + limn→∞

φ(sn) = φ([(rn)n∈N]∼) + φ([(sn)n∈N]∼),

und die fur− sowie · zeigt man genauso. Um die Vertraglichkeit mit der Ordnung zuzeigen sei bemerkt, dass wegen Lemma 3.3.1 und Satz 2.6.3

φ([(rn)n∈N]∼) ∈ P⇔ limn→∞

φ(rn) > 0⇔ ∃δ > 0, φ(rn) ≥ δ fur alle n ≥ N.

Daφ ordnungstreu ist, bedeutet das aber genau [(rn)n∈N]∼ ∈ P/∼.

Sei φ : X/∼ → K eine weitere, mit+ und · vertragliche Abbildung mitφ . 0K .Aus φ(x)φ([(1)n∈N]∼) = φ(x · [(1)n∈N]∼) = φ(x) fur ein x ∈ X/∼ mit φ(x) , 0K folgtφ([(1)n∈N]∼) = 1K ; also ist insbesondere die Abbildungr 7→ φ([(r)n∈N]∼) nicht identischgleich 0K und offenbar mit+ und· vertraglich.

Die Eindeutigkeitsaussage in Proposition 2.5.8 impliziert φ([(r)n∈N]∼) = φ(r) furalle r ∈ Q, woraus wegenφ(a) + φ(−a) = φ([(0)n∈N]∼) = 0K und daherφ(−a) =−φ(a) fur jedesa ∈ X/∼ auch die Vertraglichkeit mit− folgt. Fur a , [(0)n∈N]∼ folgtφ(a) · φ(a−1) = φ(a · a−1) = 1K , und daherφ(a) , 0K .

Fur [(rn)n∈N]∼ ∈ X/∼ folgt aus [(rn)n∈N]∼ > [(0)n∈N]∼ wegen Satz 2.7.5

∃[(sn)n∈N]∼ ∈ X/∼, [(sn)n∈N]∼ , [(0)n∈N]∼ : [(sn)n∈N]2∼ = [(rn)n∈N]∼ .

Wegenφ([(sn)n∈N]∼) , 0K ⇔ [(sn)n∈N]∼ , [(0)n∈N]∼ folgt darausφ([(rn)n∈N]∼) =φ([(sn)n∈N]∼)2 > 0K . Somit istφ mit < und daher auch mit≤ vertraglich.

Ware nunφ(x) < φ(x) fur ein x ∈ X/∼, und sindr, ρ ∈ Q gemaß Satz 2.6.3 sogewahlt, dassφ(x) < φ(r) < φ(ρ) < φ(x), so erhielten wir

x < [(r)n∈N]∼ und [(ρ)n∈N]∼ < x , (4.3)

da ausx ≥ [(r)n∈N]∼ ( x ≤ [(ρ)n∈N]∼ ) wegen der Ordnungstreue vonφ ( φ ) dieBeziehungφ(x) ≥ φ([(r)n∈N]∼) = φ(r) ( φ(x) ≤ φ([(ρ)n∈N]∼) = φ(ρ) ) folgt. (4.3)impliziert ρ < r, wogegenφ(r) < φ(ρ) die Ungleichungr < ρ nach sich zieht.

Da man genauso ausφ(x) > φ(x) einen Widerspruch erhalt, mussφ = φ.❑

Somit haben wir die Existenz und die Eindeutigkeit eines vollstandig angeordnetenKorpers und damit auch Satz 2.7.3 bewiesen.

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4.2. EINDEUTIGKEIT 95

4.2.2 Bemerkung.Die in diesem Abschnitt angegebene Vorgangsweise ausQ die reel-len Zahlen zu konstruieren lasst sich auch anwenden um zu zeigen, dass es zu jedemmetrischen Raum〈X, d〉 einen vollstandigen metrischen Raum〈X, d〉 gibt, sodass〈X, d〉isometrisch und dicht in〈X, d〉 enthalten ist.

In der Tat nimmt man auch hier die MengeX aller Cauchy-Folgen in〈X, d〉, be-trachtet genauso dieAquivalenzrelation∼, die zwei Folgen identifiziert, falls derenDifferenz eine Nullfolge ist, und beweist, dassX/∼ versehen mit einer geeigneten Me-trik der gesuchte metrische Raum ist.

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96 KAPITEL 4. DIE KONSTRUKTION DER REELLEN ZAHLEN

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Kapitel 5

Geometrie metrischer Raume

5.1 ǫ-Kugeln, offene und abgeschlossene Mengen

Als erstes wollen wir uns dem anschaulich leicht verstandlichen Begriff der Kugel inmetrischen Raumen zuwenden.

5.1.1 Definition. Sei 〈X, d〉 ein metrischer Raum undx ∈ X. Dann heißt die MengeUǫ (x) := {y ∈ X : d(y, x) < ǫ} die offeneǫ-Kugel um den Punktx, und die MengeKǫ (x) := {y ∈ X : d(y, x) ≤ ǫ} die abgeschlosseneǫ-Kugel um den Punktx.

5.1.2 Beispiel.

(i) Man betrachteR versehen mit der euklidischen Metrik. Furx ∈ R ist dannUǫ (x) = (x− ǫ, x+ ǫ) undKǫ(x) = [x− ǫ, x+ ǫ].

(ii ) SeiX eine Menge, und sei diese mit der diskreten Metrik aus Beispiel 3.1.5 verse-hen. Istǫ ≤ 1, so gilt dann in diesem RaumUǫ (x) = {x}. Furǫ > 1 gilt Uǫ(x) = X.

(iii ) BetrachteR2, und versehe diese Menge einerseits mit der Metrik,d1, der eukli-dischen Metrikd2 und mitd∞; siehe Beispiel 3.1.5. Dieǫ-KugelnU1

ǫ (0) bzgl.d1

sowieU2ǫ (0) bzgl.d2 bzw.U∞ǫ (0) bzgl.d∞ lassen sich folgendermaßen darstellen.

ǫ

ǫ

U1ǫ (0)

ǫ

ǫ

U2ǫ (0)

ǫ

ǫ

U∞ǫ (0)

Abbildung 5.1:ǫ-Umgebungen von 0

97

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98 KAPITEL 5. GEOMETRIE METRISCHER RAUME

5.1.3 Bemerkung.Die Konvergenz einer Folge (xn)n∈N in metrischen Raumen lasst sichdurch obige Mengen folgendermaßen formulieren:

x = limn→∞

xn⇔ ∀ǫ > 0 ∃N ∈ N : {xn : n ≥ N} ⊆ Uǫ(x).

WegenUǫ (x) ⊆ Kǫ (x) ⊆ U2ǫ (x) konnen wir hier genausoKǫ (x) anstattUǫ (x) schreiben.Diese Sichtweise des Grenzwertbegriffes gewinnt zum Beispiel dann an Bedeu-

tung, wenn man den Konvergenzbegriff bezuglich verschiedener Metriken vergleichenwill.

Betrachten wir etwa die Metrikend und d∞ aus Beispiel 5.1.2, (iii ), so folgt aus(3.9), dassU2

ǫ (x) ⊆ U∞ǫ (x) ⊆ U22ǫ(x). Nimmt man nun obiges Konvergenzkriterium

her, so sieht man unmittelbar, dass eine Folge genau dann bzgl. d konvergiert, wenn siees bzgl.d∞ tut; siehe Proposition 3.6.1.

5.1.4 Definition. Sei〈X, d〉 ein metrischer Raum. Eine TeilmengeO vonX heißtoffen,wenn es zu jedem Punktx ∈ O eineǫ-Kugel gibt mitUǫ (x) ⊆ O.

O

x

ǫ

x′ǫ′

x′′

ǫ′′

Abbildung 5.2: Offene Mengen

5.1.5 Beispiel.

In (R, d) sind z.B. die Mengen (a, b) undR \ {0} offen. Denn ist etwax ∈ (a, b),so folgt furǫ = min( x−a

2 , b−x2 ), dassUǫ (x) = (x− ǫ, x+ ǫ) ⊆ (a, b).

Man sieht sofort, dass in jedem metrischen Raum〈X, d〉 die Mengen∅ und Ximmer offen sind.

5.1.6 Bemerkung.Sei 〈X, d〉 ein metrischer Raum und seix ∈ X sowie ǫR, ǫ > 0.Ist y ∈ Uǫ(x), dh.d(x, y) < ǫ, und ist 0< δ ≤ ǫ − d(x, y), so folgt furz ∈ Uδ(y) ausd(y, z) < δ, dass

d(x, z) ≤ d(x, y) + d(y, z) < d(x, y) + δ ≤ d(x, y) + ǫ − d(x, y) = ǫ ,

und somitz ∈ Uǫ(x). Also gilt Uδ(y) ⊆ Uǫ (x). Insbesondere sind alle offenen Kugelnin metrischen Raumen offen.

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5.1. ǫ-KUGELN, OFFENE UND ABGESCHLOSSENE MENGEN 99

5.1.7 Proposition. Sei〈X, d〉 ein metrischer Raum. Dann gilt

� Ist n ∈ N und sind O1, . . . ,On offene Teilmengen von X, so ist auch⋂n

i=1 Oi offen.

� Ist I eine beliebige Indexmenge, und sind Oi offene Teilmengen von X, so auch⋃i∈I Oi .

Beweis. SeienO1, . . . ,On offen undx ∈ O1 ∩ . . . ∩ On. Definitionsgemaß gibt esǫ1, . . . , ǫn > 0 mit Uǫi (x) ⊆ Oi , i = 1, . . . , n. Es folgt

Umin{ǫ1,...,ǫn}(x) = Uǫ1(x) ∩ . . . ∩ Uǫn(x) ⊆ O1 ∩ . . . ∩On.

Damit istO1 ∩ . . . ∩On offen.SeienOi , i ∈ I , offen, undx ∈ ⋃

i∈I Oi . Dann existiert eini ∈ I mit x ∈ Oi , unddaher einǫ > 0 mit Uǫ(x) ⊆ Oi . Insgesamt folgtUǫ (x) ⊆ ⋃

i∈I Oi .❑

5.1.8 Definition. Sei〈X, d〉 ein metrischer Raum,E ⊆ X undx ∈ X.

� Man nenntx einenHaufungspunktvon E, wenn jedeǫ-Kugel umx einen PunktausE \ {x} enthalt, dh.

∀ǫ > 0⇒ Uǫ(x) ∩ (E \ {x}) , ∅ ,

oder anders formuliert,

∀ǫ > 0 ∃y ∈ E, x , y : d(x, y) < ǫ.

� Wennx ∈ E kein Haufungspunkt ist, so nennen wir ihnisolierten Punktvon E.Das ist also ein Punkt ausE, sodass

∃ǫ > 0, Uǫ(x) ∩ E = {x}.

� Wir sagen eine MengeA ⊆ X ist abgeschlossen, wenn jeder Haufungspunkt vonA schon inA enthalten ist.

5.1.9 Bemerkung.SeiE ⊆ X. Fur jedesx ∈ X tritt genau einer der folgenden Falle ein:

(i) x ist isolierter Punkt vonE.

(ii ) x ∈ E undx ist Haufungspunkt vonE.

(iii ) x < E undx ist Haufungspunkt vonE.

(iv) x < E undx ist nicht Haufungspunkt vonE.

5.1.10 Definition. Die Menge allerx, die eine der Bedingungen (i), (ii ) oder (iii )erfullen, wollen wir mitAbschlussder MengeE, in Zeichenc(E), bezeichnen.

SindE ⊆ F ⊆ X derart, dassc(E) ⊇ F, so nennt manE dicht in F.

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100 KAPITEL 5. GEOMETRIE METRISCHER RAUME

5.1.11 Fakta.

1. Man zeigt unmittelbar, dass ausE ⊆ F die Inklusionc(E) ⊆ c(F) folgt.

2. Klarerweise istE ⊆ c(E), wobeic(E) = E genau dann, wennE abgeschlossenist.

3. Fur einx ∈ X gilt x ∈ c(E) genau dann, wenn

∀ǫ > 0 ∃y ∈ E : d(x, y) < ǫ

bzw. genau dann, wenn

∀ǫ > 0⇒ E ∩ Uǫ(x) , ∅. (5.1)

4. Ist x ∈ c(c(E)), so folgt aus dieser Bedingung angewandt aufc(c(E)), dassc(E) ∩ U ǫ

2(x) fur beliebigesǫ > 0 ein y enthalt. Nochmals diese Bedingung

angewandt aufc(E) ergibt E ∩ U ǫ2(y) , ∅, was zusammen mitU ǫ

2(y) ⊆ Uǫ (x)

(siehe Bemerkung 5.1.6)E∩Uǫ (x) , ∅ nach sich zieht. Also giltx ∈ c(E) und so-mit c(c(E)) ⊆ c(E). Die umgekehrte Inklusion gilt ohnehin, dh.c(c(E)) = c(E).Insbesondere istc(E) immer abgeschlossen.

5. In jederǫ-Kugel Uǫ(x) um einen Haufungspunktx von E liegen sogar unend-lich viele Punkte vonE \ {x}. Denn angenommen es waren nur endlich vielex1, . . . , xn, so erhielten wir mitδ := min{ǫ, d(x, x1), . . . , d(x, xn)} > 0 den Wider-spruchUδ(x) ∩ E \ {x} = ∅.

5.1.12 Beispiel.

Sei E = [0, 1) ∪ {2} als Teilmenge vonR. Dann ist 1 ein Haufungspunkt vonE, da jedeǫ-Kugel (1− ǫ, 1 + ǫ) um 1 sicherlich Punkte ausE enthalt – etwamax(1− 1

2ǫ,12). Da 1 nicht zuE gehort, istE nicht abgeschlossen.

Fur x ∈ [0, 1) und jedesǫ > 0 gilt sicher

x < y := min(x+ 1

2, x+

12ǫ) < min(x+ ǫ, 1) ,

alsoy ∈ E ∩ Uǫ(x) \ {x}. Somit sind auch alle Punkte aus [0, 1) Haufungspunktvon E.

Fur x < [0, 1] folgt mit ǫ = min(|x|, |x− 1|) sicherlichE∩Uǫ(x) \ {x} = ∅, womit[0, 1] genau die Menge aller Haufungspunkte vonE und 2 ein isolierter Punktist. Also gilt schließlichc(E) = [0, 1]∪ {2}.

Ist 〈X, d〉 ein beliebiger metrischer Raum, so sind auch∅ undX abgeschlossen.Erstere Menge hat offenbar keine Haufungspunkte und enthalt somit trivialer-weise alle solchen, undX enthalt auch alle seine Haufungspunkte, da diese ja alsPunkte vonX definiert sind.

Ist 〈X, d〉 ein beliebiger metrischer Raum, undE ⊆ X eine endliche Teilmenge,so hatE keine Haufungspunkte, besteht daher nur aus isolierten Punkten und istdaher immer abgeschlossen.

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5.1. ǫ-KUGELN, OFFENE UND ABGESCHLOSSENE MENGEN 101

5.1.13 Lemma. Ein Punkt x ist ein Haufungspunkt einer Menge E genau dann, wennes eine Folge(xn)n∈N von Punkten xn ∈ E \ {x} gibt mit xn→ x.

Ein Punkt x liegt genau dann in c(E), wenn es eine Folge(xn)n∈N von Punktenxn ∈ E gibt mit xn→ x.

Beweis. Ist x Haufungspunkt vonE, so gibt es zu jedemn ∈ N ein xn ∈ E \ {x} mitd(x, xn) < 1

n, alsoxn→ x.Ist x isolierter Punkt vonE, so konvergiert die identische Folgex = xn, n ∈ N gegen

x. Diese Folge ist klarerweise ausE.Sei nun umgekehrtx = limn→∞ xn fur eine Folge ausE. Ist fur einn ∈ N, xn = x,

so folgt trivialerweisex = xn ∈ E ⊆ c(E).Im Fall xn , x fur alle n ∈ N ist die Folge (xn)n∈N sicher inE \ {x} enthalten, und

zu jedemǫ > 0 gibt es einN ∈ N, sodass∅ , {xn : n ≥ N} ⊆ Uǫ(x). Jedes Element derMenge auf der linken Seite ist inUǫ(x) ∩ E \ {x} enthalten.x ist somit Haufungspunktvon E.

5.1.14 Beispiel.

Ist F ⊆ R abgeschlossen und nach oben beschrankt, so seix := supF. NachBeispiel 3.3.4 gibt es inF eine Folge, die gegen supF konvergiert. Die Abge-schlossenheit vonF impliziert supF ∈ F, d.h. supF = maxF.

Entsprechendes gilt fur nach unten beschrankte Mengen und deren Infimum.

Ist 〈X, d〉 ein beliebiger metrischer Raum, so ist jede abgeschlosseneKugelKǫ (x)abgeschlossen. Ist namlichy ∈ c(Kǫ(x)) von Kǫ(x), so gibt es gemaß Lemma5.1.13 eine Folge (yn)n∈N ausKǫ (x) mit limn→∞ yn = y. Wegen Lemma 3.2.10und Lemma 3.3.1 folgt

d(x, y) = limn→∞

d(x, yn) ≤ ǫ .

Also haben wiry ∈ Kǫ (x). Somit gilt c(Kǫ(x)) = Kǫ (x), weshalbKǫ(x) abge-schlossen ist; vgl. Fakta 5.1.11.

Die rationalen Zahlen liegen dicht inR. In der Tat haben wir in Beispiel 3.3.4fur ein beliebigesx ∈ R eine Folge ausQ \ {x} konstruiert haben, die gegenxkonvergiert. Wegen Lemma 5.1.13 istx somit Haufungspunkt vonQ.

5.1.15 Proposition. Ist 〈X, d〉 ein metrischer Raum und A⊆ X, so sind folgende Aus-sagen aquivalent.

(i) Ac(= X \ A) ist offen.

(ii ) A ist abgeschlossen.

(iii ) Ist (xn)n∈N eine Folge von Punkten aus A und ist(xn)n∈N konvergent, so liegt auchihr Grenzwert in A.

Beweis.

(i)⇒ (ii ): Ein Punktx ∈ c(A) kann nicht inAc liegen, denn anderenfalls folgt ausAc

offen, dassUǫ(x) ⊆ Ac fur ein ǫ > 0, und damit der WiderspruchUǫ(x) ∩ A = ∅zu (5.1). Also mussx ∈ A und daherA = c(A).

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102 KAPITEL 5. GEOMETRIE METRISCHER RAUME

(ii )⇒ (i): Da A abgeschlossen ist, ist jedesx ∈ Ac kein Haufungspunkt vonA. Alsogibt es einǫ > 0 mit Uǫ (x)∩A = Uǫ (x)∩A\{x} = ∅. Das ist aber gleichbedeutendmit Uǫ(x) ⊆ Ac. Also istAc offen.

(ii )⇔ (iii ): Folgt unmittelbar aus der Tatsache, dassA genau dann abgeschlossen ist,wennc(A) = A, und aus Lemma 5.1.13.

Diese einfache Charakterisierung von abgeschlossenen Mengen zusammen mit

( n⋃

i=1

Ai)c=

n⋂

i=1

(Aci ),

(⋂

i∈IAi

)c=

i∈I(Ai)

c

und Proposition 5.1.7 liefert uns sofort das folgende

5.1.16 Korollar. Sei〈X, d〉 ein metrischer Raum. Dann gilt

� Sind n∈ N und A1, . . . ,An abgeschlossen, so auch⋃n

i=1 Ai .

� Ist I eine beliebige Indexmenge, und sind alle Mengen Ai , i ∈ I, abgeschlossen,so folgt, dass auch

⋂i∈I Ai abgeschlossen ist.

5.1.17 Beispiel.

Korollar 5.1.16 gestattet uns z.B.EinheitskreislinieT = {z ∈ C : |z| = 1} alsabgeschlossene Teilmenge vonC zu identifizieren. In der Tat istT = K1(0) ∩(U1(0))c, und damit Durchschnitt von abgeschlossenen Mengen.

Man betrachteM = {z ∈ C : Rez ≥ 0} als Teilmenge vonC. Ist (zn)n∈N eineFolge ausM, die gegenz ∈ C konvergiert, so muss nach Proposition 3.6.1 dieFolge (Rezn)n∈N in R gegen Rez konvergieren. Wegen Lemma 3.3.1 folgt ausRezn ≥ 0, n ∈ N, dass auch Rez≥ 0 und damitz ∈ M. Nach Proposition 5.1.15ist M abgeschlossen.

Die Teilmenge{z ∈ C : 0 ≤ Rez ≤ 1} von C lasst sich als Durchschnitt von{z ∈ C : Rez ≥ 0} und{z ∈ C : Rez ≤ 1} schreiben. Nach dem vorhergehendenBeispiel ist die erste Menge abgeschlossen. Entsprechendes gilt fur die zweiteMenge. Also ist{z ∈ C : 0 ≤ Rez ≤ 1} der Durchschnitt von abgeschlossenenMengen und damit selber abgeschlossen.

Das Quadrat{z ∈ C : Rez ∈ [0, 1], Im z ∈ [0, 1]} ist der Durchschnitt derabgeschlossenen Mengen{z ∈ C : 0 ≤ Rez≤ 1} und{z ∈ C : 0 ≤ Im z≤ 1}, unddaher auch abgeschlossen.

Da die Menge{z ∈ C : Rez ≥ 0} abgeschlossen ist, folgt, dass ihr KomplementM := {z ∈ C : Rez< 0} in C offen ist. Das kann man auch direkt nachweisen:

Ist z ∈ M beliebig, so wahleǫ = −Rez > 0. Ist w ∈ Uǫ(z), so folgt wegen−Rez+ Rew ≤ |Rez− Rew| ≤ |z− w| und damit−Rew ≥ −Rez− |z− w| >−Rez− ǫ = 0, dass auchw ∈ M, und daherUǫ (z) ⊆ M.

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5.1. ǫ-KUGELN, OFFENE UND ABGESCHLOSSENE MENGEN 103

Das QuadratM = {z ∈ C : Rez ∈ (0, 1), Im z ∈ (0, 1)} lasst sich als Durchschnittvon endlich vielen offenen Mengen schreiben:

M = {z ∈ C : Rez> 0}∩{z ∈ C : Rez< 1}∩{z ∈ C : Im z> 0}∩{z ∈ C : Im z< 1} .

Sie ist daher selber offen.

Um sichc(M) fur M aus dem vorherigen Beispiel auszurechnen, sei zunachstbemerkt, dassc(M) ⊆ c({z ∈ C : Rez ∈ [0, 1], Im z ∈ [0, 1]}) = {z ∈ C : Rez ∈[0, 1], Im z ∈ [0, 1]}; vgl. Fakta 5.1.11.

Sei nunz ∈ Cmit Rez ∈ [0, 1], Im z ∈ [0, 1]. Im Fall Rez ∈ (0, 1), Im z ∈ (0, 1)gilt offenbarz ∈ M ⊆ c(M). Anderenfalls muss Rez= 0, Rez= 1, Imz= 0 oderRez= 1 sein.

Im ersten Fall ist (1n+1 + i Im z)n∈N eine Folge ausM, die gegenz konvergiert,

dh.z ∈ c(M). In den anderen Fallen konstruiert man ahnliche Folgen und erhaltgenausoz ∈ c(M). Insgesamt gilt also

c(M) = {z ∈ C : Rez ∈ [0, 1], Im z ∈ [0, 1]} .

Betrachte die TeilmengeM vonR definiert durch

M =⋃

n∈2N(

1n+ 1

,1n

) .

Diese Menge ist als Vereinigung von offenen Mengen offen.

Um alle Haufungspunktezu ermitteln, sei zunachstx ∈ ⋃n∈2N[ 1

n+1 ,1n], also 1

n+1 ≤x ≤ 1

n fur einn ∈ 2N. Fur jedesǫ > 0 gilt

M ∩ Uǫ(x) \ {x} ⊇ (1

n+ 1,1n

) ∩ (x− ǫ, x+ ǫ) \ {x} =(max(x− ǫ, 1

n+ 1),min(x+ ǫ,

1n

)) \ {x} .

Da fur 1n+1 ≤ x ≤ 1

n immer max(x−ǫ, 1n+1) < min(x+ǫ, 1

n), folgt M∩Uǫ(x)\{x} ,∅. Somit istx ein Haufungspunkt. Da die Folge

(12

( 12k+1 +

12k

))k∈N

ausM herausgegen 0 konvergiert, muss auch 0 ein Haufungspunkt sein; vgl. Lemma 5.1.13.Also ist die Menge

H = {0} ∪⋃

n∈2N

[1

n+ 1,1n

]

in der Menge aller Haufungspunkte vonM enthalten.

Ist andererseitsx ein Haufungspunkte vonM und (x j) j∈N eine Folge ausM mitGrenzwertx, so gibt es zwei Moglichkeiten:

Falls fur jedesn ∈ 2N nur endlich vielej ∈ Nmit x j ∈ ( 1n+1 ,

1n) existieren, so gibt

es zu jedemǫ > 0 einK ∈ N mit 12K+2 < ǫ und in Folge nur endlich vielej ∈ N

mit x j ∈⋃

k∈{1,...,K}(1

2k+1 ,12k). Insbesondere gibt es einJ ∈ N, sodass

x j ∈ M \⋃

k∈{1,...,K}(

12k+ 1

,12k

) ⊆⋃

k∈{K+1,k+2,... }(

12k+ 1

,12k

)

⊆ (− 12K + 2

,1

2K + 2) ⊆ (−ǫ, ǫ),

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104 KAPITEL 5. GEOMETRIE METRISCHER RAUME

fur alle j ≥ J, womit x = lim j→∞ x j = 0.

Falls es einn ∈ 2N gibt, sodassx j ∈ ( 1n+1 ,

1n) fur unendlich vielej ∈ N, so liegt

eine Teilfolge von (x j) j∈N ganz in ( 1n+1 ,

1n) ⊆ [ 1

n+1 ,1n]. Wegen Satz 3.2.8 istx auch

Grenzwert dieser Teilfolge, der wegen Lemma 3.3.1 auch in [1n+1 ,

1n] liegt.

Also haben wir gezeigt, dass jeder Haufungspunkte vonM in H liegt, und damitH genau die Menge der Haufungspunkte vonM ist. Schließlich gilt nochc(M) =M ∪ H = H.

Um zu zeigen, dass es außerhalb vonH keine anderen Haufungspunkte vonMgibt, kann man alternativ auch

R \ H = (−∞, 0)∪⋃

n∈2N(

1n+ 2

,1

n+ 1) ∪ (

12,+∞)

nachweisen und damitR \ H als offen bzw.H als abgeschlossen identifizieren.Als abgeschlossene Teilmenge enthaltH daher alle Haufungspunkte vonH unddamit auch vonM.

5.2 Kompaktheit

Wir wollen auch Haufungspunkte fur Folgen einfuhren.

5.2.1 Definition. Sei〈X, d〉 ein metrischer Raum. Dann heißt einx ∈ X Haufungspunkteiner Folge (xn)n∈N, falls es eine gegenx konvergente Teilfolge von (xn)n∈N gibt.

5.2.2 Lemma. Sei(xn)n∈N eine Folge in einem metrischen Raum〈X, d〉.

(i) Konvergiert(xn)n∈N gegen x, so ist x der einzige Haufungspunkt.

(ii ) Ist (xn( j)) j∈N eine Teilfolge von(xn)n∈N, so ist die Menge aller Haufungspunktevon(xn( j)) j∈N eine Teilmenge von der Menge aller Haufungspunkte von(xn)n∈N.

(iii ) x ist Haufungspunkt der Folge(xn)n∈N genau dann, wenn fur jedes N∈ N der Punkt x in c({xn : n ≥ N}) liegt.

Beweis.

(i) Das folgt unmittelbar aus Satz 3.2.8, da Teilfolgen konvergenter Folgen auch ge-gen den Grenzwert der Folge streben.

(ii ) Da jede Teilfolge von (xn( j)) j∈N erst recht eine Teilfolge von (xn)n∈N ist, muss jederHaufungspunkt von (xn( j)) j∈N auch einer von (xn)n∈N sein.

(iii ) Sei zunachstx Haufungspunkt der Folge (xn)n∈N . Also x = lim j→∞ xn( j). Wir haltenN fest und wahlenJ ∈ N, sodassn(J) ≥ N. Dann ist (xn( j+J)) j∈N eine Folge in{xn : n ≥ N}, die gegenx konvergiert. Es folgtx ∈ c({xn : n ≥ N}) nachLemma 5.1.13.

Ist umgekehrtx ∈ c({xn : n ≥ N}) fur alle N ∈ N, so sein(1) ∈ N, sodassd(x, xn(1)) < 1. Haben wirn(1) < · · · < n(k)

gewahlt, so sein(k + 1) ∈ N mit n(k + 1) > n(k) derart, dassd(x, xn(k+1)) < 1k+1 . So einn(k + 1) existiert, weilx ∈

c({xn : n ≥ n(k)+1}). Wir haben somit eine Teilfolge konstruiert, die gegenx konvergiert.x ist somit Haufungspunkt

der Folge (xn)n∈N .

Bezuglich Haufungspunkte von Folgen ausR haben wir

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5.2. KOMPAKTHEIT 105

5.2.3 Proposition. Sei(xn)n∈N eine beschrankte Folge reeller Zahlen.Dann ist lim supn→∞ xn ( lim inf n→∞ xn ) der großte (kleinste) Haufungspunkt

von (xn)n∈N. Insbesondere hat jede beschrankte Folge reeller Zahlen mindestens einenHaufungspunkt.

Außerdem ist(xn)n∈N konvergent genau dann, wenn ihr Limes Inferior mit dem Li-mes Superior ubereinstimmt, bzw. genau dann, wenn(xn)n∈N genau einen Haufungs-punkt hat.

Beweis.Dass lim infn→∞ xn und lim supn→∞ xn Haufungspunkte von (xn)n∈N sind, folgtaus Lemma 3.4.4. Isty ein weiterer Haufungspunkt samt dazugehoriger Teilfolge(xn( j)) j∈N, so folgt

sup{xn : n ≥ n( j)} ≥ xn( j)

fur alle j ∈ N, und daher

y = limj→∞

xn( j) ≤ limj→∞

sup{xn : n ≥ n( j)} = limN→∞

sup{xn : n ≥ N} = lim supn→∞

xn .

Entsprechend zeigt man lim infn→∞ xn ≤ y.Dass (xn)n∈N genau dann konvergiert, wenn lim infn→∞ xn = lim supn→∞ xn haben

wir in Fakta 3.4.5 gesehen. Da lim infn→∞ xn der kleinste und lim supn→∞ xn der großteHaufungspunkt ist, gibt es genau einen solchen, wenn der kleinste und der großteubereinstimmen.

5.2.4 Beispiel.Man betrachte die Folgexn = (−1)n(1+ 1n), n ∈ N in R. Die Teilfolge

x2k = 1 + 12k konvergiert furk → ∞ gegen 1, und die Teilfolgex2k−1 = −1 − 1

2k−1konvergiert furk→ ∞ gegen−1.

Also sind−1 und 1 Haufungspunkte unserer Folge. Angenommenx ∈ R ware einweiterer Haufungspunkt. Dann gabe es eine Teilfolge (xn( j)) j∈N, die gegenx konver-gierte. Nun sei

J1 = { j ∈ N : n( j) ist ungerade} und J2 = { j ∈ N : n( j) ist gerade}.

Klarerweise istN = J1∪J2, und somit ist zumindest eine dieser Mengen unendlich.Ist J1 unendlich, so gibt es eine streng monoton wachsende Bijektion j : N → J1;

vgl. Lemma 2.3.15. Also ist (xn( j(k)))k∈N eine Teilfolge von (xn( j)) j∈N und somit ebenfallsgegenx konvergent. Andererseits konvergiert aber

xn( j(k)) = −1− 1n( j(k))

wegenn( j(k)) ≥ k gegen−1. Also mussx = −1. Ist J2 unendlich, so folgt analogx = 1. Jedenfalls haben wir gezeigt, dass−1, 1 die einzigen Haufungspunkte sind. AusProposition 5.2.3 folgt schließlich

lim infn→∞

xn = −1, lim supn→∞

xn = 1.

Folgender Satz ist ein sehr wichtiges Ergebnis der Analysis.

5.2.5 Satz(Bolzano1-Weierstraß2). Sei(xn)n∈N eine beschrankte Folge inRp (versehenmit der euklidischen Metrik). Dann hat(xn)n∈N einen Haufungspunkt.

1Bernard Bolzano. 5.10.1781 Prag - 18.12.1848 Prag2Karl Theodor Wilhelm Weierstraß. 31.10.1815 Ostenfelde (Westfalen) - 19.12.1897 Berlin

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106 KAPITEL 5. GEOMETRIE METRISCHER RAUME

Beweis. Wir zeigen den Satz durch vollstandige Induktion nachp. Fur Folgen inRfolgt der Satz aus Proposition 5.2.3.

Angenommen der Satz gilt furp ∈ N. Sei (xn)n∈N eine beschrankte Folge inRp+1,wobeixn = (xn,1, . . . , xn,p+1). Aus der Definition vond2 folgt fur allen ∈ N

|xn,p+1| ≤ d2(0, xn) und d2(0, (xn,1, . . . , xn,p)︸ ︷︷ ︸∈Rp

)2 ≤ d2(0, xn) .

Da (xn)n∈N in Rp+1 beschrankt ist, sind es auch (xn,p+1)n∈N in R und((xn,1, . . . , xn,p)

)n∈N

in Rp.Da wir den Satz im Fallp = 1 schon gezeigt haben, gibt es eine inR konvergen-

te Teilfolge (xn( j),p+1) j∈N von (xn,p+1)n∈N. Laut Induktionsvoraussetzung hat dann aberauch

((xn( j),1, . . . , xn( j),p)

)j∈N eine konvergente Teilfolge

((xn( j(k)),1, . . . , xn( j(k)),p)

)k∈N in

Rp.Man beachte, dass (xn( j(k)),p+1)k∈N als Teilfolge der konvergenten Folge (xn( j),p+1) j∈N

auch konvergiert. Nach Proposition 3.6.1 konvergiert daher auch (xn( j(k)))k∈N in Rp+1.❑

5.2.6 Definition. Sei〈X, d〉 ein metrischer Raum, und seiK ⊆ X mit der Eigenschaft,dass jede Folge (xn)n∈N ausK einen Haufungspunkt inK hat. Dann heißtK kompakt.

5.2.7 Beispiel.

Man betrachteR. Die TeilmengeN vonR ist nicht kompakt, da die Folge (n)n∈Nkeine konvergente Teilfolge besitzt.

Das Intervall (0, 1] ist auch nicht kompakt, da die Folge (1n)n∈N gegen 0 konver-

giert und somit in (0, 1] keinen Haufungspunkt besitzt.

Ist K ⊆ Rp eine abgeschlossene und beschrankte Menge, so hat nach Satz 5.2.5jede Folge einen Haufungspunkt, der nach Proposition 5.1.15 zuK gehort.

Insbesondere sind alle abgeschlossenen Intervalle [a, b] in R und allgemeineralle abgeschlossenen KugelnKr (x) in Rp kompakt.

Wir sammeln einige elementare Eigenschaften von kompaktenTeilmengen.

5.2.8 Proposition. Sei〈X, d〉 ein metrischer Raum. Dann gilt:

(i) Ist K ⊆ X kompakt, dann ist K abgeschlossen.

(ii ) Ist K ⊆ X kompakt, und F⊆ X abgeschlossen, sodass F⊆ K, dann ist auch Fkompakt.

(iii ) Kompakte Teilmengen sind beschrankt.

Beweis.

(i) Wir verwenden Proposition 5.1.15. Seix = limn→∞ xn fur eine Folge ausK. Nungibt es definitionsgemaß eine gegen einy ∈ K konvergente Teilfolge von (xn)n∈N.Andererseits konvergieren Teilfolgen von gegenx konvergenten Folgen ebenfallsgegenx. Nun sind aber Grenzwerte eindeutig. Also giltx = y ∈ K.

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5.2. KOMPAKTHEIT 107

(ii ) Sei F ⊆ K abgeschlossen. Ist (xn)n∈N eine Folge ausF, so ist sie trivialerweiseauch eine Folge ausK. Also gilt x = lim j→∞ xn( j) fur eine Teilfolge (xn( j)) j∈N undein x ∈ K. Nun ist aberF abgeschlossen, und somit folgt aus Proposition 5.1.15,dassx ∈ F. Also enthalt jede Folge inF eine gegen einen Punkt inF konvergenteTeilfolge.

(iii ) Sei y ∈ X. WareK nicht beschrankt, so ware auch{d(y, x) : x ∈ K} ⊆ R nichtbeschrankt. Also konnten wir zu jedemn ∈ N ein xn ∈ K finden, sodassd(y, xn) ≥n.

Aus der Kompaktheit folgt die Existenz einer konvergenten Teilfolge xn( j) →x, j → ∞. Aus Lemma 3.2.10 folgtd(y, xn( j)) → d(y, x). Das widerspricht aberd(y, xn( j)) ≥ n( j), j ∈ N.

Aus Proposition 5.2.8 und Beispiel 5.2.7 erhalten wir folgende Charakterisierungfur die Kompaktheit einer Teilmenge vonRp. Diese Charakterisierung der Kompaktheitgilt jedoch nicht in allen metrischen Raumen.

5.2.9 Korollar. Eine Teilmenge K vonRp ist genau dann kompakt, wenn sie abge-schlossen und beschrankt ist.

5.2.10 Beispiel.

Das Intervall (−∞, c] mit c ∈ R ist zwar abgeschlossen, aber nicht beschrankt inR und somit nicht kompakt.

Die MengeM = {(x, y) ∈ R2 : 2x2 + 4x+ y2 − y− 3 ∈ [7, 13]} ist kompakt inR2

versehen mitd2. Wegen Korollar 5.2.9 mussen wir zeigen, dassM abgeschlossenund beschrankt ist.

Dazu ((ξn, ηn))n∈N sei eine beliebige Folge ausM mit Grenzwert (ξ, η) ∈ R2.Konnen wir nun zeigen, dass (ξ, η) ∈ M, so ist M gemaß Proposition 5.1.15abgeschlossen. Wegen (ξn, ηn) ∈ M gilt fur alle n ∈ N

7 ≤ 2ξ2n + 4ξn + η

2n − ηn − 3 ≤ 13 .

Furn→ ∞ folgt mit Proposition 3.6.1 und Lemma 3.3.1

7 ≤ 2ξ2 + 4ξ + η2 − η − 3 ≤ 13 ,

und somit tatsachlich (ξ, η) ∈ M.

Um die Beschranktheit zu zeigen, bemerken wir zunachst, dass fur (x, y) ∈ R2

2x2 + 4x+ y2 − y− 3 =

2(x+ 1)2 + (y− 12

)2 − 3− 2− 14≥ (x+ 1)2 + (y− 1

2)2 − 21

4.

Damit ist M in der Menge

{(x, y) ∈ R2 : (x+ 1)2 + (y− 1

2)2 − 21

4≤ 13

}=

{(x, y) ∈ R2 : ds((x, y), (−1,

12

)) ≤√

734

},

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108 KAPITEL 5. GEOMETRIE METRISCHER RAUME

also in der abgeschlossenen KugelK√ 734((−1, 1

2)) in R2 bzgl.d2 enthalten.

Wir wollen diesen Abschnitt mit einem Konvergenzkriteriumfur Folgen beenden.

5.2.11 Lemma. Eine Folge(xn)n∈N in einem metrischen Raum〈X, d〉 konvergiert ge-nau dann gegen einen Punkt x∈ X, wenn jede Teilfolge von(xn)n∈N den Punkt x alsHaufungspunkt hat – oder aquivalent wenn jede Teilfolge von (xn)n∈N wiederum eineTeilfolge hat, die gegen x konvergiert.

Gilt {xn : n ∈ N} ⊆ K fur eine kompakte Teilmenge K von X, so ist die Konvergenzvon(xn)n∈N gegen x sogar dazu aquivalent, dass(xn)n∈N hochstens x als Haufungspunkthat.

Beweis. Falls x = limn→∞ xn, so istx nach Lemma 5.2.2 der einzige Haufungspunktvon (xn)n∈N und auch von allen ihren Teilfolgen.

Falls (xn)n∈N nicht gegenx konvergiert, so bedeutet das

∃ǫ > 0 : ∀N ∈ N ∃n ≥ N, d(xn, x) ≥ ǫ .

Daraus definieren wir induktiv eine Teilfolge (xn(k))k∈N. Sei n(1) ∈ N, sodassd(xn(1), x) ≥ ǫ. Ist n(k) ∈ N definiert, so sein(k + 1) die kleinste Zahl inN, sodassn(k+ 1) ≥ n(k) + 1 undd(xn(k+1), x) ≥ ǫ.

Nun kann (xn(k))k∈N den Punktx nicht als Haufungspunkt haben, da wir sonst furdie entsprechende Teilfolge den Widerspruch

0 = d(x, x) = limj→∞

d(x, xn(k( j))) ≥ ǫ.

erhielten. Somit haben wir den ersten Teil des Lemmas gezeigt.Gilt nun {xn : n ∈ N} ⊆ K fur eine kompakte TeilmengeK von X, so hat (xn(k))k∈N

immer mindestens einen Haufungspunkty, der auch Haufungspunkt von (xn)n∈N ist.Falls diese nur hochstensx als Haufungspunkt hat, so mussy = x sein, und wirerhalten wie oben einen Widerspruch.

5.3 Gerichtete Mengen und Netze

Bei der Motivation des Grenzwertbegriffes fur Folgen haben wir gesagt eine Folge(xn)n∈N solle konvergent gegenx heißen, wenn fur alle hinreichend großen Indizes dasFolgengliedxn beliebig nahe anx herankommt.

