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Faculteit Letteren en Wijsbegeerte Vakgroep Duitse Letterkunde Academiejaar 2014-2015 “Nihil est tam populare quam bonitas” Eine Analyse der politischen und rhetorischen Kritik am Nationalsozialismus in Heinrich Manns Die Jugend des Königs Henri Quatre Masterproef voorgelegd tot het behalen van de graad van Master in de taal en letterkunde: Duits-Frans door Heleen Desmet Promotor: Prof. dr. Benjamin Biebuyck

“Nihil est tam populare quam bonitas” - Ghent University Library · 2015. 11. 5. · 1 Einleitung „Nihil est tam populare quam bonitas.“ 1 Diese Aussage von Cicero gilt als

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Faculteit Letteren en Wijsbegeerte Vakgroep Duitse Letterkunde

Academiejaar 2014-2015

“Nihil est tam populare quam bonitas”

Eine Analyse der politischen und rhetorischen Kritik am Nationalsozialismus in Heinrich Manns Die Jugend des Königs Henri Quatre

Masterproef voorgelegd tot het behalen van de graad van

Master in de taal en letterkunde: Duits-Frans

door Heleen Desmet

Promotor: Prof. dr. Benjamin Biebuyck

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Dankeswort

Am Anfang meiner Magisterarbeit möchte ich bestimmten Personen, die mir bei vorliegender

Arbeit geholfen haben, meinen Dank aussprechen.

Erstens möchte ich Prof. Dr. Benjamin Biebuyck meinen Dank abstatten, nicht nur für

seine hilfreichen und aufbauenden Ratschläge, sondern auch für die vier vergangenen Jahre an

der Universität. Seit dem ersten Jahr hat er uns unter dem Motto „streng aber gerecht“ viel

mehr als nur Unterricht gegeben. Jedes Jahr war ein Schritt in der Entwicklung zu einer

selbstständigen, kritischen und begeisterten Studentin.

Zweitens möchte ich meinen Eltern für alle Chancen, die sie mir schon gegeben

haben, danken. Zusammen mit meinem Bruder Emiel und meinem Freund Michiel sind sie

meine feste Stütze während schwieriger Momente gewesen.

Schließlich bin ich meinen Freundinnen Fien, Florence, Lies, Hannah und Alix für die

Hilfe und Motivation, die sie mir geboten haben, dankbar. Mein Studium war eine Reise, die

ohne sie nicht so angenehm gewesen wäre.

Heleen Desmet

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Inhalt

Einleitung S.1

1. Allgemeiner Kontext S.5

1.1. Heinrich Manns politisches Denken S.5

1.2. Das Verhältnis von Politik und Literatur S.9

1.3. Die Rolle von Frankreich S.14

2. Die politische Kritik S.17

2.1. Henri als guter Herrscher S.17

2.1.1. Henris Volksverbundenheit S.17

2.1.2. Henris Güte S.21

2.1.3. Das demokratische Ideal S.27

2.2. Die aristokratischen Machthaber S.30

2.3. Die moralités S.37

3. Die rhetorische Konfiguration S.41

3.1. Allgemeine Äußerungen über die Kraft des Wortes S.44

3.2. Das Theater des Hofes S.46

3.3. Die verschiedenen Redner S.51

3.3.1. Henri S.51

3.3.2. Henris Ratgeber S.52

3.3.3. Jeanne d’Albret S.54

3.3.4. Katharina von Medici S.57

3.3.5. Margot von Valois S.59

3.3.6. Cathérine von Navarra S.60

3.3.7. Jean Boucher S.61

Schlussfolgerung S.65

Bibliografie S.67

(25 087 Wörter)

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Einleitung

„Nihil est tam populare quam bonitas.“1 Diese Aussage von Cicero gilt als der Glaubenssatz

von Heinrich Mann und bedeutet, dass nichts so demokratisch und bewundernswert wie die

Güte ist.2 „Die Gewalt ist stark. Stärker ist die Güte.“3 Das ist genau, was Mann zu illustrieren

versucht in Die Jugend des Königs Henri Quatre, einem Roman, in dem seine politische

Sichtweise sehr deutlich zum Ausdruck kommt. In der Heinrich Mann-Forschung herrscht ein

Konsens über den Kern seiner politischen Auffassungen: Mann war einer der stärksten

Gegner des Nationalsozialismus, der sich während der 1930er Jahre, der Periode der

Veröffentlichung des Romans, entwickelte. Einerseits hat er die diktatorische Politik der

Nationalsozialisten direkt in zahlreichen Publikationen und während öffentlicher Auftritte

angefochten. Andererseits hat er in seinen literarischen Werken, die er während seiner

Exilzeit in Frankreich geschrieben hat, indirekt Kritik an der politischen Realität in

Deutschland geübt. Hierfür wendete er sich zum historischen Roman, in dem er „die

Geschichte zum Zwecke der Verfremdung dieser Gegenwart auswerten“4 ließ. Der

verfremdende Effekt seiner Werke liegt darin, dass die humanistischen Themen und die Güte

der Figuren, die Manns demokratische Ideale verkörpern, einen scharfen Kontrast mit der

diktatorischen Realität während des Nationalsozialismus bildeten. Der thematisierte

Humanismus gilt als das literarische Verfahren par excellence von Mann, mit dem es ihm

gelingt, ein Zusammenspiel seiner eigenen Vision und der Wirklichkeit in seinen Werken zu

integrieren.5

Merkwürdig ist aber, dass es in den meisten Forschungsbeiträgen an einer konkreten

Argumentation und an erklärenden textuellen Belegen für die Annahme des Humanismus in

Die Jugend des Königs Henri Quatre fehlt. Der Roman wird ohne Erläuterung als „die

Geschichte des guten Königs“ mit „unverlierbare[n] Werte[n] der Sittlichkeit und Güte“6

abgestempelt. In vorliegender Arbeit will ich gegen den Mangel an Tiefgang und

Argumentation angehen, nicht weil ich die These in Frage stelle, sondern weil ich sie auf zwei

Ebenen vertiefen will. Erstens will ich eine detaillierte und deutliche Antwort bekommen auf

1 Ernst Lautenbach: Latein-Deutsch: Zitaten-Lexikon. Quellennachweise. Münster : LIT Verlag 2002, S.119. 2 Ebd. S.119. 3 Alfred Kantorowicz: „Heinrich Manns Vermächtnis“. In: Text + Kritik. Heinrich Mann. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Stuttgart: Richard Boorberg 1971, S.31. 4 David Roberts: „Heinrich Mann und die Französische Revolution“. In: Text + Kritik. Heinrich Mann. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Stuttgart: Richard Boorberg 1971, S.87. 5 Ebd. S.87. 6 Ernst Hinrichs: „Die Legende als Gleichnis. Zu Heinrich Manns Henri-Quatre-Romanen“. In: Text + Kritik. Heinrich Mann. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Stuttgart: Richard Boorberg 1971, S.111-112.

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die Frage, wie der Humanismus im Roman thematisiert wird. Das impliziert, dass ich

untersuchen will, in welchem Maße das für Mann kennzeichnende literarische Verfahren auch

in diesem Werk konstatiert werden kann. Zweitens will ich überprüfen, ob neben dem

allgemein angenommenen Humanismus weitere Mittel an die Reihe kommen, mit denen

Kritik an der politischen Situation der 1930er Jahre geübt wird. Die Nationalsozialisten,

insbesondere Adolf Hitler, wurden nicht nur durch ihre diktatorischen Prinzipien, sondern

auch durch ihre eindrucksvollen rhetorischen Auftritte gekennzeichnet. Deswegen wird

nachgeschaut, ob auch im Sprachgebrauch der verschiedenen Figuren Anspielungen auf die

politischen Umstände auftauchen. So kann festgestellt werden, ob das Ergebnis der Analyse

der rhetorischen Konfiguration an die politische Kritik im Text anschließt.

Die These von Ernst Hinrichs, dass Mann in den Henri Quatre-Romanen „die großen

gesellschaftlich-geschichtlichen Gegensätze, die den Inhalt des Kampfes der Menschheit um

den Fortschritt bestimmen“7, darstellt, gilt in vorliegender Arbeit als Startpunkt. Ich bin der

Meinung, dass der Roman zwei gegensätzliche Gruppen zur Szene bringt: gute Figuren, die

die demokratischen Ideale nach Mann verkörpern, und schlechte, die als Anspielungen auf

den Nationalsozialismus auftreten. Durch dieser These beizupflichten, trete ich der

Auffassung von Georg Lukács entgegen, die lautet, dass im Medium des historischen Romans

nicht so sehr durch Kontrastierung Kritik am Nationalsozialismus geübt wird.8 Meine Analyse

wird zeigen, dass der Kontrast zwischen positiv und negativ dargestellten Figuren der

Schlüssel für Manns Kritik in Die Jugend des Königs Henri Quatre ist.

Nachdem ich im ersten Kapitel den allgemeinen zeithistorischen Kontext von Heinrich

Mann erläutert habe, komme ich zum Teil, in dem die politischen Sichtweisen von den

wichtigsten Figuren und die Art und Weise, wie sie bewertet werden, untersucht werden.