Fur den weiteren Aufbau der Analysis verwenden wir ahnliche Grenzwertbegriffez.B. fur Funktionenf : (a, b) → R. Dabei soll f (t) konvergent furt → b gegenxheißen, wennf (t) beliebig nahe anx herankommt, sobaldt nur hinreichend nahe anbzu liegen kommt.

Um nicht jedes Mal eine neue Konvergenztheorie aufbauen zu mussen, wollen wireinen allgemeinen Grenzwertbegriffeinfuhren, von dem alle von uns benotigten Grenz-wertbegriffe Spezialfalle sind. Was bei den Folgen die naturlichen Zahlen waren, ist beiunserem allgemeinen Konzept die gerichtete Menge.

5.3.1 Definition. Sei I eine nicht leere Menge, und sei� eine Relation aufI . Dannheißt (I ,�) einegerichtete Menge, wenn� folgender drei Bedingungen genugt.

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5.3. GERICHTETE MENGEN UND NETZE 109

� Reflexivitat:

∀i ∈ I : i � i

� Transitivitat:

∀i, j, k ∈ I : i � j ∧ j � k⇒ i � k

� Richtungseigenschaft:

∀i, j ∈ I ∃k ∈ I : i � k∧ j � k. (5.2)

An dieser Stelle sei explizit herausgehoben, dass wir hier weder Symmetrie nochAntisymmetrie fordern. Im Allgemeinen muss (I ,�) auch keine Totalordnung sein.

5.3.2 Beispiel.

(i) Neben (N,≤) ist jede Totalordnung eine gerichtete Menge. Also etwa((0,+∞),≤), ((a, b),≥), ((a, b),≤), wobeia, b ∈ R, a < b.

Die Eigenschaft (5.2) wird bei einer Totalordnung zum Beispiel vom Maximumzweier Elemente erfullt.

(ii ) Seia, b, c ∈ R, a < b < c. SetzeI := [a, b) ∪ (b, c] und definiere eine Relation�auf I durch

x � y :⇐⇒ |y− b| ≤ |x− b| .

Dann ist� reflexiv, transitiv, und je zwei Punkte sind vergleichbar. Also ist〈I ,�〉eine gerichtete Menge. Man beachte, dass� nicht antisymmetrisch und somitkeine Halbordnung ist.

(iii ) Die gerichtete Menge aus dem letzten Beispiel ist ein Spezialfall des folgendenKonzeptes.

Sei 〈X, dX〉 ein metrischer Raum,D ⊆ X undz ein Haufungspunkt vonD. AufD \ {z} definieren wir� durch

x � y :⇐⇒ dX(y, z) ≤ dX(x, z)

Mit dieser Relation wirdD\{z} zu einer gerichteten Menge, wobei – salopp gesagt– ein Punkt bezuglich der Relation weiter oben als ein anderer ist, wenn er naheranz liegt.

(iv) Ist M eine nichtleere Menge, so ist die PotenzmengeP(M) versehen mit⊆ einegerichtete Menge.

Die MengeE(M) aller endlichen Teilmengen vonM versehen mit⊆ ist ebenfallseine gerichtete Menge.

(v) Wir nennen eine endliche TeilmengeZ eines Intervalls [a, b] eineZerlegungdie-ses Intervalls, wenna, b ∈ Z. Die Menge aller solchen Zerlegungen wird mitZbezeichnet. Versieht manZ mit der Relation⊆, so erhalten wir eine gerichteteMenge.

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110 KAPITEL 5. GEOMETRIE METRISCHER RAUME

(vi) Wir nennen das PaarR = ((ξ j)n(R)j=0 ; (η j)

n(R)j=1 ) eineRiemann-Zerlegungeines Inter-

valls [a, b], falls

a = ξ0 < ξ1 < · · · < ξn(R) = b; η j ∈ [ξ j−1, ξ j ], j = 1, . . . , n(R),

und nennen|R| := max{(ξ j − ξ j−1) : j = 1, . . . , n(R)} die Feinheit der Zerlegung.Weiters seiR1 � R2 :⇔ |R2| ≤ |R1|. Ist R die Menge aller solcher Zerlegun-gen, dann ist (R,�) eine gerichtete Menge. In diesem Beispiel ist� sicher nichtantisymmetrisch.

Dieser gerichteten Menge und der aus dem letzten Beispiel werden wir bei derEinfuhrung das Integrals wieder begegnen.

(vii) Sei I = N × N und

(n1,m1) � (n2,m2) :⇔ n1 ≤ n2 ∧m1 ≤ m2. (5.3)

Dann ist (I ,�) eine gerichtete Menge. Diese gerichtete Menge dient fur Konver-genzbetrachtungen bei Doppelfolgen.

(viii ) Sind allgemeinerI undJ gerichtete Mengen versehen mit Relationen�I bzw.�J,dann ist (I × J,�) ebenfalls eine gerichtete Menge, wenn wir

(i1, j1) � (i2, j2) :⇔ i1 �I i2 ∧ j1 �J j2 (5.4)

definieren.

5.3.3 Definition. In Analogie zu den Folgen nennen wir eine Abbildungx : I → X einNetzbzw. eineMoore-Smith-Folgein der MengeX uber der gerichteten Menge (I ,�),und schreiben diese als (xi)i∈I .

Entsprechend Definition 3.2.2 sagen wir, dass ein Netz (xi)i∈I in einem metrischenRaum〈X, d〉 gegen einen Punktx ∈ X konvergiert, falls

∀ǫ > 0 ∃i0 ∈ I : d(xi , x) < ǫ fur alle i � i0 . (5.5)

In diesem Falle schreiben wirx = limi∈I

xi .

5.3.4 Beispiel.

(i) Wie bei den Folgen sieht man, dass konstante Netzexi = x, i ∈ I , immer gegenxkonvergieren.

(ii ) Als konkreteres Beispiel betrachte man die gerichtete Menge ([−1, 0)∪ (0, 1],�),wobeix � y⇔ |y| ≤ |x|, und f (t) = t2. Dann konvergiert das Netz (f (t))t∈[−1,0)∪(0,1]

gegen Null:

Zu gegebenenǫ > 0 seit0 =√

ǫ2. Aust � t0 folgt |0− f (t)| = |t2| ≤ |t20| =

√ǫ2

2 < ǫ.

(iii ) Hat eine gerichtete Menge (I ,�) mindestens ein maximales Element, dh. es gibtein j ∈ I mit j � i fur alle i ∈ I , – das ist wegen (5.2) sicher der Fall, wennIendlich ist –, so konvergiert ein Netz (xi)i∈I genau dann, wennx j = xk fur allemaximalenj, k ∈ I , und zwar gegenx j , wobei j ∈ I ein solch maximales Elementist. Insbesondere konvergiert (xi)i∈I , wenn es genau ein maximales Elementj in Igibt und zwar gegenx j .

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5.3. GERICHTETE MENGEN UND NETZE 111

(iv) Man uberzeugt sich leicht, dass eine Folge (xn)n∈N in einem metrischen Raum〈X, d〉 genau dann eine Cauchy-Folge ist, wenn lim(m,n)∈N×N d(xm, xm) = 0, wobeiN × N wie in (5.3) gerichtet ist.

Fur Netze gelten viele der fur Folgen hergeleiteten Ergebnisse. Die Beweise sindim Wesentlichen die selben, wie fur Folgen. Meist muss nur≤ durch� ersetzt werden.

5.3.5 Fakta.

1. Der Grenzwert ist eindeutig – vgl. Satz 3.2.8, (i) :Ist (xi)i∈I ein Netz, und sei angenommen, dassxi → x und xi → y mit x , y.Setzeǫ := d(x,y)

3 > 0. Dann gibt es wegenxi → x einen Indexi1, sodass fur allei ∈ I mit i1 � i gilt d(xi , x) < ǫ. Wegenxi → y gibt es auchi2 ∈ I , sodass fur allei ∈ I mit i2 � i gilt d(xi , y) < ǫ. Fur i ∈ I mit i1 � i und i2 � i – solche gibt esgemaß (5.2) – erhalten wir den Widerspruch

d(x, y) ≤ d(x, xi) + d(xi , y) < 2d(x, y)

3.

2. Die Tatsache, dass es bei Folgen auf endlich viele Gliedernicht ankommt, hatauch eine Verallgemeinerung fur Netze; siehe Satz 3.2.8, (ii ). Ist namlichk ∈ I ,so ist auch (I�k,�) mit I�k = {i ∈ I : k � i} eine gerichtete Menge und

limi∈I

xi = limi∈I�k

xi , (5.6)

wobei der rechte Grenzwert genau dann existiert, wenn der linke existiert.

3. Im Allgemeinen sind konvergente Netze nicht beschrankt. Aber da ein gegen einx konvergentes Netz{xi : i � i0} ⊆ Uǫ(x) fur ein i0 ∈ I erfullt, ist zumindest dasNetz (xi)i∈I�i0

beschrankt.

4. Man betrachte zwei Netze (xi)i∈I , (yi)i∈I uber derselben gerichteten Menge (I ,�)in einem metrischen Raum〈X, d〉, die gegenx bzw. y konvergieren. Dann gilt(siehe Lemma 3.2.10)

limi∈I

d(xi , yi) = d(x, y). (5.7)

Eine genauere Betrachtung verdient das Analogon von Teilfolgen.

5.3.6 Definition. Sind (I ,�I ) und (J,�J) zwei gerichtete Mengen, istX eine Mengeund (xi)i∈I ein Netz inX, so heißt (xi( j)) j∈J eineTeilnetzvon (xi)i∈I , wenni : J → Iderart ist, dass3

∀i0 ∈ I ∃ j0 ∈ J : ∀ j �J j0 ⇒ i( j) �I i0 .

Ist (J,�J) = (N,≤), so heißt (xi( j)) j∈J = (xi(n))n∈N eine Teilfolge 4.

5.3.7 Lemma. Sei〈X, d〉 ein metrischer Raum,(I ,�) eine gerichtete Menge und(xi)i∈Iein Netz in X.

Ist (J,�J) eine weitere gerichtete Menge derart, dass(xi( j)) j∈J ein Teilnetz von(xi)i∈Iist, so folgt aus x= lim i∈I xi , dass auch x= lim j∈J xi( j).

3Dies ist eigentlich eine Bedingung an die gerichteten Mengen (I ,�I ) und (J,�J) und nicht an das kon-krete Netz.

4Im Gegensatz zu Teilfolgen von Folgen verlangen wir hier nicht, dassi : N→ I streng monoton ist.

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112 KAPITEL 5. GEOMETRIE METRISCHER RAUME

Beweis. Ist x = lim i∈I xi , undǫ > 0, so gibt es eini0 ∈ I , sodassd(x, xi) < ǫ wenni � i0. Ist nun j0 ∈ J, sodassi( j) � i0 fur alle j �J j0, so folgtd(x, xi( j)) < ǫ wennj �J j0. Also gilt x = lim j∈J xi( j).

5.3.8 Fakta. Wir zahlen einige Satze, Rechenregeln, etc. auf, die wir fur Folgen her-geleitet haben, und die sich auf Netze mit praktisch denselben Beweisen ubertragenlassen.

1. Sind (xi)i∈I und (yi)i∈I5 konvergente Netze inR, und giltxi ≤ yi fur alle i, die� k

fur eink ∈ I sind, so folgt (vgl. Lemma 3.3.1)

limi∈I

xi ≤ limi∈I

yi . (5.8)

Ist umgekehrt limi∈I xi < lim i∈I yi , so giltxi < yi fur alle i � k mit einem gewissenk ∈ I .

2. Seien (xi)i∈I , (yi)i∈I und (ai)i∈I Netze inR uber derselben gerichteten Menge,sodassxi ≤ ai ≤ yi fur alle i � i0 mit einem gewisseni0 ∈ I . Gilt

limi∈I

xi = limi∈I

yi ,

so existiert auch der Grenzwert limi∈I ai und stimmt mit dem gemeinsamenGrenzwert von (xi)i∈I und (yi)i∈I uberein; vgl. Satz 3.3.2.

3. Fur zwei konvergente Netze (zi)i∈I und (wi)i∈I uber derselben gerichteten Menge(I ,�) in R oder inC gilt

limi∈I

(zi + wi) = (limi∈I

zi) + (limi∈I

wi) , limi∈I

(zi · wi) = (limi∈I

zi) · (limi∈I

wi) , (5.9)

limi∈I−zi = − lim

i∈Izi , lim

i∈I|zi | =

∣∣∣∣∣limi∈I zi

∣∣∣∣∣ .

Da Netze i.A. nicht beschrankt sind, verlauft der Beweis fur · eine Spur anders,als im Beweis von Satz 3.3.5:

Seiǫ > 0 oBdA. so, dassǫ ≤ 1. Seieni1, i2 so groß, dassi � i1⇒ |zi − z| < ǫ undi � i2 ⇒ |wi − w| < ǫ. Insbesondere gilt fur solchei auch|wi | ≤ |w| + ǫ ≤ |w| + 1.Gemaß Definition 5.3.1 gibt es eini0 � i1, i2. Fur i � i0 folgt

|ziwi − zw| = |(zi − z)wi + z(wi − w)| ≤ |zi − z| · |wi | + |z| · |wi − w|

< ǫ|wi | + |z|ǫ ≤ (|w| + 1+ |z|)ǫ.

In Analogie zu (3.4) folgt darausziwi → zw, i ∈ I .

4. Ist (zi)i∈I ein Netz inR oderC, sodasszi , 0, i ∈ I , und limi∈I zi = z , 0. Dannfolgt lim i∈I

1zi= 1

z ; vgl. Satz 3.3.5.

5Klarerweise ist dabei nicht ausgeschlossen, dass eines dieser Netze konstant ist.

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5.3. GERICHTETE MENGEN UND NETZE 113

5. Ist (xi)i∈I ein monoton wachsendes Netz inR, dh. i � j ⇒ xi ≤ x j und ist{xi : i ∈ I } nach oben beschrankt, so folgt (vgl. Satz 3.4.2)

limi∈I

xi = sup{xi : i ∈ I } . (5.10)

Entsprechende Aussagen gelten fur monoton fallende Netze.

Zum Nachweis von (5.10) wollen wir hier den Beweis angeben, der fast wortlichder selbe, wie fur Satz 3.4.2 ist.

Da (xi)i∈I nach oben beschrankt ist, existiertx := sup{xi : i ∈ I }. Wir zeigen,dass limi∈I xi = x. Seiǫ > 0. Wegenx− ǫ < x kannx− ǫ keine obere Schrankeder Menge{xi : i ∈ I } sein. Es gibt also eini0 ∈ I mit xi0 > x − ǫ. Wegen derMonotonie folgt auchxi > x − ǫ fur alle i � i0. Da stetsx ≥ xi gilt, erhalt manfur i � i0

0 ≤ x− xi < ǫ,

und damit|xi − x| < ǫ.

6. Sei (xi)i∈I ein Netz von Punktenxi = (xi,1, . . . , xi,p) ∈ Rp, undy = (y1, . . . , yp) ∈Rp. Dann gilt limi∈I xi = y bezuglich einer der Metrikend1, d2 oderd∞ genaudann, wenn

limi∈I

xi,k = yk fur alle k = 1, . . . , p . (5.11)

5.3.9 Bemerkung.Genauso wie fur Folgen kann man definieren, was es heißt, dass einreellwertiges Netz (xi)i∈I gegen±∞ konvergiert:

∀M > 0∃i0 ∈ I : ±xi > M fur alle i � i0 .

Offenbar schließt sich die Konvergenz von (xi)i∈I gegen+∞ und gegen−∞ gegensei-tig aus. Genauso kann (xi)i∈I nicht gleichzeitig gegen±∞ und gegen eine reelle Zahlkonvergieren.

Ist (xi)i∈I ein Netz inR und x ∈ R oder x = ±∞, so kann manx = lim i∈I xi

einheitlich folgendermaßen schreiben:

(∀ξ ∈ R, ξ < x∃i0 ∈ I : ∀i � i0 ⇒ xi > ξ) ∧(∀η ∈ R, η > x∃i0 ∈ I : ∀i � i0⇒ xi < η). (5.12)

Es gelten sinngemaß die Aussagen in Satz 3.7.3 auch fur reellwertige Netze(xi)i∈I , (yi)i∈I :

(i) Gilt yi ≥ K fur alle i � k mit festenK ∈ R, k ∈ I , so folgt aus limi∈I xi = +∞auch limi∈I (xi + yi) = +∞.

(ii ) Gilt yi ≥ C fur alle i � k mit festenC > 0, k ∈ I , so folgt aus limi∈I xi = +∞ auchlim i∈I (xi · yi) = +∞.

(iii ) Ist xi ≤ yi fur alle i � k mit festemk ∈ I , so folgt aus limi∈I xi = +∞ auchlim i∈I yi = +∞.

(iv) lim i∈I xi = +∞ ⇔ lim i∈I (−xi) = −∞.

(v) Gilt yi > 0 (yi < 0) fur alle i � k mit festemk ∈ I , so gilt limi∈I yi = +∞(lim i∈I yi = −∞) genau dann, wenn limi∈I 1

yi= 0.

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114 KAPITEL 5. GEOMETRIE METRISCHER RAUME

(vi) Sei (yi)i∈I monoton wachsend (fallend). Ist (yi)i∈I nach oben (nach unten) be-schrankt, so ist dieses Netz konvergent gegen eine reelle Zahl. Im anderen Fallgilt lim i∈I yi = +∞ (lim i∈I yi = −∞).

In der Tat gibt es zu jedemM > 0 ein i0 ∈ I mit yi0 > M. Wegen der Monotoniefolgt auchyi ≥ yi0 > M fur alle i � i0.

Schließlich wollen wir das Analogon zu Cauchy-Folge betrachten.

5.3.10 Definition. Sei 〈X, d〉 ein metrischer Raum und (I ,�) eine gerichtete Menge.Dann heißt ein Netz (xi)i∈I in X Cauchy-Netz, wenn

∀ǫ > 0 ∃i0 ∈ I : d(xi , x j) < ǫ ∀i, j � i0. (5.13)

Die Bedingung (5.13) ist offenbar zu lim(i, j)∈I×I d(xi , x j) = 0 aquivalent, wenn manI × I wie in (5.4) zu einer gerichteten Menge macht.

Fur Folgen ist (5.13) genau die Cauchy-Folgen Bedingung. Also liegt die Aussagedes nachsten Lemma nahe.

5.3.11 Lemma. In einem metrischen Raum ist jedes konvergente Netz auch einCauchy-Netz.

In einem vollstandigen metrischen Raum ist ein Netz genau dann konvergent, wennes ein Cauchy-Netz ist.

Beweis. Ist (xi)i∈I ein Netz, und konvergiert dieses gegenx ∈ X, so gibt es zu jedemǫ > 0 ein i0 ∈ I , sodassd(xi , x) < ǫ

2 fur i � i0. Wegen der Dreiecksungleichung folgtd(xi , x j) < ǫ fur i, j � i0; also (5.13).

Gilt umgekehrt (5.13) in einem vollstandigen metrischen Raum, so definieren wirinduktiv eine Folgein ∈ I , n ∈ N, durch die Forderung, dass

in+1 � in undd(xi , x j) <1n, i, j � in,

indem wir zuersti1 ∈ I so wahlen, dassd(xi , x j) < 1 fur i, j � i1. Zu gegebenemin ∈ Iwahle dann gemaß (5.13)jn+1 ∈ I so, dassd(xi , x j) < 1

n+1 fur i, j � jn+1. Nun seiin+1 ∈ I gemaß (5.2) so gewahlt, dassin+1 � in, jn+1.

Offensichtlich ist (xin)n∈N eine Cauchy-Folge und damit konvergent gegen einx ∈X. Ist n ≤ m, so folgt ausd(xim, xin) <

1n durch Grenzubergangm→ ∞ die Tatsache,

dassd(x, xin) ≤ 1n , n ∈ N.

Ist nunǫ > 0, so wahlen ∈ N, sodass2n ≤ ǫ. Fur i � in folgt

d(x, xi) ≤ d(x, xin) + d(xin, xi) <2n≤ ǫ,

bzw. xi ∈ Uǫ (x), und somit konvergiert (xi)i∈I gegenx.❑

5.4 Unbedingte Konvergenz und Umordnen von Rei-hen

Ist M irgendeine Menge und ist jedemi ∈ M eine Zahlai ausR oderC zugeordnet,so eroffnet uns der Begriff des Netzes eine Moglichkeit Ausdrucken wie

∑i∈M ai sogar

einen Sinn zu geben, wennM nicht endlich und nicht abzahlbar unendlich ist.

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5.4. UNBEDINGTE KONVERGENZ UND UMORDNEN VON REIHEN 115

Ist M abzahlbar unendlich, so konnten wir einfach eine Bijektion σ : N → Mhernehmen und

∑i∈M ai einfach als

∑∞n=1 aσ(n) definieren. Das hat aber den Schonheits-

fehler, dass diese Definition von demσ abhangt.

5.4.1 Beispiel.Sei M = N unda j =(−1)j+1

j fur j ∈ M. Istσ = idN so erhalten wir diealternierende harmonische Reihe

S :=∞∑

n=1

(−1)n+1

n,

welche nach dem Leibnizkriterium, Korollar 3.9.7, konvergiert. Ordnen wir die Sum-manden in einer anderen Reihenfolge an, dh. betrachten wir die Bijektionσ : N → Ndefiniert durchσ(3k−2) = 2k−1, σ(3k−1)= 4k−2, σ(3k) = 4k fur k ∈ N, so erhaltenwir

∞∑

n=1

(−1)σ(n)+1

σ(n)= 1− 1

2︸︷︷︸= 1

2

−14+

13− 1

6︸ ︷︷ ︸= 1

6

−18+

15− 1

10︸ ︷︷ ︸= 1

10

− 112+

17− 1

14︸ ︷︷ ︸= 1

14

− 116+ . . . =

12− 1

4+

16− 1

8+

110− 1

12+

114− 1

16+ . . . =

12(1− 1

2+

13− 1

4+

15− 1

6+ . . .

)=

S2.

Die Summe einer Reihe kann also von der Reihenfolge der Summanden abhangen.Tatsachlich kann man eine konvergente aber nicht absolut konvergente Reihe stets soumordnen, dass jede beliebige Summe einschließlich±∞, oder gar eine divergenteReihe, herauskommt, vgl. Satz 5.4.6.

Zu der nichtleeren MengeM seiE = E(M) die Menge aller endlichen Teilmengenvon M. Setzt manA � B :⇔ A ⊆ B, so ist (E,�) eine gerichtete Menge, denn⊆ist Reflexivitat und Transitivitat sind klar. SindA, B ∈ E, so folgt A ∪ B ∈ E undA, B ⊆ A∪ B. Also ist auch (5.2) erfullt.

5.4.2 Definition. Sei M , ∅ und seia j fur jedes j ∈ M eine reelle bzw. komplexeZahl. Falls das Netz (

∑j∈A a j)A∈E in R bzw.C konvergiert, so sagen wir, dass

∑j∈M a j

unbedingt konvergiertund setzen6

j∈Ma j = lim

A∈E

j∈Aa j .

Ist sdieser Grenzwert, so bedeutet das also

∀ǫ > 0 ∃A0 ⊆ M,A0 endlich : ∀A ⊇ A0,A endlich⇒

∣∣∣∣∣∣∣∣

j∈Aa j − s

∣∣∣∣∣∣∣∣< ǫ. (5.14)

Der Ausdruck “unbedingteKonvergenz”ruhrt daher, dass es bei diesem Grenzwert-

begriff nicht darauf ankommt, in welcher Reihenfolge aufsummiert wird; siehe Fakta5.4.3, 4.

5.4.3 Fakta.

6Die Summe uber die leere Indexmenge sei dabei per definitionem Null.

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116 KAPITEL 5. GEOMETRIE METRISCHER RAUME

1. Man zeigt ganz einfach, dass fur unbedingt konvergente Reihen Rechenregelngelten, die denen in Korollar 3.8.3 entsprechen, dh. (λ, µ, a j, b j ∈ R (C), j ∈ M)

j∈M(λa j + µb j) = λ

j∈Ma j

+ µ∑

j∈Mb j

in dem Sinn, dass die linke Seite unbedingt konvergiert, wenn die Summen rechtses tun.

2. Das Netz (∑

j∈A |a j |)A∈E ist offenbar monoton wachsend. Gemaß (5.10) ist es alsogenau denn konvergent, falls es beschrankt ist, dh.

j∈A|a j | ≤ C fur alle A ∈ E (5.15)

mit einem festenC > 0. Dabei gilt∑

j∈M|a j | = sup

A∈E

j∈A|a j |.

Falls (5.15) nicht gilt, so konvergiert (∑

j∈A |a j |)A∈E im Sinne von Bemerkung5.3.9 gegen+∞. Wir schreiben

∑j∈M |a j | = +∞ dafur.

Gilt (5.15), so konvergiert auch∑

j∈M a j unbedingt, denn istA0 ∈ E so groß, dass∣∣∣∑ j∈A |a j | −∑

j∈B |an|∣∣∣ < ǫ, wennA0 ⊆ A, B ∈ E (vgl. Lemma 5.3.11), so gilt

auch7∣∣∣∣∣∣∣∣

j∈Aa j −

j∈Ba j

∣∣∣∣∣∣∣∣=

∣∣∣∣∣∣∣∣

j∈A\Ba j −

j∈B\Aa j

∣∣∣∣∣∣∣∣≤

j∈A△B

|a j | =

∣∣∣∣∣∣∣∣

j∈A∪B

|a j | −∑

j∈A∩B

|an|

∣∣∣∣∣∣∣∣< ǫ .

Als Cauchy-Netz konvergiert somit (∑

j∈A a j)A∈E.

3. Ist P ⊆ M eine nichtleere Teilmenge und konvergiert∑

j∈M a j unbedingt, sotut es auch

∑j∈P a j, denn aus der Konvergenz von (

∑j∈A a j)A∈E(M) folgt, dass

dieses Netz auch ein Cauchy-Netz ist. Ist nunǫ > 0 undA0 ∈ E(M), sodass ausA0 ⊆ A, B ∈ E(M) die Ungleichung

∣∣∣∣∣∣∣∣

j∈Aa j −

j∈Ba j

∣∣∣∣∣∣∣∣< ǫ,

folgt, so folgt ausA0 ∩ P ⊆ C,D ∈ E(P) zunachstA0 ⊆ C ∪ A0, B∪ A0 ∈ E(M)und damit

∣∣∣∣∣∣∣∣

j∈Ca j −

j∈Da j

∣∣∣∣∣∣∣∣=

∣∣∣∣∣∣∣∣

j∈Ca j +

j∈A0\Pa j −

j∈Da j −

j∈A0\Pa j

∣∣∣∣∣∣∣∣=

∣∣∣∣∣∣∣∣

j∈C∪A0

a j −∑

j∈D∪A0

a j

∣∣∣∣∣∣∣∣< ǫ.

Also ist auch (∑

j∈A a j)A∈E(P) ein Cauchy-Netz und wegen Lemma 5.3.11 konver-gent.

7A△ B = A \ B∪ B \ A ist diesymmetrische Mengendifferenzvon A undB.

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5.4. UNBEDINGTE KONVERGENZ UND UMORDNEN VON REIHEN 117

4. Ist M eine weitere Menge – es kann auchM = M sein – undσ : M → M eineBijektion, so konvergiert

∑j∈M a j genau dann unbedingt, wenn

∑j∈M aσ( j) es tut.

Denn istǫ > 0 undA0, sodass (5.14) gilt, und istσ−1(A0) ⊆ A ∈ E(M), so folgtwegenA0 ⊆ σ(A) ∈ E(M)

∣∣∣∣∣∣∣∣

j∈Aaσ( j) − s

∣∣∣∣∣∣∣∣=

∣∣∣∣∣∣∣∣

σ( j)∈σ(A)

aσ( j) − s

∣∣∣∣∣∣∣∣=

∣∣∣∣∣∣∣∣

k∈σ(A)

ak − s

∣∣∣∣∣∣∣∣< ǫ .

Also gilt (5.14) fur∑

j∈M aσ( j). Die Umkehrung ergibt sich durch dasselbe Argu-ment angewendet aufσ−1.

5. Im FalleM = N folgt aus der unbedingten Konvergenz von∑

j∈N a j die Konver-genz von

∑∞n=1 an im Sinne von Definition 3.8.1 gegen den gleichen Grenzwert.

Es ist namlich (∑N

n=1 an)N∈N = (∑

j∈A(N) a j)N∈N mit A(N) := {1, . . . ,N} eine Teil-folge des Netzes (

∑j∈A a j)A∈E(N) im Sinne von Definition 5.3.6, da es zu jedem

A ∈ E(N) ein N ∈ N gibt sodass

{1, . . . , n} ⊇ A fur alle n ≥ N.

6. Angenommen∑∞

n=1 an konvergiert absolut, dh.C :=∑∞

n=1 |an| < +∞ konvergiertim Sinne von Definition 3.8.1, so konvergiert

∑j∈N |a j | auch unbedingt, denn fur

jedesA ∈ E(N) gibt es einN ∈ Nmit A ⊆ {1, . . . ,N}. Wegen

j∈A|a j | ≤

N∑

n=1

|an| ≤ C

ist das Netz (∑

j∈A |a j |)A∈E beschrankt.

Aus 2 folgt dann auch die unbedingte Konvergenz von∑

j∈N a j . Wegen dem vor-herigen Punkt gilt dabei

∑j∈N a j =

∑∞n=1 an.

Aus Fakta 5.4.3, 6 und 5 erkennen wir insbesondere, dass furM = N die Konver-genz von

∑∞n=1 |an| aquivalent zu der unbedingten Konvergenz von

∑j∈N |a j | ist. Nun

gilt sogar

5.4.4 Satz.Fur reelle oder komplexe Koeffizienten aj , j ∈ M, sind folgende Aussagenaquivalent.

�∑

j∈M |a j | konvergiert unbedingt.

�∑

j∈M a j konvergiert unbedingt.

Fur M = N ist das zur absoluten Konvergenz von∑∞

n=1 an aquivalent.

Beweis. Wegen Fakta 5.4.3, 2, folgt aus der unbedingten Konvergenz von∑

j∈M |a j |auch die von

∑j∈M a j.

Fur die Umkehrung seien diea j zunachst reell. Wir schreibenM als

M = { j ∈ M : a j ≥ 0}︸ ︷︷ ︸=:M+

∪ { j ∈ M : a j < 0}︸ ︷︷ ︸=:M−

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118 KAPITEL 5. GEOMETRIE METRISCHER RAUME

Wegen Fakta 5.4.3, 3 und 1, folgt aus der unbedingten Konvergenz von∑

j∈M a j auchdie vonC1 :=

∑j∈M+ a j undC2 :=

∑j∈M− (−a j). Wegen

j∈A|a j | =

j∈A∩M+

a j +∑

j∈A∩M−

(−a j) ≤ C1 +C2

fur jedesA ∈ E(M) folgt die unbedingte Konvergenz von∑

j∈M |a j | aus Fakta 5.4.3, 2.Sind diea j komplex, so folgt aus der unbedingten Konvergenz von

∑j∈M a j mit

(5.11) auch die von∑

j∈M Rea j und∑

j∈M Im a j. Nach dem schon gezeigten konvergie-ren dann

∑j∈M |Rea j | und

∑j∈M | Im a j | unbedingt, was wegen|a j | ≤ |Rea j | + | Im a j |

und Fakta 5.4.3, 2, auch die von∑

j∈M |a j | nach sich zieht.Die Aquivalenz zur absoluten Konvergenz von

∑∞n=1 an haben wir schon oben

gesehen.❑

Da fur reell- bzw. komplexwertige Reihen absolute und unbedingte Konvergenzdasselbe bedeuten, nennen wir Reihen, die konvergent, abernicht absolut konvergentsind, auchbedingt konvergent.

5.4.5 Korollar. Die Reihe∑∞

k=1 bk mit reellen oder komplexen Summanden sei absolutkonvergent. Dann ist fur jede Bijektionσ : N → N auch die Umordnung

∑∞k=1 bσ(k)

absolut konvergent und hat die gleiche Summe.

Beweis.Das folgt unmittelbar aus Satz 5.4.4 und Fakta 5.4.3, 4.❑

Nun wollen wir Korollar 5.4.5 umkehren.

5.4.6 Satz.Sei die Reihe∞∑

k=1ak reeller Zahlen konvergent mit der Summe S , aber nicht

absolut konvergent. Dann gibt es zu jeder vorgegebenen ZahlS′ ∈ R ∪ {±∞} eine

Umordnung(bk)k∈N, bk = aσ(k), mit∞∑

k=1bk = S′. Weiters gibt es Umordnungen

∞∑k=1

bk die

divergieren – aber nicht bestimmt divergieren.

Beweis.Bezeichne mita+k := max(ak, 0),a−k := min(ak, 0), d.h. die Folgen der positivenbzw. negativen Termeak. Wir uberlegen zuerst, dass

∞∑

k=1

a+k = +∞,∞∑

k=1

a−k = −∞ (5.16)

gelten muss. Zunachst sind die Partialsummen dieser Reihen monotone Folgen, habenalso einen Grenzwert inR ∪ {±∞}. Angenommen einer der beiden ware endlich, z.B.∞∑

k=1a+k = S+ < ∞. Dann folgt

N∑

k=1

a−k =N∑

k=1

ak −N∑

k=1

a+kN→∞−→ S− := S − S+ > −∞.

und somitN∑

k=1

| ak |=N∑

k=1

a+k −N∑

k=1

a−kN→∞−→ S+ − S− < ∞,

im Widerspruch zur Voraussetzung, dass∞∑

k=1ak nicht absolut konvergiert.

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5.4. UNBEDINGTE KONVERGENZ UND UMORDNEN VON REIHEN 119

Sei nunS′ ∈ R gegeben. Wir konstruieren eine Umordnung∑∞

k=1 bk, die gegenS′

konvergiert. Zuerst addiert man Summandena+1 , a+2 , a

+3 , . . . , a

+n1

, bis man das erste Mal> S′ ist, dann Summandena−1 , a

−2 , . . . , a

−l1

bis die Gesamtsumme das erste mal wieder< S′ ist. Danna+n1+1, a

+n1+2, . . . , a

+n2

bis man das erste Mal wieder> S′ ist. So verfahrtman weiter. Wegen (5.16) ist das stets moglich.

Man erhalt in dieser Weise eine Umordnung von∞∑

k=1ak. Ist S′n eine Partialsumme,

so istS′n − S′ beschrankt nach oben durch das letzte aufgetretenea+k und nach untendurch das letzte aufgetretenea−k . Wegen lim

k→∞ak = 0 gilt auch

limn→∞

(S′n − S′) = 0.

In analoger Weise verfahrt man, wenn man eine Umordnung konstruieren mochte, diebestimmt divergiert gegen+∞ oder−∞, oder nicht einmal bestimmt divergiert.

5.4.7 Bemerkung.Obiger Beweis verwendet bei der Definition der Umordnung impli-zit den Rekursionssatz. Die Tatsache, dass die dadurch definierte Funktion bijektiv aufN ist und dass sie das gewunschte leistet, bedarf eigentlicheines strengeren Beweises.Fur den interessierten Leser bringen wir anschließend einen wasserdichten Beweis.

Wir zeigen wie oben, dass (5.16) zutrifft. Nun sei

M1 := {n ∈ N : an ≥ 0}, M2 := {n ∈ N : an < 0}.

Offensichtlicherweise giltN = M1∪M2. Ware M1 endlich, so hatten wira+n = 0 fur n > max(M1), was aber (5.16)widerspricht. Also istM1 und mit einer ganz ahnlichen Argumentation auchM2 unendlich.

Nun seiFn die Menge aller Funktionenf : {1, . . . , n} → N, die folgende beiden Bedingungen erfullen:

(i) 1 ≤ i < j ≤ n, f (i), f ( j) ∈ M1 ⇒ f (i) < f ( j) und 1≤ i < j ≤ n, f (i), f ( j) ∈ M2 ⇒ f (i) < f ( j).

(ii ) f (i) ∈ M1 ⇒ {1, . . . , f (i)} ∩ M1 ⊆ f ({1, . . . , i}) und f (i) ∈ M2 ⇒ {1, . . . , f (i)} ∩ M2 ⊆ f ({1, . . . , i}).

Fn ist nicht leer, da - wie man sich leicht uberzeugt - die Funktion f (1) = min(M1), f (2) = min(M1 \ { f (1)}), . . . , f (n) =min(M1 \ { f (1), . . . , f (n− 1)}) in dieser Menge liegt.

SetzeF = ⋃n∈N Fn (⊆ N × N) und definiereg : F → F folgendermaßen: Seif ∈ F , also f ∈ Fn fur ein n ∈ N. Falls∑n

j=1 af ( j) < S′, so seig( f ) : {1, . . . ,n+ 1} → N die Fortsetzung vonf , sodass

g( f )(n + 1) = min(M1 \ f ({1, . . . , n})).

Diese Fortsetzung liegt tatsachlich inFn+1 ⊆ F . Um das zu sehen, sei 1≤ i < j ≤ n+1, sodass beide Zahleng( f )(i), g( f )( j)gleichzeitig entweder inM1 oder inM2 liegen. Ist j ≤ n, dann folgt f (i) = g( f )(i), f ( j) = g( f )( j) ∈ M1 (M2) und daherg( f )(i) = f (i) < f ( j) = g( f )( j).

Falls j = n+1, dann istg( f )(n+1) = min(M1\ f ({1, . . . , n})) ∈ M1. Wegeni ∈ {1, . . . ,n}muss auchg( f )(i) = f (i) ∈ M1.Falls g( f )(n + 1) ≤ f (i), so ware nach (ii ), g( f )(n + 1) = f (k) fur ein k ≤ i ≤ n, und damitg( f )(n + 1) = f (k) <M1 \ f ({1, . . . ,n}), was aber nicht sein kann. Also giltg( f )(n+ 1) > f (i) undg( f ) erfullt (i).

Um (ii ) zu zeigen, seig( f )(i) ∈ M1 (M2) fur ein i ∈ {1, . . . , n+ 1}. Fallsi ≤ n, so folgt

{1, . . . ,g( f )(i)} ∩ M1 = {1, . . . , f (i)} ∩ M1 ⊆ f ({1, . . . , i}) = g( f )({1, . . . , i}).

Dasselbe gilt furM2. Sei nuni = n+ 1. Dann istg( f )(n+ 1) ∈ M1. Ist k ∈ M1 mit k < g( f )(n+ 1), so mussk in f ({1, . . . ,n})sein, da wir sonst den Widerspruchg( f )(n + 1) = min(M1 \ f ({1, . . . , n})) ≤ k bekamen.

Ist dagegen∑n

j=1 af ( j) ≥ S′, so seig( f ) : {1, . . . ,n + 1} → N die Fortsetzung vonf , sodassg( f )(n + 1) = min(M2 \f ({1, . . . ,n})). Man zeigt genauso wie oben, dass auch in diesem Fallg( f ) ∈ Fn+1 ⊆ F .

Ist nun nocha ∈ F1 definiert durcha(1) = 1, so gibt es nach dem Rekursionssatz (Satz 2.3.3) eine Abbildungφ : N→ F , sodassφ(1) = a undφ(n+ 1) = g(φ(n)). Wir setzen

σ =⋃

n∈Nφ(n).

Durch vollstandige Induktion zeigt man leicht, dassφ(n) ∈ Fn und dassφ(m) eine Fortsetzung vonφ(n) fur alle m,n ∈N, m> n ist. Man sieht daher sofort, dassσ : N→ N eine Funktion ist, wobeiσ|{1,...,n} = φ(n).

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120 KAPITEL 5. GEOMETRIE METRISCHER RAUME

Weiters istσ injektiv, da furi < j ∈ N, unter der zusatzlichen Voraussetzungσ(i), σ( j) ∈ M1 (M2) nach (i) die Relationσ(i) = φ(N)(i) < φ(N)( j) = σ( j) mit irgendeinemN ≥ i, j folgt. Istσ(i) ∈ M1 ∧ σ( j) ∈ M2 bzw.σ(i) ∈ M2 ∧ σ( j) ∈ M1, somuss auchσ(i) , σ( j), daM1 ∩ M2 = ∅.

σ ist sogar surjektiv. Dazu seik ∈ N. Wir nehmen an, dassk ∈ M1. Warek < σ(N), so folgt ausσ( j) ∈ M1 wegenσ( j) = φ( j)( j) und (ii ), dassσ( j) < k. Also gilt {k, k+ 1, . . . } ∩σ(N) ⊆ M2. Daσ injektiv ist, muss dieser Schnitt unendlichviele Zahlen enthalten. Wegen (ii ) ist mit m ∈ σ(N), m> k, auch{k, k+ 1, . . . ,m} ⊆ σ(N), und somit

{k, k+ 1, . . . } = {k, k+ 1, . . . } ∩ σ(N) ⊆ M2.

Somit hatten wir den Widerspruch, dassM1 endlich ist. Entsprechend fuhrt auchk ∈ M2 und k < σ(N) auf einen Wider-spruch.

Nun gilt es noch zu zeigen, dass∑∞

j=1 aσ( j) = S′. Dazu seiǫ > 0, und wahlek1 ∈ M1 (k2 ∈ M2) so, dass|ak| < ǫ

fur alle k ≥ k1 (k ≥ k2). Das ist moglich, da die Folge der Summanden der konvergenten Reihe∑∞

j=1 aj ja eine Nullfolgebildet. SeiN die kleinste Zahl inN, sodassσ(N) > k1, σ(N) > k2 und sodassσ(N) ∈ M1 ∧ σ(N + 1) ∈ M2 oderσ(N) ∈M2 ∧ σ(N + 1) ∈ M1.