Hierauf folgt das Teil, in dem die rhetorische Konfiguration, die allgemeine Bedeutung von

Rhetorik im Roman und der Sprachgebrauch von den verschiedenen Figuren im Mittelpunkt

stehen. Als Leitfaden der Analyse dienen folgende Forschungsfragen: Integriert Heinrich

Mann humanistische Themen in seinen Roman? Wie wird der Humanismus aufgebaut? Geht

es um einen deutlichen, idealisierten oder um einen indirekten, nuancierten Humanismus?

Können in der Thematik Anspielungen auf die von Mann idealisierte Periode der

Französischen Revolution konstatiert werden? Treten rhetorisch bemerkenswerte Figuren

oder Aspekte auf, die Anspielungen auf die nationalsozialistischen Auftritte bilden? Diese

7 Ebd. S.101. 8 Inge Stephan: „Die deutsche Literatur des Exils“. In: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. v. Wolfgang Beutin et.al. 7. Auflage. Stuttgart: J.B. Metzler 2008, S.464.

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Forschungsfragen werde ich anhand einer genauen Textanalyse (close reading) und mithilfe

von sprechenden Textbeispielen beantworten und problematisieren. Im Allgemeinen bietet die

vorliegende Analyse eine tiefgehende Erweiterung der politischen Kritik in Die Jugend des

Königs Henri Quatre einerseits, und eine gründliche Untersuchung der Rolle der Rhetorik

andererseits.

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1. Allgemeiner Kontext

Die Jugend des Königs Henri Quatre wurde 1935 veröffentlicht. Die 30er Jahre des vorigen

Jahrhunderts gelten sowohl auf der literarischen, der politischen als auch auf der rhetorischen

Ebene als eine der lebendigsten Perioden der deutschen Geschichte. Heinrich Mann hat diese

drei Aspekte – Literatur, Politik und Rhetorik – vereint, was ihn zu einem der interessantesten

Schriftsteller dieser Periode macht. Das Werk selber wird wegen seiner „außerordentlich

literaturgeschichtliche[n] Bedeutung“9 und wegen des starken „Zusammenspiel[s] von […]

historischem Modell und zeitgenössischem Geschehen“10 gelobt. Mann war der Meinung,

dass der Leser eine historische oder literarische Gestalt immer auch auf das eigene Zeitalter

bezieht.11 Um die Kritik an seiner eigenen Zeit, die in der vorliegenden Arbeit untersucht

wird, verstehen zu können, ist es notwendig, die kontextuellen Umstände, unter denen

Heinrich Mann geschrieben hat, zu erläutern.

1.1. Heinrich Manns politisches Denken

Die politische Biografie von Heinrich Mann ist nicht immer deutlich definiert. Ein Grund

dafür ist, dass sein Leben sich über eine politisch und gesellschaftlich lebendige Zeitspanne

erstreckte, die während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts situiert werden muss. Frithjof

Trapp unterscheidet drei Perioden, die für Mann von Bedeutung gewesen sind: den Ersten

Weltkrieg, die Weimarer Republik und die Zeit des Nationalsozialismus. Während des Ersten

Weltkrieges gehörte er zu den wenigen Intellektuellen, die die Kriegsbegeisterung kritisierten.

Hiernach wurde er eine der intellektuellen Leitfiguren der Weimarer Republik, ein engagierter

Verfechter der deutsch-französischen Verständigung und vor allem die Symbolgestalt par

excellence des politischen Exils. Ab 1938 warnte er die Bevölkerung vor dem kommenden

Krieg.12 Die politischen Höhepunkte in Manns Leben werden von einem anderen Forscher,

Hans Wißkirchen, aufgrund der fünf „Deutschen Reiche“13, die er erlebt hat,

zusammengefasst. Diese sind die Anfänge des 20. Jahrhunderts während des ersten Deutschen

Reiches, die Weimarer Republik, das Dritte Reich Adolf Hitlers und ab 1949 die

Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik.14 Daneben schenkt

er einer Phase besondere Aufmerksamkeit: Manns Exil. Interessant ist, dass seine Exilperiode 9 Georg Lukács: Der historische Roman. Berlin: Aufbau-Verlag 1955, S.305. 10 Roberts: „Heinrich Mann und die Französische Revolution“. S.87. 11 Hinrichs: „Die Legende als Gleichnis“. S.100. 12 Frithjof Trapp: „Heinrich Mann: Politik und Psychologie“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 12 (1994), S.9. 13 Hans Wißkirchen: „‘Ich schrieb im Voraus, was aus Deutschland dann wirklich wurde.‘ Zum politischen Denken Heinrich Manns“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 15 (1997), S.51. 14 Ebd. S.51.

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in jeder Biografie als ein Höhepunkt betrachtet wird. Da Mann seinen Roman Die Jugend des

Königs Henri Quatre 1935 veröffentlicht hat und der Schreibprozess aus der Exilzeit in

Frankreich datiert, ist vor allem die Periode des Exils in vorliegender Arbeit von Bedeutung.

Heinrich Mann gehörte zu einer Gruppe von Exilierten, die sich wegen der drohenden

politischen Umstände in Deutschland bewusst entfernte und in politischer, publizistischer und

künstlerischer Form gegen den Nationalsozialismus Stellung nahm. Die deutschen Exilierten

der 1930er Jahre bildeten eine Gruppe von „Autoren, die im Faschismus in erster Linie den

kulturellen Verrat am bürgerlichen Humanismus […] sahen“.15 Sie betrachteten es als ihre

Aufgabe, den Kampf gegen den Nationalsozialismus mit literarischen Mitteln zu führen und

als „Stimme ihres stumm gewordenen Volkes“16 hervorzutreten. Für die Intellektuellen war

das Exil oft ein Versuch, sich als eine „über den Parteikämpfen schwebende kritische

Intelligenz“17 zu definieren. Ziel der Exilierten war, die Bevölkerung vor dem Dritten Reich

zu warnen und aufzuklären, die Widerstandsbewegung zu organisieren und die Tradition des

deutschen Geistes lebendig zu halten.18

Die politische Haltung Manns wurde durch eine „emotionale, kämpferische, dabei

arrogante Verachtung der Nazis“19 gekennzeichnet. Der Nationalsozialismus war für ihn

„Irrsinn“ 20, während Hitler „der Verächter jeglicher Menschenrechte“21 und ein „zügelloser

Fanatiker mit einer Banditenmentalität“22 war. In seinen Auffassungen waren Hitler und

Unglück synonymisch: „Die Wirkung Hitlers ist […], das menschliche Unglück über jedes

bekannte Maß zu vermehren. Was er sonst treibt, hat immer als Endergebnis: mehr Unglück

in Europa.“23 Eines der Hauptziele von Mann war, die Gefahren, die der Rechtsradikalismus

tendenziell in sich trägt, durchblicken zu lassen,24 denn der Nationalsozialismus verriet und

verführte das Volk, statt es zu erziehen.25 Der Verachtung der Nazis und des diktatorischen

Verwaltungssystems gegenüber steht das Plädoyer für eine deutsche Demokratie. Die einzige

15 Stephan: „Die deutsche Literatur des Exils“. S.453. 16 Ebd. S.465. 17 Ebd. S.453. 18 Ebd. S.465. 19 Wulf Köpke: „Der Sinn dieser Emigration. Heinrich Manns Engagement für die Solidarität des Exils“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 3 (1985), S.167. 20 Ebd. S.169. 21 Klaus Schröter: „‘Geist‘/‘Macht‘ – Heinrich Mann, der Contrat Social und die Französische Revolution“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 7 (1989), S.145. 22 Paul. M. Lützeler: „Heinrich Mann 1923: Die Europa-Idee zwischen Pragmatik und Religionsersatz“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 7 (1989), S.93. 23 Ebd. S.85. 24 Alfred Riemen: „‘Der tapfere Dichter‘: Joseph Roth und Heinrich Mann“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 1 (1983), S.71. 25 Köpke: „Der Sinn dieser Emigration“. S.172.

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akzeptable Alternative zur Wirtschafts- oder Parteidiktatur sei die Demokratie, der

freiheitliche Parlamentarismus, den Mann wie folgt definiert hat:

die tatsächliche inhaltliche Ausfüllung der formal zugestandenen Rechte, welche über Sinn und Erfüllung dieser Gesellschaftsordnung entscheidet. Hierbei werden die Ausübung der Grund- und Menschenrechte ebenso einbezogen wie die wirtschaftliche Sicherung aller Bürger und ihr Schutz vor wirtschaftlicher, politischer und geistiger Ausbeutung und Übervorteilung.26

Seine Vorliebe für demokratische Ideen beruhte auf französischen Vorbildern. Mann

bewunderte Frankreich, weil dort die Demokratie die erfolgreiche Folge des Krieges und der

Revolution gewesen ist.27 In seinem Artikel über Manns Entwicklung zum Verehrer der

Demokratie erklärt Manfred Hahn, dass Manns Ideen aus der Entgegensetzung von deutscher

Wirklichkeit und französischer Aufklärung und Revolution im Jahr 1789 entstanden sind. Die

„idealistische Kraft“ der französischen Bürger stand der „dummen Brutalität der Machthaber“

gegenüber.28 Mann zufolge konnte aus der Überwindung der sozialen Klassen, der Parteien

und der Ideologien eine Demokratie entstehen.29 Diese Ideen hat er am deutlichsten in der