Fur eink ≥ N+1 seim ∈ {N, . . . , k−1} die großte Zahl mitσ(m) ∈ M1∧σ(m+1) ∈ M2 oderσ(m) ∈ M2∧σ(m+1) ∈ M1.Im ersten Fall muss dannσ(m+ 1), . . . , σ(k) ∈ M2 und im zweitenσ(m+ 1), . . . , σ(k) ∈ M1. Wegeng(σ|{1,...,l}) = σ|{1,...,l+1}muss im ersten Fall

m−1∑

j=1

aσ( j) < S′ ≤k−1∑

j=1

aσ( j) ≤m∑

j=1

aσ( j) =

m−1∑

j=1

aσ( j) + aσ(m).

und im zweitenm−1∑

j=1

aσ( j) + aσ(m) =

m∑

j=1

aσ( j) ≤k−1∑

j=1

aσ( j) < S′ ≤m−1∑

j=1

aσ( j).

In jedem Fall gilt ∣∣∣∣∣∣∣∣

k∑

j=1

aσ( j) − S′

∣∣∣∣∣∣∣∣≤ |aσ(k)| + |aσ(m) | < 2ǫ.

5.4.8 Bemerkung.Korollar 5.4.5 zusammen mit Satz 5.4.6 wird auchRiemannscherUmordnungssatzgenannt. Fur komplexwertige Reihen gilt Satz 5.4.6 nicht.

Fur den folgenden Satz schreiben wir unsere nichtleere Menge M als disjunkteVereinigung

M =⋃

i∈IMi

mit nichtleerer IndexmengeI und nichtleeren MengenMi , i ∈ I .

5.4.9 Proposition. Sind die aj , j ∈ M, reelle oder komplexe Zahl, und konvergierts :=

∑j∈M a j unbedingt, so konvergieren alle Ausdrucke si :=

∑j∈Mi

a j , i ∈ I, unbe-dingt genauso wie

∑i∈I

∑j∈Mi

a j – dazu sagen wir kurz, dass∑

i∈I∑

j∈Mia j unbedingt

konvergiert –, wobei ∑

i∈I

j∈Mi

a j =∑

j∈Ma j . (5.17)

Beweis. Wegen Fakta 5.4.3, 3, konvergieren alle Ausdruckesi =∑

j∈Mia j , i ∈ I ,

unbedingt. Zuǫ > 0 seiA0 ∈ E(M), sodass ausA0 ⊆ A ∈ E(M) die Ungleichung∣∣∣∣∣∣∣∣s−

j∈Aa j

∣∣∣∣∣∣∣∣< ǫ

folgt. Dann istK0 := {i ∈ I : Mi ∩ A0 , ∅} sicherlich auch endlich.Fur jedes endlicheK ⊇ K0 bezeichne #K seine Machtigkeit. Wahle nun fur jedes

i ∈ K ein Bi ∈ E(Mi), sodass∣∣∣∣∣∣∣∣si −

j∈Ba j

∣∣∣∣∣∣∣∣<

ǫ

#K, wenn Bi ⊆ B ∈ E(Mi) .

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5.4. UNBEDINGTE KONVERGENZ UND UMORDNEN VON REIHEN 121

Da manBi sicherlich großer machen kann, ohne diese Bedingung zu verlieren, konnenwir annehmen, dass auchBi ⊇ Mi ∩ A0.

Mit A :=⋃

i∈K Bi ⊇⋃

i∈K0Mi ∩ A0 = A0 folgt

∣∣∣∣∣∣∣s−

i∈Ksi

∣∣∣∣∣∣∣≤

∣∣∣∣∣∣∣∣s−

j∈Aa j

∣∣∣∣∣∣∣∣+

i∈K

∣∣∣∣∣∣∣∣si −

j∈Bi

a j

∣∣∣∣∣∣∣∣< 2ǫ .

Also gilt s= limK∈E(I )∑

i∈K si .❑

Im Allgemeinen kann man aber nicht von der Existenz von∑

i∈I∑

j∈Mia j auf die

unbedingte Konvergenz von∑

j∈M a j schließen; vgl. Beispiel 5.4.11. Es gilt jedoch

5.4.10 Lemma. Sind die aj , j ∈ M, reelle oder komplexe Zahl, und konvergieren alleAusdrucke

∑j∈Mi|a j |, i ∈ I, unbedingt genauso wie

∑i∈I

∑j∈Mi|a j | – dazu sagen wir

kurz, dass∑

i∈I∑

j∈Mi|a j | unbedingt konvergiert –, so konvergiert auch

∑j∈M |a j | unbe-

dingt . In dem Fall gilt∑

i∈I∑

j∈Mi|a j | =

∑j∈M |a j | und

∑i∈I

∑j∈Mi

a j =∑

j∈M a j.

Beweis. Konvergieren alle Ausdrucke∑

j∈Mi|a j |, i ∈ I , unbedingt genauso wieC :=∑

i∈I∑

j∈Mi|a j |, so folgt fur jedesA ∈ E(M) mit K = {i ∈ I : Mi ∩ A , ∅}

j∈A|a j | =

i∈K

j∈A∩Mi

|a j | ≤∑

i∈K

j∈Mi

|a j | ≤ C.

Aus Fakta 5.4.3, 2, folgt somit die unbedingte Konvergenz von∑

j∈M |a j |.Die behaupteten Gleichungen folgen aus Proposition 5.4.9.

Die beiden letzten Resultate lassen sich zum Beispiel auf sogenannteDoppelreihenanwenden. Dazu seiM = N×N, und sei zu jedem (m, n) ∈ N×N eine reelle (komplexe)Zahlam,n gegeben.

Wegen Satz 5.4.4 sind die unbedingte Konvergenz von∑

(m,n)∈N×N |am,n| und von∑(m,n)∈N×N am,n aquivalent. Wegen Proposition 5.4.9 und Lemma 5.4.10 angewandt

auf die ZerlegungN × N = ⋃i∈N{i} × N ist das auch zur unbedingten Konvergenz

von∑

i∈N∑

j∈N |ai, j | aquivalent. Wegen Fakta 5.4.3, 6, bedeutet letzteres genau, dass∑∞j=1 |ai, j | fur alle i ∈ N konvergiert genauso wie

∞∑

i=1

∞∑

j=1

|ai, j | < +∞. (5.18)

Analoges gilt fur die vertauschte Reihenfolge. Trifft eine dieser aquivalenten Bedin-gungen zu, so konvergieren folgende Ausdrucke unbedingt und es gilt

i∈N

j∈Nai, j =

(m,n)∈N×Nam,n =

j∈N

j∈Nai, j . (5.19)

Zerlegt man schließlichN × N in N × N = ⋃d∈N≥2{(k, l) ∈ N × N : k + l = d} – also in

die Diagonalen{(k, l) ∈ N×N : k+ l = d} –, so erhalten wir aus Proposition 5.4.9, dassauch folgender Ausdruck unbedingt konvergiert und (5.19) mit

d∈N≥2

d−1∑

k=1

ak,d−k

(5.20)

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122 KAPITEL 5. GEOMETRIE METRISCHER RAUME

ubereinstimmt. Dieser Ausdruck konvergiert sogar unbedingt, wenn man die Summan-den durch ihre Betrage ersetzt.

Dass die unbedingte Konvergenz von∑

(m,n)∈N×N am,n notwendig dafur ist, dass dieAusdrucke ganz links und ganz rechts ubereinstimmen, zeigt

5.4.11 Beispiel.Seien die Zahlai, j der (i, j)-te Eintrag von

1 + −1 + 0 + 0 + . . . = 0+ + + +

0 + 1 + −1 + 0 + . . . = 0+ + + +

0 + 0 + 1 + −1 + . . . = 0+ + + +

0 + 0 + 0 + 1 + . . . = 0+ + + +

......

......

...

= = = = =

1 + 0 + 0 + 0 + . . . = 1 \ 0

Dann gilt∑

i∈N(∑

j∈N ai, j

)= 0 und

∑j∈N

(∑i∈N ai, j

)= 1.

5.4.12 Korollar. Sind die beiden Reihen∑∞

m=1 am und∑∞

n=1 bn absolut konvergent, sokonvergiert ∑

(m,n)∈N×Nambn

unbedingt, wobei

(m,n)∈N×Nambn =

∞∑

i=2

i−1∑

k=1

akbi−k

=∞∑

m=1

am

·∞∑

n=1

bn

.

Der mittlere Ausdruck konvergiert dabei auch absolut.

Beweis.Wegen8

∞∑

m=1

∞∑

n=1

|ambn| =∞∑

m=1

|am| ·∞∑

n=1

|bn|︸ ︷︷ ︸

<+∞

=( ∞∑

m=1

|am|)·( ∞∑

n=1

|bn|)< +∞

folgt aus der Bedingung (5.18), dassS :=∑

(m,n)∈N×N am · bn unbedingt konvergent.Nach (5.19) und Fakta 5.4.3, 1, gilt

S =∑

i∈N

j∈Nai · b j = lim

A∈E(N)

i∈A

limB∈E(N)

j∈Bai · b j

= limA∈E(N)

i∈Aai ·

limB∈E(N)

j∈Bb j

=

limA∈E(N)

i∈Aai ·

∞∑

n=1

bn

= lim

A∈E(N)

i∈Aai

·∞∑

n=1

bn

=∞∑

m=1

am

·∞∑

n=1

bn

.

8Diese Gleichung ist am besten von rechts nach links zu lesen.In dieser Reihenfolge erkennt man ambesten, dass alle vorkommenden Reihen konvergieren.

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5.5. GRENZWERTE VON FUNKTIONEN 123

S =∑∞

i=2

(∑i−1k=1 akbi−k

)ergibt sich sofort aus (5.20), wenn man bedenkt, dass aus der

unbedingten auch die absolute Konvergenz folgt.❑

5.4.13 Beispiel.Definiere eine Funktion exp :C→ C durch

exp(z) :=∞∑

n=0

zn

n!, z ∈ C .

Zunachst mussen wir diese Definition rechtfertigen, alsozeigen, dass diese Reihe kon-vergiert. Fur jedes festez ∈ C gilt

limn→∞

∣∣∣ zn+1

(n+1)!

∣∣∣∣∣∣ zn

n!

∣∣∣= lim

n→∞

z(n+ 1)

= 0 .

Nach dem Quotientenkriterium ist die Reihe∑∞

n=0zn

n! fur jedes festez ∈ C absolutkonvergent.

Wir wollen fur zwei Zahlenz,w ∈ C das Produkt exp(z) exp(w) ausrechnen. Da-zu verwenden wir Summation langs der Diagonalen. Wir erhalten aus Korollar 5.4.12unter Beachtung einer Indexverschiebung

exp(z) · exp(w) =∞∑

k=0

( k∑

j=0

zk− j

(k− j)!w j

j!

).

Nach dem Binomischen Lehrsatz gilt

k∑

j=0

zk− j

(k− j)!w j

j!=

1k!

(z+ w)k ,

und wir erhalten

exp(z) exp(w) =∞∑

k=0

1k!

(z+ w)k = exp(z+ w) .

Die Funktion exp heißt auch dieEulersche9Exponentialfunktion. Sie ist eine der wich-tigsten Funktionen, die es in der Mathematik gibt. Wir werden sie zum Beispiel auchdafur benutzen um Funktionen wie sinz oder cosz zu definieren, vgl. den Abschnittuber elementare Funktionen.

5.5 Grenzwerte von Funktionen

In diesem Abschnitt wollen wir vornehmlich Grenzwerte uber gerichtete Mengen be-trachten, die folgende Eigenschaft haben.

5.5.1 Definition. Wir sagen, dass eine gerichtete Menge (I ,�) Teilfolgen gestattet,wenn es eine abzahlbare TeilmengeL von I gibt, sodass

∀i ∈ I ∃ j ∈ L : i � j . (5.21)

9Leonhard Euler. 15.4.1707 Basel - 18.9.1783 St.Petersburg

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124 KAPITEL 5. GEOMETRIE METRISCHER RAUME

Es sei hier angemerkt, dass nicht alle gerichteten Mengen Teilfolgen gestatten.Wie wir im folgenden Lemma 5.5.2 sehen werden, bedeutet die Eigenschaft

”gestattet

Teilfolgen“, dass man hinreichend viele Teilfolgen konstruieren kann, damit man vonder Konvergenz von Teilfolgen auf die Konvergenz eines gegebenen Netzes schließenkann.

5.5.2 Lemma. Sei〈X, d〉 ein metrischer Raum,(I ,�) eine gerichtete Menge und(xi)i∈Iein Netz in X.

Gestattet(I ,�) Teilfolgen, so gilt x= lim i∈I xi genau dann, wennlimn→∞ xi(n) = xfur jede Teilfolge von(xi)i∈I .

Beweis. Falls x = lim i∈I xi , so folgt aus Lemma 5.3.7, dass auch limn→∞ xi(n) = x furalle Teilfolgen von (xi)i∈I .

Konvergiert umgekehrt (xi)i∈I nicht gegenx, so gibt es einǫ > 0, sodass

∀i ∈ I ∃k ∈ I , k � i : d(xk, x) ≥ ǫ. (5.22)

Daraus konstruieren wir eine Teilfolge, die nicht gegenx konvergiert. Dazu seij : N→L bijektiv, wobeiL wie in Definition 5.5.1 ist.

Seii1 ∈ I , i1 � j(1) mit d(xi1, x) ≥ ǫ; vgl. (5.22). Sindi1 � · · · � im ∈ I definiert, sosei i ∈ I , i � im, i � j(m+ 1). Gemaß (5.22) gibt es einim+1 � i, sodassd(xim+1, x) ≥ ǫ.

Zu jedem i ∈ I gibt wegen (5.21) es einm0 ∈ N, sodassj(m0) � i. Wegenim � j(m), m ∈ N, folgt im � im0 � j(m0) � i fur alle m ≥ m0. Also ist (xin)n∈N eineTeilfolge, sodassd(xin, x) ≥ ǫ. Sie kann somit nicht gegenx konvergieren.

Sei 〈X, dX〉 ein metrischer Raum,D ⊆ X, z ein Haufungspunkt vonD und� aufD \ {z} definiert als

x � y :⇐⇒ dX(x, z) ≥ dX(y, z)

wie in Beispiel 5.3.2, (iii ). (D \ {z},�) ist dann eine gerichtete Menge. Weiters seif : D \ {z} → Y eine Funktion, wobei〈Y, dY〉 ein weiterer metrischer Raum ist.

5.5.3 Definition. Konvergiert das Netz (f (t))t∈D\{z}, so schreiben wir fur den Grenzwertauch

limt→z

f (t) := limt∈D\{z}

f (t), (5.23)

und nennen ihnGrenzwert der Funktion f fur t→ z.

5.5.4 Fakta.

1. Es gilt limt→z f (t) = y genau dann, wenn

∀ǫ > 0∃δ > 0 : ∀t ∈ D \ {z}, dX(t, z) < δ⇒ dY( f (t), y) < ǫ . (5.24)

In der Tat gilt gemaß der Definition der Konvergenz eines Netzes limt∈D\{z} f (t) =y genau dann, wenn

∀ǫ > 0∃t0 ∈ D\{z} : ∀t ∈ D\{z}, dX(t, z) ≤ dX(t0, z)⇒ dY( f (t), y) < ǫ . (5.25)

Falls (5.25) zutrifft, so setze man zu einemǫ > 0, δ = dX(t0, z). Offenbar giltdann (5.24).

Gilt umgekehrt (5.24), und wahlt man dem entsprechend zuǫ > 0 ein passendesδ > 0, so gibt es eint0 ∈ D \ {z} ∩ Uδ(z), daz ja Haufungspunkt vonD ist. Furt � t0 folgt danndX(t, z) < δ und somitdY( f (t), y) < ǫ.

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5.5. GRENZWERTE VON FUNKTIONEN 125

2. Die gerichtete Menge (D \ {z},�) gestattet Teilfolgen, denn setzt man

L = {tn : n ∈ N}

fur irgendeine Folge (tn)n∈N ausD \ {z} mit tn → z fur n → ∞ – nach Lemma5.1.13 gibt es eine solche – so istL abzahlbar und zu gegebenemt ∈ D \ {z} gibtes wegendX(tn, z) → 0, n→ ∞ ein n ∈ N mit dX(tn, z) ≤ dX(t, z) – alsotn � t.Also hatL die Eigenschaft (5.21).

3. Fur ein Netz (ti)i∈I ausD \ {z} gilt lim i∈I ti = z genau dann, wenn (f (ti))i∈I einTeilnetz von (f (t))t∈D\{z} ist.

Um das einzusehen, sei daran erinnert, dass gemaß Definition 5.3.6 (f (ti))i∈Igenau dann ein Teilnetz ist, wenn

∀t0 ∈ D \ {z} ∃i0 ∈ I : dX(ti , z) ≤ dX(t0, z) fur alle i � i0. (5.26)

Setzt man limi∈I ti = z voraus, so gibt es zut0 ∈ D \ {z} wegenǫ := dX(t0, z) > 0ein i0 ∈ I mit dX(ti , z) < ǫ = dX(t0, z) fur alle i � i0, also insbesondere (5.26).

Gilt umgekehrt (5.26) und istǫ > 0, so gibt es – daz Haufungspunkt vonDist – ein t0 ∈ D \ {z} mit dX(t0, z) < ǫ und eben wegen (5.26) eini0 ∈ I mitdX(ti , z) ≤ dX(t0, z) < ǫ fur alle i � i0, also limi∈I ti = z.

4. Wegen Lemma 5.5.2 zusammen mit den vorherigen beiden Punkten gilt

limt→z

f (t) = y⇔(∀(tn)n∈N aus D \ {z}, lim

n→∞tn = z ⇒ lim

n→∞f (tn) = y

). (5.27)

5. Aus (5.24) erkennt man unmittelbar, dass fur einC ⊆ D, dasz ebenfalls alsHaufungspunkt hat, aus limt→z f (t) = y auch limt→z f |C\{z}(t) = y folgt. Dabei istletzterer Grenzwert als limt∈C\{z} f (t) zu verstehen, wobei furs, t ∈ C \ {z} auchs� t ⇔ dX(s, z) ≥ dX(t, z).

Aus limt→z f |C\{z}(t) = y folgt im allgemeinen aber nicht limt→z f (t) = y, vgl.Beispiel 5.5.7.

6. Istρ > 0 beliebig, so gilt wegen dem vorherigen Punkt, dass aus limt→z f (t) = yauch limt→z f |Uρ (z)∩D(t) = y folgt, daz ja auch ein Haufungspunkt vonUρ(z) ∩ Dist.

Gelte umgekehrt limt→z f |Uρ (z)∩D\{z}(t) = y fur einρ > 0. Zuǫ > 0 gibt es also einδ > 0, sodass aust ∈ Uρ(z)∩D\ {z}, dX(t, z) < δ immerdY( f (t), y) < ǫ folgt. Aust ∈ D\ {z}mit dX(t, z) < min(δ, ρ) ergibt sich dannt ∈ Uρ(z)∩D\ {z}, dX(t, z) < δund damitdY( f (t), y) < ǫ. Also gilt limt→z f (t) = y.

Alternativ kann man dieAquivalenz von limt→z f |Uρ (z)∩D(t) = y und limt→z f (t) =y auch mit Hilfe von (5.6) herleiten, da beide Aussagen wegen

(D \ {z})�s = KdX(s,z)(z) ∩ D \ {z} = (Uρ(z) ∩ D \ {z})�s

fur ein s ∈ Uρ(z) ∩ D \ {z} zu limt∈D\{z}�s f (t) = y aquivalent sind.

5.5.5 Beispiel.

Ist X = Y = D ein beliebiger metrischer Raum,z ∈ X ein Haufungspunkt davon,so gilt fur f (t) = t sicher limt→z t = z, wie man z.B. aus (5.27) sofort erkennt.

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126 KAPITEL 5. GEOMETRIE METRISCHER RAUME

Wir wollen

limt→0

1−√

1− t2

t2

berechnen, wobei das als der Limes limt∈(−1,1)\{0}1−√

1−t2t2 mit der gerichteten

Menge ((−1, 1) \ {0},�) gerichtet durchs� t⇔ |s| ≥ |t| zu verstehen ist.

Aus 1− (1− t2) = (1−√

1− t2)(1+√

1− t2) folgt wegen der fur Netze gultigenRechenregeln

limt→0

1−√

1− t2

t2= lim

t→0

1− (1− t2)

t2(1+√

1− t2)=

limt→0

1

1+√

1− t2=

1

1+ lim t→0

√1− t2

.

Nun ist aber wegen der fur Folgen gultigen Rechenregeln limn→∞√

1− t2n =1 fur jede gegen 0 konvergente Folge (tn)n∈N. Aus Fakta 5.5.4 folgtlim t→0

√1− t2 = 1, und der zu berechnende Grenzwert ist1

2.

Betrachtet man1−√

1−t2t2 als Funktion etwa auf (− 1

8 ,18) \ {0}, so wissen wir, dass

wegen Fakta 5.5.4, 6, ebenfalls1−√

1−t2

t2 → 0 fur t ∈ (− 18 ,

18) \ {0}, t→ 0.

Die Schreibweise – hier sei etwaD = (−1, 1) mit X = R undz= 0 – limt→0 f (t) = yaus Definition 5.5.3 besagt, dass der Funktionswertf (t) beliebig nahe any heran-kommt, wenn das Argumentt nur hinreichend nahe an 0 ist. Oft ist man in der Situation,dass diese Annaherung nur von einer Seite stattfindet.

5.5.6 Fakta.

1. SeiX = R undD = (a, b) fur a, b ∈ R, a < b. Ist nunz= b und f eine Funktion,die zumindest aufD definiert ist und Werte in einem metrischen RaumY hat, soschreibt man fur limt∈D\{b} f (t) = y auch

limt→b−

f (t) = y .

Man spricht von demlinksseitigen Grenzwert. .

Analog definiert man furD = (a, b) und z = a den rechtsseitigen Grenzwertlim t→a+ f (t) = y als limt∈D\{a} f (t) = y, wenn f eine Funktion aufD = (a, b) mitWerten in einem metrischen RaumY ist.

2. Sinda, b, c ∈ R, a < b < c, und ist f : (a, b) ∪ (b, c)→ Y eine Funktion, so gilt

y = limt→b

f (t) ⇔ y = limt→b−

f (t) und y = limt→b+

f (t) . (5.28)

Dass ausy = lim t→b f (t) sich die beiden anderen Grenzwerte ergeben, folgtsofort aus Fakta 5.5.4, 5.

Gelten umgekehrty = limt→b− f (t) und y = lim t→b+ f (t), so gibt es zu einemǫ > 0 gemaß (5.24) Zahlenδ+, δ− > 0, sodass aust ∈ (b, c), |t − b| < δ+ odert ∈ (a, b), |t − b| < δ− immerdY( f (t), y) < ǫ folgt. Mit δ := min(δ−, δ+) folgt aust ∈ (a, b)∪ (b, c), |t−b| < δ die UngleichungdY( f (t), y) < ǫ; alsoy = lim t→b f (t).

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5.5. GRENZWERTE VON FUNKTIONEN 127

5.5.7 Beispiel.

Sei f : R→ R definiert alsf (t) = sgn(t). Dann gilt limt→0+ f (t) = 1, da f |(0,+∞) ≡1, und limt→0− f (t) = −1, da f |(−∞,0) ≡ −1; vgl. Beispiel 5.3.4, (i). Wegen (5.28)kann dann limt→0 f (t) gar nicht existieren.

Sei f : (0,+∞)→ R definiert alsf (t) = t2[ 1t ]. Dabei bezeichnet fur reellesx der

Ausdruck [x] die großte ganze Zahl, die kleiner oder gleichx ist. Diese wird alsGaußklammerbezeichnet.

Wegen limt→0+ t = 0 (vgl. (5.9) und Beispiel 5.5.5) und mit Fakta 5.3.8, 2, folgtaus 0≤ t2[ 1

t ] ≤ t fur t > 0, dass limt→0+ f (t) = 0.

5.5.8 Definition. Ist f eine auf (a,+∞) definierte Funktion mit Werten in einem me-trischen RaumY, und versieht man (a,+∞) mit der Relation≤, so erhalt man ebenfallseine gerichtete Menge. Fur den moglichen Grenzwert limt∈(a,+∞) f (t) schreibt man auchlim t→+∞ f (t).

Entsprechend definiert man Grenzwerte furt → −∞.

Die hier zugrunde liegende gerichtete Menge gestattet auchTeilfolgen, wobei( f (tn))n∈N genau dann eine solche ist, wenntn → +∞ fur n → ∞. Also gilt (5.27)auch wennz= +∞. Entsprechendes gilt fur−∞.

5.5.9 Bemerkung.Sei f : (a, b) → Y eine Funktion, wobeia, b ∈ R ∪ {−∞,+∞}mit a < b. Um limt→b− f (t) – im Sinne von Definition 5.5.8 im Fallb = +∞ und imSinne Definition 5.5.3 im Falleb ∈ R – zu bestimmen, ist es manchmal zweckmaßigfur eine gewisse bijektive, streng monotone Abbildungφ : (c, d) → (a, b) mit c, d ∈R ∪ {−∞,+∞}, c < d, den Grenzwert

lims→d−

f ◦ φ(s) fur monoton wachsendesφ

bzw.lims→c+

f ◦ φ(s) fur monoton fallendesφ

zu eruieren. Dieser Grenzwert stimmt dann mit dem ursprunglich gesuchtenlim t→b− f (t) uberein.

In der Tat kann man fur monoton wachsendesφ das Netz (f (t))t∈(a,b) als das Teilnetz(f ◦φ(φ−1(t))

)t∈(a,b) des Netzes

(f ◦φ(s)

)s∈(c,d) betrachten, da zus0 ∈ (c, d) das Element

t0 := φ(s0) ja derart ist, dass wegen der Monotonie vonφ−1 aust � t0 – hier bedeutetdas t ≥ t0 – immerφ−1(t) ≥ φ−1(t0) = s0, daherφ−1(t) � s0, folgt. Entsprechendargumentiert man fur monoton fallendesφ.

Ahnlich kann man vorgehen, wenn limt→a+ f (t) zu bestimmen ist.

5.5.10 Beispiel.Betrachteg : (0,+∞) → R definiert alsg(t) = 1t2 [t]. Um limt→+∞ g(t)

zu berechnen, betrachte die monoton fallende Bijektionφ(s) = 1s von (0,+∞) auf sich

selbst. Aus Beispiel 5.5.7 ist bekannt, dass

lims→0+

g ◦ φ(s) = lims→0+

s2

[1s

]= 0 .

Gemaß Bemerkung 5.5.9 gilt dann auch limt→+∞ g(t) = 0.

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128 KAPITEL 5. GEOMETRIE METRISCHER RAUME

Schließlich wollen wir auch noch definieren, was limz→∞ f (z) = y bedeutet, wennf : D→ Y mit einem nicht beschranktenD ⊆ C und einem metrischen RaumY. Dazuversehen wirD mit der Richtungz� w⇔ |z| ≤ |w|, und setzen

limz→∞

f (z) := limz∈D

f (z) ,

falls dieser Grenzwert existiert. Manchmal schreibt man dafur auch lim|z|→+∞ f (z).Die gerichtete Menge (D,�) gestattet ebenfalls Teilfolgen, wobei limz→∞ f (z) = y

genau dann, wennf (zn)→ y fur alle komplexen Folgen (zn)n∈N mit |zn| → +∞.

5.5.11 Beispiel.Man sieht leicht ein, dass limz→∞ 1z = 0. Mit den Rechenregeln fur

Netze aus Fakta 5.3.8 folgt (a0, . . . , an ∈ C)

limz→∞

an + an−1z−1 + . . . + a0z−n = an.

Furan , 0 folgt daraus (siehe Bemerkung 5.3.9)

limz→∞|anz

n + an−1zn−1 + . . . + a0| = limz→∞|zn| · |an + an−1z

−1 + . . . + a0z−n| = +∞ .

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Kapitel 6

Reelle und komplexeFunktionen

6.1 Stetigkeit

Sei f eine Funktion und seix ein Punkt ihres Definitionsbereiches. Sagen wir dass die-se Funktion stetig an der Stellex ist, so verstehen wir darunter anschaulich, dass derFunktionswertf (t) sich beliebig wenig vonf (x) unterscheidet, wenn nurt hinreichendnahe beix ist. Wir sehen, dass man diesem Begriff Sinn geben kann, wenn man ver-langt, dass Definitionsbereich und Wertebereich der betrachteten Funktion metrischeRaume sind.

6.1.1 Definition. Seien〈X, dX〉 und 〈Y, dY〉 metrische Raume undD ⊆ X, und seif :D → Y eine Funktion. Weiters seix ∈ D. Dann heißtf stetig an der Stelle x, wenn gilt

∀ǫ > 0∃δ > 0 : dY( f (t), f (x)) < ǫ wennt ∈ D mit dX(t, x) < δ ,

oder aquivalent∀ǫ > 0∃δ > 0 : f (UX

δ (x) ∩ D) ⊆ UYǫ ( f (x)) ,

Ist f an jeder Stellex ihres DefinitionsbereichesD stetig, so heißtf stetigauf D. DieMenge aller stetigen Funktionen vonX nachY wird mit C(X,Y) bezeichnet.

6.1.2 Beispiel.

Sei f : X→ Y eine konstante Funktion, d.h.f (x) := y0, x ∈ X. Dann ist f stetig,denn istx ∈ X undǫ > 0, so wahle etwaδ = 1. Fur allet ∈ X mit dX(t, x) < δ giltsicher

dY( f (t), f (x)) = dY(y0, y0) = 0 < ǫ .

Die identische Abbildung,f (x) := idX(x) = x, x ∈ X, ist stetig. Um das einzuse-hen seienx ∈ X undǫ > 0 gegeben. Mitδ = ǫ folgt fur alle t ∈ X, dX(t, x) < δ,dass

dX( f (t), f (x)) = dX(t, x) < δ = ǫ .

Allgemeiner gilt, dass jedeisometrische Abbildung1 f : X→ Y stetig ist, da zux ∈ X undǫ > 0 mit δ = ǫ wieder fur allet ∈ X, dX(t, x) < δ

dY( f (t), f (x)) = dX(t, x) < δ = ǫ .1Isometrisch bedeutetdY( f (x), f (y)) = dX(x, y).

129

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130 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

f (x)

x

f (x) + ǫ

f (x) − ǫ

x− δ x+ δ

Abbildung 6.1:ǫ-δ Kriterium fur f : I (⊆ R)→ R

Die Einbettungsabbildungenιyj : R → Rp fur j = 1, . . . , p und fur y ∈ Rp

definiert durchξ 7→ (0, . . . , ξ − y j︸︷︷︸

j−te Stelle

, 0 . . . , 0)+ y

sind isometrisch und daher stetig, wenn manR undRp mit d2 versieht. Insbeson-dere sind die Abbildungenι1 : R → C, x 7→ x+ i0 undι2 : R → C, y 7→ 0+ iystetig.

Die Abbildungz 7→ zals Funktion aufC ist isometrisch und daher stetig.

Sei f : C → R die Funktionz 7→ |z|. Dann ist f stetig. Denn bei gegebenenz ∈ C und ǫ > 0 wahleδ := ǫ. Fur allew ∈ C mit |w − z| < δ gilt wegen derDreiecksungleichung nach unten

| f (w) − f (z)| =∣∣∣|w| − |z|

∣∣∣ ≤ |w− z| < δ = ǫ .

Sei π j : Rp → R, j = 1, . . . , p, die Funktionx = (xi)pi=1 7→ x j . Diese ist

uberall stetig, denn bei gegebenen (xi)pi=1 ∈ R

p undǫ > 0 wahleδ = ǫ. Fur alle(ti)

pi=1 ∈ Rp mit d2((xi)

pi=1, (ti)

pi=1) < δ gilt

|x j − t j | ≤ d2((xi)pi=1, (ti)

pi=1) < ǫ.

Genauso zeigt man, dass auch die Abbildungenπ j : Cp → C, j = 1, . . . , p,definiert durchz= (zi)

pi=1 7→ zj stetig sind, wobeiCp undCmit d2 versehen sind;

vgl. Beispiel 3.1.5, (iii).

Sei f : R → R die Funktion f (x) := [x]. Dabei bezeichnet [x] wieder dieGaußklammer. Diese Funktion ist stetig an jeder Stellex ∈ R \ Z, und nichtstetig an jeder Stellex ∈ Z:

Ist x ∈ R \ Z, und ist ǫ > 0 gegeben, so wahleδ > 0, sodass das Intervall(x− δ, x+ δ) keine ganze Zahl enthalt. Dann istf auf (x− δ, x+ δ) konstant, undsomit gilt

| f (t) − f (x)| = 0 < ǫ, falls |t − x| < δ .

Ist dagegenx ∈ Z, so enthalt das Intervall (x − δ, x + δ) fur jedesδ > 0 sowohlZahlent, die großer alsx sind, als auch Zahlent, die kleiner alsx sind. Nun ist

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6.1. STETIGKEIT 131

aber furt− < x sicher f (t−) < f (x) und – da ja beide Werte ganze Zahlen sind –| f (t−) − f (x)| ≥ 1. Wir konnen also fur keinǫ mit 0 < ǫ ≤ 1 einδ finden, das dergeforderten Bedingung genugt.

6.1.3 Fakta.Seien〈X, dX〉 und〈Y, dY〉metrische Raume,x ∈ D ⊆ X, und seif : D→ Yeine Funktion.

1. Unmittelbar aus der Definition der Stetigkeit folgt, dassdie Stetigkeit beix einelokale Eigenschaftist, d.h. f ist beix stetig genau dann, wenn es einρ > 0 gibt,sodassf |Uρ(x)∩D stetig beix ist.

2. Ist x ein isolierter Punkt vonD, dann istf immer stetig beix. Ist namlichδ > 0so, dassUδ(x)∩D = {x}, so folgt f (Uδ(x)∩D) = { f (x)} ⊆ Uǫ( f (x)) fur beliebigesǫ > 0.

3. Ist f : D → Y stetig aufD, so sicherlich auchf |C auf jeder TeilmengeC ⊆ D.Also sind Einschrankungen stetiger Abbildungen wieder stetig.

Nun wollen wir die Stetigkeit an einer Stelle mit Hilfe verschiedener Grenzwertbe-griffe charakterisieren.

6.1.4 Proposition.Seien〈X, dX〉 und〈Y, dY〉metrische Raume, D⊆ X, und sei f: D→Y eine Funktion. Ist x∈ D ein fester Punkt, dann sind aquivalent:

(i) f ist stetig an der Stelle x.

(ii ) Ist x kein isolierter Punkt, so giltlim t→x f (t) = f (x), wobei wir diesen Limesverstehen als Limes des Netzes( f (t))t∈D\{x}, wo D\ {x} mit der Relation

t � u :⇐⇒ dX(u, x) ≤ dX(t, x)

zu einer gerichteten Menge wird, vgl. Definition 5.5.3.

(iii ) Fur jede Folge(tn)n∈N aus D\ {x} mit limn→∞ tn = x gilt limn→∞ f (tn) = f (x).

(iv) Fur jede Folge(tn)n∈N aus D mitlimn→∞ tn = x gilt limn→∞ f (tn) = f (x).

(v) Fur jedes Netz(ti)i∈I aus D mitlim i∈I ti = x gilt lim i∈I f (ti) = f (x).

Beweis.

(i) ⇐⇒ (ii ): Im Falle, dassx ein isolierter Punkt vonD ist, wissen wir schon, dassfbei x stetig ist.

Sei alsox nicht isolierter Punkt vonD. Die Stetigkeit vonf an der Stellexbedeutet nach Definition

∀ǫ > 0∃δ > 0 : dY( f (t), f (x)) < ǫ wennt ∈ D mit dX(t, x) < δ .

Die Beziehung limt→x f (t) = f (x) bedeutet gemaß Definition 5.5.3,

∀ǫ > 0∃δ > 0 : dY( f (t), f (x)) < ǫ wennt ∈ D \ {x} mit dX(t, x) < δ . (6.1)

Also sind diese beiden Aussagen aquivalent.

(ii ) ⇐⇒ (iii ): Das haben wir schon in Fakta 5.5.4 gesehen.

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132 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

(v)⇒ (iv)⇒ (iii ): (iv) ist Spezialfall von (v) und genauso (iii ) von (iv).

(i)⇒ (v): Seiǫ > 0, dann gibt es einδ > 0 mit f (Uδ(x)) ⊆ Uǫ( f (x)). Sei nuni0 ∈ I mitxi ∈ Uδ(x), i � i0. Fur diesei folgt f (xi) ∈ Uǫ( f (x)), und daraus die behaupteteGrenzwertbeziehung.

Eine immer wieder verwendete Eigenschaft der Stetigkeit folgt unmittelbar ausProposition 6.1.4, (iv):

6.1.5 Korollar. Sind f, g : D → Y beide stetig und gilt f(x) = g(x) fur alle x in einerTeilmenge E⊆ D, so gilt auch f(x) = g(x) fur alle x ∈ c(E) ∩ D.

Insbesondere stimmen zwei stetige f und g auf D uberein, wenn sie das nur aufeiner dichten Teilmenge E von D tun.

Beweis.Zu x ∈ D ∩ c(E) gibt es eine Folge (xn)n∈N in E ⊆ D, sodassxn → x. Wegenf (xn) = g(xn) und aus der Stetigkeit beider Funktionen folgt

f (x) = limn→∞

f (xn) = limn→∞

g(xn) = g(x).

Viele stetige Funktionen lassen sich mit Hilfe des nachsten Lemmas als solcheidentifizieren.

6.1.6 Lemma. Seien〈X, dX〉 und 〈Y, dY〉 metrische Raume, D⊆ X, E ⊆ Y und f :D → Y und g: E → Z mit f(D) ⊆ E. Ist f bei x∈ D und g bei f(x) stetig ist, so istg ◦ f : D→ Z bei x stetig.

Beweis.Zu ǫ > 0 gibt es wegen der Stetigkeit vong ein δ′ > 0, sodassg(Uδ′( f (x)) ∩E) ⊆ Uǫ (g( f (x))), und wegen der Stetigkeit vonf ein δ > 0, sodassf (Uδ(x) ∩ D) ⊆Uδ′ ( f (x)). Setzt man das zusammen und beachtet, dass auchf (Uδ(x)∩D) ⊆ f (D) ⊆ E,so erhalt man

(g ◦ f )(Uδ(x) ∩ D) ⊆ g(Uδ′( f (x)) ∩ E) ⊆ Uǫ(g( f (x))).

6.1.7 Beispiel.Aus unseren Rechenregeln fur Folgen (Satz 3.3.5) folgern wir mit Hilfeder Folgencharakterisierung der Stetigkeit (Proposition6.1.4, (iv)), dass die algebrai-schen Operationen

+ :

{R2 → R

(x, y) 7→ x+ y− :

{R → Rx 7→ −x

· :{

R2 → R(x, y) 7→ x · y .−1 :

{R \ {0} → R \ {0}

x 7→ 1x

stetig sind. Genauso sind die algebraischen Operationen auf C stetig. Hier sindR,R2,C,C2 alle mit der euklidischen Metrikd2 versehen, wobeiC undC2 als me-trischer Raum mitR2 bzw.R4 indentifiziert wird; vgl Beispiel 3.1.5, (iii).2.

2Diese Feststellung gilt fur den reellen Fall auch, wenn mand1 oderd∞ hernimmt; vgl. Proposition 3.6.1.

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6.1. STETIGKEIT 133

6.1.8 Korollar. Sei〈X, d〉 ein metrischer Raum, x∈ D ⊆ X, λ ∈ R, und seien f, g :D → R Funktionen.

� Dann ist die Abbildung t7→ ( f (t), g(t)) von D nachR2 genau dann bei x stetig,wenn f und g es sind.

� Sind f und g stetig bei x, so auch die Abbildungen

t 7→ λ · f (t), t 7→ f (t) + g(t), t 7→ f (t)g(t)

von D nachR.

� Ist f stetig bei x und gilt f(t) , 0, t ∈ D, so ist auch t7→ 1f (t) von D nachR bei

x stetig.

Die selben Aussagen sind wahr, wenn wirR durchC ersetzen.

Beweis.Fur eine beliebige Folge (xn)n∈N ausD mit limn→∞ xn = x gilt gemaß Proposi-tion 3.6.1, dass limn→∞ f (xn) = f (x) gemeinsam mit limn→∞ g(xn) = g(x) genau dann,wenn limn→∞( f (xn), g(xn)) = ( f (x), g(x)). Wegen Proposition 6.1.4, (iv), folgt daherdie erste Behauptung.

Fur beix stetigef undg sindt 7→ f (t)+g(t), t 7→ f (t) ·g(t) undt 7→ 1f (t) Zusammen-

setzungen von einer beix stetigen und einer uberall stetigen Funktion. Zum Beispielist t 7→ f (t)g(t) die Zusammensetzung vont 7→ ( f (t), g(t)) und (u, v) 7→ uv; sieheBeispiel 6.1.7. Furg(t) = λ ist das konstanteg stetig. Also ist aucht 7→ λ · f (t) stetig.