Deutschen Volksfront, in der er eine Hauptrolle spielte, geäußert. Die Deutsche Volksfront

war eine 1936 gegründete antinationalsozialistisch-demokratische Gruppe, die nach der

Brüsseler Konferenz für „die Wiederherstellung der demokratischen Freiheiten und Rechte

des deutschen Volkes“30 plädiert hat. Sie wollte „alle Hitlergegner zum Kampf für die

Beseitigung der faschistischen Diktatur […] vereinen“31 und „den kulturellen und geistigen

Schatz des deutschen Volkes, seine Sprache, seine Literatur, seine Kunst und Wissenschaft

vor den faschistischen Barbaren retten.“32 Die Volksfront galt als ein innerdeutscher

Widerstand eines Bündnisses der großen Arbeiterparteien, dessen Ziele die folgenden waren:

Hitler zu stürzen, Deutschland zu befreien und eine neue, menschliche Gesellschaftsordnung

zu errichten. Sie stellte der nationalsozialistischen Diktatur eine demokratische Alternative

gegenüber. Heinrich Mann war eine der Leitfiguren dieser Gruppe, in der er immer wieder die

Notwendigkeit einer Demokratie unterstrichen hat.33 Seine Plädoyer waren vor allem an

26 Dieter Ertl: „Politische und gesellschaftliche Vorstellungen Heinrich Manns in ‚Ein Zeitalter wird besichtigt‘“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 1 (1983), S.270. 27 Lützeler: „Heinrich Mann 1923“. S.91. 28 Manfred Hahn: „Von der Behauptung des Individualismus zur Verehrung der Demokratie: Erfahrungen des jungen Heinrich Mann“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 7 (1989), S.27. 29 Köpke: „Der Sinn dieser Emigration“. S.174-177. 30 Ebd. S.125. 31 Ebd. S.125. 32 Ebd. S.126. 33 Brigitte Bulitta und Christiane Wanzeck: „‘Genug, es steht nicht so, daß andere handelten, während wir grosse Worte machten‘. Zu Heinrich und Klaus Manns Bemühung um eine antifaschistische Volksfront im Exil“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 13 (1995), S.31.

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andere Schriftsteller gerichtet. Jürgen Haupt erklärt, dass es Mann um politische

Bewusstwerdung ging, und dass er eine Aktivierung der deutschen Intellektuellen,

insbesondere der Schriftsteller, bewirken wollte.34

Die für Mann notwendige Revolution, um eine Demokratie erreichen zu können, hing

aber stark von seiner persönlichen Interpretation des Revolutionsbegriffs ab. Wißkirchen

erklärt, dass das Revolutionsverständnis des „[r]evolutionsenthusiasten“35 Manns sehr

spezifisch und persönlich war. Mann sah die Revolution als Ideensieg der Intellektuellen, wo

Leben und Tat zusammenkommen. Sie sollte in erster Linie zur „Befreiung der menschlichen

Persönlichkeit“36 führen. Daneben rechnete er nur mit der ersten, heroischen Phase der

Revolution, in der der Topos des guten Volkes als Träger der Handlungen herrscht. Viele

Forscher, unter denen Hans-Jörg Knobloch, bezeichnen es als einen anachronistischen

Versuch, „eine deutsche sozialistische Revolution in eine Französische Revolution auf

deutschem Boden umzudeuten“. Zu stark im Zentrum stehe der Radikalismus des Geistes.37

Ungeachtet der 130 Jahre zwischen der französischen und der deutschen Revolution hielt

Mann am Ideal einer bürgerlichen Revolution wie in Frankreich fest.38

Aber Heinrich Mann war in erster Linie ein Schriftsteller und kein Politiker. Das wirft

ein nuancierendes Licht auf seine politischen Ideen. Jürgen Haupt übt in diesem

Zusammenhang Kritik an Manns politischen Ambitionen, insbesondere an seiner

„Unfähigkeit zur Politik“, die in einem „unpolitischen Irrationalismus“39 zum Ausdruck kam.

Was seine Revolutionsvorstellungen betrifft, war Mann nach Helmut Koopmann ein

Radikalist ohne ein an der historischen Wirklichkeit orientiertes Geschichtsbewusstsein. Er

nennt ihn einen politischen „Phantast[en]“40, der dem Intellektuellen eine wichtigere Position

zurechnete, als in Wirklichkeit der Fall war. Durch seinen Radikalismus und seinen

mangelnden Sinn für historische Realität lebte er mit dem unrealisierbaren Wunsch eines

Sieges der Ideen über die Realität.41 Er sei ein „Anhänger französischer Ideen des 18. und 19.