6.1.9 Bemerkung.Mit fast identer Argumentation sieht man, dass fur Abbildungenf1, . . . , fp : D→ R mit x ∈ D ⊆ X fur einen metrischen RaumX genau dann alle dieseAbbildungen stetig inx sind, wenn die Abbildungt 7→ ( f1(t), . . . , fp(t)) vonD nachRp

stetig inx ist.Diese Feststellung konnen wir auch so formulieren, dass eine Abbildungφ : D →

Rp genau dann stetig ist, wenn alle Abbildungenπ j ◦ φ : D→ R fur j = 1, . . . , p stetigsind.

Entsprechendes gilt fur Abbildungenf1, . . . , fp : D→ C.

6.1.10 Beispiel.

Weil x 7→ x als Abbildung vonR nachR stetig ist, folgt mit Korollar 6.1.8nacheinander auch die Stetigkeit der Abbildungenx 7→ x · x, x 7→ x · x · x usw. .Also sind die Abbildungenx 7→ xm vonR nachR fur jedesm ∈ N stetig genausowie die konstante Abbildungx 7→ x0 := 1.

Wieder mit einigen Anwendungen von Korollar 6.1.8 folgt, dass fur jedes Poly-nomp mit reellen Koeffizientenan, . . . , a0 ∈ R die Abbildung

x 7→ p(x) = anxn + · · · + a0, R→ R .Fur zwei Polynomenp undq mit reellen Koeffizienten betrachten wir die ratio-nale Funktionf : D→ R definiert durchf (x) = p(x)

q(x) mit D = {x ∈ R : q(x) , 0}.Wegen Fakta 6.1.3, 3, sindp|D undq|D stetig und wegen Korollar 6.1.8 auch3 f .

3Wem diese Tatsache trivial vorkommt, der versuche”zu Fuß“, d.h. durch explizite Angabe einer Zahlδ

zu vorgegebenenǫ undx, zu uberprufen, dass etwa die Funktionf (x) = x3+x+1x2+1

auf ihrem DefinitionsbereichR stetig ist.

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134 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

Fur ein Polynomp mit komplexen Koeffizientenan, . . . , a0 ∈ C konnen wir auchdie Abbildungz 7→ anzn+ · · ·+a0 = p(z) als Abbildung vonC nachC betrachten.Man zeigt wie im vorherigen Beispiel, dass auch diese Abbildung stetig ist.

Fur zwei Polynomenp undq mit komplexen Koeffizienten ist auch die rationaleFunktion f : D → C definiert durchf (z) = p(z)

q(z) mit D = {z ∈ C : q(z) , 0}stetig.

Fur zwei Polynomep undq mit komplexen Koeffizienten sind auch die Funktio-nenx 7→ p(x) und x 7→ q(x) als Abbildungen vonR nachC sowiex 7→ p(x)

q(x) alsAbbildungen von{x ∈ R : q(x) , 0} vonR nachC stetig, denn sie lassen sichschreiben als Zusammensetzung der stetigen Abbildungι1 : x 7→ x+ i0 und derentsprechenden Funktion aus dem letzten Punkt.

Da fur ein lineares Funktionalf : Rp → R der Ausdruckf (x) als Linearkombi-nation der Eintrage vonx ∈ Rp geschrieben werden kann, folgt leicht mit Hilfevon Proposition 6.1.4, (iv), dass ein jedes solchesf stetig ist.

Daraus und mit Hilfe von Bemerkung 6.1.9 sieht man allgemeiner, dass auchalle linearen AbbildungenA : Rp → Rq stetig sind. Entsprechendes gilt furC-linearen AbbildungenA : Cp → Cq.

Aus dem letzten Beispiel oder direkt mit Hilfe von Proposition 6.1.4, (iv), zusam-men mit Bemerkung 6.1.9 erkennt man auch, dass (x, y) 7→ x+ y als AbbildungvonR2p

� Rp×Rp nachRp sowie (λ, x) 7→ λx als Abbildung vonRp+1� R×Rp

nachRp stetig sind. Entsprechendes gilt im komplexen Fall.

6.1.11 Beispiel.Ist D ⊆ Rp, Y ein metrischer Raum undf : D→ Y stetig, so folgt ausBeispiel 6.1.2, Fakta 6.1.3, 3 und Lemma 6.1.6 fur allej = 1, . . . , p und alley ∈ Rp dieStetigkeit vonf ◦ ιyj : {t ∈ R : ιyj(t) ∈ D} → Y.

Umgekehrt kann man aber nicht von der Stetigkeit allerf ◦ ιyj auf die vonf schlie-

ßen, wie die Funktionf : R2→ R definiert durch

f (ξ, η) :=

ξη

ξ2+η2 , (ξ, η) , (0, 0)

0 , (ξ, η) = (0, 0)

zeigt. Diese Funktion ist bei (0, 0) nicht stetig, da etwaf ( 1n ,

1n) = 1

2 fur alle n ∈ N.

Die folgende mengentheoretisch orientierte Charakterisierung der Stetigkeit einerFunktion spielt eine wichtige Rolle. Man beachten, dass dabei fur die Funktionf derDefinitionsbereich gleich dem ganzen metrischen RaumX ist.

6.1.12 Proposition. Seien〈X, dX〉 und 〈Y, dY〉 metrische Raume, und sei f: X → Yeine Funktion. Dann sind aquivalent:

(i) f ist stetig.

(ii ) Fur jede in〈Y, dY〉 offene Teilmenge B von Y ist f−1(B) = {x ∈ X : f (x) ∈ B}offen in〈X, dX〉.

(iii ) Fur jede in〈Y, dY〉 abgeschlossene Teilmenge F von Y ist das Urbild f−1(F) ={x ∈ X : f (x) ∈ F} abgeschlossen in〈X, dX〉.

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6.1. STETIGKEIT 135

Beweis.

(i)⇒ (ii ): Sei B ⊆ Y offen, und seix ∈ f −1(B). Da B offen ist undf (x) ∈ B, folgtUǫ( f (x)) ⊆ B fur ein ǫ > 0. Wegen der Stetigkeit existiertδ > 0 mit f (Uδ(x)) ⊆Uǫ( f (x)) ⊆ B, d.h. mitUδ(x) ⊆ f −1(B). Also enthalt f −1(B) mit jedem Punkteine ganzeδ-Kugel, d.h.f −1(B) ist offen.

(ii )⇒ (i): Sei ǫ > 0 und x ∈ X gegeben. Die MengeUǫ( f (x)) ist offen, also istauch f −1(Uǫ( f (x))) offen. Wegenx ∈ f −1(Uǫ( f (x))) existiert einδ > 0, sodassUδ(x) ⊆ f −1(Uǫ( f (x))). Das heißt aber geradef (Uδ(x)) ⊆ Uǫ( f (x)).

(ii )⇔ (iii ): Das folgt sofort aus Proposition 5.1.15 und der Tatsache, dass f −1(Mc) =f −1(M)c.

6.1.13 Proposition. Seien〈X, dX〉 und 〈Y, dY〉 metrische Raume, und sei f: D → Yeine stetige Funktion. Ist K⊆ D kompakt, so ist auch f(K) ⊆ Y kompakt und damitauch beschrankt.

Beweis.Sei (yn)n∈N eine Teilfolge inf (K), und seixn ∈ K, sodassf (xn) = yn. Wegender Kompaktheit vonK gibt es eine gegen einx ∈ K konvergente Teilfolge (xn(k))k∈Nvon (xn)n∈N. Aus der Stetigkeit folgt

f (x) = limk→∞

f (xn(k)) = limk→∞

yn(k).

Also hat (yn)n∈N eine konvergente Teilfolge mit Grenzwert ausf (K). Also ist f (K)kompakt und wegen Proposition 5.2.8.

6.1.14 Korollar. Sei 〈X, dX〉 ein metrischer Raum, D⊆ X, f : D → R stetig, undsei K ⊆ D kompakt. Dann ist f auf K beschrankt und nimmt ein Maximum und einMinimum an, d.h. es gibt Punkte xmax, xmin ∈ K mit

f (xmax) = maxx∈K

f (x), f (xmin) = minx∈K

f (x) .

Insbesondere nimmt jede auf einem reellen Intervall[a, b] definierte und stetige reell-wertige Funktion ein Maximum und ein Minimum an.

Beweis. Nach Proposition 6.1.13 istf (K) ⊆ R kompakt, und wegen Propo-sition 5.2.8 damit beschrankt und abgeschlossen. Wegen Beispiel 5.1.14 istsup f (K) = max f (K) = f (xmax) fur ein xmax ∈ K. Entsprechend zeigt man dieAussage fur das Minimum.

6.1.15 Proposition.Seien〈X, dX〉 und 〈Y, dY〉 metrische Raume und D⊆ X kompakt.Ist f : D→ Y stetig und injektiv, so ist es auch f−1 : ran(f )→ D ⊆ X.

Beweis. Sei (yn)n∈N eine Folge in ranf mit yn → y, und setzexn = f −1(yn), n ∈N. Wegen der Kompaktheit vonD hat jede beliebige Teilfolge (xn(m))m∈N von (xn)n∈Nseinerseits eine Teilfolge (xn(m(l)))l∈N mit xn(m(l)) → x, l → ∞ fur ein x in D.

Aus der Stetigkeit folgtyn(m(l)) = f (xn(m(l))) → f (x) fur l → ∞. Da (yn(m(l)))l∈N alsTeilfolge auch gegeny konvergiert, folgtf (x) = y und mit der Injektivitatx = f −1(y).

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136 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

Gemaß Lemma 5.2.11 konvergiert daher (f −1(yn))n∈N gegenf −1(y). Also ist f −1 in ystetig.

6.1.16 Beispiel.Sein ∈ N. Fur ein festesc > 0 sei f : [0, c] → R definiert durch dieVorschrift f (t) = tn. Wegen Beispiel 6.1.10 und Fakta 6.1.3, 3, istf stetig. Zudem giltf ([0, c]) = [0, cn], vgl. Bemerkung 2.7.7.

Die Umkehrfunktionf −1 : [0, cn] → [0, c] ⊆ R, t 7→ n√

t, ist gemaß Proposition6.1.15 stetig. Wegencn → +∞ fur c→ +∞ und da die Stetigkeit wegen Fakta 6.1.3, 1,eine lokale Eigenschaft ist, folgt sogar die Stetigkeit vonn

√. : [0,+∞)→ R.

Die Stetigkeit der Wurzelfunktion kann man auch mit Hilfe von Satz 3.3.5, (vii),leicht zeigen.

6.2 Der Zwischenwertsatz

Sei I ⊆ R ein Intervall. Die Anschauung von Stetigkeit legt nahe, dass mit I auch f (I )ein Intervall ist.

6.2.1 Bemerkung.Man uberlegt sich leicht, dassI ⊆ R genau dann einIntervall ist,d.h. genau dann eine der Formen (a, b ∈ R, a < b,)

∅, (a, b), [a, b], [a, a], (a,b], [a, b), (a,+∞), (−∞, a), [a,+∞), (−∞,a],R,

hat, wenn furI gilt∀x, y ∈ I , x < y⇒ [x, y] ⊆ I .

Um zu rechtfertigen, dassf (I ) wieder ein Intervall ist, werden wir eine weiterecharakteristische Eigenschaft von Intervallen herleiten.

6.2.2 Definition. Dazu nennen wir eine TeilmengeE eines metrischen Raumeszusam-menhangend, wenn manE nicht als Vereinigung zweier nichtleerer getrennter Mengenschreiben kann. Dabei heißenA undB getrennt, wennc(A) ∩ B = A∩ c(B) = ∅.

6.2.3 Proposition. Sei I ⊆ R. Dann ist I genau dann ein Intervall, wenn I zusam-menhangend ist.

Beweis. Im Falle, dassI nur ein oder gar kein Element enthalt – alsoI = {x} oderI = ∅ –, erkennt man sofort mit Bemerkung 6.2.1 und Definition 6.2.2, dassI einIntervall undI auch zusammenhangend ist. Wir konnen also fur den Rest des Beweisesannehmen, dassI zumindest zwei verschiedene Elemente enthalt.

Angenommen es existierenx, y ∈ I , x < y, sodass [x, y] * I . Wahlez ∈ [x, y] \ Iund setze

A := (−∞, z] ∩ I , B := [z,+∞) ∩ I .

Dann sindA undB disjunkt, und jeder Haufungspunktt von A ist in (−∞, z], da dieseMenge ja abgeschlossen ist. Wegenz < I folgt t < B und damitc(A) ∩ B = ∅. Genausosieht manA∩ c(B) = ∅. Also ist I nicht zusammenhangend.

Sei umgekehrtI nicht zusammenhangend. Dann konnen wirI alsA∪ B mit nicht-leerenA, B schreiben, wobeic(A) ∩ B = A∩ c(B) = ∅. Wahlex ∈ A undy ∈ B, und seio.B.d.A. angenommen, dassx < y.

Man betrachtet = sup(A ∩ [x, y]). Insbesondere istx ≤ t ≤ y. Weiters folgt aust ∈ c(A∩ [x, y]) ⊆ c(A) (siehe Beispiel 3.3.4), dasst < B, und somitx ≤ t < y.

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6.2. DER ZWISCHENWERTSATZ 137

Wir wollen nun [x, y] * I zeigen, was im Fallt < A, sofort aust ∈ [x, y] \ (A∪ B) =[x, y] \ I folgt.

Im Fall t ∈ A, folgt aust < c(B) die Existenz einerǫ-Kugel (t − ǫ, t + ǫ), sodass

(t − ǫ, t + ǫ) ∩ B = ∅ .

Also ist t + ǫ2 < B, und weily ∈ B, gilt x < t + ǫ

2 < t + ǫ ≤ y bzw. t + ǫ2 ∈ (x, y). Wegen

t = sup(A∩[x, y]) kannt+ ǫ2 aber nicht inA liegen. Alsot+ ǫ

2 ∈ [x, y]\(A∪B) = [x, y]\ Iund daher [x, y] * I .

6.2.4 Proposition.Seien〈X, dX〉 und〈Y, dY〉metrische Raume, D⊆ X, und sei f: D→Y eine stetige Funktion. Ist E⊆ D zusammenhangend, so auch f(E).

Beweis.Angenommenf (E) ware nicht zusammenhangend. Dann giltf (E) = A∪BmitA, B , ∅ undc(A)∩B = A∩c(B) = ∅. Fur die nichtleeren MengenE∩ f −1(A),E∩ f −1(B)folgt

E =(E ∩ f −1(A)

) ∪ (E ∩ f −1(B)

),

(E ∩ f −1(A)

) ∩ (E ∩ f −1(B)

)= ∅.

Zu jedemx ∈ c(E ∩ f −1(A)

) ∩ E ∩ f −1(B) gibt es wegen Lemma 5.1.13 eine gegenx konvergente Folge (xn)n∈N ausE ∩ f −1(A). Es folgt limn→∞ f (xn) = f (x), und somitf (x) ∈ c

(f (E ∩ f −1(A))

) ⊆ c(A). Andererseits istf (x) ∈ f(E ∩ f −1(B)

) ⊆ B imWiderspruch zuc(A) ∩ B = ∅.

Also kann nur c(E ∩ f −1(A)

) ∩ E ∩ f −1(B) = ∅. Entsprechend giltc(E ∩ f −1(B)

) ∩ E ∩ f −1(A) = ∅, und E ware somit nicht zusammenhangend,was unserer Annahme widerspricht.

6.2.5 Beispiel.Wir werden spater sehen, dass dieEinheitskreislinieT = {z ∈ C :|z| = 1} als das Bild von [0, 2π) unter der stetigen Abbildungx 7→ exp(ix) geschriebenwerden kann. Nach Proposition 6.2.4 identifizieren wir damit T als zusammenhangend.

6.2.6 Korollar (Zwischenwertsatz). Sei I⊆ D ein Intervall und f: I → R stetig. Dannist auch f(I ) ein Intervall. Ist insbesondere c∈ Rmit

(−∞ ≤) inf f (I ) < c < sup f (I ) (≤ +∞),

so existiert ein Punkt x∈ I mit f (x) = c.Insbesondere gilt: Ist f stetig auf[a, b] und c eine Zahl zwischen f(a) und f(b), dh.

f (a) < c < f (b) oder f(b) < c < f (a), so existiert ein Punkt x∈ (a, b) mit f(x) = c.

Beweis. Mit I ist nach Proposition 6.2.4 auchf (I ) ⊆ R zusammenhangend,und somit nach Proposition 6.2.3 ein Intervall. Wahlt manα, β ∈ f (I ) mitinf x∈I f (x) < α < c < β < supx∈I f (x), dann enthaltf (I ) das ganze Intervall[α, β] (siehe Bemerkung 6.2.1). Also gibt es einx ∈ I mit f (x) = c.

6.2.7 Beispiel.Die Funktion f : [0,+∞) → R definiert durchf (t) = tn fur ein festesn ∈ N ist stetig. In Bemerkung 2.7.7 hatten wir in Folge der Existenz vonn-ten Wurzeln– vgl. Satz 2.7.5 – schon festgestellt, dassf ([0,+∞)) = [0,+∞).

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138 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

I

inf f (I )

f (I )

sup f (I )

f (x) = c

x

Abbildung 6.2: Veranschaulichung des Zwischenwertsatzes

Ohne Satz 2.7.5 zu verwenden, konnen wir das auch aus Korollar 6.2.6 herleiten.In der Tat folgt aus Korollar 6.2.6, dassf ([0,+∞)) ein Intervall ist. Wegenf (t) ≥ 0fur t ∈ [0,+∞) folgt f ([0,+∞)) ⊆ [0,+∞). Aus limt→∞ f (t) = +∞ schließen wir, dassdas Intervallf ([0,+∞)) beliebig große Zahlen enthalt, also nicht beschrankt sein kann.Zusammen mitf (0) = 0 folgt daraus, dassf ([0,+∞)) nur von der Form [0,+∞) seinkann.

Da f streng monoton wachsend und somitf : [0,+∞)→ [0,+∞) bijektiv ist, folgtsomit auch ohne Satz 2.7.5, dasstn = x fur jedes reellex ≥ 0 eine eindeutige Losungin [0,+∞) hat – also dass es eindeutigen-te Wurzeln von Zahl aus [0,+∞) in [0,+∞)gibt.

6.3 Gleichmaßige Stetigkeit

Die Definition der Stetigkeit einer Funktionf : D → Y lautet, in logischen Formelnangeschrieben,

∀x ∈ D∀ǫ > 0∃δ > 0 : ∀t ∈ D : dX(t, x) < δ⇒ dY( f (t), f (x)) < ǫ . (6.2)

Die Zahl δ, die es zu jedemǫ geben muss, hangt im Allgemeinen nicht nur vonǫ,sondern auch von der Stellex ab.

6.3.1 Beispiel.Betrachte die Funktionf (x) = x−1 : R+ → R+. Ist x ∈ R und ǫ > 0gegeben, so berechnet man:

1x− 1

x+ δ=

δ

(x+ δ)x.

Damit dieser Ausdruck≤ ǫ ist, darfδ hochstensǫx2

1−ǫx sein. Man sieht, dass diese großtmogliche Wahl vonδ immer kleiner wird, je kleinerx wird, und tatsachlich furx→ 0ebenfalls gegen 0 strebt. Man kann in diesem Beispiel also tatsachlich zu gegebenemǫkeinδ finden das vonx unabhangig ist.

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6.3. GLEICHMASSIGE STETIGKEIT 139

Sollte eine Funktion nun so beschaffen sein, dass dieses Phanomen nicht auftritt,sollte also zu gegebenemǫ stets einδ existieren, welches fur allex funktioniert, sonennt man die Funktion gleichmaßig stetig.

6.3.2 Definition. Seien〈X, dX〉 und〈Y, dY〉 metrische Raume, und seif : D → Y eineFunktion. Dann heißtf gleichmaßig stetig, wenn gilt

∀ǫ > 0∃δ > 0∀x, t ∈ D : dX(t, x) < δ⇒ dY( f (t), f (x)) < ǫ .

Vergleicht man diese Definition mit der Formel (6.2), so sieht man, dass man hierden Allquantor∀x ∈ X und den Existenzquantor∃δ > 0 vertauscht hat. Dies wird alsonicht den gleichen, sondern einen starkeren Begriff liefern.

Ist f gleichmaßig stetig, so istf auch stetig. Wie wir am obigen Beispiel sehen, giltdie Umkehrung nicht. Interessant in diesem Zusammenhang ist nun der folgende Satz.

6.3.3 Satz.Seien〈X, dX〉 und〈Y, dY〉 metrische Raume, und D⊆ X kompakt. Dann istjede stetige Funktion f: D→ Y sogar gleichmaßig stetig.

Beweis.Nehme man das Gegenteil an. Dann gibt es einǫ > 0, sodass es fur allen ∈ NPunktexn, yn ∈ D gibt, sodassdX(xn, yn) < 1

n unddY( f (xn), f (yn)) ≥ ǫ.Die Folgen (xn)n∈N (yn)n∈N haben wegen der Kompaktheit vonD Haufungspunkte

x bzw.y. Somit giltx = lim

k→∞xn(k), y = lim

k→∞yn(k)

fur Teilfolgen (xn(k))k∈N und (yn(k))k∈N. Aus dX(xn(k), yn(k)) < 1n(k) folgt mit Lemma

3.2.10, dassdX(x, y) = lim

k→∞dX(xn(k), yn(k)) = 0,

alsox = y und somitf (x) = f (y). Andererseits folgt aus der Stetigkeit zusammen mitLemma 3.3.1 der offensichtliche Widerspruch

dY( f (x), f (y)) = dY( limk→∞

f (xn(k)), limk→∞

f (yn(k))) = limk→∞

dY( f (xn(k)), f (yn(k))) ≥ ǫ.

6.3.4 Beispiel.Fur nicht kompaktesE ⊆ R gilt:

(i) Es gibt eine aufE stetige Funktion die nicht beschrankt ist.

(ii ) Es gibt eine aufE stetige und beschrankte Funktion, die kein Maximum hat.

(iii ) Ist E beschrankt, so gibt es eine aufE stetige, aber nicht gleichmaßig stetigeFunktion.

Wir betrachten zuerst den Fall, dassE einen Haufungspunktx0 hat, der nicht zuEgehort (dieser Fall tritt sicher immer dann ein, wennE beschrankt ist, denn dann wurdeaus abgeschlossen kompakt folgen). Die Funktionx 7→ 1

x−x0ist stetig aufE, aber nicht

beschrankt. Sie ist auch nicht gleichmaßig stetig. Die Funktion f (x) = 11+(x−x0)2 ist

stetig aufE und beschrankt (0< f (x) < 1). Offenbar gilt limx→x0 f (x0) = 1, alsosupx∈E f (x) = 1.

Betrachte nun den Fall, dassE nicht beschrankt ist. (i) folgt mit f (x) = x, (ii ) mitf (x) = x2

1+x2 .In (iii ) kann man die Forderung, dassE beschrankt ist, nicht ganz weglassen. Zum

Beispiel betrachteE = Z. Dann ist jede Funktion aufE gleichmaßig stetig, denn mankann stets irgendeinδ < 1 wahlen, z.B. alsoδ = 1

2).

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140 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

6.3.5 Satz. Seien〈X,dX〉 und〈Y,dY〉metrische Raume, wobei〈Y, dY〉 sogar vollstandig ist. Weiters sei D⊆ X und f : D→ Ygleichmaßig stetig.

Dann existiert eine eindeutige gleichmaßig stetige Fortsetzung F: c(D)→ Y.

Beweis.

Sei (xn)n∈N eine Cauchy-Folge von Punkten ausD. Zu ǫ > 0 wahleδ > 0 so, dass

dY(f (y), f (z)

)< ǫ fur dX(y, z) < δ . (6.3)

Weiters wahleN ∈ N so, dassdX(xn, xm) < δ fur alle n,m≥ N. Dann folgt

dY(f (xn), f (xm)

)< ǫ, n,m≥ N,

d.h. (f (xn))n∈N ist eine Cauchy-Folge inY. Somit existiert der Limes limn→∞ f (xn).

Sei x ∈ X, und seien (xn)n∈N und (yn)n∈N zwei Folgen von Punkten inD mit xn → x sowieyn → x. Ist ǫ > 0gegeben undδ > 0 wie in (6.3), so wahleN ∈ Nmit

dX(xn, x) <δ

2, dX(yn, x) <

δ

2, n ≥ N.

Insbesondere giltdX(xn, yn) ≤ dX(xn, x) + dX(yn, x) < δ fur alle n ≥ N. Es folgtdY( f (xn), f (yn)) < ǫ, n ≥ N, unddaher

dY(

limn→∞

f (xn), limn→∞

f (yn)) ≤ ǫ.

Da ǫ > 0 beliebig war, folgt limn→∞ f (xn) = limn→∞ f (yn).

Zu jedem Sx ∈ c(D) gibt es definitionsgemaß eine Folge (xn)n∈N mit xn → x. Definiere

F(x) := limn→∞

f (xn).

Wegen der obigen Punkte istF eine wohldefinierte Funktion vonX nachY.

Ist x ∈ D, so betrachte die konstante Folgexn := x. Dann gilt sicherxn → x und f (xn) → f (x), alsoF(x) = f (x).Somit istF eine Fortsetzung vonf .

Es bleibt zu zeigen, dassF gleichmaßig stetig ist. Sei dazuǫ > 0 gegeben. Wahleδ > 0 so, dassdY( f (x), f (y)) < ǫ3

fur x, y ∈ D mit dX(x, y) < δ.

Seien nunx, y ∈ c(D) mit dX(x, y) < δ3 . Wahlexn, yn ∈ D mit xn → x, yn → y undN ∈ Nmit

dX(xn, x) <δ

3, dX(yn, y) <

δ

3, dY(F(x), f (xn)) <

ǫ

3,dY(F(y), f (yn)) <

ǫ

3, n ≥ N .

Dann giltdX(xn, yn) < δ und daherdY( f (xn), f (yn)) < ǫ3 . Somit erhalten wirdY(F(x), F(y)) < ǫ.

Die Eindeutigkeit folgt sofort aus Korollar 6.1.5.

6.4 Unstetigkeitsstellen

Sei〈Y, dY〉 ein metrischer Raum, und seif : (a, b)→ Y mit a, b ∈ R, a < b. Weiters seix ∈ (a, b).

f ist gemaß Proposition 6.1.4 genau dann beix stetig, wennf (x) = lim t→x f (t).In (5.28) haben wir gesehen, dassf (x) = lim t→x f (t) genau dann, wenn die Grenz-werte f (x−) := lim t→x− f (t) und f (x+) := lim t→x+ f (t) existieren und beide mitf (x)ubereinstimmen.

6.4.1 Bemerkung.Gilt zumindestf (x) = f (x−) ( f (x) = f (x+)), so spricht man vonLinksstetigkeitbzw. linksseitiger Stetigkeit(Rechtsstetigkeitbzw.rechtsseitiger Stetig-keit) der Funktionf bei x. Klarerweise istf bei x stetig, wennf bei x sowohl links- alsauch rechtsstetig ist.

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6.4. UNSTETIGKEITSSTELLEN 141

Ist f nicht stetig, so unterscheidet man folgende Falle.

6.4.2 Definition. Sei f unstetig beix.

� Man sagt,f habe eineUnstetigkeit 1. Artbei x, falls f (x−) := lim t→x− f (t) undf (x+) := lim t→x+ f (t) existieren, aber nicht beide gleichf (x) sind.

Fur Unstetigkeiten 1. Art gibt es zwei Moglichkeiten. Entweder f (x−) , f (x+),in welchem Fall man von einerSprungstellespricht, oderf (x−) = f (x+) , f (x).Dann spricht man von einerhebbaren Unstetigkeit.

� Liegt keine Unstetigkeit 1. Art vor, so spricht man von einerUnstetigkeit 2. Art.

Den Begriff”hebbar“hat man deswegen gewahlt, weil man dannf an der Stellex

so abandern kann, dass die neue Funktion beix stetig ist.

6.4.3 Beispiel.

Betrachte die Funktion

f (x) =

1 , falls x rational

0 , falls x irrational

Diese Funktion hat an jeder Stellex eine Unstetigkeit 2.Art.

Sei

g(x) =

x , falls x rational

0 , falls x irrational

g ist stetig bei 0, hat aber an jeder Stellex , 0 eine Unstetigkeit 2.Art. Esgibt namlich eine Folge (rn)n∈N ausQ ∩ (x,+∞) und eine Folge (xn)n∈N ausR \ Q ∩ (x,+∞), die beide gegenx konvergieren (vgl. Beispiel 3.3.4). Nun istaber f (xn) = 0 → 0 und f (rn) = rn → x fur n → ∞. Nach (5.28) kann so-mit limt→x+ f (t) nicht existieren.Ahnlich zeigt man, dass auch limt→x− f (t) nichtexistiert.

Sei

0 1−1−2−3

2

1

−2

−1

h

h(x) =

x+ 2 , falls x ∈ (−3,−2)

−x− 2 , falls x ∈ [−2, 0)

x+ 2 , falls x ∈ [0, 1)

Dann isth stetig auf (−3, 1) \ {0} und hat bei 0 eine Sprungstelle.

Wir setzen den Begriff der Sinusfunktion (aus der Schule) voraus. Sei

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142 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

0 1π

f

f (x) =

sin 1

x , x > 0

0 , x ≤ 0

Dann ist f stetig aufR \ {0} und hat eine Unstetigkeit 2.Art bei 0.

Es konnen also im Allgemeinen alle moglichen Varianten von Unstetigkeiten auftreten.

Thematisch dazu passend wollen wir uns der Fortsetzbarkeitvon stetigen Funktio-nen auf um einen Punkt großere Mengen zuwenden.

6.4.4 Bemerkung.Seien〈X, dX〉 und 〈Y, dY〉 metrische Raume undD ⊆ X, und seif : D→ Y eine stetige Funktion. Sei weitersx ∈ X \ D.

Wir fragen uns, ob wir eine Fortsetzungf : D ∪ {x} → Y von f finden konnen, diedie Eigenschaft stetig zu sein beibehalt.

Wenn x kein Haufungspunkt vonD ist, so sieht man leicht, dassx ein isolierterPunkt vonD ∪ {x} ist, und daher jede Fortsetzungf stetig ist.

Sei alsox ein Haufungspunkt vonD. Gibt es eine stetige Fortsetzungf , so mussnach Proposition 6.1.4f (x) = lim t→x f (t). Existiert umgekehrt limt→x f (t), so setzeman

f (s) =

lim t→x f (t) , falls s= x

f (s) , falls s ∈ D

Klarerweise ist f eine Fortsetzung vonf . Wegen Proposition 6.1.4, (ii ), ist f bei xstetig. Andererseits ist wegen Fakta 6.1.3 mitf auch f bei allent ∈ D stetig. Also istfeine aufD ∪ {x} stetige Fortsetzung.

6.4.5 Beispiel.

Seiena, b, c ∈ R, c ≤ 0, D = (−∞, 0)∪ (0,+∞) und f : D → R definiert durchf (x) = a fur x < 0 und f (x) = b

x−c fur x > 0. Dann gilt limx→0− f (t) = a und

limx→0+

f (t) =

− bc , falls b , 0, c < 0

sgn(b) · ∞ , falls b , 0, c = 0

0 , falls b = 0

Aus Bemerkung 6.4.4 wissen wir, dass sichf genau dann zu einer Funktionf : R → R fortsetzen lasst, wenn limt→0 f (t) existiert. Nach (5.28) existiertdieser Grenzwert genau dann, wenna = b = 0 oderb , 0, c , 0, a = − b

c . Dabeimuss f (0) = 0 bzw. f (0) = a = − b

c .

Die komplexwertige Funktion

f (z) =iz+ 1z3 + z

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6.5. MONOTONE FUNKTIONEN 143

ist zunachst definiert aufD = {z ∈ C : z3 + z , 0} = C \ {0, i,−i}, dh. f :D → C. Das zu Beispiel 6.1.10 analoge Beispiel fur komplexe Polynome zeigtdie Stetigkeit vonf auf D. Zudem gilt wegen Fakta 5.3.8

limz→i

f (z) = limz→i

i(z− i)z(z+ i)(z− i)

= limz→i

iz(z+ i)

=i

limz→i z(z+ i)=

i2i2= − i

2.

Somit lasst sichf stetig aufD = D ∪ {i} durch f (i) = − i2 fortsetzen.

Eine Fortsetzung auf eine noch großere Menge – etwa aufD ∪ {−i} – ist nichtmoglich, da dann auch limz→−i f (z) und wegen (5.9) auch limz→−i | f (z)| existierenmusste. Nun gilt aber ( vgl. Bemerkung 5.3.9)

limz→−i| f (z)| = lim

z→−i

1|z| · |z+ i| = +∞ ,

da fur den Nenner rechts limz→−i |z| · |z+ i| = (limz→−i |z|) · (limz→−i |z+ i|) = 0 gilt.

6.5 Monotone Funktionen

6.5.1 Definition. Man sagt, dass fur ein IntervallI ⊆ R, eine Funktionf : I → Rmonoton wachsendist, falls

x < y⇒ f (x) ≤ f (y) .

Gilt sogarx < y⇒ f (x) < f (y), so sagt manf seistreng monoton wachsend.Analog sagt man,f seimonoton fallend, falls x < y ⇒ f (x) ≥ f (y). Sollte x < y

sogarf (x) > f (y) implizieren, so spricht von einerstreng monoton fallendenFunktion.

Klarerweise ist eine streng monotone Funktion stets injektiv. Nun kommen wir zurDiskussion der Unstetigkeitsstellen monotoner Funktionen.

6.5.2 Proposition.Sei f monoton wachsend auf einem reellen Intervall I, wobei a, b ∈R ∪ {−∞,+∞}, a < b die Intervallrander bezeichnet.

Dann existieren fur jeden Punkt x∈ (a, b) sowohl f(x−) := lims→x− f (s) als auchf (x+) := lim t→x+ f (t), wobei4

supa<s<x

f (s) = f (x−) ≤ f (x) ≤ f (x+) = infx<t<b

f (t). (6.4)

Ist x= a ∈ I (x = b ∈ I), so gilt die rechte (linke) Seite von(6.4). Weiters gilt fur x< yimmer f(x+) < f (y−).

Analoge Aussagen gelten fur monoton fallende Funktionen.

Beweis. Wir beschranken uns aufx ∈ (a, b). Der Fall der Intervallrander betrachtetman in analoger Weise.

Der Beweis folgt unmittelbar aus (5.10), da die Grenzwerte in (6.4) ja Grenzwertemonotoner und beschrankter Netze sind.

Die Ungleichung in (6.4) folgt leicht aus der Tatsache, dassjeder Punkt aus{ f (s) :s ∈ (a, x)} kleiner oder gleichf (x) und f (x) kleiner oder gleich jedem Punkt aus{ f (t) :t ∈ (x, b)} ist.

Der zweite Teil der Behauptung folgt aus

limt→x+

f (t) = infx<t<b

f (t) = infx<t<y

f (t), limt→y−

f (s) = supa<s<y

f (s) = supx<s<y

f (s).

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144 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

x1

f (x1) = f (x1−)

f (x1+)

x2

= f (x2−)

f (x2)

= f (x2+)

f (x3−)

f

x3

f (x3+)

f (x3+)

Abbildung 6.3: Veranschaulichung monotoner Funktionen

6.5.3 Korollar. Sei I ⊆ R ein Intervall, f : I → R eine monoton wachsende Funktionund J= f (I ).

� Das Bild ist genau dann ein Intervall, wenn f stetig ist.

� Ist f streng monoton wachsend, so ist f−1 : J → I auch streng monoton wach-send. Dabei enthalt I genau dann seinen linken (rechten) Intervallrand, wenn Jsein Infimum (Supremum) enthalt – also J ein Minimum (Maximum) hat.

� Ist f streng monoton wachsend und stetig, so ist auch f−1 : J→ I streng mono-ton wachsend und stetig.

Entsprechende Aussagen gelten fur (streng) monoton fallende Funktionen.

Beweis.

� Ist f stetig, so ist wegen Korollar 6.2.6 auchf (I ) ein Intervall.

Angenommenf ist nicht stetig an einemx ∈ I , das zunachst nicht ein Intervall-rand vonI sei. Wegen (6.4) muss lims→x− f (s) < limt→x+ f (t). Es folgt

f (τ) ≤ lims→x−

f (s) = f (x−), τ < x und f (τ) ≥ limt→x+

f (t) = f (x+), τ > x .

4Insbesondere konnen in (a, b) nur Unstetigkeitsstellen 1.Art auftreten.

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6.5. MONOTONE FUNKTIONEN 145

f (x)

f (x−)

f (x+)

Also kann f keine Werte im Inter-vall

(f (x−), f (x+)

)bis auf unter

Umstanden einen - namlichf (x) -annehmen.

Ist x der linke Intervallrand vonI , so muss nach (6.4)f (x) < lim t→x+ f (t). Somitfolgt ( f (x), lim t→x+ f (t)) ∩ J = ∅. Entsprechend argumentiert man im Fall desrechten Randes. Jedenfalls istJ kein Intervall.

� Wegen der strengen Monotonie istf injektiv. Ist x, y ∈ J, x < y, und gilt f −1(x) ≥f −1(y), so folgt wegen der vorausgesetzten Monotonie vonf der Widerspruchx = f ( f −1(x)) ≥ f ( f −1(y)) = y; also gilt f (x) < f (y), womit f −1 : J → I strengmonoton wachsend ist.

EnthaltI seinen linken Rand5 a, so folgt aus der Monotonie, dassf (a) ≤ f (t), t ∈I , und somit dassf (a) Minimum vonJ ist.

Hat J = f (I ) das Minimumy, so folgt aus der Monotonie vonf −1, dassf −1(y) ≤f −1(x), x ∈ J, und somit dassf −1(y) Minimum von I ist; alsoa = f −1(y) ∈ I .

� Ist f stetig, so istJ ein Intervall und die streng monoton wachsende Funktionf −1 : J → I hat als Bild genau das IntervallI . Nach dem ersten Punkt mussdaher auchf −1 stetig sein.

Wir werden spater dieses Korollar verwenden, um z.B. zu zeigen, dass der Loga-rithmus eine stetige Funktion ist.

6.5.4 Beispiel.Die Funktion f : [0,+∞) → R definiert durchf (t) = tn fur ein fes-tesn ∈ N ist stetig und streng monoton wachsend. Korollar 6.5.3 bietet uns nun ei-ne weitere Moglichkeit, einzusehen, dassf −1 =

√. von f ([0,+∞)) = [0,+∞) nach

[0,+∞) (⊆ R) stetig ist; vgl. Beispiel 6.1.16 und Beispiel 6.2.7.

Thematisch zu obigem Ergebnis passt das nachste Lemma, dasaus dem Zwischen-wertsatz folgt.

6.5.5 Lemma. Seien I, J ⊆ R zwei Intervalle und f: I → J stetig und bijektiv. Dannist f streng monoton wachsend oder fallend.

Beweis.Ware f weder streng monoton wachsend noch streng monoton fallend,so gibtesx1 < x2 ausI mit f (x1) ≥ f (x2) undx3 < x4 ausI mit f (x3) ≤ f (x4). Weil f injektivist, muss sogarf (x1) > f (x2) und f (x3) < f (x4). Daraus folgt, dass{x1, x2, x3, x4}zumindest drei Elemente hat.

Durch Fallunterscheidungen je nachdem, wie diese Punkte angeordnet sind, findetman immera < b < c aus{x1, x2, x3, x4}, sodass entwederf (a) < f (b), f (b) > f (c)oder f (a) > f (b), f (b) < f (c). Man beachte, dass dabei wegen der Injektivitat alle dreiWerte f (a), f (b), f (c) untereinander verschieden sein mussen.

5I ist daher von der Form [a, a], [a, b], [a, b), [a,+∞) mit b ∈ R, b > a.

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146 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

Im ersten Fall ist entwederf (a) ∈ ( f (c), f (b)) oder f (c) ∈ ( f (a), f (b)). Aus Korol-lar 6.2.6 folgt daherf (a) = f (t) fur ein t ∈ (b, c) bzw. f (c) = f (t) fur ein t ∈ (a, b), wasjedenfalls der Injektivitat widerspricht.

Im zweiten Fall argumentiert man entsprechend.❑

6.6 Gleichmaßige Konvergenz

Wir haben schon gesehen, dass z.B. die geometrische Reihe∑∞

n=0 zn fur jedesz ∈ C,|z| < 1, konvergiert. Betrachtet man diese Reihe nicht nur fur ein festes vorgegebenesz, sondern fur allez, so hat man eine Reihe, deren Summanden Funktionen vonzsind,und deren Summe ebenfalls eine Funktion vonznamlich 1

1−z ist.Betrachten wir also eine Folge (fn)n∈N von Funktionen, die definiert ist, zum Bei-

spiel, auf einer MengeE ⊆ R und die, zum Beispiel, reelle Werte annimmt. Wir wurdengerne erklaren, was es bedeutet, dass diese Folge gegen eine Funktionf konvergiert.

Um einen vernunftigen Grenzwertbegriff zu bekommen, definieren wir eine Metrik,und zwar eine Metrik auf einer Menge von Funktionenf : E → R. Aber man kann indiesem konkreten Fall auch naiver an die Sache herangehen. Ist (fn)n∈N, fn : E → R,eine Folge von Funktionen, dann ist fur jedes festex ∈ E sicher (fn(x))n∈N eine Folgevon Zahlen, und fur diese wissen wir, was es bedeutet zu konvergieren.

6.6.1 Definition. Sei∅ , E eine Menge und〈Y, dY〉 ein metrischer Raum. Eine Folge( fn)n∈N, fn : E→ Y, heißtpunktweise konvergentgegen die Funktionf : E→ Y, wennfur jedes festex ∈ E gilt lim n→∞ fn(x) = f (x).

Entsprechend definiert man die punktweise Konvergenz von Netzen von Funktio-nen.

Es entsteht die Frage, ob sich Eigenschaften wie etwa die fundamentale Eigenschaftder Stetigkeit der Funktionenfn auf die Grenzfunktionf ubertragen. Die folgendenBeispiele illustrieren, dass in dieser Angelegenheit etwas schiefgehen kann.

6.6.2 Beispiel.

Betrachte die Funktionengn : [0, 1] → R, definiert durchgn(x) := xn, n ∈ N.Bekannterweise gilt

limn→∞

gn(x) =

{0 , falls x ∈ [0, 1)1 , falls x = 1

Jede der Funktionengn ist eine stetige Funktionen auf [0, 1], nicht jedoch dieGrenzfunktion.

Betrachte die Funktionenfn : R → R, definiert durchfn(x) := x2

(1+x2)n . Dann istfur jedesx , 0

∞∑

n=0

x2

(1+ x2)n

eine konvergente geometrische Reihe. Ihre Summe ist 1+ x2, x , 0.

Fur x = 0 sind alle Summanden= 0, also auch ihre Summe. Man erhalt∞∑

n=0

fn(x) =

{1+ x2 , falls x , 0

0 , falls x = 0

Page 153: ANA1.pdf

6.6. GLEICHMASSIGE KONVERGENZ 147

Alle Funktionenfn, und damit auch alle Partialsummen obiger Reihe sind stetigeFunktionen vonx ∈ R, nicht jedoch die Grenzfunktion.

Die punktweise Konvergenz von Funktionen ist also nicht stark genug um etwa dieEigenschaft der Stetigkeit zu erhalten.

6.6.3 Definition. Sei∅ , E eine Menge und〈Y, dY〉 ein metrischer Raum. Wir bezeich-nen mitB(E,Y) die Menge allerbeschrankten Funktionen f: E→ Y, d.h.

B(E,Y) :={f : E→ Y : ∃R> 0, y ∈ Y : ∀x ∈ E⇒ dY( f (x), y) ≤ R

}.

Man definiert nun die Abbildung

d∞ :

{B(E,Y) × B(E,Y) → R

( f , g) 7→ sup{dY( f (x), g(x)) : x ∈ E}

und spricht von derSupremumsmetrik6.

d∞( f , g) ist in der Tat eine reelle Zahl, da es wegenf , g ∈ B(E,Y) reelleR1,R2 > 0undy1, y2 ∈ Y gibt, sodassdY( f (x), y1) ≤ R1 unddY(g(x), y2) ≤ R2 und somit

dY( f (x), g(x)) ≤ dY( f (x), y1) + dY(y1, y2) + dY(y2, g(x)) ≤ R1 + dY(y1, y2) + R2

fur alle t ∈ E gilt. Also ist die nichtleere Teilmenge{dY( f (x), g(x)) : x ∈ E} vonR nachoben beschrankt.

d∞( f , g)

E

fg

| f − g|

Fur reellwertige Funktionenf , g : E→ R = Yist dY(x, y) = |x− y|und daherd∞( f , g) = supx∈E | f (x) − g(x)|.

6.6.4 Lemma. Die Supremumsmetrik d∞ ist eine Metrik auf der MengeB(E,Y).

Beweis. Fur f , g ∈ B(E,Y) ist {dY( f (x), g(x)) : x ∈ E} eine nichtleere Teilmenge von[0,+∞), wodurchd∞( f , g) ≥ 0. Dabei gilt offenbard∞( f , g) = sup{dY( f (x), g(x)) : x ∈E} = 0 genau dann, wenn{dY( f (x), g(x)) : x ∈ E} = {0} – also genau dann, wenndY( f (x), g(x)) = 0 fur jedesx ∈ E. Letzteres ist aber zuf (x) = g(x), x ∈ E – also f = gaquivalent.

6Identifiziert manRp mit der Menge aller Funktionen von{1, . . . , p} nachR, so stimmt aufRp die Supre-mumsmetrik hier mit mit der aus Beispiel 3.1.5, (ii ), uberein.

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148 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

Aus dY( f (x), g(x)) = dY(g(x), f (x)) folgt d∞( f , g) = d∞(g, f ). Ist h eine weitereFunktion, so gilt fur festesx ∈ E

dY( f (x), g(x)) ≤ dY( f (x), h(x)) + dY(h(x), g(x)) ,

und daher auch

dY( f (x), g(x)) ≤ supt∈E

dY( f (t), h(t)) + supt∈E

dY(h(t), g(t)) = d∞( f , h) + d∞(h, g) .

Da diese Beziehung fur jedesx ∈ E gilt, folgt auchd∞( f , g) = supx∈E dY( f (x), g(x)) ≤d∞( f , h) + d∞(h, g).

6.6.5 Definition. Eine Folge (fn)n∈N von Funktionen ausB(E,Y) heißtgleichmaßiggegenf , wenn limn→∞ fn = f bezuglichd∞, d.h. wenn

∀ǫ > 0 ∃N ∈ N : d∞( fn, f ) ≤ ǫ, n ≥ N, (6.5)

oder aquivalent dazu∀ǫ > 0 ∃N ∈ N : d∞( fn, f ) < ǫ, n ≥ N.Entsprechend definiert man die gleichmaßige Konvergenz von Netzen von Funk-

tionen.

E

fn, n ≥ N

f

f + ǫ

f − ǫ

Abbildung 6.4: Veranschaulichung der gleichmaßigen Konvergenz

6.6.6 Bemerkung.Ist f ∈ B(E,Y) und g irgendeine Funktion vonE → Y mit derEigenschaft, dass supt∈E dY( f (t), g(t)) < ∞, so folgt aus der Dreiecksungleichung, dassauchg eine beschrankte Funktion ist.

Ist daher (fn)n∈N eine Folge ausB(E,Y), und gilt supt∈E dY( fn(t), g(t))→ 0, so folgtg ∈ B(E,Y) und fn → g gleichmaßig.

Der Unterschied zwischen punktweiser und gleichmaßiger Konvergenz liegt darinbegrundet, dass man einN finden muss, das fur allex ∈ E funktioniert.

In der Tat giltd∞( fn, f ) ≤ ǫ ⇔ ∀x ∈ E ⇒ dY( fn(x), f (x)) ≤ ǫ, und somit ist (6.5)aquivalent zu

∀ǫ > 0∃N ∈ N∀x ∈ E : dY( fn(x), f (x)) ≤ ǫ, n ≥ N ,

Page 155: ANA1.pdf

6.6. GLEICHMASSIGE KONVERGENZ 149

wogegen punktweise Konvergenz bedeutet

∀x ∈ E∀ǫ > 0∃N ∈ N : dY( fn(x), f (x)) ≤ ǫ, n ≥ N .

Insbesondere sehen wir, dass jede gleichmaßig konvergente Folge auch punktweisekonvergiert und zwar zur gleichen Grenzfunktion.

6.6.7 Beispiel.Betrachte nochmals die reellwertigen Funktionengn(x) := xn, n ∈ Nnun definiert furx ∈ [0, 1), vgl. Beispiel 6.6.2. Wir wissen schon, dassgn punkt-weise gegen die Nullfunktion auf [0, 1) konvergiert. Dabei gilt wegenxn < 1 furx ∈ [0, 1), n ∈ N, und wegen limx→1− xn = 1, dass

d∞(gn, 0) = supx∈[0,1)

dR(gn(x), 0) = supx∈[0,1)

|xn| = 1.

Also d∞(gn, 0) 6→ 0 fur n → ∞, d.h. (gn)n∈N konvergiert nicht gleichmaßig gegen dieNullfunktion.

x

gn(x)

0 12

η 1

12

1 n = 1

n = 3

n = 7

n = 13

Abbildung 6.5: Graph der Funktionengn fur ausgewahlten ∈ N

6.6.8 Beispiel.Sei η ∈ (0, 1) fest, und betrachtet die Funktionenfolgegn(x) = xn,n ∈ N, auf dem Intervall [0, η]. Klarerweise konvergiert auch diese eingeschrankteFunktionenfolge punktweise gegen die Nullfunktion auf [0, η]. Nun folgt aber wegen

d∞(gn, 0) = supx∈[0,η]

dR(gn(x), 0) = supx∈[0,η]

|xn| = ηn,

dassd∞(gn, 0) → 0 fur n → ∞. Also konvergiertgn sogar gleichmaßig gegen dieNullfunktion.

6.6.9 Beispiel.Man untersuche die Funktionenfolgefn(x) := nxe−12nx2

, x ∈ [0,∞),n ∈ N, auf gleichmaßige Konvergenz. Dabei greifen wir der Definition der Funktionx 7→ ex fur x ∈ R weiter hinten vor. Wir verwenden auch die Tatsache, dassye−y → 0fur y → +∞. Weiters verwenden wir die Differentialrechnung zur Bestimmungvon Extrema. Da dieses Beispiel nur zum besseren Verstandnis des Begriffes dergleichmaßigen Konvergenz dient und spater nicht verwendet wird, sind diese Vorgriffegerechtfertigt.

Page 156: ANA1.pdf

150 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

Zunachst sei bemerkt, dass fur allen ∈ N die Funktionfn(x) stetig ist undfn(x) ≥ 0fur x ∈ [0,∞). Eine getrennte Untersuchung der Fallex , 0 undx = 0 liefert punktwei-se Konvergenzfn(x)→ f (x) ≡ 0 fur n→ ∞. Um (fn)n∈N auf gleichmaßige Konvergenzgegen die Funktionf (x) ≡ 0 zu untersuchen betrachtet man die Supremumsmetrik

d∞( fn, 0) = supx∈[0,∞)

dR( fn(x), 0) = supx∈[0,∞)

| fn(x)|.

Da fur jedesn ∈ N die Funktionfn(x) nicht negativ ist,fn(0) = 0 und limx→∞ fn(x) = 0gilt, folgt, dass fn(x) sogar ein Maximum in [0,∞) annimmt. Um das Maximum zuberechnen, ist Satz 7.2.2 hilfreich. Fur jedesn ∈ N ist fn(x) beliebig oft differenzierbar,und setzt man die erste Ableitung gleich Null, so erhalt man

f ′n(x) = ne−12 nx2 − n2x2e−

12 nx2= e−

12nx2

(n− n2x2) = 0 ⇔ x =±1√

n.

Also ist x = 1√n

die einzige Nullstelle der ersten Ableitung, die in [0,∞) enthalten ist.Wegen limx→∞ fn(x) = 0 folgt daher, dass das Maximum der Funktionfn(x) an derStellex = 1√

nliegt. Somit ergibt sich fur die Supremumsmetrik

d∞( fn, 0) = supx∈[0,∞)

| fn(x)| = maxx∈[0,∞)

| fn(x)| = fn( 1√

n

)=

n√

ne−

12 .

Daraus folgtd∞( fn, 0) 6→ 0 fur n → ∞, d.h. (fn)n∈N konvergiert nicht gleichmaßiggegen die Nullfunktion.

x

fn(x)

0 1 2 312

32

52

72

1

2

3

4

5

6

7 n = 1

n = 5

n = 20

n = 120

Abbildung 6.6: Graph der Funktionenfn fur ausgewahlten ∈ N

6.6.10 Beispiel.Seiη > 0 und betrachtet man die Funktionenfolgefn(x) := nxe−12nx2

,n ∈ N, auf dem Intervall [η,∞). Aus dem vorigen Beispiel wissen wir bereits, dass dieFunktion fn(x) fur x > 1√

nmonoton fallend ist. Wegen

∀δ > 0 ∃n0 ∈ N : δ >1√

n∀n ≥ n0

Page 157: ANA1.pdf

6.6. GLEICHMASSIGE KONVERGENZ 151

gibt es einn0 ∈ N, sodass1√n< [η,∞) fur alle n ≥ n0. Daher ergibt sich furn ≥ n0 in

diesem Fall fur die Supremumsmetrik

d∞( fn, 0) = supx∈[η,∞)

| fn(x)| = maxx∈[η,∞)

| fn(x)| = fn(η) = nηe−12nη2

.

Also folgt d∞( fn, 0) → 0 fur n → ∞, d.h. (fn)n∈N konvergiert gleichmaßig gegen dieNullfunktion.

Gleichmaßige Konvergenz sichert nun – wie wir auch spaterimmer wieder feststel-len werden – , dass sich Grenzubergange gutmutig verhalten.

6.6.11 Lemma.Sei〈X, dX〉 ein metrischer Raum und〈Y, dY〉 ein vollstandig metrischerRaum,∅ , E ⊆ X, und seien f, fn ∈ B(E,Y), n ∈ N. Weiters sei(xk)k∈N eine Folge inE.

Ist die Folge( fn)n∈N auf E gleichmaßig konvergent gegen f , und existiert fur jedesn ∈ N der Grenzwert

limk→∞

fn(xk) = An ,

dann konvergieren die Folgen(An)n∈N und ( f (xk))k∈N in Y und zwar gegen denselbenGrenzwert. Also gilt

limk→∞

limn→∞

fn(xk) = limn→∞

limk→∞

fn(xk).

Beweis. Seiǫ > 0 gegeben. Da (fn)n∈N → f bezuglichd∞, ist (fn)n∈N in B(E,Y) eineCauchy-Folge. Es existiert also einN ∈ N, sodass furn,m≥ N und allet ∈ E gilt

dY( fn(t), fm(t)) ≤ ǫ.

Halt mann und m fest und lasst mant die Folge (xk)k∈N durchlaufen, so folgt mitLemma 3.2.10 und Lemma 3.3.1 die BeziehungdY(An,Am) ≤ ǫ. Damit ist (An)n∈N eineCauchy-Folge inY und daher konvergent, limn→∞ An =: A. Nun gilt

dY( f (xk),A) ≤ dY( f (xk), fn(xk)) + dY( fn(xk),An) + dY(An,A).

Wahlen so groß, dass fur allet ∈ E und insbesondere fur allet = xk

dY( f (t), fn(t)) < ǫ unddY(An,A) < ǫ.

Fur diesesn existiert eink0 ∈ N, sodass ausk ≥ k0 die UngleichungdY( fn(xk),An) < ǫfolgt. Insgesamt erhalten wir

dY( f (xk),A) < 3ǫ, k ≥ k0.

6.6.12 Bemerkung.Wir werden spater eine Verallgemeinerung dieses Lemmas f¨ur Net-ze zeigen. Der Beweis davon wird im Wesentlich derselbe sein.

6.6.13 Korollar. Sei〈X, dX〉 ein metrischer Raum und〈Y, dY〉 ein vollstandig metrischerRaum,∅ , E ⊆ X, und seien f, fn ∈ B(E,Y), n ∈ N, sodass( fn)n∈N auf E gleichmaßiggegen f konvergiert.

Sind die Funktionen fn alle stetig bei einem x∈ E, so ist es auch f . Sind alle fn aufganz E stetig, so ist es auch f .

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152 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

Beweis.Seix ∈ E und sei (xk)k∈N eine Folge mitxkk→∞−→ x. Aus Lemma 6.6.11 folgt

limk→∞

f (xk) = limk→∞

limn→∞

fn(xk) = limn→∞

limk→∞

fn(xk) = limn→∞

fn(x) = f (x).

Nach Proposition 6.1.4 istf bei x stetig.❑

6.6.14 Bemerkung.Nach Lemma 5.1.13 erhalt man, dass die MengeCb(E,Y) allerbeschrankten und stetigen Funktionen vonE → Y, eine abgeschlossene TeilmengevonB(E,Y) versehen mit der Metrikd∞ ist. Dabei istE Teilmenge eines metrischenRaumes.

6.6.15 Satz.Ist ∅ , E eine Menge und〈Y, dY〉 ein vollstandig metrischer Raum, so ist〈B(E,Y), d∞〉 ebenfalls ein vollstandig metrischer Raum.

Somit konvergiert eine Folge( fn)n∈N von Funktionen ausB(E,Y) genau danngleichmaßig, wenn es zu jedemǫ > 0 ein N ∈ N gibt, sodass fur alle n,m ≥ N undbeliebiges x∈ E gilt

dY( fn(x), fm(x)) ≤ ǫ. (6.6)

Beweis. Klarerweise ist eine konvergente Folge (fn)n∈N von Funktionen ausB(E,Y)eine Cauchy-Folge. Diese Tatsache gilt ja in allen metrischen Raumen.

Sei nun umgekehrt die Cauchy-Bedingung erfullt. Man beachte, dass (6.6) fur allex ∈ E zud∞( fn, fm) ≤ ǫ aquivalent ist.

Es folgt, dass insbesondere fur jedes einzelnex die Folge (fn(x))n∈N eine Cauchy-Folge inY und daher konvergent ist. Also existiert der Grenzwert limn→∞ fn(x) punkt-weise aufE. Wir setzen

f (x) := limn→∞

fn(x).

Wir mussen nun noch zeigen, dassf beschrankt ist und dass die Konvergenz sogargleichmaßig stattfindet.

Seiǫ > 0 gegeben und wahleN ∈ N so, dassdY( fn(x), fm(x)) ≤ ǫ fur alle n,m≥ Nund allex ∈ E. Halt manx fest und lasstm→ ∞ streben, so folgt furn ≥ N

dY( fn(x), f (x)) ≤ ǫ.

Da x beliebig, war folgtd∞( fn, f ) ≤ ǫ, n ≥ N, d.h. fn → f gleichmaßig und mitBemerkung 6.6.6 istf beschrankt.

6.7 Reell- und komplexwertige Folgen und Reihen

6.7.1 Definition. Ist Y = R oderY = C und∅ , E eine Menge, dann setzt man furf : E→ Y

‖ f ‖∞ := supx∈E| f (x)| (∈ [0,+∞]),

und spricht von derSupremumsnorm.

Unmittelbar uberpruft man, dass furf , g : E→ Y

� ‖ f ‖∞ < +∞ ⇔ f ∈ B(E,R) bzw. f ∈ B(E,C)

Page 159: ANA1.pdf

6.7. REELL- UND KOMPLEXWERTIGE FOLGEN UND REIHEN 153

� ‖ f ‖∞ ≥ 0 und‖ f ‖∞ = 0⇔ f = 0.

Fur f , g ∈ B(E,R) bzw. f , g ∈ B(E,C) gilt zudem

� d∞( f , g) = ‖ f − g‖∞ und‖ f ‖∞ = d∞( f , 0), wobei 0 hier die konstante Nullfunk-tion ist.

� ‖λ · f ‖∞ = |λ| · ‖ f ‖∞ fur λ ∈ R bzw.λ ∈ C,

� ‖ f + g‖∞ ≤ ‖ f ‖∞ + ‖g‖∞,

� ‖ f · g‖∞ ≤ ‖ f ‖∞ · ‖g‖∞.

6.7.2 Korollar. Sind( fn)n∈N, (gn)n∈N Folgen von Funktionen ausB(E,R) bzw.B(E,C),die gleichmaßig gegen f bzw. g konvergieren, so gilt

limn→∞

fn + gn = f + g, limn→∞

fn · gn = f · g,

und zwar gleichmaßig. Insbesondere giltlimn→∞ λ · fn = λ · f fur alle λ ∈ R bzw.λ ∈ C.

Beweis.Wir beweisen exemplarisch nur die zweite Aussage. Es gilt

d∞( fngn, f g) = ‖ fngn − f g‖∞ ≤ ‖gn‖∞ · ‖ fn − f ‖∞ + ‖ f ‖∞ · ‖gn − g‖∞.

Als konvergente Folge ist (gn)n∈N beschrankt, d.h.‖gn‖∞ = d∞(gn, 0) ≤ C, n ∈ N.Somit konvergiertd∞( fngn, f g) gegen Null.

6.7.3 Definition. Furn ∈ N sei fn : E→ R (C).

� Man sagt, die Reihe∑∞

n=1 fn konvergiert punktweise, wenn fur jedesx ∈ E dieReihe

∑∞n=1 fn(x) in R (C) konvergiert.

� Ist fn ∈ B(E,R) (∈ B(E,C)), n ∈ N, so heißt∑∞

n=1 fn gleichmaßig konvergent,wenn die Folge

(∑Nn=1 fn(.)

)N∈N von Partialsummen gleichmaßig konvergiert.

� Die Reihe∑∞

n=1 fn konvergiert absolut als Funktionenreihe, wenn die Reihe∑∞n=1 ‖ fn‖∞ konvergiert.

Klarerweise impliziert die absolute Konvergenz von∑∞

n=1 fn als Funktionenreihedie absolute Konvergenz von

∑∞n=1 fn(x) fur jedesx ∈ E. Wir haben aber auch folgendes

Ergebnis.

6.7.4 Korollar (Weierstraß Kriterium). Sei( fn)n∈N eine Folge von beschrankten reell-bzw. komplexwertigen Funktionen auf einer Menge E, ∅. Ist

∑∞n=1 fn absolut konver-

gent als Funktionenreihe, so ist diese Funktionenreihe auch gleichmaßig konvergent.∑∞n=1 fn ist sicher dann absolut konvergent, und somit auch gleichm¨aßig konvergent,

wenn es Mn ∈ R, Mn ≥ 0, n ∈ N gibt, fur die∑∞

n=1 Mn konvergiert, und sodass

‖ fn‖∞ ≤ Mn, n ∈ N.

Page 160: ANA1.pdf

154 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

Beweis.Nach dem Majorantenkriterium in Lemma 3.8.8 folgt aus der Konvergenz von∑∞n=1 Mn die von

∑∞n=1 ‖ fn‖∞.

Ist nun letztere Reihe konvergent, so ist die Folge(∑N

n=1 ‖ fn‖∞)N∈N

von Partialsum-men eine Cauchy-Folge inR. Es gibt somit zuǫ > 0 einN ∈ N, sodass furk,m ≥ Ngilt

∑mn=k+1 ‖ fn‖∞ ≤ ǫ. Fur solchem, k folgt auch

∥∥∥∥∥∥∥

m∑

n=k+1

fn

∥∥∥∥∥∥∥∞

≤m∑

n=k+1

‖ fn‖∞ ≤ ǫ, .

Also ist(∑N

n=1 fn)N∈N

eine Cauchy-Folge inB(E,R) (∈ B(E,C)), und nach Satz 6.6.15konvergent. Somit ist

∑∞n=1 fn gleichmaßig konvergent.

Die meisten Konvergenzkriterien fur Reihen kann man so anpassen, dass sie auchfur Reihen von Funktionen anwendbar sind. Wir wollen das hier aber nicht weiterausfuhren.

Ein bedeutendes Beispiel fur Reihen von Funktionen sind die sogenannten Potenz-reihen.

6.7.5 Definition. Sindan ∈ C oder auch nuran ∈ R fur n ∈ N ∪ {0}, und istz ∈ C, sonennt man die komplexwertige Reihe

∞∑

n=0

anzn

einePotenzreihen7. Als Konvergenzradiuswollen wir die ZahlR ∈ [0,+∞] mit

R= sup

|z| : z ∈ C,∞∑

n=0

anzn ist konvergent

(6.7)

bezeichnen8.

6.7.6 Beispiel.Wir sind solchen Reihen schon begegnet, z.B. sind die geometrischeReihe

∑∞n=0 zn und die Exponentialreihe

∑∞n=0

zn

n! Potenzreihen.Erstere konvergiert genau fur|z| < 1 und hat somit Konvergenzradius 1. Die Expo-

nentialreihe konvergiert fur allez ∈ C und hat somit Konvergenzradius+∞.

6.7.7 Satz.Sei∑∞

n=0 anzn eine Potenzreihe und R ihr Konvergenzradius.

(i) Fur jedes z∈ Cmit |z| > R ist∑∞

n=0 anzn divergent.

(ii ) Fur jedes z∈ C mit |z| < R ist∑∞

n=0 anzn sogar absolut konvergent. Insbesondereist

R= sup

|z| : z ∈ C,∞∑

n=0

anzn ist absolut konvergent

. (6.8)

7Dabei ist es zunachst unerheblich, ob sie jetzt konvergiert oder nicht.8Da fur z= 0 die Reihe immer absolut konvergiert, ist diese Menge nichtleer.

Page 161: ANA1.pdf

6.7. REELL- UND KOMPLEXWERTIGE FOLGEN UND REIHEN 155

(iii ) Fur jedes r∈ [0,R) ist∑∞

n=0 anzn auf dem abgeschlossenen Kreis Kr (0) = {z ∈ C :|z| ≤ r} absolut konvergent als Funktionenreihe. Die Funktion

z 7→∞∑

n=0

anzn, z ∈ Kr (0),

ist dabei eine stetige und beschrankte Funktion auf Kr (0).

Re

Im

C

r

R−R

Abbildung 6.7: Konvergenzradius

(iv) Auf UR(0) = {z ∈ C : |z| < R} ist z 7→ ∑∞n=0 anzn eine stetige Funktion9.

(v) Der Konvergenzradius lasst sich durch die Koeffizienten an unmittelbar bestim-men durch10

R=1

lim supn→∞n√|an|

.

Gilt dabei an , 0 fur alle hinreichend großen n, so gilt auch

1lim supn→∞ | an+1

an| ≤ R≤ 1

lim inf n→∞ | an+1an| . (6.9)

Beweis.

(i) Folgt sofort aus (6.7).

(ii ) Folgt aus dem nachsten Punkt.

(iii ) Nach (6.7) gibt es ein komplexesz0 mit r < |z0| ≤ R, sodass∑∞

n=0 anzn0 konvergiert.

Somit ist die Summandenfolge eine Nullfolge; insbesondere|anzn0| ≤ C, n ∈ N

fur einC > 0. Fur|z| ≤ r < |z0| rechnet man

|anzn| = |anzn0| ·

∣∣∣∣∣zz0

∣∣∣∣∣n

≤ C ·∣∣∣∣∣rz0

∣∣∣∣∣n

.

9Im Allgemeinen ist sie aber nicht mehr beschrankt10Ist die Folge (n

√|an|)n∈N nicht nach oben beschrankt, so sei 1

lim supn→∞n√|an|= 0.

Page 162: ANA1.pdf

156 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

Wegen∣∣∣∣ rz0

∣∣∣∣ < 1 konvergiert∑∞

n=0 C∣∣∣∣ rz0

∣∣∣∣n.

Die Partialsummen∑N

n=0 anzn, N ∈ N, sind Polynome und damit stetig. DaKr (0)kompakt ist (vgl. Beispiel 5.2.7), sind diese Partialsummen aufKr (0) beschrankt.

Aus dem Weierstraßschen Kriterium (Korollar 6.7.4) angewandt aufE = Kr (0)folgt die absolute Konvergenz als Funktionenreihe und somit die gleichmaßigeKonvergenz der entsprechenden Funktionenfolge von Partialsummen aufKr (0)gegen eine beschrankte Funktion. Nach Korollar 6.6.13 istdie Grenzfunktion so-gar stetig aufE = Kr (0).

(iv) Betrachtet manz 7→ ∑∞n=0 anzn auf UR(0), so ist auch dies eine stetige Funktion.

In der Tat ist die Stetigkeit eine lokale Eigenschaft (sieheFakta 6.1.3), und mankann zu jedem komplexenzmit |z| < Reinδ > 0 und einr ∈ [0,R) finden, sodassUδ(z) ⊆ Kr (0).

(v) Fur jedesz ∈ C mit |z| < 1lim supn→∞

n√|an|gilt lim supn→∞

n√|anzn| = |z| ·

lim supn→∞n√|an| < 1. Nach dem Wurzelkriterium, Satz 3.9.1, ist

∑∞n=0 anzn kon-

vergent. Gemaß (6.7) folgt

lim supn→∞

n√|an| ≤ R.

Ware 1lim supn→∞

n√|an|< R, so wahlez ∈ C mit 1

lim supn→∞n√|an|

< |z| < R. Wegen

(ii ) konvergiert die Potenzreihe. Andererseits sieht man ahnlich wie oben, dasslim supn→∞

n√|anzn| > 1, und mit dem Wurzelkriterium, Satz 3.9.1, folgt die Di-

vergenz der Potenzreihe. Also muss auch

1

lim supn→∞n√|an|≥ R.

Analog beweist man (6.9) mit Hilfe des Quotientenkriteriums.

6.7.8 Beispiel.Das Konvergenzverhalten einer Potenzreihe ist durch den obigen Satzrelativ gut abgeklart. Einzig uber die Punkte mit|z| = R, woRder Konvergenzradius ist,hat man keine Aussage. Es konnen hier tatsachlich auch alle Falle eintreten. Betrachtedazu die Potenzreihen

∞∑

n=0

zn,

∞∑

n=0

zn

nund

∞∑

n=0

zn

n2.

Alle haben Konvergenzradius1. Jedoch ist∑∞

n=0 zn fur |z| = 1 divergent,∑∞

n=0zn

n2 absolutkonvergent, und

∑∞n=0

zn

n (nicht absolut) konvergent außer beiz= 1, wo sie divergiert.

6.7.9 Korollar. Sei f(z) :=∑∞

n=0 anzn eine Potenzreihe und ihr Konvergenzradius seiR> 0.

� Verschwinden nicht alle an, so gibt es einδ ∈ (0,R), sodass f(z) , 0 fur z ∈Uδ(0) \ {0}.

Page 163: ANA1.pdf

6.7. REELL- UND KOMPLEXWERTIGE FOLGEN UND REIHEN 157

� Sei∑∞

n=0 bnzn eine weitere Potenzreihen mit KonvergenzradienR > 0. Gibtes eine Menge E⊆ Umin(R,R)(0), die Null als Haufungspunkt hat, und sodass∑∞

n=0 anzn =∑∞

n=0 bnzn fur alle z ∈ E, so folgt an = bn, n ∈ N ∪ {0} und damitR= R.

Beweis. Sei n0 ∈ N ∪ {0} der erste Index, sodassan0 , 0. Wegen den Rechenregelnfur Reihen konvergiert

∑∞n=0 anzn genau dann, wenng(z) =

∑∞n=0 an+n0z

n es tut, wobeiim Fall der Konvergenzzn0g(z) = f (z). Letztere ist also auch eine Potenzreihe mitKonvergenzradiusR.

Wegeng(0) = an0 , 0 und wegen der Stetigkeit vong auf UR(0) gibt es einδ ∈(0,R), sodass|g(z) − g(0)| < |an0| und somitg(z) , 0 fur z ∈ Uδ(0). Also ist auchf (z) , 0 fur z ∈ Uδ(0) \ {0}.

Um die zweite Aussage zu zeigen betrachte man die Potenzreiheh(z) =

∑∞n=0(an − bn)zn, die zumindest fur|z| < min(R, R) konvergiert, und damit einen

Konvergenzradius≥ min(R, R) hat. Nach Voraussetzung und den Rechenregeln furReihen folgth(z) = 0, z ∈ E. Da 0 ein Haufungspunkt vonE ist, widerspricht das aberder ersten Aussage, außeran − bn = 0, n ∈ N.

6.7.10 Bemerkung.Ist |z| < R, so folgt aus Korollar 3.8.3

∞∑

n=0

an(z)n =

∞∑

n=0

anzn. (6.10)

Insbesondere folgt ausan ∈ R, n ∈ N, undz= x ∈ R, dass auch∑∞

n=0 anxn ∈ R.Ist umgekehrt

∑∞n=0 anxn ∈ R fur alle x ∈ R, |x| < R, so folgt aus (6.10), dass die

Potenzreihen (beide mit KonvergenzradiusR)

∞∑

n=0

anzn,

∞∑

n=0

anzn

fur z ∈ R ∩ UR(0) ubereinstimmen. Aus Korollar 6.7.9 folgtan = an, alsoan ∈ R.

6.7.11 Bemerkung.Ublicherweise werden auch Reihen der Form

∞∑

n=0

an(z− z0)n (6.11)

fur ein festesz0 als Potenzreihen bezeichnet. Die hergeleiteten Aussagen fur Potenz-reihen stimmen sinngemaß offensichtlich auch fur solche Reihen. Dabei ist z.B. derBereich der KonvergenzUR(z0) mit entsprechend definierten Konvergenzradius.

Funktionen f : D → C mit offenemD ⊆ C heißenanalytisch in einem Punktz0 ∈ D, falls es eine offene KugelUr (z0) ⊆ D mit r > 0 und eine Potenzreihe derForm (6.11) gibt, sodassr kleiner oder gleich dem Konvergenzradius der Reihe ist undsodassf (z) fur alle z ∈ Ur (z0) mit dem Grenzwert der Reihe (6.11) ubereinstimmt,falso lokal umz0 als Grenzwert einer Potenzreihe dargestellt werden kann.

Ist f um jedesz0 ∈ D analytisch, so heißtf analytisch.

Page 164: ANA1.pdf

158 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

6.8 Die Exponentialfunktion

Wir wollen jetzt einige der sogenannten elementaren Funktionen betrachten. Grundlagefur alle diese ist die Exponentialfunktion

exp(z) =∞∑

n=0

zn

n!, z ∈ C . (6.12)

Wir haben schon gesehen, dass diese Reihe fur allez ∈ C konvergiert. Sie ist also einePotenzreihe mit Konvergenzradius+∞. Insbesondere ist exp :C→ C stetig.

Weitere wichtige elementare Funktionen sind sin und cos.

6.8.1 Definition. Furz ∈ C seien

cosz=exp(iz) + exp(−iz)

2, sinz=

exp(iz) − exp(−iz)2i

,

die sogenanntentrigonometrischen Funktionen CosinusundSinus.

Als Zusammensetzung von stetigen Funktionen sind cos :C→ C und sin :C→ CaufC stetig (siehe Lemma 6.1.6 und Korollar 6.1.8).

6.8.2 Lemma. Fur alle z∈ C gilt

cosz=∞∑

k=0

(−1)kz2k

(2k)!, sinz=

∞∑

k=0

(−1)kz2k+1

(2k+ 1)!.

Also sindcosundsin Grenzfunktionen von Potenzreihe11 mit Konvergenzradius+∞.

Beweis.Fur geraden = 2k gilt in + (−i)n = 2i2k = 2(−1)k, und fur ungeraden = 2k+ 1gilt in + (−i)n = 0. Aus den Rechenregeln fur Reihen folgt somit

exp(iz) + exp(−iz)2

=

∞∑

n=0

in + (−i)n

2zn

n!=

∞∑

k=0

(−1)kz2k

(2k)!.

Analog leitet man die Potenzreihenentwicklung fur sin her.❑

6.8.3 Satz.Sei z,w ∈ C und x, y ∈ R. Dann gilt

(i) exp(z) , 0, exp(z + w) = exp(z) exp(w) und exp(−z) = 1exp(z) . Schließlich ist

(expz)n = exp(zn), n ∈ Z.

(ii ) exp(iz) = cosz+ i sinz. Allgemeiner gilt dieFormel von de Moivre:

(cosz+ i sinz)n = cos(nz) + i sin(nz), n ∈ Z.

(iii ) exp(z) = exp(z), cos(z) = cos(z), sin(z) = sin(z).Insbesondere sindexp|R, cos|R, sin|R Funktionen, dieR nachR abbilden.

(iv) cosy = Re exp(iy), siny = Im exp(iy) undexp(x + iy) = exp(x)(cosy + i siny),wobeiexp(x) ∈ R.

11Ganz genau genommen ist eine Reihe der Bauart∑∞

k=0 ckz2k keine Potenzreihe, da sie nicht von derForm

∑∞n=0 anzn ist. Setzt man abera2k = ck fur k ∈ N ∪ {0} undan = 0 fur ungeraden, so uberzeugt man

sich leicht davon, dass∑∞

k=0 ckz2k genau dann konvergiert, wenn∑∞

n=0 anzn es tut, wobei die Grenzwertedieser Reihen dann ubereinstimmen. Entsprechendes gilt fur Reihen der Bauart

∑∞k=0 ckz2k+1

Page 165: ANA1.pdf

6.8. DIE EXPONENTIALFUNKTION 159

Re

Im

−1 1

−i

i

i siny

cosy

exp(iy) =cosy+ i siny

0

exp(x)exp(x+ iy) =

exp(x)(cosy+ i siny)

exp(x) cosy

i exp(x) siny

Abbildung 6.8: Darstellung der Lage von exp(x+ iy)

(v) Die Funktionexp eingeschrankt auf die reelle Achse ist eine streng monotonwachsende bijektive Funktion vonR aufR+ mit exp(0)= 1. Insbesondere gilt

limx→+∞

exp(x) = +∞, limx→−∞

exp(x) = 0. (6.13)

(vi) | exp(z)| = exp(Rez). Insbesondere gilt| exp(z)| = 1⇔ Rez= 0 und(cosy)2 + (siny)2 = 1.

(vii) cos(−z) = cosz undsin(−z) = − sinz.

(viii ) Es gelten dieSummensatzefur Sinus und Cosinus

cos(z+ w) = coszcosw− sinzsinw, sin(z+ w) = sinzcosw+ coszsinw .

Beweis.

(i) exp(z + w) = exp(z) exp(w) haben wir in Beispiel 5.4.13 gesehen. Die beidennachsten Aussagen folgen aus exp(−z) · exp(z) = exp(0)= 1. Schließlich folgt(expz)n = exp(zn), n ∈ N, durch vollstandige Induktion, und furn ∈ Z wegenexp(−zn) = 1

exp(zn) .

(ii ) exp(iz) = cosz+ i sinz folgt leicht durch Nachrechnen, und daraus(cosz+ i sinz)n = (expiz)n = exp(inz) = cos(nz) + i sin(nz).

(iii ) Da die Koeffizienten in den Potenzreihenentwicklungen reell sind, folgt die Aus-sage sofort aus Bemerkung 6.7.10.

(iv) Folgt aus (i) und (ii ), da nach dem letzten Punkt exp(x), cosy, siny ∈ R.

(v) Fur x > 0 folgt aus der Tatsache, dass alle Koeffizienten in der Potenzreihe (6.12)von exp strikt positiv sind, immer exp(x) > 1+ x > 1. Klarerweise ist exp(0)= 1.Fur x < 0 folgt aus (i), dass 1

exp(x) = exp(−x) > 1 − x > 1 und somit exp(x) ∈(0, 1), exp(x) < 1

1−x .

Page 166: ANA1.pdf

160 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

Aus diesen Abschatzungen schließen wir sofort auf (6.13).Aus x < y ergibt sichwegen

exp(y) = exp(x+ (y− x)) = exp(x) · exp(y− x) > exp(x)

die Tatsache, dass exp(x) streng monoton wachsende ist.

Nun ist exp(x) : R → R+ stetig. Somit muss wegen Korollar 6.5.3 exp(R) einoffenes Intervall sein, das wegen (6.13) aber nur (0,+∞) = R+ sein kann.

(vi) Aus

| exp(z)|2 = exp(z) exp(z) = exp(z) exp(z) = exp(z+ z) = exp(2 Rez) = exp(Rez)2

und aus der Tatsache, dass| exp(z)| und exp(Rez) positive reelle Zahlen sind,folgt | exp(z)| = exp(Rez). Weiters gilt (cosy)2 + (siny)2 = | cosy + i siny|2 =| exp(iy)|2 = exp(0)= 1.

(vii) Folgt aus der jeweiligen Potenzreihenentwicklung, da nurgerade bzw. nur unge-rade Potenzen vorkommen.

(viii ) Man setze die Definition von sin und cos ein und rechne die Gleichheit nach.

x

y

−3 −2 −1 1 2 30

1

4

3

2

−1

y = exp(x)

Abbildung 6.9: Funktionsgraphen der reellen Exponentialfunktion

Wie wir unter anderem gerade gesehen haben, ist exp :R→ R+ eine Bijektion.

6.8.4 Definition. Mit ln : R+ → R wollen wir die Inverse von exp :R → R+ bezeich-nen und sprechen vomnaturlichen Logarithmusbzw. vomLogarithmus naturalis.

Aus Satz 6.8.3, Korollar 6.5.3 und durch elementares Nachrechnen folgt sofort

6.8.5 Korollar. Die Funktionln : R+ → R ist eine stetige und streng monoton wach-sende Bijektion. Es gilt

limx→0+

ln x = −∞, limx→+∞

ln x = +∞ ,

sowieln(xy) = ln x+ ln y, x, y > 0, ln(xn) = n ln x, x > 0, n ∈ Z .

Page 167: ANA1.pdf

6.8. DIE EXPONENTIALFUNKTION 161

x

y

−1 1 2 3 4 5 60

3

2

1

−1

−2

−3

y = ln(x)

Abbildung 6.10: Logarithmus naturalis

Beachte, dass wir den Logarithmus nur fur reelle Werte definiert haben. Dies istkein Zufall, will man den Logarithmus auch fur komplexe Werte definieren, trifft manauf Schwierigkeiten ganz essentieller Natur (vgl. Vorlesung zur Komplexen Analysis).

Wir konnen nun mit Hilfe der Exponentialfunktion die bisher nur fur rationalebdefinierte Ausdruckeab auch fur beliebigeb ∈ R definieren.

6.8.6 Korollar. Fur a ∈ R+ und b∈ Q gilt ab = exp(b ln a).Setzen wir ab durch exp(b ln a) auf ganz(a, b) ∈ R+ × R fort, so gilt (a, a1, a2 ∈R+, b, b1, b2 ∈ R)

ab1+b2 = ab1 · ab2, (a1a2)b = ab1 · ab

2 .

Beweis. Ist b = pq ∈ Q mit p ∈ Z, q ∈ N, so ist exp(b ln a) nach Satz 6.8.3 eine positive

reelle Zahl mit der Eigenschaft, dass

(exp(b ln a))q = exp(bqln a) = exp(p ln a) = exp(lnap) = ap. .