Jahrhunderts, die er entweder ungefiltert oder auf verbogene Weise mit seiner eigenen Zeit in

34 Jürgen Haupt: „‘Französischer Geist‘ und der Mythos des ‚Volkes‘. Über Emotionalität und Politikverständnis des frühen Heinrich Mann“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 7 (1989), S.3. 35 Helmut Koopmann: „Heinrich Mann, die Revolution und die Revolutionen“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 7 (1989), S.78. 36 Ebd. S.78-80. 37 Hans-Jörg Knobloch: „‘Der Schriftsteller ist Führer jeder Demokratie‘. Heinrich Mann, die Expressionisten und die Weimarer Republik“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 10 (1992), S.104. 38 Hans Wißkirchen: „Der Topos des guten Volkes. Zur Tradition der deutschen Spätaufklärung und des Vormärz im Revolutionsverständnis Heinrich Manns“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 7 (1989), S.161. 39 Jürgen Haupt: „‘Dichtkunst und Politik‘? Konzeptionen, Konstellationen, Konflikte am Ende der Weimarer Republik (Heinrich Mann, Hofmannsthal, Becher, Benn)“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 12 (1994), S.63. 40 Koopmann: „Heinrich Mann, die Revolution und die Revolutionen“. S.66. 41 Ebd. S.66-67.

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Verbindung brachte.“42 Es fehlte Mann an Wirklichkeitsbezug und an einem klaren Blick für

wirkliche menschliche Verhältnisse. Hierdurch wird Manns eigentliche politische Ignoranz

deutlich.43 Für mehrere Literaturwissenschaftler, auch für Paul M. Lützeler, steht Folgendes

fest: „Zu viel an Widersprüchlichem und an Wunschdenken steckt in seinen Europa-

Aufsätzen“.44 Die Kritik verneint jedoch nicht, dass Mann mit seinen Henri Quatre-Romanen

ein erfahrungsreiches kulturelles Testament eines deutschen Europäers hinterlassen hat, das

von Höhepunkten der deutschen Geschichte und der europäischen Welt berichtet.45

1.2. Das Verhältnis von Politik und Literatur

Das Medium, das Mann benutzte, um seine politischen Ideen zu vermitteln, ist die Literatur.

Alfred Riemen erklärt, dass sein politisches Denken sich vor allem anhand eines kritischen

Erzählstils „mit pädagogisch demaskierenden und warnenden Absichten“ und „einer satirisch

überspitzten Schreibart mit oft bitteren Akzenten“ äußerte.46 Wie schon erwähnt, wurde der

Roman Die Jugend des Königs Henri Quatre während einer historisch lebendigen Periode

geschrieben. Die Politik des Nationalsozialismus sorgte für einen von Lukács genannten

Wendepunkt47, nicht nur für Deutschland, sondern auch für die deutschen Schriftsteller: Die

„Bildung der Volksfront gegen den Faschismus […] bedeutet auch weltanschaulich und

schriftstellerisch den Anfang einer neuen Periode in der deutschen Literatur.“48 Dass Mann

unter diesen Umständen geschrieben hat, macht für Lukács vom Henri Quatre-Roman „ein

Produkt des Überganges des besten Teils der deutschen Intelligenz und […] des deutschen

Volkes“ und dient „zum entschiedenen Kampf gegen die Hitlerbarbarei, zur

Wiedererweckung der revolutionären Demokratie in Deutschland.“49 Hieraus lässt sich

folgern, dass das Verhältnis zwischen Politik und Literatur dialogisch war, da sich auf der

einen Seite die nationalsozialistische Politik befand, auf der anderen die literarische Reaktion

der antinationalsozialistischen Schriftsteller, die für Humanismus und Demokratie plädierten.

Heinrich Mann selber sah in Literatur nicht nur ein Mittel zum Idealismus, in dem er

den gesellschaftlichen Realismus und die ästhetische Schönheit miteinander verknüpfen

42 Helmut Koopmann und Peter-Paul Schneider: „Vorwort“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 7 (1989), S.1. 43 Ebd. S.1-2. 44 Paul M. Lützeler: „Heinrich Manss Europa-Ideen im Exil“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 3 (1985), S.85. 45 Ebd. S.91-92. 46 Riemen: „Der tapfere Dichter“. S.71. 47 Lukács: Der historische Roman. S.283. 48 Ebd. S.283. 49 Ebd. S.306.