Also ist exp(b ln a) = q√

ap.Die Funktionalgleichungen folgen aus denen von exp und ln.

6.8.7 Bemerkung.

Als Zusammensetzung der stetigen Funktionen exp, ln und ·, ist (a, b) 7→ ab auf(a, b) ∈ R+ × R stetig (vgl. Beispiel 6.1.7).

Die Funktion exp kann nun selbst mit dieser Notation als allgemeine Potenzangeschrieben werden. Sei dazue := exp(1), dieEulersche Zahl. Dann gilt nachder Definition der allgemeinen Potenz

ex = exp(x ln e) = exp(x ln exp(1)︸ ︷︷ ︸

=1

)= exp(x) .

Page 168: ANA1.pdf

162 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

6.8.8 Bemerkung.Wir haben schon festgestellt, dass die Eulersche Exponentialfunkti-on eine ganz zentrale Rolle spielt. Daher wird auch die reelle Zahle ein interessantesObjekt sein. Dazu wollen wir hier bemerken, dass man die Eulersche Zahle, nebenihrer Definition alse := exp(1)=

∑∞n=0

1n! auch in vielfacher Weise anders charakteri-

sieren kann. Zum Beispiel kann man zeigen, dass

e= limn→∞

(1+

1n)n bzw.ez = lim

n→∞

(1+

zn)n,

gilt.Diese Formel gibt auch Anlass zu alternativen Definitionen der Funktion exp(x),

namlich alsex. Dafur muss man allerdings die allgemeine Potenz zuerst –ohne Ver-wendung von exp – definieren. Dies kann man so machen, dass manvon der Funktion

q√

ap : R+ × Q → R+ ausgeht, und diese mittels stetiger Fortsetzung zu einer FunktionR+ × R→ R+ macht.

Wie aus der Schule bekannt, ist einer der wichtigsten Naturkonstanten die Zahlπ. Mit Hilfe der Funktion cos kann man nun die Existenz dieser Zahl mit all ihrenwichtigen Eigenschaften herleiten.

6.8.9 Lemma.

Fur t ∈ [0, 2] und n∈ N gilt tn

n! ≥tn+2

(n+2)! .

Die Funktioncos :R→ R hat eine kleinste positive Nullstelle x0, die im Intervall(0, 2) liegt.

Fur x0 gilt sinx0 = 1.

Beweis.

Durch Umformen ist die zu beweisende Ungleichung aquivalent zu(n+ 2)(n+ 1) ≥ t2, und somit richtig.

Wir betrachten die Potenzreihenentwicklung von cos in Lemma 6.8.2 und stellensofort cos 0= 1 fest. Da man in Reihen Klammern setzen darf, folgt aus demletzten Punkt

cos 2= 1− 22

2+

24

4!−∞∑

l=1

(24l+2

(4l + 2)!− 24l+4

(4l + 4)!

)≤ 1− 22

2+

24

4!= −1

3.

Nach dem Zwischenwertsatz Korollar 6.2.6 hatt 7→ cost im Intervall (0, 2) si-cher eine Nullstellex.

Nach Proposition 6.1.12 ist die MengeN = {t ∈ R : cost = 0} = cos|−1R ({0}) und

daher auchN ∩ [0,+∞) abgeschlossen. In Beispiel 5.1.14 haben wir gesehen,dassN ∩ [0,+∞) ein Minimum hat, welches wegen cos 0= 1 sicher nicht 0 ist.Also gibt es eine kleinste positive Nullstellex0 von t 7→ cost.

Aus Satz 6.8.3 folgt wissen wir (cosx0)2+ (sinx0)2 = 1, und daher (sinx0)2 = 1.Nun ist aber wegen dem ersten Punkt

sinx0 =

∞∑

l=0

x4l+1

0

(4l + 1)!−

x4l+30

(4l + 3)!

≥ 0,

und somit sinx0 = 1.

Page 169: ANA1.pdf

6.8. DIE EXPONENTIALFUNKTION 163

6.8.10 Definition. Die Zahlπ sei jene positive reelle Zahl, sodassπ2 die kleinste posi-

tive Nullstelle von cos :R→ R ist.

x

y

− π2π2− 3π

23π2

−π π−2π 2π0−1

1

y = sin(x)y = cos(x)

Abbildung 6.11: Funktionsgraphen des reellen Sinus und Cosinus

6.8.11 Satz.

(i) exp(±i π2) = ±i, exp(±iπ) = −1, exp(±2iπ) = 1.

(ii ) cos(± π2) = 0, cos(±π) = −1, cos(±2π) = 1,sin(± π2) = ±1, sin(±π) = 0, sin(±2π) = 0.

(iii ) exp(z+ 2kπi) = exp(z), sin(z+ 2kπ) = sin(z), cos(z+ 2kπ) = cos(z), z∈ C, k ∈ Z. .

(iv) exp(z) = 1 ⇐⇒ ∃k ∈ Z : z= 2kπi (⇔ z ∈ 2πiZ).

(v) cosz= 0⇔ ∃k ∈ Z : z= π2 + πk, undsinz= 0⇔ ∃k ∈ Z : z= πk.

(vi) Es gilt exp(C) = C \ {0}, wobeiexp(z) = exp(ζ)⇔ z− ζ ∈ 2πiZ.

Beweis.

(i) Wegen Satz 6.8.3 und Lemma 6.8.9 gilt exp(i π2) = cosπ2 + i sin π2 = i. Der Rest

folgt aus Satz 6.8.3, (i).

(ii ) Folgt aus (i), indem man Real- und Imaginarteil betrachtet.

(iii ) exp(z+ 2kπi) = exp(z) · exp(2πi)k = exp(z). Daraus folgen durch Einsetzen vonDefinition 6.8.1 die restlichen Aussagen.

(iv) Sei exp(z) = 1 gegeben. Aus Satz 6.8.3 wissen wir, dass damit Rez= 0 und damitz= 0+ iy fur ein y ∈ R. Klarerweise isty = η + 2lπ fur ein eindeutigesl ∈ Z undη ∈ [0, 2π)12. Aus (iii ) folgt exp(iη) = exp(iy) = 1.

Angenommenη , 0. Schreibe

exp(iη

4) = cos

η

4+ i sin

η

4=: u+ iv mit u, v ∈ R .

12Fur l nehme man das Maximum von{k ∈ Z : 2kπ ≤ y}.

Page 170: ANA1.pdf

164 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

Dabei ist wegen 0< η

4 <π2, und der Definition vonπ2, sicherlichu , 0. Im Fall

v = 0 ware exp(i η4) = u = ±1 und somit

exp(i(π

2− η

4)) =

exp(i π2)

exp(i η4)=

i±1= ±i .

Also istα = π2 −

η

4 eine Nullstelle reelle von cos mitα ∈ (0, π2) im Widerspruchzur Definition vonπ2. Also mussv , 0. Klarerweise gilt auch

1 = exp(iη) = (u+ iv)4 =[u4 − 6u2v2 + v4] + i

[4uv(u2 − v2)

].

Die rechte Zahl ist genau dann reell, wennu2 − v2 = 0. Wegenu2 + v2 = 1 ist dasaquivalent zuu2 = v2 = 1

2. Dann ist aberu4 − 6u2v2 + v4 = −1 , 1.

(v) Es ist cosz = 0 genau dann, wenn exp(iz) = − exp(−iz) = exp(iπ − iz), alsowenn exp(2iz− iπ) = 1. Dieses tritt genau dann ein, wenn2iz−iπ

2πi ∈ Z, d.h. wennz ∈ π

2 + πZ. Analog bestimmt man die Nullstellen des Sinus.

(vi) Seiw ∈ C, w , 0, gegeben. Da exp(x) eine Bijektion vonR aufR+ ist, gibt es einx ∈ Rmit exp(x) = |w|. Schreibe w

expx = u+ iv mit u, v ∈ R.

Klarerweise istu2 + v2 = 1. Insbesondere giltu ∈ [−1, 1]. Wegen cos 0= 1und cosπ = −1 gibt es nach dem Zwischenwertsatz (Korollar 6.2.6) gibt eseinet ∈ [0, π] mit u = cost.

Ausu2 + v2 = 1 = (cost)2 + (sint)2 folgt v2 = (sint)2. Ist v = sint, so setzey = t.Sonst mussv = − sint, und dann setze many = −t. In jedem Falle ist cosy = uund siny = v und somit

w = exp(x)(cosy+ i siny) = exp(x+ iy).

Ist exp(z) = exp(ζ), so folgt 1= exp(z− ζ), alsoz− ζ ∈ 2πiZ.

Jede komplexe Zahlw , 0 lasst sich gemaß Satz 6.8.11 als exp(z) schreiben. Wahltmanz so, dass 0≤ Im z < 2π, so ist nach Satz 6.8.11, (v), z eindeutig bestimmt. Alsoist exp :R × [0, 2π)→ C \ {0} bijektiv.

6.8.12 Definition. Ist zu einem gegebenenw ∈ C \ {0} das komplexez ∈ R ×[0, 2π) ⊆ (C) die eindeutige Losung von exp(z) = w, und setzt manr = exp(Rez)undt = Im z, so erhalt man

w = exp(Rez) exp(i Im z) = r(cost + i sint) .

Somit ist (r, t) 7→ r(cost + i sint) eine BijektionT : R+ × [0, 2π) → C \ {0}. Das Paar(r, t) nennt man dabei diePolarkoordinatenvonw.

Betrachtet man (r, t) 7→ r(cost + i sint) als Abbildung von [0,+∞) × [0, 2π), soerreicht man alle komplexenw – auchw = 0 – zu dem Preis, dass diese Abbildungdann nicht mehr injektiv ist.

6.8.13 Bemerkung.

Page 171: ANA1.pdf

6.8. DIE EXPONENTIALFUNKTION 165

−1 1

Im z

0

12πi−1+1

2πi 1+12πi

πi−1+πi 1+πi

32πi−1+3

2πi 1+32πi

2πi−1+2πi 1+2πi

Rez

14πi

exp(z) = w

Rew

Im w

1 = exp(0)= exp(2πi)

exp(πi) = −1

exp(12πi) = i

exp(32πi) = −i

1√2(1+ i) = exp(14πi)

e= exp(1)exp(1+ πi) = −e

exp(1+ 12πi) = ie

exp(1+ 32πi) = −ie

0

Abbildung 6.12: Exponentialfunktion als Abbildung vonC aufC \ {0}

Wegen Satz 6.8.11, (iii ), kann dabei auch das Intervall [0, 2π) durch irgendeinhalboffenes Intervall der Lange 2π, z.B. (−π, π], ersetzen.

Offensichtlich istT : R+ × [0, 2π) → C \ {0} als Zusammensetzung vonstetigen Funktionen selbst stetig. Die Umkehrung ist nichtstetig: Es giltlimn→∞ exp(−i 1

n) = 1, aber

limn→∞

T−1(exp(−i1n

)) = limn→∞

(1, 2π − 1n

) = (1, 2π) , (1, 0) = T−1(1).

Nimmt man statt [0, 2π) z.B. das Intervall [a, a + 2π), so treten entsprechendeProbleme beim Winkela auf.

Nimmt man den kritischen Winkel aus, so sind die Polarkoordinaten in beide Richtungen stetig.

6.8.14 Proposition. Die Abbildung

T : R+ × (a, a+ 2π)→ C \ {r exp(ia) : r ∈ [0,+∞)}

ist bijektiv, und T und T−1 sind stetig.

Beweis. Es bleibt die Stetigkeit vonT−1 : D := C \ {r exp(ia) : r ∈ [0,+∞)} → R+ × (a, a + 2π) zu zeigen. Dazu seilimn→∞ zn = z ∈ D fur eine Folge ausD. Somit konnen wir

zn = rn exp(iαn), n ∈ N, z= r exp(iα),

mit rn, r ∈ (0,+∞) undαn, α ∈ (a,a+ 2π) schreiben. Wegenrn = |zn|, r = |z| folgt rn → r.Ist (αn(k))k∈N eine Teilfolge, so hat diese wegen der Kompaktheit von [a, a + 2π] eine gegen einβ ∈ [a,a + 2π]

konvergente Teilfolge (αn(k(l)))l∈N. Somit ware wegen der Stetigkeit vonT

exp(iβ) = liml→∞

exp(iαn(k(l))) = liml→∞

zn(k(l))

rn(k(l))=

zr= exp(iα),

und nach Satz 6.8.11β − α ∈ 2πZ. Also folgt α = β und nach Lemma 5.2.11 giltαn → α.❑

6.8.15 Bemerkung.Wir sehen nun auch, dass es furn ∈ N immern vielen-te Wurzelneiner jeder Zahlw ∈ C \ {0} in C gibt:

Schreiben wirw in Polarkoordinatenw = r(cost + i sint), (r, t) ∈ R+ × [0, 2π), sogilt fur ein ζ ∈ C

exp(ζ)n = w⇔ exp(nζ) = r(cost + i sint) = exp(ln(r) + it) .

Page 172: ANA1.pdf

166 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

Wegen Satz 6.8.11 ist das genau dann der Fall, wennnζ = ln(r) + i(t + 2 jπ) fur einj ∈ Z. Da die Losungen der Gleichungzn = w nur inC \ {0} = exp(C) zu suchen sind,erhalten wir mit

η j = exp

(ln(r) + i(t + 2 jπ)

n

)=

n√

r ·(cos

t + 2 jπn+ i sin

t + 2 jπn

)∈ C, j ∈ Z ,

genau alle Losungen dieser Gleichung. Wieder wegen Satz 6.8.11 sind aber nurη0, . . . , ηn−1 paarweise verschieden, und furj < {0, . . . , n − 1} stimmt η j mit einemderη0, . . . , ηn−1 uberein.

6.9 Fundamentalsatz der Algebra

Als Anwendung der bisher entwickelten Stetigkeitstheoriewollen wir den Fundamen-talsatz der Algebra beweisen. Zunachst benotigen wir einLemma.

6.9.1 Lemma. Ist p(z) ∈ C[z] vom Grad n, dh. p(z) = anzn + . . . + a0, an , 0 einkomplexes Polynom, so hat|p(z)| ein Minimum, d.h. es gibt eine Zahl c∈ Cmit |p(c)| ≤|p(z)| fur alle z∈ C.

Beweis. Wir haben in Beispiel 5.5.11 gesehen, dass limz→∞ |anzn + . . . + a0| = +∞.Insbesondere gibt es eine ZahlR> 0, sodass|p(z)| ≥ |a0| = |p(0)|, z ∈ Cmit |z| > R.

Die KreisscheibeK := {z ∈ C : |z| ≤ R} ist kompakt, und|p(z)| ist, als Zusam-mensetzung der stetigen Funktionenp und |.|, stetig aufK. Daher wird ein Minimumangenommen, minz∈K |p(z)| = |p(c)| ≤ |p(0)|. Unsere Wahl vonR sichert, dass|p(c)| = minz∈C |p(z)|.

6.9.2 Satz(Fundamentalsatz der Algebra). Sei p(z) = a0 + · · · + anzn ein komplexesPolynom vom Grad n. Dann existieren n nicht notwendigerweise verschiedene Zahlenz1, . . . , zn ∈ C, sodass

p(z) = an

n∏

k=1

(z− zk). (6.14)

Beweis.

Sei h(z) ein Polynom der Formh(z) = 1 + bzk + zkg(z) mit k ∈ N, b ∈ C \ {0}und einem Polynomg, wobeig(0) = 0. Wir zeigen die Existenz einesu ∈ C mit|h(u)| < 1.

Dazu wahlen wir einek-te Wurzel von− 1b (vgl. Bemerkung 6.8.15), d.h. eine

Zahld ∈ Cmit bdk = −1. Furt ∈ (0, 1] gilt

|h(td)| ≤ |1− tk| + |tkdkg(td)| = 1− tk + tk|dkg(td)| = 1− tk(1− |dkg(td)|) .

Wegen|dkg(td)| = 0 fur t = 0 folgt aus der Stetigkeit dieses Ausdruckes bei0, dass|dkg(td)| ≤ 1

2 fur t ∈ (0, δ) mit einemδ > 0. Fur jedes solchet gilt|h(td)| ≤ 1− tk 1

2 < 1.

Nun zeigen wir, dass jedes nichtkonstante Polynomf (z) eine Nullstelle inC hat.

Nach Lemma 6.9.1 gibt es einc ∈ C, sodass| f (c)| = minz∈C | f (z)|. Ware f (c) , 0,so betrachte

h(z) :=f (z+ c)

f (c)= 1+ bkz

k + bk+1zk+1 + . . . + bnzn, bk , 0.

Page 173: ANA1.pdf

6.9. FUNDAMENTALSATZ DER ALGEBRA 167

Nach dem ersten Beweisschritt existiert einu ∈ Cmit |h(u)| < 1 und daher

| f (u+ c)| = |h(u)| · | f (c)| < | f (c)|

im Widerspruch zu| f (c)| = minz∈C | f (z)|.

Wir zeigen nun (6.14) durch Induktion nach dem Grad vonp(z). Ist der Gradeins, alsop(z) = a1z+ a0 mit a1 , 0, so istp(z) = a1(z− (− a0

a1)).

Stimme nun (6.14) fur alle Polynome vom Grad kleiner alsn, seip(z) vom Gradn. Nach dem vorigen Beweisschritt hatp eine Nullstellez1. Mittels Polynomdi-vision und Einsetzen vonz = z1 erhalt manp(z) = s(z)(z− z1). Das Polynoms hat den gleichen Fuhrungskoeffizienten wiep, und lasst sich nach Induktions-voraussetzung in der angegebenen Weise faktorisieren.

6.9.3 Bemerkung.Funktionenf : R→ C der Bauart

f (t) =N∑

n=−N

cn exp(itn),

fur ein N ∈ N undcn ∈ C, n = 0, . . . ,N nennt mantrigonometrische Polynome.Man sieht sofort, dassf (t) = exp(iNt) · p(exp(it)), wobeip : C \ {0} → C

p(z) =2N∑

n=0

cn−Nzn.

Also ist f stetig und 2π-periodisch. Weiters stimmen zwei trigonometrische Polynomeuberein, wenn das ihre Koeffizienten tun. Ist namlich

N∑

n=−N

cn exp(itn) =M∑

n=−M

dn exp(itn),

wobei o.B.d.A.N ≥ M, so folgt∑N

n=−N(cn − dn) exp(itn) = 0, wobei wirb j = 0, M <

j ≤ N setzten. Es folgtq(exp(it)) = 0, t ∈ R, mit q(z) =∑2N

n=0(cn−N − dn−N)zn. Alsohat das Polynomq(z) unendlich viele Nullstellen und ist damit das Nullpolynom, d.h.cn = dn, n = −N, . . . ,N.

Schließlich lasst sich jedes trigonometrische Polynom wegen

N∑

n=−N

cn exp(itn) =N∑

n=−N

cn(cosnt+i sinnt) = c0+

N∑

n=1

(cn+c−n) cosnt+N∑

n=1

(cn−ic−n) sinnt,

in der Form

a0 +

N∑

n=1

an cosnt+N∑

n=1

bn sinnt, (6.15)

schreiben. Umgekehrt lasst sich jede Funktion der Bauart (6.15) schreiben als

a0 +

N∑

n=1

anexp(int) + exp(−int)

2+

N∑

n=1

bnexp(int) − exp(−int)

2i=

Page 174: ANA1.pdf

168 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

−1∑

n=−N

a−n + ib−n

2exp(itn) + a0 +

N∑

n=1

an − ibn

2exp(itn).

Somit ist (6.15) eine zweite Art trigonometrische Polynomedarzustellen, wobei dieKoeffizienten in (6.15) ebenfalls eindeutig sind.

6.10 Weitere wichtige elementare Funktionen

Die Funktion

tan :R \ {π2+ πn : n ∈ Z} → R, tan(x) =

sinxcosx

,

wird alsTangensund

cot :R \ {πn : n ∈ Z} → R, cot(x) =cosxsinx

,

alsCotangensbezeichnet.

x

y

− π2− 3π2

−π−2π

π2

3π2

π 2π0

y = tan(x)y = cot(x)

Abbildung 6.13: Tangens und Cotangens

Page 175: ANA1.pdf

6.10. WEITERE WICHTIGE ELEMENTARE FUNKTIONEN 169

Betrachtet man tan eingeschrankt auf (− π2 ,π2), so zeigt man elementar, dass tan die-

ses Intervall bijektiv aufR abbildet. Entsprechend bildet cot das Intervall (0, π) bijektivaufR ab. Die jeweiligen Umkehrfunktionen heißen arctan (Arcustangens) bzw. arccot(Arcuscotangens).

x

y

−π π−2π 2π0

π2

− π2

y = arctan(x)y = arccot(x)

π

Abbildung 6.14: Arcustangens und Arcuscotangens

Man kann auch sin auf das Intervall [− π2 ,π2 ] einschranken, und erhalt eine Bijektion

von [− π2 ,π2] auf [−1, 1]. Die Umkehrfunktion davon heißt arcsin (Arcussinus). Entspre-

chend bildet cos das Intervall [0, π] bijektiv auf [−1, 1] ab. Die Umkehrfunktion davonheißt arccos (Arcuscosinus).

x

y

−2 −1 1 20

π

π2

− π2

y = arcsin(x)y = arccos(x)

Abbildung 6.15: Arcussinus und Arcuscosinus

Ahnlich wie sin und cos sindSinus Hyperbolicussinh undCosinus Hyperbolicuscosh definiert:

coshz :=exp(z) + exp(−z)

2, sinhz :=

exp(z) − exp(−z)2

, z ∈ C.

Page 176: ANA1.pdf

170 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

Die Werte von coshz und sinhz liegen im allgemeinen inC. Fur reellez = x liegencoshx und sinhx offensichtlich inR.

x

y

−3 −2 −1 1 2 30

1

4

3

2

−1

−2

−3

−4

y = sinh(x)y = cosh(x)

Abbildung 6.16: Sinus Hyperbolicus und Cosinus Hyperbolicus

Da sinh :R→ R bijektiv ist, hat er eine Inverse die mit areasinh (Areasinus Hyper-bolicus) bezeichnet wird. Die Funktion cosh eingeschrankt auf [0,+∞) bildet diesesIntervall bijektiv auf [1,+∞) ab. Die entsprechende Umkehrfunktion von [1,+∞) auf[0,+∞) heißt areacosh (Areacosinus Hyperbolicus).

Page 177: ANA1.pdf

6.10. WEITERE WICHTIGE ELEMENTARE FUNKTIONEN 171

x

y

−6 −5 −4 −3 −2 −1 1 2 3 4 5 60

3

2

1

−1

−2

−3

y = areasinh(x)y = areacosh(x)

Abbildung 6.17: Areasinus Hyperbolicus und Areacosinus Hyperbolicus

x

y

−2 −1 1 20

1

−1

y = tanh(x)y = coth(x)

Abbildung 6.18: Tangens Hyperbolicus und Cotangens Hyperbolicus

Schließlich ist tanh :R→ R definiert durch tanhx = sinhxcoshx , und coth :R \ {0} → R

durch cothx = coshxsinhx .

Dabei bildet tanh die reellen Zahlen bijektiv auf (−1, 1) und coth die MengeR \ {0}bijektiv auf R \ [−1, 1]. Die entsprechenden Umkehrfunktion heißen areatanh (Area-tangens Hyperbolicus) und areacoth (Areacotangens Hyperbolicus).

Page 178: ANA1.pdf

172 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

x

y

2 4 6

−6 −4 −2

0

2

1

−1

−2

y = areatanh(x)y = areacoth(x)

Abbildung 6.19: Areatangens Hyperbolicus und Areacotangens Hyperbolicus

6.11 Abelscher Grenzwertsatz

Thematisch passt zu diesem Kapitel – insbesondere zum Begriff der Potenzreihe – dersogenannteAbelsche Grenzwertsatz.

6.11.1 Satz.Sei P(z) =∑∞

j=0 a jzj eine Potenzreihe, R ihr Konvergenzradius mit0 <

R < ∞. Weiters sei z0 ∈ C mit |z0| = R. Ist die Zahlenreihe s:=∑∞

j=0 a jzj0 konvergent,

so giltlimt→1−

P(tz0) = s. (6.16)

Beweis.Sei |z| < R und

sn :=n∑

j=0

a jzj0, s := lim

n→∞sn.

Laut Voraussetzung existiert der Grenzwerts. Aus Lemma 3.9.5 folgt

n∑

j=0

a jzj =

n∑

j=0

(a jzj0)

(zz0

) j

=

(zz0

)n

sn −n−1∑

j=0

sj(

(zz0

) j+1

−(

zz0

) j

) =

(zz0

)n

sn +

(1− z

z0

) n−1∑

j=0

sj

(zz0

) j

.

Wegen(

zz0

)nsn → 0 konvergiert die Reihe auf der rechten Seite, und wir erhalten

P(z) =∞∑

j=0

a jzj =

(1− z

z0

) ∞∑

j=0

sj

(zz0

) j

, |z| < R.

Andererseits ist folgt aus∑∞

j=0 ζj = 1

1−ζ fur |ζ | < 1, dass

s=

(1− z

z0

) ∞∑

j=0

s

(zz0

) j

.

Fur |z| < R undN ∈ N folgt

|P(z) − s| ≤∣∣∣∣∣1−

zz0

∣∣∣∣∣N∑

j=0

|s− sj |(

zz0

) j

+

∣∣∣∣∣1−zz0

∣∣∣∣∣∞∑

j=N+1

|s− sj |(

zz0

) j

Page 179: ANA1.pdf

6.11. ABELSCHER GRENZWERTSATZ 173

Ist nunǫ > 0 undN fest und so groß, dass|s− sj | < ǫ, j > N, so ist das kleiner odergleich

∣∣∣∣∣1−zz0

∣∣∣∣∣N∑

j=0

|s− sj |(

zz0

) j

+ ǫ

∣∣∣∣1− zz0

∣∣∣∣

1−∣∣∣∣ zz0

∣∣∣∣. (6.17)

Ist z = tz0, t ∈ (0, 1), so sieht man, dass es eint0 ∈ (0, 1) gibt, sodass furt > t0 dieserAusdruck kleiner oder gleich 2ǫ ist. Daǫ > 0 beliebig war, gilt (6.16).

6.11.2 Bemerkung.Mit einer etwas feiner Argumentationsweise lasst sich (6.16) fol-gendermaßen verallgemeinern.

Nahert sichz nichttangentiell dem Punktz0 an, so konvergiertP(z) gegens. Dasbedeutet: IstNα, 0 < α < π der Winkelraum

Nα = {reiβ ∈ C : r > 0, β ∈ [−α, α]},

C

Re

Im

α

α

Abbildung 6.20: WinkelraumNα

so giltlim

τ∈Nα , τ→0P((1− τ)z0) = s. (6.18)

Um das einzusehen, bemerke man zunachst, dass furτ = reiβ ∈ Nα mit r = |τ| ≤ cosα(fur die Funktion cos siehe den nachsten Abschnitt)

|τ|1− |1− τ| =

|τ|(1+ |1− τ|)1− |(1− τ)|2 ≤

22 cosβ − r

≤ 22 cosα − r

≤ 2cosα

.

Nun folgt man dem Beweis von Satz 6.11.1 bis (6.17). Dann folgt mit z= (1−τ)z0, |τ| ≤cosα, τ ∈ Nα

|P(z) − s| ≤∣∣∣∣∣1−

zz0

∣∣∣∣∣N∑

j=0

|s− sj |(

zz0

) j

+ ǫ2

cosα.

Fur |τ| → 0 konvergiert der erste Summand gegen Null. Also gibt es eint0 ∈ (0, cosα),sodass|P(z) − s| ≤ ǫ 3

cosα , wenn nur|τ| ≤ t0, τ ∈ Nα.Da ǫ beliebig war, folgt (6.18).

Page 180: ANA1.pdf

174 KAPITEL 6. REELLE UND KOMPLEXE FUNKTIONEN

Page 181: ANA1.pdf

Kapitel 7

Differentialrechnung

Bewegt sich etwa ein Punkt, und bezeichnets(t) den zum Zeitpunktt zuruckgelegtenWeg, so erhalt man die Geschwindigkeit zum Zeitpunktt, indem man

s(t + h) − s(t)h

betrachtet, undh immer kleiner macht. Um derlei Betrachtungen, die in den Naturwis-senschaften eine wichtige Rolle spielen, einen mathematisch exakten Hintergrund zugeben, wollen wir den Begriff der Ableitung einfuhren.

7.1 Begriff der Ableitung

7.1.1 Definition. Sei f : (a, b)→ R (C) und seix ∈ (a, b). Dann heißtf differenzierbarim Punktx, falls der Grenzwert

limt→x

f (t) − f (x)t − x

∈ R (C)

existiert. Dieser heißt dann dieAbleitungvon f an der Stellex, und man schreibt dafurf ′(x) oder d f

dt (x).Ist f zumindest auf [a, b) definiert1, und existiert

limt→a+

f (t) − f (a)t − a

∈ R (C),

so spricht man von rechtsseitiger Differenzierbarkeit im Punkta und schreibtf ′(a)+

dafur.Entsprechend definiert man die linksseitige Differenzierbarkeit im Punktb und die

linksseitige Ableitungf ′(b)−.

Anschaulich ist die Ableitungf ′(x) gerade die Steigung der Tangente (in der fol-genden Grafik als durchgehende Gerade gezeichnet) am Punkt (x, f (x)). Diese Stei-gung der Tangente erhalt man als Grenzwert der Steigungen der Verbindungsgeradenvon (x, f (x)) und (t, f (t)) (als strichlierte Gerade gezeichnet) furt → x.

7.1.2 Fakta.1Klarerweise konntef sogar auf einer noch großeren Menge definiert sein.

175

Page 182: ANA1.pdf

176 KAPITEL 7. DIFFERENTIALRECHNUNG

f

x

Steigung= f ′(x)

t′′ t′ t

Steigung= f (t)− f (x)t−x

Abbildung 7.1: Ableitung als Grenzwert der Differenzenquotienten

1. Wie in Fakta 5.5.6 bemerkt, existiert ein Grenzwert limt→x h(t) genau dann, wenndie beiden einseitigen Grenzwerte limt→x− h(t) und limt→x+ h(t) existieren undubereinstimmen.

Also ist f bei x ∈ (a, b) genau dann differenzierbar, wennf bei x links- undrechtsseitig differenzierbar ist undf ′(x)− und f ′(x)+ ubereinstimmen. In diesemFall ist f ′(x)− = f ′(x) = f ′(x)+.

2. Da nach Lemma 5.3.7 genau danny = limt→x h(t), wenn fur jede gegenx kon-vergente Folge (tn)n∈N mit tn , x, n ∈ N, folgt, dassh(tn) → y, ist f bei x genaudann differenzierbar mit Ableitungf ′(x), wenn fur jede solche Folge

f ′(x) = limn→∞

f (tn) − f (x)tn − x

.

Entsprechend lassen sich die einseitigen Ableitungen charakterisieren.

3. Entweder aus der letzten Behauptung oder aus (5.6) folgt,dass die Ableitungf ′(x) im Falle ihrer Existenz nur vom Aussehen vonf lokal bei x, also vonf |(x−δ,x+δ) fur jedesδ > 0, abhangt. Entsprechendes gilt fur einseitige Ableitun-gen.

4. Wegen (5.11) ist eine Funktionf : (a, b) → C genau dann differenzierbar beix ∈ (a, b), wenn Ref , Im f : (a, b)→ R es sind, wobei

f ′(x) = (Re f )′(x) + i(Im f )′(x). (7.1)

Entsprechendes gilt fur einseitige Ableitungen.

Page 183: ANA1.pdf

7.1. BEGRIFF DER ABLEITUNG 177

Man kann auch die Differenzierbarkeit vonRp-wertigen Funktionenf definieren.Dabei wird es sich herausstellen, dass dass solche Funktionen genau dann differen-zierbar sind, wenn alle Komponentenfunktionenπ j ◦ f differenzierbar sind. Siehe dieAnalysis 2 Vorlesung.

7.1.3 Bemerkung.Ist f definiert auf einer offenen Teilmenge der komplexen Zahlenund bildet wieder inC hinein ab, so kann man analogf ′(w) := limz→w

f (z)− f (w)z−w be-

trachten. Existiert dieser Grenzwert, so heißtf in w komplex differenzierbar. Wir wol-len das hier aber nicht weiter verfolgen, denn dies fuhrt zur Theorie der komplexenAnalysis, die in einer eigenen Vorlesung behandelt wird.

7.1.4 Beispiel.

(i) Fur jedesλ ∈ R (C) ist die konstante Funktionf (t) = λ, t ∈ (−∞,+∞), an jederStellex differenzierbar, und ihre Ableitung im Punktx ist gleich 0.

(ii ) Die reellwertige Funktiont 7→ f (t) = tn, n ∈ N fur t ∈ (−∞,+∞) ist auch anjedem Punktx differenzierbar mit der Ableitung

limt→x

tn − xn

t − x= lim

t→x

(t − x)(tn−1 + tn−2x+ . . . + txn−2 + tn−1)t − x

= nxn−1.

(iii ) Die stetige Funktion

f (t) =

t sin 1

t , falls t , 0

0 , falls t = 0(7.2)

ist im Punktx = 0 nicht differenzierbar. Denn es gilt

f (t) − f (0)t − 0

=t sin 1

t − 0

t − 0= sin

1t.

(iv) Sei f (z) =∑∞

n=0 anzn eine Potenzreihe mit KonvergenzradiusR > 0. Fur dieEinschrankungf |(−R,R) : (−R,R)→ C gilt

limt→0

f (t) − f (0)t

= limt→0

∞∑

n=1

antn−1.

Diese Potenzreihe rechts konvergiert genau dann, wenn∑∞

n=0 antn es tut und hatsomit auch KonvergenzradiusR. Sie ist daher stetig int. Also ist obiger Limesgleicha1. Spater werden wirf ′(x) fur alle x ∈ (−R,R) berechnen.

(v) Fur ein festesw ∈ C gilt

limt→x

exp(wt) − exp(wx)t − x

= exp(wx) limt→x

exp(w(t − x)) − 1t − x

=

exp(wx) limτ→0

exp(wτ) − 1τ

= wexp(wx),

wobei die letzte Gleichheit aus (iv) folgt, da der Koeffizienta1 in der Potenzreiheexp(wτ) =

∑∞n=0

wn

n! τn ebenw ist.

Setzt manw = 1, so folgt exp′(x) = exp(x).

Page 184: ANA1.pdf

178 KAPITEL 7. DIFFERENTIALRECHNUNG

(vi) Als weitere Anwendung der Rechnung im letzten Beispiel berechnen wir

sin′(x) = limt→x

sin(it) − sin(ix)t − x

= limt→x

Im exp(it) − Im exp(ix)t − x

=

Im

(limt→x

exp(it) − exp(ix)t − x

)= Im(i exp(ix)) = Re(exp(ix)) = cos(x).

Dabei haben wir die Stetigkeit vonz 7→ Im z verwendet. Genauso erhalt mancos′(x) = − sin(x).

(vii) Fur t ∈ R betrachte die Funktionf

f (t)

t2

−t2

f (t) =

t2 sin 1

t , falls t , 0

0 , falls t = 0

Die Funktion f ist an der Stellex = 0 differenzierbar mit Ableitung 0, denn esgilt

f (t) − f (0)t − 0

= t sin1t→ 0 fur t → 0.

An einer Stellex , 0 ist f differenzierbar und es gilt wie wir spater sehen werden

f ′(x) = 2xsin1x− cos

1x.

7.1.5 Lemma. Ist f im Punkt x differenzierbar, so ist sie dort stetig.

Beweis.Aus limt→xf (t)− f (x)

t−x = α folgt

limt→x

[f (t) − f (x)

]= lim

t→x

[f (t) − f (x)

t − x(t − x)

]= α · 0 = 0.

7.1.6 Bemerkung.Wie man am Beispiel der Funktionf aus (7.2) sieht, gilt die Um-kehrung von Lemma 7.1.5 nicht.

7.1.7 Satz. Seien f, g : (a, b) → R (C) beide differenzierbar im Punkt x∈ (a, b),undα, β ∈ R (C). Dann sind auchα f + βg, f g und (falls g(x) , 0) f

g an der Stelle xdifferenzierbar, und es gilt

� (α f + βg)′(x) = α f ′(x) + βg′(x),

� ( f g)′(x) = f ′(x)g(x) + f (x)g′(x) (Produktregel),

(fg

)′(x) = f ′(x)g(x)− f (x)g′ (x)

g(x)2 (Quotientenregel).

Page 185: ANA1.pdf

7.1. BEGRIFF DER ABLEITUNG 179

Entsprechende Regeln gelten auch fur einseitige Ableitungen.

Beweis.

limt→x

(α f + βg)(t) − (α f + βg)(x)t − x

= α limt→x

f (t) − f (x)t − x

+ β limt→x

g(t) − g(x)t − x

.

Da f nach Lemma 7.1.5 beix stetig ist, folgt aus den Rechenregeln fur Grenzwerte(vgl. Abschnitt 5.3)

limt→x

f (t)g(t) − f (x)g(x)t − x

= limt→x

(f (t)

g(t) − g(x)t − x

)+ lim

t→x

(f (t) − f (x)

t − xg(x)

)=

limt→x

f (t) · limt→x

g(t) − g(x)t − x

+ g(x) limt→x

f (t) − f (x)t − x

= f (x)g′(x) + f ′(x)g(x).

Die letzte Quotientenregel folgt ebenfalls aus der Stetigkeit und den Rechenregeln furGrenzwerte indem man in

f (t)g(t) −

f (x)g(x)

t − x=

1g(t)g(x)

[g(x)

f (t) − f (x)t − x

− f (x)g(t) − g(x)

t − x

].

t → x streben lasst.❑

7.1.8 Beispiel.Wir haben schon gesehen, dassf (t) = tn fur alle n ∈ N differenzierbarist mit f ′(x) = nxn−1. Um das auch furn ∈ −N zu zeigen verwende man die Quotien-tenregel:

(xn)′ =

(1

x|n|

)′= − (x|n|)′

x2|n| = nx|n|−1−2|n| = nxn−1.

Weiters ist eine rationale Funktion in jedem Punkt, wo der Nenner nicht verschwindet,differenzierbar.

7.1.9 Satz(Kettenregel). Sei f : (a, b)→ R reellwertig und g: (c, d)→ R (C), sodassf (a, b) ⊆ (c, d), und x∈ (a, b).

Ist f bei x und g bei f(x) differenzierbar, so ist g◦ f bei x differenzierbar, wobei

(g ◦ f )′(x) = g′( f (x)) · f ′(x).

Beweis.Die vorausgesetzte Differenzierbarkeit vonf bei x lasst sich dadurch charak-terisieren, dass die reellwertige Funktion definiert auf (a, b) durch

φ(t) =

f (t)− f (x)

t−x , falls t , x

f ′(x) , falls t = x

bei x stetig ist; vgl. Proposition 6.1.4. Genauso istψ : (c, d)→ R (C) definiert durch

ψ(s) =

g(s)−g( f (x))

s− f (x) , falls s, f (x)

g′( f (x)) , falls s= f (x)

bei f (x) stetig. Somit gilt fur allet ∈ (a, b) \ {x} – auch fur diet mit f (x) = f (t) –

(g ◦ f )(t) − (g ◦ f )(x)t − x

= ψ( f (t)) · φ(t) .

Wegen Lemma 7.1.5, Lemma 6.1.6 und Korollar 6.1.8 ist dieserAusdruck inx stetig.Also gilt (g ◦ f )′(x) = lim t→xψ( f (t)) · φ(t) = ψ( f (x)) · φ(x) = g′( f (x)) · f ′(x).

Page 186: ANA1.pdf

180 KAPITEL 7. DIFFERENTIALRECHNUNG

7.1.10 Bemerkung.Es gelten diverse einseitige Varianten von Satz 7.1.9, derenBeweise fast gleich verlaufen:

Ist f : (a, b)→ (c, d], g : (c, d] → R (C), x ∈ (a, b), f (x) = d sowie f bei x differenzier-bar undg bei f (x) = d linksseitig differenzierbar, so folgt (g◦ f )′(x) = g′( f (x))− · f ′(x).

Ist f : [a, b)→ (c, d), g : (c, d)→ R (C), sowie f beia rechtsseitig differenzierbar undg bei f (a) differenzierbar, so folgt (g ◦ f )′(a)+ = g′( f (a)) · f ′(a)+.

usw. .

7.1.11 Beispiel.Sei f (x) = x2 sin 1x , x , 0 wie in Beispiel 7.1.4, (vii). Durch Anwen-

dung der Produkt und der Kettenregel ergibt sich (x , 0)

f ′(x) = (x2)′ sin1x+ x2

(sin

1x

)′= 2x · sin

1x+ x2 ·

(cos

1x

)·(1x

)′= 2x · sin

1x− cos

1x.

7.1.12 Satz.Sei f : (a, b) → (c, d) bijektiv und streng monoton, und bezeichne mitg : (c, d) → (a, b) ihre Umkehrfunktion. Ist f an einer Stelle x differenzierbar und giltf ′(x) , 0, so ist g an der Stelle f(x) differenzierbar, und es gilt

g′( f (x)) =1

f ′(x).

Beweis. Wegen Korollar 6.5.3 sindf undg beide stetig. Ist daher (tn)n∈N eine gegenf (x) konvergente Folge aus (c, d) \ { f (x)}, so ist

(g(tn)

)n∈N eine gegenx = g( f (x))

konvergente Folge aus (a, b) \ {x}. Mit τn := g(tn) folgt

limn→∞

g(tn) − g( f (x))tn − f (x)

= limn→∞

g(tn) − xf(g(tn)

) − f (x)=

1

limn→∞f (τn)− f (x)τn−x

=1

f ′(x).

Auch bei obigem Satz gelten entsprechende Aussagen fur einseitige Ableitungen,wenn f und damit auchg an einem/beiden der Rander definiert ist.

7.1.13 Beispiel.Betrachte die reelle Exponentialfunktion exp :R → R+. Diese iststetig und bijektiv. Ihre Umkehrfunktion ist ln :R+ → R. Fur ein festesy ∈ R+ und dasentsprechendex ∈ R mit y = exp(x) folgt

ln′(y) = ln′( f (x)) =1

exp′(x)=

1exp(x)

=1

exp(ln(y))=

1y.

7.1.14 Definition. Sei f eine reell- oder komplexwertige Funktion definiert auf einemIntervall I ⊆ R. Ist f an allenx ∈ I differenzierbar, wobei im Falle, dassx der linkebzw. rechte Intervallrand vonI ist und dieser inI liegt, die rechts- bzw. linksseitigeDifferenzierbarkeit gemeint ist, so nennt man die Funktion

f ′ :

{I → R (C)x 7→ f ′(x)

Ableitungvon f auf I . Ist x der linke bzw. rechte Intervallrand vonI und liegt dieser inI , so ist unterf ′(x) die rechts- bzw. linksseitige Ableitung an der Stellex zu verstehen.

Page 187: ANA1.pdf

7.1. BEGRIFF DER ABLEITUNG 181

Einer Funktion f wird also eine weitere Funktion zugeordnet, die die ausf ab-geleitete Funktionf ′ genannt wird. Ihr Wert an einer Stellex ist gerade der Limesdes Differenzenquotienten vonf bei x. Diese Sichtweise erklart auch die Schreibweisef ′(x) aus Definition 7.1.1. Die Schreibweised f

dt (x) erklart sich aus der Interpretationder Ableitung als Grenzfall des Zuwachses vonf dividiert durch den Zuwachs vont.

Es ist also sinnvoll von Eigenschaften der Funktionf ′, wie zum Beispiel Stetig-keit oder auch wieder Differenzierbarkeit zu sprechen. Wie wir in Beispiel 7.1.4, (vii),gesehen haben, muss die Ableitungf ′ nicht notwendigerweise stetig sein.

7.1.15 Definition.

� Sei f eine reell- oder komplexwertige Funktion definiert auf einem Intervall I ⊆R, sodass die Ableitungf ′ von f auf ganzI existiert. Ist die Ableitungf ′ aneiner Stellex differenzierbar, so bezeichnet man (f ′)′(x) mit f ′′(x) und sprichtvon der zweiten Ableitung vonf an der Stellex. Im Falle, dassx Intervallrandist, so sei wieder die entsprechende einseitige Ableitung gemeint.

� Allgemeiner definiert manhohere Ableitungenrekursiv durch

f (n)(x) := ( f (n−1))′(x), n ∈ N,

wann immerf (n−1) auf I definiert ist und beix differenzierbar ist. Die Funktionf heißt beix dannn-mal differenzierbar.

� Existiert f (n) an allen Stellenx ∈ I und ist f (n) stetig aufI , so spricht man voneinern-mal stetig differenzierbarenFunktion. Die Menge allern-mal stetig dif-ferenzierbaren Funktionen aufI wird mit Cn(I ) bezeichnet.

� Fur n = 0 stehtC0(I ) oder auchC(I ) fur die Menge aller stetigen reell- oderkomplexwertigen Funktion definiert auf dem IntervallI .

� Mit f ∈ C∞(I ) wollen wir zum Ausdruck bringen, dassf auf I beliebig oftdifferenzierbar ist.

Aus der Produktregel erhalt man mittels vollstandiger Induktion die oft nutzlicheFormel

( f g)(n) =

n∑

k=0

(nk

)f (k)g(n−k).

7.1.16 Beispiel.

Sei f (x) = x3 − 2x. Dann gilt

f ′(x) = 3x2 − 2, f ′′(x) = 6x, f ′′′(x) = 6, f ′′′′(x) = 0, f (5)(x) = 0, . . .

Man sieht genauso, dass jedes Polynomp beliebig oft differenzierbar ist undwennn der Grad vonp ist, p(n+1)(x) = p(n+2)(x) = . . . = 0 gilt.

Sei f die Funktion

f (x) =

x2 , falls x ≥ 0

−x2 , falls x < 0

Die Ableitung von f ist f ′(x) = |x|. Die zweite Ableitung existiert also an derStellex = 0 nicht.

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182 KAPITEL 7. DIFFERENTIALRECHNUNG

7.2 Mittelwertsatze

7.2.1 Definition. Sei 〈X, dX〉 ein metrischer Raum,E ⊆ X und sei f : E → R. Mansagt f hat einlokales Maximumin einem Punktx ∈ E, falls

∃ δ > 0 : f (x) ≥ f (t) fur t ∈ E ∩ Uδ(x).

Analog definiert man einlokales Minimum. Will man sich nicht festlegen, obx einMinimum oder Maximum ist, so spricht man zusammenfassend von einemlokalenExtremum.

Man beachte den Unterschied zum Begriff des Maximums. Das ist eine Stellex ∈E, sodass fur jedest ∈ E gilt f (x) ≥ f (t), also nicht nur lokal beix sondern global.Man spricht dann von einemabsoluten Maximum. Analog furabsolute Minimabzw.zusammenfassendabsolute Extrema. Naturlich ist ein absolutes Extremum stets auchein lokales.

7.2.2 Satz.Hat f : (a, b) → R an einer Stelle x∈ (a, b) ein lokales Extremum und istf bei x differenzierbar, so muss f′(x) = 0.

Beweis.Wir nehmen an, dassx ein lokales Maximum ist. Den Fall eines lokalen Mi-nimums behandelt man analog.

Wahleδ > 0 wie in Definition 7.2.1. Es gilt alsof (x) ≥ f (t) fur alle |t − x| < δ. ImFallet > x gilt somit

f (t) − f (x)t − x

≤ 0,

und daherf ′(x) = lim t→x+f (t)− f (x)

t−x ≤ 0. Ist jedocht < x, so impliziert f (x) ≥ f (t)

f (t) − f (x)t − x

≥ 0.

Also muss auchf ′(x) = limt→x−f (t)− f (x)

t−x ≥ 0.❑

Geometrisch bedeutet Satz 7.2.2, dass aneinem lokalen Extremum die Tangentean die Kurvey = f (x), falls eine solcheexistiert, waagrecht liegen muss.

7.2.3 Korollar (Satz von Rolle). Sei f : [a, b] → R stetig und auf(a, b) differenzierbar.Gilt f (a) = f (b) = 0, so gibt es einζ ∈ (a, b), sodass f′(ζ) = 0.

Beweis.Aus Korollar 6.1.14 wissen wir, dassf auf [a, b] ein Maximum und ein Mini-mum besitzt. Also gibt esx−, x+ ∈ [a, b], sodass

f (x−) ≤ f (t) ≤ f (x+), fur alle t ∈ [a, b].

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7.2. MITTELWERTSATZE 183

Sind beidex− und x+ Randpunkte, d.h.x−, x+ ∈ {a, b}, so mussf (t) = 0 fur allet ∈ [a, b] und daherf ′(t) = 0 fur alle t ∈ (a, b) sein.

Ist x− in (a, b) enthalten, so muss nach Satz 7.2.2f ′(x−) = 0. Im Fallex+ ∈ (a, b)schließt man genauso.

a bζ

Abbildung 7.2: Satz von Rolle

7.2.4 Korollar. Sei f : [a, b] → R stetig und n-mal differenzierbar auf(a, b). Weitershabe f mindestens n+ 1 Nullstellen in[a, b]. Dann existiertξ ∈ (a, b) mit f (n)(ξ) = 0.

Beweis.Der Falln = 1 folgt sofort aus Korollar 7.2.3. Angenommen der Satz geltefurn− 1. Wir zeigen ihn furn.

Nach Korollar 7.2.3 liegt zwischen je zwei Nullstellen vonf mindestens eineNullstelle von f ′. Also hat f ′ mindestensn Nullstellen. Nach Induktionsvoraussetzungexistiert einξ mit f (n)(ξ) = ( f ′)(n−1)(ξ) = 0.

7.2.5 Beispiel.Wir wollen zeigen, dass die Gleichung

(1− ln x)2 = x(3− 2 ln x)

in (0,+∞) genau zwei Losungen hat. Dazu betrachten wir die Funktionf : (0,+∞)→ R,

f (x) = (1− ln x)2 − x(3− 2 ln x).

Fur diese gilt es zu zeigen, dassf genau zwei Nullstellen hat. Setzt manx = 1, so folgtf (1) = −2 < 0. Andererseits folgt wegen limx→0+ x(3− 2 ln x) = 0

limx→0+

f (x) = +∞.

Wegenf (x) ≥ x(2 ln x− 3) ≥ x fur x ≥ exp(2) folgt auch

limx→+∞

f (x) = +∞.

Insbesondere gibt esξ, η ∈ R mit 0 < ξ < 1 < η < +∞, sodassf (ξ) > 0, f (η) > 0.Nach dem Zwischenwertsatz muss es einen Punktα ∈ (ξ, 1) und einen Punktβ ∈ (1, η)geben, sodassf (α) = 0 = f (β). Also hat f mindestens zwei Nullstellen.

Um zu zeigen, dass es nicht mehr sein konnen, berechnen wir

f ′(x) = 2(ln x− 1)1x+ 2 ln x− 1, f ′′(x) = 2

1x2− 2

ln x− 1x2

+2x=

4− 2 ln x+ 2xx2

.

Fur x ∈ (0, 1] ist ln x ≤ 0 und somitf ′′(x) > 0. Furx ∈ (1,+∞) gilt wegenx > ln x auchf ′′(x) > 0. Also hat f ′′ keine Nullstelle. Nach dem Satz von Rolle kannf ′ hochstenseine und weiterf hochstens zwei Nullstellen haben (vgl. Korollar 7.2.4).

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184 KAPITEL 7. DIFFERENTIALRECHNUNG

7.2.6 Satz(Mittelwertsatz). Sei f : [a, b] → R stetig und auf(a, b) differenzierbar.Dann existiert ein Punktζ ∈ (a, b) mit

f (b) − f (a)b− a

= f ′(ζ).

Beweis.Betrachte die FunktionF : [a, b] → R

F(t) := f (t) − f (a) − f (b) − f (a)b− a

(t − a).

Dann istF auf [a, b] stetig (vgl. Korollar 6.1.8) und auf (a, b) differenzierbar (vgl.Beispiel 7.1.4, (i), (ii ) und Satz 7.1.7), wobeiF(a) = F(b) = 0 und furx ∈ (a, b)

F′(x) = f ′(x) − f (b) − f (a)b− a

.

Wenden wir Korollar 7.2.3 an, so folgt sofort die Behauptung.❑

Furg(t) = t ist Satz 7.2.6 ein Spezialfall folgender Verallgemeinerung.

7.2.7 Satz(Verallgemeinerter Mittelwertsatz). Seien f, g : [a, b] → R stetig und diffe-renzierbar auf(a, b). Weiters gelte g′(t) , 0 fur alle t ∈ (a, b). Dann existiert eine Stelleζ ∈ (a, b) mit

f (b) − f (a)g(b) − g(a)

=f ′(ζ)g′(ζ)

. (7.3)

Beweis.Zunachst existiert nach Satz 7.2.6 einx ∈ (a, b) mit g(b)− g(a) = g′(x)(b− a),woraus wirg(b) − g(a) , 0 schließen. Somit ist die FunktionF : [a, b] → R,

F(t) = f (t) − f (a) − f (b) − f (a)g(b) − g(a)

(g(t) − g(a)),

wohldefiniert, stetig und auf (a, b) differenzierbar, wobei

F′(t) = f ′(t) − f (b) − f (a)g(b) − g(a)

g′(t).

Weiters gilt F(a) = F(b) = 0. Somit gibt es nach Korollar 7.2.3 einζ ∈ (a, b) mitF′(ζ) = 0, und daher (7.3).

7.2.8 Bemerkung.Satz 7.2.6, welcher auch 1. Mittelwertsatz der Differentialrechnunggenannt wird, besagt, dass man – falls durchwegs Tangenten existieren – stets eineTangente findet, welche parallel zur Sekante durch die Punkte (a, f (a)) und (b, f (b))liegt.

Die Stelleζ aus Satz 7.2.6, an der die Steigung der Kurve gleich der mittlerenSteigung im Intervall [a, b] ist, ist nicht eindeutig bestimmt.

Satz 7.2.7 heißt auch 2. Mittelwertsatz der Differentialrechnung.

Obwohl man es auf den ersten Blick nicht sieht, so hat der Mittelwertsatz dochweitreichende Folgerungen.

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7.2. MITTELWERTSATZE 185

a

f (a)

b

f (b)

ζ

Abbildung 7.3: Mittelwertsatz

7.2.9 Korollar. Sei I ⊆ R ein Intervall und f : I → R stetig. Sind a, b die Inter-vallrander von I, so sei f auf(a, b) differenzierbar. Dann gilt:

� Ist f ′(x) ≥ 0 (> 0), fur alle x∈ (a, b), so ist f (streng) monoton wachsend.

� Ist f ′(x) ≤ 0 (< 0), fur alle x∈ (a, b), so ist f (streng) monoton fallend.

� Ist f ′(x) = 0, fur alle x∈ (a, b), so ist f konstant.

Bezuglich der Umkehrung gilt nur, dass, wenn f monoton wachsend (fallend) ist,fur ihre Ableitung immer f′(x) ≥ 0 (≤ 0) gilt.

Beweis.Seienx1, x2 ∈ I , x1 < x2. Dann existiert eine Stellex ∈ (x1, x2) mit

f (x2) − f (x1) = (x2 − x1) f ′(x).

Daraus folgt unmittelbar das behauptete Monotonieverhalten.Ist umgekehrtf monoton wachsend (fallend), so gilt fur den Differenzenquotient

fur alle x, t ∈ (a, b)f (t) − f (x)

t − x≥ 0 (≤ 0).

Fur t→ x folgt f ′(x) ≥ 0 (≤ 0).❑

7.2.10 Beispiel.Dass aus der strengen Monotonie einer Funktionf nicht notwendi-gerweisef ′(x) > 0 bzw. f ′(x) < 0 fur alle x folgt, sieht man anhand eines einfachenBeispiels.

Die Funktionf (x) = x3 ist aufR streng monoton wachsend. Ihre Ableitungf ′(x) =3x2 ist nur≥ 0, aber nicht> 0 fur allex ∈ R.

7.2.11 Bemerkung.Der Schlussf ′(x) ≡ 0⇒ f ≡ c fur ein festesc gilt auch fur kom-plexwertige Funktionen. Das sieht man leicht, indem manf in Real- und Imaginarteilaufspaltet; vgl. (7.1).

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186 KAPITEL 7. DIFFERENTIALRECHNUNG

Obwohl die Ableitungf ′ einer auf einem Intervall (a, b) differenzierbaren Funktionnicht notwendig stetig sein muss, so gilt trotzdem stets dieZwischenwerteigenschaft.

7.2.12 Korollar. Sei I⊆ R ein Intervall mit den Randpunkten a, b, a < b und f : I →R differenzierbar. Sind x1, x2 ∈ I und c∈ Rmit f ′(x1) < c < f ′(x2), dann existiert eineStelle x∈ (min(x1, x2),max(x1, x2)) mit f ′(x) = c.

Ist f ′(x) , 0 fur alle x ∈ I, so gilt entweder immer f′(x) > 0, x ∈ I, oder im-mer f′(x) < 0, x ∈ I. Sie sind daher entweder streng monoton wachsend oder strengmonoton fallend.

Beweis. Wir nehmen zunachstx1 < x2 an. Betrachte die Funktiong : I → R, g(t) =f (t) − ct. Fur ihre Ableitung gilt

g′(x1) = f ′(x1) − c < 0, g′(x2) = f ′(x2) − c > 0.

Sei x ∈ [x1, x2] eine Stelle, an derg ihr Minimum annimmt. Wegen Satz 7.2.2 undg′(x) = f ′(x) − c, genugt esx , x1, x2 zu zeigen. Wegeng′(x1) < 0 existiert einδ > 0mit

g(t) − g(x1)t − x1

< 0, x1 < t < x1 + δ.

Also mussg(t) < g(x1) fur solche Werte vont. Der Punktx1 scheidet als Kandidat furdas Minimum also aus. Wegeng′(x2) > 0 folgt die Existenz einesδ > 0, sodass

g(t) − g(x2)t − x2

> 0, x2 − δ < t < x2.

Also ist g(t) < g(x2) fur solchet, und der Punktx2 kommt daher auch nicht in Frage.Den Fallx1 > x2 fuhrt man durch die Betrachtung von− f auf obigen Fall zuruck.

Die letzte Aussage folgt sofort aus der eben bewiesenen Zwischenwerteigenschaft.❑

7.2.13 Korollar. Sei f differenzierbar auf(a,b). Dann hat f′ keine Sprungstelle in(a, b).

Beweis. An einer Sprungstelle existierenf ′(x+) := lim t→x+ f ′(t) und f ′(x−) := lim t→x− f ′(t), es sind jedoch nicht beidegleich f ′(x). Angenommen es istf ′(x+) < f ′(x), also f ′(x+) + ǫ ≤ f ′(x) fur ein ǫ > 0. Also gilt

f ′(t) +ǫ

2≤ f ′(x), fur alle t ∈ (x, t0],

fur ein t0 > x. Also nimmt f ′(t) fur x < t < t0 keine Werte in (f ′(x) − ǫ2 , f ′(x))

( ⊆ ( f ′(t0), f ′(x)))

an. Das widersprichtobiger Zwischenwerteigenschaft.

Wir werden nun Satz 7.2.7 verwenden, um eine sehr nutzlicheMethode herzuleiten,Limiten zu berechnen.

7.2.14 Satz(Regel von de L’Hospital2). Seien f, g : (a, b) → R differenzierbar auf(a, b), wobei a, b, ∈ R ∪ {±∞},−∞ ≤ a < b ≤ +∞. Fur x ∈ (a, b) hinreichend nahe beia gelte g′(x) , 0, und

limx→a+

f (x) = limx→a+

g(x) = 0, (7.4)

oderlim

x→a+g(x) = +∞. (7.5)

2Guillaume Francois L’Hospital, Marquis de Saint-Mesme, geb.1661 Paris, gest.3.2.1704 Paris

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7.2. MITTELWERTSATZE 187

Dann gilt

limx→a+

f ′(x)g′(x)

= A ⇒ limx→a+

f (x)g(x)

= A, (7.6)

mit A ∈ R ∪ {±∞}.Die analoge Aussage ist richtig, wenn man uberall x→ a+ durch x→ b− oder in

(7.5)+∞ durch−∞ ersetzt.

Beweis.

Da die Grenzwerte in (7.6) nur von den Funktionswerten lokalbei x abhangen(vgl. (5.6)), konnen wirb notigenfalls kleiner machen, sodassg′(x) , 0 auf ganz(a, b). Damit kanng auf (a, b) hochstens eine Nullstelle haben, da sonst nachKorollar 7.2.3g′(ζ) = 0 fur einζ ∈ (a, b). Machen wirb notigenfalls nochmalskleiner, so konnen wir auchg(x) , 0 auf ganz (a, b) annehmen.

Gilt (7.5), so muss wegen dem Zwischenwertsatz, Korollar 6.2.6,g(x) > 0 furalle x ∈ (a, b) gelten. Außerdem hat nach Korollar 7.2.12g′(x) immer das selbeVorzeichen. Wegen (7.5) gibt es aber sichera < s < t < b mit g(s) > g(t). Mitdem Mittelwertsatz Satz 7.2.6 folgt darausg′(x) < 0 fur ein und daher fur allex ∈ (a, b). Also istg unter der Voraussetzung (7.5) auf ganz (a, b) streng monotonfallend.

Seiα ∈ R, α > A, und wahler ∈ R mit A < r < α. Wegen limt→a+f ′(t)g′(t) = A

existiert einc ∈ (a, b) mit

f ′(t)g′(t)

< r fur t ∈ (a, c).

Sind dannx, y ∈ (a, c), x < y beliebig, so folgt aus Satz 7.2.7

f (x) − f (y)g(x) − g(y)

=f ′(t)g′(t)

< r, (7.7)

fur ein t ∈ (x, y) ⊆ (a, c).

Ist die Bedingung (7.4) erfullt, so lasst man in obiger Beziehungx gegena stre-ben und erhalt

f (y)g(y)

≤ r < α fur y ∈ (a, c).

Ist nun Bedingung (7.5) ist erfullt, so halte many in (7.7) fest. Dag auf (a, b)streng monoton fallt undg(x) > 0, folgt

f (x)g(x)

=f ′(t)g′(t)

g(x) − g(y)g(x)

+f (y)g(x)

< r

(1− g(y)

g(x)

)+

f (y)g(x)

, x ∈ (a, c).

Lasst man hierx → a+ streben, so konvergiert die rechte Seite gegenr (> α).Also folgt die Existenz einesd ∈ (a, c), sodass

f (x)g(x)

< α, a < x < d.

Wir haben also unter jeder der Voraussetzungen (7.4) und (7.5) nachgewiesen,dass fur ein gewissesρ ∈ (a, b)

f (t)g(t)

< α, wenn nurt ∈ (a, ρ).

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188 KAPITEL 7. DIFFERENTIALRECHNUNG

Wendet man das auf− f und−A statt f undA an, so sieht man, dass es auch zujedemβ ∈ R, β < A einρ ∈ (a, b) gibt, sodass

f (t)g(t)

> β, wenn nurt ∈ (a, ρ).

Somit folgt limx→a+f (x)g(x) = A (vgl. (5.12)).

7.2.15 Bemerkung.Indem man eine Funktionf : [a, b] → C in Real- und Imaginarteilzerlegt, folgt sofort die Gultigkeit der Regel von de L’Hospital auch wennf komplex-wertig ist (vgl. (7.1)). Die Funktiong muss aber reellwertig sein.

7.2.16 Beispiel.

(i)

limx→0+

x ln x = limx→0+

1x

− 1x2

= 0.

(ii ) Um limx→0+ xx zu bestimmen, sei zunachst bemerkt, dassxx = exp(x ln x) furx > 0. Aus dem vorherigen Beispiel und wegen der Stetigkeit von exp gilt nun

limx→0+

xx = limx→0+

exp(x ln x) = exp( limx→0+

x ln x) = exp(0)= 1 .

(iii ) Weil ((

1n

) 1n )n∈N eine Teilfolge3 des Netzes (xx)x∈(0,+∞) ist, wobei (0,+∞) so ge-

richtet ist, dassx1 � x2 ⇔ x1 ≥ x2, folgt aus dem letzten Beispiel, dass

limn→∞

(1n

) 1n

= 1.

Diese Tatsache folgt offenbar auch aus limn→∞n√

n = 1; vgl. Beispiel 3.3.7.

(iv)

limx→0+

sinxx= lim

x→0+

(sinx)′

x′= lim

x→0+

cosx1= 1.

Genauso sieht man limx→0−sinx

x = 1.

(v) Man betrachte den Grenzwert

limx→0

(1

(sinx)2− 1

x2

)(7.8)

Dieser Ausdruck ist von der Form∞−∞. Wir rechnen(

1(sinx)2

− 1x2

)=

x2 − (sinx)2

(xsinx)2.

3Siehe Definition 5.3.6!

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7.2. MITTELWERTSATZE 189

Fur x → 0 ist dieser Ausdruck von der Form00. Also stimmt der Grenzwert in(7.8) nach der Regel von de L’Hospital angewandt auf den rechtsseitigen Grenz-wert und den linksseitigen Grenzwert mit

limx→0

2x− 2 sinxcosx2x(sinx)2 + 2x2 sinxcosx

= limx→0

2x− sin(2x)2x(sinx)2 + x2 sin(2x)

uberein, falls letzterer existiert. Wenden wir die Regel von de L’Hospital noch-mals beidseitig an, so erhalten wir (wieder falls der rechteLimes existiert)

limx→0

2− 2 cos(2x)2(sinx)2 + 4xsin(2x) + 2x2 cos(2x)

= limx→0

1− cos(2x)(sinx)2 + 2xsin(2x) + x2 cos(2x)

.

Dieser Ausdruck ist wieder von der Form00. Wir mussten die Regel von deL’Hospital noch zweimal anwenden, um zu einem Ergebnis zu kommen. Etwaseinfach ist es, diesen Grenzwert als

limx→0

1− cos(2x)x2

· limx→0

x2

(sinx)2 + 2xsin(2x) + x2 cos(2x)=

limx→0

1− cos(2x)x2

· limx→0

1(

sinxx

)2+ 4sin(2x)

2x + cos(2x)

zu schreiben. Zweimal de L’Hospital (jeweils fur den links- und rechtsseitigenGrenzwert) liefert limx→0

1−cos(2x)x2 = 2, und wegen limx→0

sinxx = 1 gilt

limx→0

1(

sinxx

)2+ 4sin(2x)

2x + cos(2x)=

11+ 4+ 1

=16.

Also ist (7.8) genau13.

(vi) Eine andere Moglichkeit den Grenzwert (7.8) zu berechnen, besteht darin, diePotenzreihenentwicklung von sinx um 0 zu verwenden:

(1

(sinx)2− 1

x2

)=

1− ( sinxx )2

(sinx)2=

(1+

sinxx

1− sinxx

(sinx)2=

(1+

sinxx

1−∑∞n=0

(−1)nx2n

(2n+1)!(∑∞

n=0(−1)nx2n+1

(2n+1)!

)2=

(1+

sinxx

∑∞n=1

(−1)n−1x2n

(2n+1)!(∑∞

n=0(−1)nx2n+1

(2n+1)!

)2.

Oben und unten durchx2 dividieren ergibt

(1+

sinxx

∑∞n=0

(−1)nx2n

(2n+3)!(∑∞

n=0(−1)nx2n

(2n+1)!

)2.

Man beachte, dass alle hier auftretenden Potenzreihen Konvergenzradius+∞ ha-ben. Somit stehen in Zahler und Nenner stetige Funktionen in x (vgl. Satz 6.7.7).Fur x → 0 konvergiert die Potenzreihen gegen den nullten Summanden. Also

erhalten wir fur den Grenzwert (7.8) abermals 213!

1 =13.

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190 KAPITEL 7. DIFFERENTIALRECHNUNG

(vii) Seiw ∈ Cmit einem Realteil, der kleiner als Null ist. Wir wollen zeigen, dass derGrenzwert limt→+∞ t exp(wt) in C die komplexe Zahl 0 ist. Entweder wir betrach-ten dazu Real- und Imaginarteil des Grenzwertes gesondert, oder – was einfacherist – wir betrachten den Betrag vont exp(wt) fur t > 0 (vgl. Satz 6.8.3):

|t exp(wt)| = t exp(t Rew) =t

exp(t(−Rew)

) .

Wegen−Rew > 0 ist der Grenzwert davon furt → +∞ von der Form+∞+∞ . Somit

stimmt nach Satz 7.2.14 dieser Grenzwert uberein mit (siehe (6.13))

limt→+∞

t′

exp(t(−Rew)

)′ = limt→+∞

1−Rew · exp

(t(−Rew)

) = limt→+∞

exp(t Rew)−Rew

= 0.

7.2.17 Korollar. Sei I⊆ R ein Intervall mit den Randpunkten a, b, a < b und f : I →R (C) eine Abbildung, die auf(a, b) differenzierbar ist.

Ist a ∈ I, f dort stetig und existiertlim t→a+ f ′(t) in R (C), so ist f bei a rechtsseitigdifferenzierbar, wobeilimt→a+ f ′(t) = f ′(a)+. Entsprechendes gilt fur t→ b−, wennb ∈ I.

Beweis.Wegen der Stetigkeit vonf beia konnen wir Satz 7.2.14 im reellwertigen Fallbzw. Bemerkung 7.2.15 im komplexwertigen Fall anwenden underhalten

f ′(a)+ = limt→a+

f (t) − f (a)t − a

= limt→a+

f ′(t)1

.

7.2.18 Bemerkung.Ist mit der Notation aus Korollar 7.2.17f reellwertig und gilta ∈ Isowie limt→a+ f ′(t) = +∞ (= −∞), so lasst sich Satz 7.2.14 genauso wie im Beweisvon Korollar 7.2.17 anwenden, und man erhalt, dassf beia nicht rechtsseitig differen-zierbar ist. Entsprechendes gilt furt → b−, wennb ∈ I .

7.2.19 Bemerkung.Wegen Korollar 7.2.17 giltf ∈ C1(I ) genau dann, wennf ∈ C(I ),f |(a,b) ∈ C1(a, b) und sich (f |(a,b))′ auf ganzI stetig fortsetzen lasst. Dabei bezeichnena undb wieder die Randpunkte des IntervallsI .

7.2.20 Beispiel.Sei

0 1 2 3 4

12

1

f

f (x) =

e−

1x , falls x > 0

0 , falls x ≤ 0

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7.3. DER TAYLORSCHE LEHRSATZ 191

Klarerweise istf auf (−∞, 0] beliebig oft ableitbar mitf (n)(x) = 0, x ≤ 0.Auf (0,+∞) gilt f ′(x) = 1

x2 e−1x , und durch vollstandige Induktion sieht man, dass

(n ∈ N ∪ {0})f (n)(x) = pn

(1x

)e−

1x , x > 0.

fur Polynomepn(x) vom Grad 2n. Nun gilt mit Hilfe der Regel von de L’Hospital Satz7.2.14

limx→0+

f (n)(x) = limy→+∞

pn(y)ey= lim

y→+∞

p′n(y)

ey= · · · = lim

y→+∞

p(2n)n (y)ey

= 0,

da p(2n)n (y) eine Konstante ist.Wir sehen insbesondere, dassf auf [0,+∞) stetig ist, und dass wegen

lim t→0+ f ′(t) = 0 nach Korollar 7.2.17f ′(0)+ = 0. Wegenf ′(0)− = 0 ist f auch bei 0differenzierbar mitf ′(0), und somitf ∈ C1(R).

Wiederholte Anwendung dieses Argumentes auff ′, f ′′ usw. zeigt, dassf auf Rbeliebig oft differenzierbar ist, wobeif (n)(0) = 0, n ≥ 0.

7.3 Der Taylorsche Lehrsatz

Wir wollen im folgenden eine gegebene Funktionf auf einem reellen IntervallI durchPolynome approximieren. Fur hinreichend oft differenzierbaref werden wir das durchdas sogenannte Taylorpolynom zu bewerkstelligen suchen.

Eine Motivation des Taylorschen Lehrsatz ergibt sich aus folgenden Interpolationsuberlegungen. Die Gerade, die eineKurve in einem Punkt am besten approximiert, ist die Tangente (falls sie existiert). Approximiert man die Kurve mit einemPolynom hoheren Grades, so kann man hoffen, dass die Approximation genauer wird.

Wir haben die Tangente gefunden (eigentlich definiert) als die Grenzlage von Sekanten durch die Punkte (x, f (x)) und(x+ △x, f (x+ △x)). Da eine Gerade durch zwei Punkte eindeutig bestimmt ist,sind diese Sekanten wohldefinierte Objekte.

Ein Polynom vom Grade≤ n ist eindeutig festgelegt durch die Vorgabe der Wertey0, . . . , yn ann + 1 verschiedenenStellenx0, . . . , xn:

p(x) =n∑

k=0

yk ·∏

j∈{0,...,n}\{k}

x− x j

xk − x j.

Die Eindeutigkeit folgt aus der Tatsache, dass ein Polynom vom Grad≤ n hochstensn Nullstellen hat.Betrachten wir nunn+ 1 Punkte der Kurvef mit denx-Koordinatenx, x+ △x, . . . , x+ n△x, und legen ein Polynomp

durch diese Punkte.Fur große Schrittweiten△xwird das erhaltene Polynom nicht viel mit der Kurve zu tun haben, lasst man jedoch△x→ 0

streben, so hofft man auf eine gute Approximation.

7.3.1 Satz(Newtonsche Interpolationsformel). Seien x,△x und Werte y0, . . . , yn gegeben. Das Polynom, welches durch diePunkte(x, y0), (x+ △x, y1), . . . , (x+ n△x, yn) geht, ist gleich

p(x) = y0 +(x− x0)

1!△y0

△x+

(x− x0)(x− x1)2!

△2y0

△x2+ · · ·

. . . +(x− x0)(x− x1) . . . (x− xn−1)

n!△ny0

△xn,

wobei wir xj = x+ j△x gesetzt haben und△ jy0 die j-te Differenz bezeichnet. Diese ist rekursiv definiert als

△yi = yi+1 − yi , △2yi = △yi+1 − △yi , . . . .

Beweis.Offenbar giltp(x0) = y0. Man erhaltp(x1) = y0 + (x1 − x0)△y0△x = y0 + △x

△y0△x = y0 + (y1 − y0) = y1. Allgemein gilt

p(x j ) = y0 + (x j − x0)△y0

△x+

(x j − x0)(x j − x1)

2△2y0

△x2+ . . .

. . . +(x j − x0) · · · (x j − x j−1)

j!△ jy0

△x j=

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192 KAPITEL 7. DIFFERENTIALRECHNUNG

= y0 + j△x△y0

△x+

j△x( j − 1)△x

2△2y0

△x2+ · · · + j!△x j

j!△ jy0

△x j=

=

(j0

)y0 +

(j1

)△y0 +

(j2

)△2y0 + · · · +

(jj

)△ jy0.

Wir zeigen nun mittels Induktion die folgende Behauptung: Fur je j + 1 Wertey0, . . . , y j gilt die Formel

y j =

j∑

l=0

(jl

)△ly0.

Der Induktionsanfangj = 0 ist offensichtlich richtig. Sei die Formel also bereits gezeigt f¨ur je j Werte. Dann folgt

j∑

l=0

(jl

)△ly0 = y0 +

j−1∑

l=1

(jl

)△ly0 + △ jy0 =

= y0 +

j−1∑

l=1

[(j − 1l − 1

)+

(j − 1

l

)]△ly0 + (△ j−1y1 − △ j−1y0) =

= y0 +

j−1∑

l=1

(j − 1l − 1

)(△l−1y1 − △l−1y0) +

j−1∑

l=1

(j − 1

l

)△ly0 + (△ j−1y1 − △ j−1y0) =

=

j−2∑

l=0

(j − 1

l

)△ly1 + △ j−1y1

︸ ︷︷ ︸

=yj

j−2∑

l=0

(j − 1

l

)△ly0 + △ j−1y0

+y0 +

j−1∑

l=1

(j − 1

l

)△ly0

= y j

❑Ist f an der Stellex differenzierbar, so gilt lim△x→0

△y0△x = lim△x→0

f (x+△x)− f (x)△x = f ′(x). Allgemein gilt:

7.3.2 Lemma. Sei f : [a, b] → R stetig und n-mal stetig differenzierbar auf(a, b). Ist x∈ (a, b), so gilt (y j = f (x+ j△x))

lim△x→0

△ny0

△xn= f (n)(x).

Beweis.Sei p(x) = y0 +(x−x0)

1!△y0△x + . . . +

(x−x0)···(x−xn−1)n!

△ny0△xn . Die Funktionh(x) := f (x) − p(x) hat dien+ 1 Nullstellen

x0, · · · , xn (∈ (a,b) fur △x hinreichend klein). Mit Korollar 7.2.4 folgt die Existenz vonξ ∈ (x0, xn) mit h(n)(ξ) = 0. Nun gilt

0 = h(n)(ξ) = f (n)(ξ) − p(n)(ξ) = f (n)(ξ) − △ny0

△xn.

Fur△x→ 0 folgt wegen der Stetigkeit vonf (n) auch△ny0△xn → f (n)(x).

❑Man erhalt also als Grenzfall des in einem Punktx0 approximierenden Polynoms gerade

p(x) = f (x0) + (x− x0) f ′(x0) +(x− x0)2

2f ′′(x0) + · · · + (x− x0)

n!f (n)(x0).

Wahlt man den Grad vonp immer großer, so wird (hoffentlich) p(x) die Kurve f (x) immer besser annahern.

7.3.3 Definition. Sein ∈ N, I ⊆ R ein Intervall,y ∈ I fest undf : I → R (C). Weiterssei f mindestensn-mal differenzierbar beiy; vgl. Definition 7.1.15. Das Polynom (inder Variablenx)

Tn(x) =n∑

k=0

(x− y)k

k!f (k)(y),

nennt man dann dasn-teTaylorsche Polynoman derAnschlussstelle y. Die Fehlerfunk-tion Rn(x) := f (x) − Tn(x) nennt man dasn-te Restglied.

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7.3. DER TAYLORSCHE LEHRSATZ 193

DassTn(x) eine gute Wahl ist, um ein reellwertigesf zu approximieren, folgt ausdem nun folgenden Satz, welcher eine Art Verfeinerung des Mittelwertsatzes ist.

7.3.4 Satz(Taylorscher Lehrsatz). Sei I⊆ R ein Intervall, und sei n∈ N∪ {0}. Weiterssei f : I → Rmit f ∈ Cn(I ) und so, dass f(n) am Inneren von I – also auf I ohne seineRandpunkte – differenzierbar ist, bzw. aquivalent dazu, dass f auf dem Inneren von Isicher n+ 1-mal differenzierbar ist.

Zu x, y ∈ I , x , y, gibt es immer einξ ∈ (min(x, y),max(x, y)), sodass sich das n-teRestglied Rn(x) = f (x) − Tn(x) schreiben lasst als (Lagrange Formdes Restgliedes)

Rn(x) =(x− y)n+1

(n+ 1)!f (n+1)(ξ).

Beweis.SeienF,G : [min(x, y),max(x, y)] → R definiert durch

F(t) = f (x) −n∑

k=0

(x− t)k

k!· f (k)(t), G(t) = (x− t)n+1.

Voraussetzungsgemaß sind beide stetig auf [min(x, y),max(x, y)] und differenzier-bar auf (min(x, y),max(x, y)), wobei G′(t) = −(n + 1)(x − t)n

, 0 fur t ∈(min(x, y),max(x, y)) und

F′(t) = −n∑

k=0

(x− t)k

k!f (k+1)(t) +

n∑

k=1

k(x− t)k−1

k!f (k)(t) = − (x− t)n

n!f (n+1)(t).

Nach dem verallgemeinerten Mittelwertsatz, Satz 7.2.7, gibt es ein ξ ∈(min(x, y),max(x, y)), sodass

Rn(x)(x− y)n+1

=F(y) − F(x)G(y) −G(x)

=F′(ξ)G′(ξ)

=− (x−ξ)n

n! f (n+1)(ξ)

−(n+ 1)(x− ξ)n=

f (n+1)(ξ)(n+ 1)!

.

7.3.5 Bemerkung.Wahlt man im obigen BeweisG(t) = (x−t)p fur ein festes aber belie-bigesp ∈ N, so erhalt man mit derselben Argumentation einξ ∈ (min(x, y),max(x, y)),sodass

Rn(x) =f (n+1)(ξ)

n!p(x− y)p(x− ξ)n−p+1.

Stellt manξ durchξ = θx+ (1− θ)y fur einθ ∈ (0, 1) dar, so erhalt man dieSchlomilch-sche Form

Rn(x) =f (n+1)(ξ)

n!p(x− y)n+1(1− θ)n−p+1.

des Restgliedes. Furp = n + 1 erhalt man die Lagrange Form und furp = 1 diesogenannteCauchysche Formdes Restgliedes.

7.3.6 Fakta. Sei f : I → R (C) wie in Definition 7.3.3.

1. Man sieht unmittelbar durch Nachrechnen, dassTn(x) ein Polynom hochstensn-ten Grades ist, sodass

Tn(y) = f (y),T′n(y) = f ′(y), . . . ,T(n)n (y) = f (n)(y). (7.9)

Die hoheren Ableitungen vonTn verschwinden identisch, da es ein Polynomhochstensn-ten Grades ist.

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194 KAPITEL 7. DIFFERENTIALRECHNUNG

2. Ist p(x) ein weiteres Polynom hochstensn-ten Grades mit (7.9) (Tn ersetzt durchp), so verschwinden die Ableitungen 0-ten bisn-ten Grades vonq(x) = p(x) −Tn(x) an der Stelley.

Wenden wir Satz 7.3.4 auf die reellen Funktionen Req(x) und Imq(x) oder auchnur q(x), falls diese reell ist, an, so folgt wegenq(n+1) ≡ 0, dassq(x) = 0. Alsodefiniert die Eigenschaft (7.9) das PolynomTn(x) eindeutig.

3. Ist f selber ein Polynom vom Gradm, so muss insbesonderef (x) = Tn(x) furn ≥ m.

4. Fur reellwertige Funktionenf gibt Satz 7.3.4 im Falle der Differenzierbar-keit von f (n) am Inneren vonI eine Moglichkeit, das RestgliedRn(x) durch(x−y)n+1

(n+1)! f (n+1)(ξ) auszudrucken. Das Problem dabei ist, dass man vonξ nur weiß,

dass es zwischenx undy liegt. Nichtsdestotrotz kann man manchmalf (n+1) sogut abschatzen, dass man sicher sagen kann, dassRn(x) klein wird; vgl. auchBemerkung 7.3.5.