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konnte50, sondern auch ein Mittel, menschliches Wissen zu fördern und die politisch-soziale

und moralische Realität zu verbessern.51 Er lebte mit der optimistischen Überzeugung, dass

Leser anhand von Literatur zur Erkenntnis gebracht werden können, was den von ihm

gewünschten Demokratisierungsprozess bewirken konnte.52 Sein Ziel war auch, die Konturen

der Epoche abzubilden.53 Trapp erläutert, dass Literaturgeschichte für Mann auch

Geschichtsschreibung war.54 Hierdurch erweckt er den Eindruck, dass Mann ein Historiker

genannt werden darf. Das ist aber nicht der Fall, denn Mann war in erster Linie ein

Schriftsteller und kein Geschichtsschreiber. Die Biografie von Henri Quatre kann auch nicht

als ein objektiv historisches Werk betrachtet werden. Es wäre falsch, Mann einen Historiker

nennen. Hinzu kommt, dass Kunst für Mann immer wichtiger als Geschichte war. Im

Gegensatz zu Trapp betont Manfred Dierks, dass Mann ein Kunstwerk als ein „Instrument

eines historisch vorausblickenden Bewußstseins“55 sah. Er reflektierte oft über die Wirkung

von Literatur und die geistige Führerschaft von Schriftstellern.56 Aus der Frage, die er sich

stellte, wie Schriftsteller sich spezifisch gegen die Nazis engagieren konnten, geht hervor,

dass er Kunstwerke als „literarische Waffen“57 betrachtete. Aber seine Sichtweise auf die

Schriftstellerei kann ohne Übertreibung als idealisiert bezeichnet werden. Das zeigt sich in

seiner Aussage, dass der Schriftsteller ein „Führer jeder Demokratie“58 sei. Mann glaubte,

dass Romane „eine breite zeitpädagogische Wirkung“59 haben können. Diese Überzeugung

wird von Dierks eine enorme „Fehleinschätzung“ genannt, weil Mann die Grenzen zwischen

politischer Realität und Literatur kaum berücksichtigte. Er ging davon aus, dass ein

Schriftsteller eine politische Position einnimmt und vertritt. Deswegen sah er einen

Schriftsteller als einen großen und weisen Menschen, der der Bevölkerung das Leben erklären

muss.60 Das bedeutet aber auch, dass er sich selber als einen geistigen Führer sah. Diese

Idealisierung der Rolle eines Schriftstellers muss in den Kontext der Problematik des

Verhältnisses von Literatur und Geschichte, die die Weimarer Republik beherrschte, gestellt

50 Frithjof Trapp: „Realismus nach dem Modell Heines. Zur Genese der gesellschaftskritischen Konzeption der ‚Schönen Literatur‘ beim jungen Heinrich Mann“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 1 (1983), S.6. 51 Ertl: „Politische und gesellschaftliche Vorstellungen Heinrich Manns“. S.272. 52 Riemen: „Der tapfere Dichter“. S.72. 53 Trapp: „Realismus nach dem Modell Heines“. S.4. 54 Ebd. S.5. 55 Ebd. S.11. 56 Manfred Dierks: „‘Objektiv sind wir politisch‘. Heinrich Mann und Thomas Mann in der Preußischen Akademie der Künste (1926-1933)“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 9 (1991), S.208. 57 Köpke: „Der Sinn dieser Emigration“. S.167. 58 Dierks: „‘Objektiv sind wir politisch‘“. S.208. 59 Ebd. S.210. 60 Knobloch: „‘Der Schriftsteller ist Führer jeder Demokratie‘“. S.97.

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werden. Das Problem wurde von Elke Segelcke in ihrem Artikel „Die Fiktion des Faktischen“

folgendermaßen definiert:

Die […] Kontroverse zwischen historischer Belletristik und universitärer Geschichtsschreibung […] verdeutlicht letztlich die Unergiebigkeit eines Kompetenzstreites zwischen Wissenschaft und Kunst, bei dem sich die Literatur mit ihrem Wahrheitsanspruch in Konkurrenz zur Wissenschaft kompromittiert, während die Geschichtsschreibung sich auf die längst widerlegte Position der reinen Wissenschaft zurückzieht. Daß die Darstellung von Historischem durch die Mittelstellung der Historie zwischen Literatur und Wissenschaft notwendig als Interpretation erfolgt, womit die Verfahren der Historiker mit denen fiktionaler Texte vergleichbar werden, kann durch neuere Forschungen […] dokumentiert werden.61

Segelcke erklärt, dass die Wissenschaft und die Kunst nah aneinander liegen, weil Historiker,

Wissenschaftler und Schriftsteller dieselben Verfahren benutzen. Da Mann Politik, Historik

und Literatur in seinen Werken miteinander verknüpft, kann man den Eindruck gewinnen, als

ob er als Schriftsteller auch eine politische und wissenschaftliche Figur sei. Das ist aber nicht

der Fall. Sein didaktisches, politisches Ziel macht ihn weder zu einem Historiker oder

Wissenschaftler, noch zu einem Politiker. Seine Erzählungen, insbesondere die Henri Quatre-

Romane, sind in erster Linie eine „Fiktion des Faktischen“.