5. Ist f beliebig oft differenzierbar, so kann man fur jedesn ∈ N ∪ {0} das Taylor-polynomTn(x) an der Anschlussstelley betrachten. Man erhalt schließlich dieTaylorreihevon f an der Anschlussstelley:

T(x) :=∞∑

n=0

f (n)(y)n!

(x− y)n.

Das ist eine Potenzreihe mit KonvergenzradiusR ∈ [0,+∞]. Hier konnen alleFalle auftreten.

6. Ist R > 0, so konvergiert die Potenzreihe insbesondere auf (y − R, y + R). NunkannT(x) auf (y−R, y+R)∩ I mit der Ausgangsfunktionf (x) ubereinstimmen;sie muss es aber nicht.

Klarerweise istT(x) = f (x), x ∈ (y− R, y+R) ∩ I genau dann, wennRn(x)→ 0fur x ∈ (y− R, y+ R) ∩ I .

7. Sei∑∞

n=0 anzn eine Potenzreihe mit KonvergenzradiusR > 0, und betrachte dieFunktion

f : (y− R, y+ R)→ C, f (t) =∞∑

n=0

an(t − y)n.

Wir werden in Proposition 8.7.5 sehen, dassf (l)(y) = l! · al , l ∈ N ∪ {0}. DieTaylorreihe vonf an der Anschlussstelley ist somit genau

∑∞n=0 an(t − y)n, und

konvergiert daher auf (y− r, y+ R).

Das RestgliedRn(x) konvergiert dann klarerweise gegen 0.

7.3.7 Beispiel.Sein ∈ N ∪ {0}, I ⊆ R ein Intervall, undf : I → R so, dassf ∈ Cn(I )und dassf auf dem Inneren des IntervallsI sogar (n+ 1)-mal differenzierbar ist. Giltnun f (n+1)(ξ) = 0 fur alleξ im Inneren vonI , so folgtRn(x) = 0 und daherf (x) = Tn(x)fur alle x ∈ I . Kurz zusammengefasst bedeutet das, dass genau die Polynome vom Grad≤ n alle moglichen Losungen derDifferentialgleichung

f (n+1)(ξ) = 0,

sind. Indem manf in Real- und Imaginarteil zerlegt, folgt diese Tatsache auch furkomplexwertigef .

Page 201: ANA1.pdf

7.3. DER TAYLORSCHE LEHRSATZ 195

7.3.8 Beispiel.

Sei f (t) = et. Dann gilt f (n)(t) = et, also f (n)(0) = 1. Wir erhalten

ex =

n∑

k=0

xk

k!+ Rn(x),

wobeiRn(x) = xn+1

(n+1)! eξ mit ξ ∈ (0, x).

Da ex die Grenzfunktion einer Potenzreihe ist, – so wurde sie ja eingefuhrt –mussRn(x)→ 0, vgl. Fakta 7.3.6, 7. Man kann dieses Grenzverhalten aber auchunschwer durch eine elementare Abschatzung vonRn(x) erhalten.

Betrachte die Funktion

f (t) =∞∑

k=1

cos(2kt)k!

.

Differenziert man diese Reihe gliedweise, so erhalt man

∞∑

k=1

−2k sin(2kt)k!

,

∞∑

k=1

−22k cos(2kt)k!

, . . .

Da∑∞

k=1(2k)l

k! fur jedes l ∈ N konvergiert, sind samtliche dieser Reihengleichmaßig konvergent aufR. Wie wir spater in Korollar 8.7.4 sehen werden,ist die Funktion f daher in jedem Punkt beliebig oft differenzierbar, und ihreAbleitungen werden durch obige Reihen dargestellt. Es giltdaher

f ′(0) = f ′′′(0) = . . . = f (2k+1)(0) = . . . = 0,

und

f (2n)(0) = (−1)n∞∑

k=1

22nk

k!= (−1)n(e4n − 1).

Die Taylorreihe vonf bei 0 ist also gleich

∞∑

n=0

(−1)n(e4n − 1)(2n)!

x2n.

Wendet man das Quotientenkriterium an, so erhalt man (an =(−1)n(e4n−1)

(2n)! x2n) .

∣∣∣an+1

an

∣∣∣ = (e4n2 + 1)(e4n+ 1)

(2n+ 2)(2n+ 1)x2 −→ ∞, x , 0.

Diese Reihe ist fur keinx (außer im Trivialfallx = 0) konvergent.

Das TaylorpolynomTn(x) der Funktion f aus Beispiel 7.2.20 stets identischNull. Also ist f ein Beispiel fur eineC∞-Funktion, deren Taylorreihe bei derAnschlussstelle 0 auf ganzR konvergiert, aber nicht mitf ubereinstimmt.

Wir haben gesehen, dass fur eine differenzierbare Funktionf , welche an einer Stel-le x ein lokales Extremum besitzt,f ′(x) = 0 gelten muss. Wie das Beispielf (t) = t3

zeigt, gilt die Umkehrung im Allgemeinen nicht. Aus dem Taylorschen Satz erhalt manunmittelbar eine hinreichende Bedingung fur ein lokales Extremum.

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196 KAPITEL 7. DIFFERENTIALRECHNUNG

7.3.9 Korollar. Fur m ∈ N, m > 1 sei f : (c, d) → R eine zumindest m-mal differen-zierbare Funktion, x∈ (c, d), f (m) bei x stetig, und gelte

f ′(x) = f ′′(x) = . . . = f (m−1)(x) = 0, f (m)(x) , 0.

Ist m gerade, so ist x ein lokales Extremum von f , und zwar ein lokales Minimum fallsf (m)(x) > 0 und ein lokales Maximum falls f(m)(x) < 0. Ist dagegen m ungerade, so istx sicher kein lokales Extremum von f .

Beweis. Gemaß Satz 7.3.4 mit Anschlussstellex undn+ 1 = m gilt fur t ∈ (c, d) miteiner geeigneten Zwischenstelleξ zwischent undx

f (t) = f (x) +(t − x)m

m!f (m)(ξ) .

Ist f (m)(x) > 0, so gilt furξ in einer hinreichend kleinen Umgebung (x− δ, x+ δ) von xebenfallsf (m)(ξ) > 0. Daξ zwischent undx liegt, folgt aust ∈ (x− δ, x+ δ), dass furgeradesm

(t − x)m

m!f (m)(ξ) > 0 .

Somit folgt f (t) > f (x), undx ist ein lokales Minimum. Istmungerade, so hat (t − x)m

fur t < x ein anderes Vorzeichen als furt > x. Also ist x kein lokales Extremum. Ganzanalog verlauft die Argumentation furf (m)(x) < 0.

7.3.10 Beispiel.Mit den bisher gesammelten Ergebnissen lassen sich sogenannteKurvendiskussionenvon Funktionen durchfuhren.

0 11e

2

1

2

3

4f

Man betrachte z.B. dieFunktion f (x) = xx auf(0,+∞).

Zunachst ist diese Funktion stetig und beliebig oft differenzierbar.

Klarerweise ist sie immer positiv, hat also keine Nullstellen.

Um die lokalen Extrema zu finden, betrachte

f ′(x) = xx(1+ ln x), f ′′(x) = xx−1 + xx(1+ ln x).

Die einzige Nullstelle vonf ′(x) ist 1e. Da f ′′( 1

e) > 0 folgt aus Korollar 7.3.9,dass diese Stelle ein lokales Minimum ist.

Fur 0 < x < 1e ist f ′(x) < 0 also dort monoton fallend, und fur1e < x ist

f ′(x) > 0, also dort monoton wachsend, vgl. Korollar 7.2.9. Insbesondere ist1eein absolutes Minimum vonf auf (0,+∞).

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7.4. STAMMFUNKTION 197

Schließlich haben wir in Beispiel 7.2.16 gesehen, dass limx→0+ f (x) = 1. Wegenxx ≥ ex, x ≥ egilt auch die Beziehung limx→+∞ f (x) = +∞.

7.3.11 Beispiel.Wir wollen die Funktionf : (0,+∞)→ R

f (x) = (1− ln x)2 − x(3− 2 ln x).

aus Beispiel 7.2.5 weiter diskutieren, fur die wir schon berechnet haben, dass

f ′(x) = 2(ln x− 1)1x+ 2 ln x− 1, f ′′(x) = 2

1x2− 2

ln x− 1x2

+2x=

4− 2 ln x+ 2xx2

.

Zudem haben wir festgestellt, dassf ′′(x) > 0 fur x ∈ (0,+∞) und dassf genau zweiNullstellenξ, η hat, wobei 0< ξ < 1 < η < +∞.

Nach dem Satz von Rolle hat dann auchf ′ mindestens eine Nullstellex0 mit ξ <x0 < η. Wegenf ′′(x) > 0 und dem Satz von Rolle kann es davon aber nur ein geben,und mit Korollar 7.3.9 erkennen wir ausf ′′(x0) > 0, dassx0 ein lokales Minimum vonf ist.

In der Tat mussf ′ wegenf ′′(x) > 0 streng monoton wachsen. Außerdem gilt wegenf ′(x) ≤ − 1

x fur x ∈ (0, 1)lim

x→0+f ′(x) = −∞,

und wegenf ′(x) ≥ 2 ln x− 1 fur x > e

limx→+∞

f ′(x) = +∞.

Daraus erkennen wir auch, dassf eine eindeutige Nullstelle haben muss.Wegen der Monotonie vonf ′ gilt

f ′(s) < f ′(x0) = 0 < f ′(t) fur 0 < s< x0 < t < +∞.

Also ist f auf (0, x0) monoton fallend und auf (x0,+∞) monoton wachsend, weshalbx0 sogar ein globales Minimum vonf sein muss.

7.4 Stammfunktion

Bei der Integration von Funktionen wird es wichtig sein, zu einer gegebenen Funktionf : [a, b] → R (C) – falls moglich – eine FunktionF : [a, b] → R (C) zu finden, sodassF′ = f .

7.4.1 Definition. Sei I ⊆ R ein Intervall undf : I → R (C). Wir nennen eine FunktionF : I → R (C) eineStammfunktionvon f , wennF′(x) = f (x) fur alle x ∈ I .

Hat ein f mindestens eine Stammfunktion, so heißt die Gesamtheit aller Stamm-funktionen vonf dasunbestimmte Integralvon f und wird durch

∫f bezeichnet.

7.4.2 Bemerkung.Mit F ist offensichtlicherweise auchF + c fur jedesc ∈ R (C) eineStammfunktion vonf .

Sind umgekehrtF1, F2 zwei Stammfunktionen der selben Funktionf , so gilt (F1−F2)′ ≡ 0 aufI . Nach Korollar 7.2.9 bzw. Bemerkung 7.2.11 istF1−F2 eine Konstante.Somit gibt es bis auf additive Konstanten eine eindeutige StammfunktionF, und

∫f = {F + c : c ∈ R (C)}.

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198 KAPITEL 7. DIFFERENTIALRECHNUNG

7.4.3 Beispiel.Ist f : R \ {0} → R gegeben durchf (x) = 1x , so uberzeugt man sich

sofort, dassF : R \ {0} → R, F(x) = ln |x| die GleichungF′(x) = f (x) fur allex ∈ R\{0} erfullt. Fur die FunktionG : R\{0} → R, G(x) = sgn(x)+ ln |x| gilt ebenfallsG′(x) = f (x) fur alle x ∈ R \ {0}. Dieser scheinbare Widerspruch zu Bemerkung 7.4.2lasst sich dadurch erklaren, dassR \ {0} ja kein Intervall ist – Korollar 7.2.9 lasst sichdarauf also nicht anwenden.

Zum Aufsuchen von Stammfunktionen gegebener Funktionen ist folgendes Resul-tat sehr hilfreich.

7.4.4 Lemma. Seien I, J ⊆ R Intervalle und f, g : I → R (C), sowieα, β ∈ R (C).Weiters sei h: J→ I differenzierbar.

(i) Haben f und g Stammfunktionen, so auchα f + βg, wobei∫

(α f + βg) = α∫

f + β∫

g

.

(ii ) Sind f und g differenzierbar auf I, sodass f′g eine Stammfunktion hat, dann hatauch f g′ eine solche, und

∫f ′g = f g−

∫f g′, Regel von der Partiellen Integration. (7.10)

(iii ) Mit f hat auch( f ◦ h) · h′ : J→ R (C) eine Stammfunktion, wobei∫

(( f ◦ h) · h′) =(∫

f

)◦ h, (Substitutionsregel)

Diese drei Beziehungen sind so zu verstehen, dass wenn∫· · · fur jeweils eine Stamm-

funktion steht, die Gleichheit bis auf eine Konstante gilt.

Beweis.

(i) SindF undG Stammfunktionen vonf undg, so folgt (αF + βG)′ = αF′ + βG′ =α f + βg. Also istαF + βG eine Stammfunktion vonα f + βg.

(ii ) Ist H Stammfunktionen vonf ′g, so folgt aus der Produktregel (f g−H)′ = ( f ′g+f g′) − f ′g = f g′. Somit ist f g− H Stammfunktionen vonf g′, und es gilt (7.10).

(iii ) Ist F Stammfunktionen vonf , so folgt aus der Kettenregel in Satz 7.1.9 bzw.Bemerkung 7.1.10, dass (F ◦ h)′ = ( f ◦ h) · h′. Also istF ◦ h Stammfunktion von( f ◦ h) · h′.

7.4.5 Bemerkung.Zur Substitutionsregel gibt es folgende Merkregel:SeienI , J ⊆ R wieder Intervalle,f : I → R (C), undh : J → I differenzierbar.

Schreiben wirx = h(t) mit t ∈ J und formaldx= h′(t) dt, so erhalt man aus(∫

f

)(x) =:

∫f (x)dx

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7.4. STAMMFUNKTION 199

durch Ersetzen vonx durchh(t) unddxdurchh′(t) dt∫

f (h(t)) · h′(t) dt :=∫

(( f ◦ h) · h′).

Wie gesagt ist das eine Merkregel, die sich beim Bestimmen konkreter Stammfunk-tionen aber als durchaus praktikabel und ubersichtlich herausgestellt hat, siehe etwaBeispiel 7.4.9.

7.4.6 Beispiel.Man kann die Substitutionsregel verwenden, um einfacheDifferential-gleichungender Form

y′(t) · f (y(t)) = g(t), t ∈ I , (7.11)

zu losen. Hier sindI , J ⊆ R Intervalle und f : J → R sowie g : I → R stetigeFunktionen.

Angenommen man hat eine Funktiony : I → J ⊆ R, welche (7.11) erfullt. Hatf eine StammfunktionF, so ist nach der Substitutionsregel die FunktionF ◦ y eineStammfunktion vont 7→ y′(t) · f (y(t)) und daher auch vong.

Kennt man andererseits eine StammfunktionG von g explizit, so folgtF ◦ y =G + c fur eine Konstantec ∈ R. Also hat man eine implizite Beschreibung vony(t). Inmanchen Fallen lasst sich diese Gleichung nachy auflosen, wodurch many(t) explizitebeschreiben kann.

Diese hier beschriebene Methode nennt man auchTrennung der Variablen.

7.4.7 Beispiel.Man betrachte die Differentialgleichung

y′(t) = y(t), t ∈ R.

Eine reellwertige Losungy dieser Differentialgleichung isty ≡ 0. Angenommeny isteine weitere reellwertige Losung mity(t0) < 0 fur eint0 ∈ R. Wegen der Stetigkeit gilty(t) < 0 fur alle t ∈ (t0 − ǫ, t0 + ǫ) =: I .

Ist f : I → (−∞, 0) die Funktionf (η) = 1η, so gilt fur t ∈ I ,

y′(t) · 1y(t)= y′(t) · f (y(t)) = 1.

Eine Stammfunktion vonf ist F(η) = ln(−η), also istt 7→ ln(−y(t)) eine Stammfunkti-on vony′(t)· 1

y(t) auf I . Von 1 istt 7→ t eine Stammfunktion. Es folgt ln(−y(t)) = t+c, t ∈I , und weitery(t) = −ec · et. Also mussy(t) = d · et, t ∈ I fur ein reellesd ∈ (−∞, 0).

Man beachte, dass wir von der Gultigkeit vony′(t) = y(t) auf y(t) = d · et, t ∈ I ,geschlossen haben, wir uns also zunachst nicht sicher seinkonnen, dass diese Funktiontatsachlichy′(t) = y(t) lost. Durch Einsetzen zeigt man aber sofort, dass tatsachlichy(t) = d · et, t ∈ R, eine Losung ist.

Wir werden nun einige Funktionstypen auflisten und angeben,wie man die unbe-stimmten Integrale von diesen bestimmt.

(i) Ist f (x) = xn, n ∈ N∪ {0} aufR, so istF(x) = 1n+1 xn+1 eine Stammfunktion. Also

ist∫

xn = 1n+1 xn+1 + c.

(ii ) Ist f (x) = x−n, n ∈ N, n > 1 auf (−∞, 0) oder (0,+∞), so istF(x) = 1−n+1 x−n+1

eine Stammfunktion.

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200 KAPITEL 7. DIFFERENTIALRECHNUNG

(iii ) Ist f (x) = x−1, auf (−∞, 0) oder (0,+∞), so istF(x) = ln |x|, x , 0 eine Stamm-funktion.

(iv) Um die Stammfunktion von lnx, x > 0 zu ermitteln, wenden wir die PartielleIntegration an:

∫ln(x) =

∫(x′) ln(x) = x ln(x) −

∫x

1x= x(ln(x) − 1)+ c.

(v)∫

ex = ex + c,∫

sinhx = coshx+ c,∫

coshx = sinhx+ c.

(vi)∫

sinx = − cosx+ c,∫

cosx = sinx+ c.

(vii) Sein ∈ N, n ≥ 2. Mit partieller Integration sieht man∫

cosn t =∫

(cosn−1 t) · (cost) = (cosn−1 t)(sint) + (n− 1)∫

(cosn−2 t)(sint)2 =

(cosn−1 t)(sint) + (n− 1)∫

(cosn−2 t) − (n− 1)∫

(cosn t).

Also erhalt man die Rekursionsgleichung∫

cosn t =1n

(cosn−1 t)(sint) +n− 1

n

∫(cosn−2 t).

(viii ) Mit Hilfe von (i) und der Substitutionsregel folgt (k ∈ N, k > 1)∫

a(x− b)

= a ln |x− b| + c,∫

a(x− b)k

=a

(−k+ 1)(x− b)k−1+ c,

wobei man diese Funktionen auf einem Intervall betrachtet,dasb nicht enthalt.

(ix)∫

11+x2 = arctanx+ c. (Umkehrfunktion von tan= sin

cos : (− π2 ,π2)→ R).

(x) Um∫

x1+x2 zu ermitteln, wende man die Substitutionsregel aufh(x) = x2, h′(x) =

2x und f (y) = 11+y an:

∫x

1+ x2=

12

∫2x

1+ x2=

12

(∫1

1+ y

)

y=x2

=12

(ln |1+ y|)y=x2 =12

ln |1+ x2|.

(xi) Ganz ahnlich sieht man∫

x(1+x2)k =

12(1−k)

1(1+x2)k−1 fur k ∈ N, k > 1.

(xii)∫

1(1+x2)k , k ∈ N, k > 1 lasst sich rekursiv berechnen, indem man

t = arctanx ∈ (− π2 ,π2) substituiert

∫1

(1+ x2)k=

∫1

(1+ x2)k−1· 1

(1+ x2)=

∫1

(tan2 t + 1)k−1=

∫cos2k−2 t =

12k− 2

(cos2k−2 t) · (tant) +2k− 32k− 2

∫(cos2k−4 t) =

12k− 2

· x

(1+ x2)k−1+

2k− 32k− 2

∫1

(1+ x2)k−1.

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7.4. STAMMFUNKTION 201

(xiii ) Ist nun allgemeinf (x) = x+d(x2+px+q)k , und hatx2 + px+ q keine reellen Nullstellen

(D := q− p2

4 > 0), so schreibe

f (x) =(x+ p

2 ) + (d− p2 )

((x+ p2 )2 + q− p2

4 )k.

Um∫

f (x) zu berechnen, substituiere√

Dy− p2 = x(y):

∫f (x) =

1Dk

∫Dy+

√D(d− p

2 )

(1+ y2)k.

Dieses Integral lasst sich mit Hilfe der oben behandelten Funktionen losen.

(xiv) Zu guter letzt noch Stammfunktion vonC-wertigen Funktionen (w ∈ C):∫

eix = −ieix + c,∫

ewx =1w

ewx+ c,

∫xewx =

xw

ewx−∫

1w

ewx =xw

ewx− 1w2

ewx+ c.

Um die Stammfunktion einer beliebigen rationalen FunktionR(x) = P(x)Q(x) , wobei

P(x) undQ(x) zwei reelle Polynome sind, zu ermitteln, werden wir diese in eine Sum-me von Funktionen entwickeln, deren Stammfunktionenwir eben kennengelernt haben.

Als erstes folgt aus demEuklidischen Algorithmus, dass

P(x) = S(x)Q(x) + T(x),

wobeiS(x) undT(x) reelle Polynome sind, und wobei der Grad vonT(x) kleiner alsder vonQ(x) ist.

Das Integral vonR(x) = S(x) + T(x)Q(x) ist daher

∫S(x) +

∫T(x)Q(x) . Das erste Integral

errechnet man leicht mit Hilfe von (i). Fur das zweite mussen wirT(x)Q(x) weiter zerlegen.

Dazu betrachten wir zuerst die auftretenden Polynome als komplexe Polynome.Das hat den Vorteil, dass sich jedes komplexe Polynom bis aufeine Konstante alsProdukt von Faktoren (z− zj) schreiben lasst.

7.4.8 Satz. Seien T(z),Q(z) zwei komplexe Polynome, sodass der Grad n von Q(z)großer als der von T(z) ist. Schreiben wir Q(z) = anzn + · · · + a0 mit an ∈ C \ {0} als

Q(z) = an(z− z1)ν1 · · · · · (z− zm)νm,

wobei zi , zj wenn i , j und wobeiν1, . . . , νm ∈ N, ν1 + · · · + νm = n, so gibt eseindeutige Zahlen ajk ∈ C, sodass (z∈ C \ {z1, . . . , zm})

T(z)Q(z)

=

m∑

j=1

ν j∑

k=1

a jk

(z− zj)k.

Beweis.Unser Problem ist aquivalent zur Existenz und Eindeutigkeit von Zahlena jk,sodass furz ∈ C

1an

T(z) =m∑

j=1

ν j∑

k=1

a jk(z− zj)ν j−km∏

l=1,l, j

(z− zl)νl . (7.12)

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202 KAPITEL 7. DIFFERENTIALRECHNUNG

Betrachte den VektorraumCn−1[z] aller komplexen Polynome vom Grad kleinern. Die-ser hat Dimensionn. Kann man nun zeigen, dass dien Stuck Polynome

(z− zj)ν j−km∏

l=1,l, j

(z− zl)νl , j = 1, . . . ,m, k = 1, . . . , ν j ,

linear unabhangig inCn−1[z] sind, so bilden sie sogar eine Basis, und unser Satz folgtsofort aus der Linearen Algebra.

Ware ∑

j=1,...,m,k=1,...,ν j

λ jk(z− zj)ν j−km∏

l=1,l, j

(z− zl)νl = 0,

und setzt manz = z1, . . . , zm, so erhalt manλ1ν1 = · · · = λmνm = 0. Nun kann man∏mj=1(z− zj) durchdividieren und erhalt

j=1,...,m;k=1,...,ν j−1

λ jk(z− zj)ν j−1−km∏

l=1,l, j

(z− zl)νl−1 = 0.

Wiederholt man obige Argumentation, so folgtλ j(ν j−1) = 0 fur alle j ∈ {1, . . . ,m}, ν j >

1, usw. bis man schließlichλ jk = 0 fur alle j = 1, . . . ,m, k = 1, . . . , ν j erhalt.❑

Aus (7.12) sehen wir auch, wie man die Zahlena jk gewinnen kann. In der Tat, kannman alle auftretenden Polynome ausmultiplizieren, und vergleicht dann die Koeffizien-ten, die bei jedemzk links und rechts vom Gleichheitszeichen stehen. Diese mussenubereinstimmen, und so erhalt mann Gleichungen furn Unbekannte.

Etwas weniger Arbeit hat man, wenn man den eben gebrachten Beweisgedankeneinfließen lasst. Man kann namlich in (7.12) nacheinanderz = z1, . . . , zm setzen underhalt soa jν j ganz leicht.

Wir kehren zu unseren reellen PolynomenT(x) und Q(x) zuruck. Wenn wir aufdiese Satz 7.4.8 anwenden, hat das den Nachteil, dass man eine Partialbruchzerlegungmit moglicherweise nicht nur reellen Komponenten erhalt.

Um das wieder zu reparieren, schließt man zuerst ausQ(z) = Q(z) – Q(z) hat jareelle Koeffizienten –, dass mitzj auchzj eine Nullstelle vonQ(z) ist, und dass diesedie gleiche Vielfachheitν j haben.

Somit sind die Nullstellen vonQ(z) von der Formx1, . . . , xp, z1, . . .zq, z1, . . . zq, wo-bei x j ∈ R undzj ∈ C+ := {z ∈ C : Im z> 0}. Die Partialbruchzerlegung aus Satz 7.4.8lasst sich nun schreiben als

T(z)Q(z)

=

p∑

j=1

ν j∑

k=1

a jk

(z− x j)k+

q∑

j=1

µ j∑

k=1

(b jk

(z− zj)k+

c jk

(z− zj)k

).

Da aber auchT(z)Q(z) =

T(z)Q(z) , folgt aus der Eindeutigkeit der komplexen Partialbruchzerle-

gunga jk ∈ R undc jk = b jk, und man erhalt(

b jk

(z− zj)k+

c jk

(z− zj)k

)=

(b j(z− zj)k + b j(z− zj)k

(z2 − 2zRe(zj) + |zj |2)k

),

wobei die Polynome in Zahler und Nenner reell sind. Summiert man nun uberk auf,und bringt die Summe auf gemeinsamen Nenner, so erhalt man eine Funktion der Form

T j(z)

(z2 + B jz+C j)µ j,

Page 209: ANA1.pdf

7.4. STAMMFUNKTION 203

wobeiT j(z) ein reelles Polynom mit Grad kleiner 2µ j ist, undB j = −2 Re(zj), C j =

|zj |2. Durch wiederholte Anwendung desEuklidischen Algorithmuskann man diesesPolynom als

T j(z) =µ j∑

k=1

(d jkz+ ejk)(z2 + B jz+C j)µ j−k

anschreiben. Somit folgt die Zerlegung

T(z)Q(z)

=

p∑

j=1

ν j∑

k=1

a jk

(z− x j)k+

q∑

j=1

µ j∑

k=1

d jkz+ ejk

(z2 + B jz+C j)k, (7.13)

welche nur reellen Zahlen beinhaltet. Dabei haben diez2 + B jz+C j klarerweise keinereellen Nullstellen.

Zur Praktischen Berechnung der Koeffizientena jk in (7.13) multipliziert manQ(z)links und rechts, und fuhrt einen Koeffizientenvergleich durch. Durch Einsetzen vonz= x j lassen sich diea jν j auch schneller berechnen.

Um∫

T(x)Q(x) zu berechnen, genugt es nun die einzelnen Summanden in der Partial-

bruchzerlegung zu integrieren, und diese dann zu summieren.

7.4.9 Beispiel.Wir wollen das Integral∫

tanx dxauf einem IntervallI berechnen, wo-bei keine Nullstelle von cosx enthalten darf:

∫tanx dx=

∫sinxcosx

dx =[t=cosx

dt=− sinxdx

] −∫

1t

dt =

= − ln |t| +C = − ln | cosx| +C .

Diese Methode beruht darauf, dass unser Integrand von der Gestalt f (t(x)) t′(x) ist, undnoch dazu mit einer sehr einfachen Funktionf . Daher konnen wir die Substitutionsre-gel unmittelbar anwenden und die entstehende Funktion leicht integrieren.

7.4.10 Beispiel.Wir wollen das Integral∫

x2 sinx dx auf einem beliebigen Intervallberechnen. Wir verwenden partielle Integration:

∫x2 sinx dx= x2(− cosx) −

∫2x(− cosx) dx= −x2 cosx+ 2

∫xcosx dx=

= −x2 cosx+ 2(xsinx−

∫sinx dx

)= −x2 cosx+ 2xsinx+ 2 cosx+C

Mit dieser Methode kann man zum Beispiel alle Integrale von der Form∫

P(x)ex dx,∫

P(x) sinx dx,∫

P(x) cosx dx,

mit einem PolynomP berechnen.

7.4.11 Beispiel(Integration vonR(ex)). Hat man eine Funktionf der Gestaltf (x) =R(ex), wobeiR eine rationale Funktion ist, so kann man deren Integral stets mit Hilfeder Substitutiont = ex auf das Integral einer rationalen Funktion bringen. Denn esgilt,mit t = ex, ∫

R(ex) dx =[ t=ex

dt=exdxdx= 1

t dt

]∫

R(t)1t

dt

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204 KAPITEL 7. DIFFERENTIALRECHNUNG

7.4.12 Beispiel.Wir wollen das Integral∫

e2x−1ex+2 dx aufR berechnen. Zunachst gilt

∫e2x − 1ex + 2

dx=∫

(ex)2 − 1ex + 2

dx =[t=ex

dx= 1t dt

]∫

t2 − 1t + 2

· 1t

dt

Man beachte, dass nach der Substitutiont(x) = t in (0,+∞) liegt; also immer positiv ist.Nun haben wir ein Integral einer rationalen Funktion auf (0,+∞) zu berechnen. Dazuschreiben wir

t2 − 1t + 2

· 1t=

t2 − 1t2 + 2t

=t2 + 2t − 2t − 1

t2 + 2t= 1− 2t + 1

t(t + 2)

und versuchen nun den zweiten Summanden in Partialbruche zu zerlegen:

2t + 1t(t + 2)

=At+

Bt + 2

=(A+ B)t + 2A

t(t + 2)

Koeffizientenvergleich fuhrt aufA = 12 undB = 3

2. Also haben wir

t2 − 1t + 2

· 1t= 1− 1

2t− 3

2(t + 2)

und daher ∫t2 − 1t + 2

· 1t

dt = t − 12

ln t − 32

ln(t + 2) =

= ex − x2− 3

2ln(ex + 2)

7.4.13 Beispiel(Integration vonR(sinx, cosx)). Hat man eine Funktionf der Gestaltf (x) = R(sinx, cosx), wobeiR eine rationale Funktion ist, so kann man deren Integralstets mit Hilfe der Substitutiont = tan x

2 auf das Integral einer rationalen Funktionbringen. Denn es gilt, mitt = tan x

2,

sinx = 2 sinx2

cosx2=

2 tanx2

1+ tan2 x2

=2t

1+ t2

cosx = cos2x2− sin2 x

2=

1− tan2 x2

1+ tan2 x2

=1− t2

1+ t2

dtdx=

12

(1+ tan2 x2

) alsodx=2

1+ t2dt

Page 211: ANA1.pdf

Literaturverzeichnis

[EL] K.Endl,W.Luh: Analysis I-III,Aula Verlag, Wiesbaden 1986.

[F] G.M.Fichtenholz: Differential- und Integralrechnung I-III,Deutscher Verlag derWissenschaften, Berlin 1964.

[H] H.Heuser: Lehrbuch der Analysis 1,2,Teubner Verlag, Stuttgart 1989.

[L] S.Lang: A first course in calculus,Springer Verlag, Heidelberg 1986.

[R] W.Rudin: Principles of Mathematical Analysis,McGraw-Hill, New York 1953,third edition 1976.

[W] W.Walter: Analysis 1,Springer Verlag, Heidelberg, New York Tokoyo.

205

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Index

C(I ), 181C(X,Y), 129C0(I ), 181C∞(I ), 181Cn(I ), 181Cb(E,Y), 152C[z], 166R, 40Z, 26ǫ-Kugel, 97lim i∈I xi , 110lim t→+∞ f (t), 127lim t→−∞ f (t), 127lim t→z f (t), 124limz→∞ f (z), 128P, 33B(E,Y), 147d(x, y), 52d1(x, y), 54d2(x, y), 52d∞( f , g), 147d∞(x, y), 55C+, 202Q, 34R[x], 75C, 46Cn−1[z], 202N, 16uberall definiert, 4

Abbildung, 4identische, 4isometrische, 129

Abel Kriterium, 87Abelscher Grenzwertsatz, 172Ableitung

einer Funktion, 180hohere, 181im Punktx, 175linksseitige, 175rechtsseitige, 175

Abschluss, 99absolut konvergent, 83Addition, 9, 20alternierende harmonische Reihe, 83analytisch, 157analytisch in einem Punkt, 157Anschlussstelle, 192Antisymmetrie, 12Arcuscosinus, 169

Funktionsgraph, 169Arcuscotangens, 169

Funktionsgraph, 169Arcussinus, 169

Funktionsgraph, 169Arcustangens, 169

Funktionsgraph, 169Areacosinus Hyperbolicus, 170

Funktionsgraph, 171Areacotangens Hyperbolicus, 171

Funktionsgraph, 172Areasinus Hyperbolicus, 170

Funktionsgraph, 171Areatangens Hyperbolicus, 171

Funktionsgraph, 172Assoziativitat, 7, 20Auswahlaxiom, 62Axiome, 9

Bernoullische Ungleichung, 19beschrankt, 13

nach oben, 13nach unten, 13

beschrankteFolge, 60Menge, 60

Betragkomplexer Zahlen, 48

bijektiv, 6Bildmenge, 5

Cauchy-Folge, 69

206

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INDEX 207

Cauchy-Netz, 114Cauchy-Schwarzsche Ungleichung, 53Cauchysches Konvergenzkriterium

Folgen, 70Reihen, 82

Cauchysches Restglied, 193Charakteristik, 38Cosinus, 158

Funktionsgraph, 163Cosinus Hyperbolicus, 169

Funktionsgraph, 170Cotangens, 168

Funktionsgraph, 168Cotangens Hyperbolicus

Funktionsgraph, 171

Dedekindscher Schnitt, 44Definitionsbereich, 5Definitionsmenge, 4dicht, 99Dichteeigenschaft, 39Differentialgleichung, 194, 199Differentialgleichungen

Trennung der Variablen, 199Differenz, 2differenzierbar

n-mal, 181im Punktx, 175rechtsseitig, 175stetig, 181

Dirichlet Kriterium, 86diskrete Metrik, 55Distributivgesetz, 3Distributivitat, 20divergent, 56, 78

bestimmt, 73Dividieren mit Rest, 33domain, 5Doppelreihen, 121Dreiecksungleichung, 16, 52Dreiecksungleichung nach unten, 16

Einheitskreislinie, 102, 137Einschrankung, 5Elemente, 1endlich, 25Euklidischer Algorithmus, 201, 203Eulersche Exponentialfunktion, 123Eulersche Zahl, 67, 161Existenz des neutralen Elementes, 20

Exponentialfunktion, 123, 158Funktionsgraph, 160

Extremumabsolutes, 182lokales, 182

faktorielle, 85Folge, 56

Cauchy-Folge, 69monoton fallende, 66monoton wachsende, 65monotone, 66Rechenregeln fur, 62streng monoton fallend, 62

Formel von de Moivre, 158Fortsetzung, 5Funktion, 4

beschrankte, 60, 147bijektive, 6Einschrankung, 5Fortsetzung, 5injektive, 6monoton fallende, 143monoton wachsende, 143stetige, 129streng monoton fallende, 30, 143streng monoton wachsende, 30, 143surjektive, 6unstetige, 141zusammengesetzte, 7

Funktionentrigonometrische, 158

Funktionswert, 4

Gaußklammer, 127Gaußsche Zahlenebene, 48gerichtete Menge, 108Graph, 4Grenzwert

einer Funktion, 124einseitige, 126linksseitiger, 126rechtsseitiger, 126

Haufungspunkteiner Folge, 104einer Menge, 99

harmonische Reihe, 82hebbare Unstetigkeit, 141Hintereinanderausfuhrung, 7

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208 INDEX

imaginare Einheit, 46Imaginarteil, 46Induktions

-anfang, 19-prinzip, 19-schritt, 19Varianten d., 24

Infimum, 13injektiv, 6Integral

unbestimmtes, 197Intervall, 136Involution, 27isolierter Punkt, 99isometrische Abbildung, 129

Korperangeordneter, 12archimedisch angeordneter, 39vollstandig angeordneter, 40

Kurzungsregel, 20kartesisches Produkt, 2Kommutativitat, 20kompakt, 106Komplement, 2komplex differenzierbar, 177konjugiert komplexen, 48konvergent, 56, 78

absolut, 83bedingt, 118gegen±∞, 73gegenx, 56gleichmaßig, 148punktweise, 146

Konvergenzgleichmaßige einer Funktionenfolge,

148absolute einer Funktionenreihe, 153einer Folge, 56eines Netzes, 110gleichmaßige einer Funktionenreihe,

153komponentenweise, 71punktweise einer Funktionenfolge,

146punktweise einer Funktionenreihe,

153unbedingte, 115

Konvergenzradius, 154Kurvendiskussionen, 196

Lagranges Restglied, 193leere Menge, 1Leibniz Kriterium, 87Lemma vom iterierten Supremum, 43Limes Inferior, 67Limes Superior, 67linksstetig, 140Logarithmus

naturlicher, 160naturalis, 160

Logarithmus naturalisFunktionsgraph, 161

lokale Eigenschaft, 131

Machtigkeit, 25Majorantenkriterium, 82Maximum, 13

absolutes, 182lokales, 182

Menge, 1abgeschlossene, 99Bild, 5Differenz-, 2Distributivgesetz-, 3leere, 1Ober-, 1offene, 98Potenz-, 3Schnitt-, 2Teil-, 1Vereinigungs-, 2zusammenhangende, 136

Mengengetrennte, 136

Mengengleichheit, 1Metrik, 52

euklidische, 52Supremums-, 147

metrischer Raumvollstandiger, 69

Minimum, 13absolutes, 182lokales, 182

Minkowskische Ungleichung, 53Minorantenkriterium, 82Mittel

arithmetisches, 12Mittelwertsatz, 184monoton fallend, 66, 143monoton wachsend, 65, 143

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INDEX 209

Moore-Smith-Folge, 110Multiplikation, 9, 20

Nachfolgerabbildung, 16naturliche Zahlen, 16Netz, 110

Cauchy-, 114Teilfolge, 111Teilnetz, 111

Norm, 56

obere Schranke, 13Obermenge, 1

Partialbruchzerlegungkomplexe, 201reelle, 203

Partialsumme, 78Pi, 163Polarkoordinaten, 164Polynom

trigonometrisches, 167Potenzmenge, 3Potenzreihe, 157Potenzreihen, 154Primfaktorzerlegung, 33Primzahl, 33Produktregel, 178

Quotientenkorper, 39Quotientenkriterium, 85Quotientenregel, 178

Raabe Kriterium, 88range, 5Raum

metrischer, 52Realteil, 46rechtsstetig, 140Reflexivitat, 12Regel von de L’Hospital, 186Regel von der Partiellen Integration, 198Reihe, 78

alternierende harmonische, 83bestimmt divergente, 79divergente, 78geometrische, 59harmonische, 82konvergent gegen±∞, 79konvergente, 78Potenzreihen, 154

Rechenregeln fur, 79Summe der, 78Teleskop-, 81

Relationen, 7Relationenprodukt, 7Riemann-Zerlegung, 110Riemannscher Umordnungssatz, 120

Satz1. Mittelwertsatz der Differenzial-

rechnung, 1842. Mittelwertsatz der Differenzial-

rechnung, 184Cauchysches Konvergenzkriterium,

70, 82Einschluss-, 61Fundamentalsatz der Algebra, 166Grenzwert- Abelscher, 172Leibniz Kriterium, 87Rekursions-, 17Riemannscher Umordnungs-, 120Taylorscher Lehrsatz, 193von Bolzano-Weierstraß, 105von Rolle, 182Zwischenwertsatz, 137

Schlomilchsches Restglied, 193Schnittmenge, 2Sinus, 158

Funktionsgraph, 163Sinus Hyperbolicus, 169

Funktionsgraph, 170Sprungstelle, 141Stammfunktion, 197stetig, 129

an der Stellex, 129gleichmaßig, 139linksseitig, 140rechtsseitig, 140

streng monoton fallend, 143streng monoton wachsend, 143Substitutionsregel, 198Summensatze, 159Supremum, 13Supremumsnorm, 152surjektiv, 6symmetrische Mengendifferenz, 116

Tangens, 168Funktionsgraph, 168

Tangens Hyperbolicus

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210 INDEX

Funktionsgraph, 171Taylorreihe, 194Taylorsche Polynom, 192Teilfolge, 58Teilfolge eines Netzes, 111Teilfolgen

gestattet, 123Teilmenge, 1Teilnetz, 111teilt, 33Totalitat, 12Transitivitat, 12Trennung der Variablen, 199

Unstetigkeit1. Art, 1412. Art, 141hebbare, 141Sprungstelle, 141

untere Schranke, 13Urbild, 5

vollstandiges, 5

Vereinigungsmenge, 2Verknupfung, 9vollstandige Induktion, 19

Weierstraß Kriterium, 153Wertebereich, 5Wertevorrat, 4wohldefiniert, 4Wurzel

einer komplexen Zahl, 165einer reellen Zahl≥ 0, 42

Wurzelkriterium, 83

Zahlkomplexe, 46rationale, 34

Zahlennaturliche, 16positive, 12

Zerlegung, 109Zielmenge, 4