Was die Form der Literatur betrifft, kennzeichneten die Exilautoren sich vor allem

durch ihre Vorliebe für die Gattung, die während der 1930er Jahre in den Vordergrund trat:

den historischen Roman. Lukács stellt das wachsende Interesse für diese Gattung und ihre

Thematik in seinem Werk Der historische Roman fest: „Diese große und wichtige

ideologische Entwicklung in der antifaschistischen Emigration hat den historischen Roman in

den Mittelpunkt des Interesses der deutschen Literatur gerückt.“62 Die ideologische

Entwicklung, die er hier erwähnt, ist die des Humanismus, die eine „zentrale Stellung“ in der

Thematik der historischen Romane einzunehmen begann. Die humanistischen Themen, die

die Exilautoren in ihren Werken benutzten, hingen mit dem Kampf gegen den

Nationalsozialismus zusammen, weil sie einen Kontrast zur politischen Realität der eigenen

Zeit bildeten.63 Inge Stephan bietet eine Erklärung für den Aufschwung dieser Gattung. Ihr

zufolge wurde die Geschichte als Zuflucht gesehen, „womit man gegen die

Geschichtsverfälschungen des Faschismus zu handeln versucht.“64 Die Exilierten haben sich

die Frage nach der Rolle des historischen Romans im Kampf gegen den Nationalsozialismus

und seine Lügen gestellt. Lukács gemäß sei der historische Roman ein „Spiegelbild der

61 Elke Segelcke: „‘Die Fiktion des Faktischen‘: Zum Verhältnis von Geschichtsschreibung und literarischer Moderne in der Weimarer Republik“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 15 (1997), S.77. 62 Lukács: Der historische Roman. S.291. 63 Ebd. S.292. 64 Stephan: „Die deutsche Literatur des Exils“. S.463.

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radikalen ideologischen Umwendung der Intelligenz.“65 Im Zentrum der Thematik stand die

Sehnsucht nach Verbundenheit mit dem Volk und nach einer Anerkennung der Bedeutung des

Volkes in politischer Hinsicht66, weil diese Themen in der politischen Realität der

Schriftsteller vernachlässigt wurden. Sie lebten in einer Periode, in der die Bürger ihrer

„Entscheidungs- und Handlungsfreiheit“67 beraubt wurden, und „demokratische Initiative

außerhalb der Legalität standen oder nur unter den Bedingungen der Emigration möglich

waren.“68 Die Aufgabe der Exilautoren war einerseits, die nationalsozialistischen

Geschichtsfälschungen zu entlarven, und andererseits, den Demokratisierungsprozess als ein

Produkt darzustellen, das in den deutschen Traditionen und Entwicklungen verwurzelt war.

Als Musterbeispiel hat Lukács Manns Die Jugend des Königs Henri Quatre unter die Lupe

genommen, denn in diesem Roman werden die „Ansichten vom Zustand der Welt und dem

Verhalten der Menschen an einem geschichtlichen Beispiel dichterisch“ verdeutlicht.69

Mithilfe des historischen Romans wurde nicht nur ein „wahres Gleichnis“70 skizziert, sondern

wurde auch der Kampf gegen den Nationalsozialismus unterstützt. Auch hier zeigt sich die

Verflechtung von Politik und Literatur deutlich, insofern der historische Roman als das

„Medium, in dem sich die politische Orientierung […] in der Seele des

Volksfrontschriftstellers vollzog“71, bezeichnet wird.

Die Entwicklung der antinationalsozialistischen Literatur in Deutschland wird fast

immer mit dem Adjektiv humanistisch assoziiert. Lukács zufolge hat die deutsche,

antifaschistische Literatur die großen Gestalten der humanistischen Entwicklung zu neuem

Leben erweckt.72 Dass Mann die Zukunft Deutschlands „unter dem Zeichen eines

sozialistischen Humanismus“73 sah, äußerte sich literarisch in einer Vorliebe für

humanistische Themen und Figuren. Dieter Ertl hat sich mit der Definierung des Humanismus

im Sinne Manns beschäftigt. Laut Manns Humanismus-Begriff soll ein Mensch anhand einer

toleranten und vernünftigen Haltung immer mit der Würde jedes Menschen rechnen, um sich

politisch richtig zu orientieren und sich für das moralisch Gute zu engagieren.74 Auch Werner

65 Ebd. S.464. 66 Lukács: Der historische Roman. S.295. 67 Werner Herden: Geist und Macht. Heinrich Manns Weg an die Seite der Arbeiterklasse. Berlin: Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1977, S.135. 68 Ebd. S.135. 69 Stephan: „Die deutsche Literatur des Exils“. S.465. 70 Ebd. S.466. 71 Ebd. S.464. 72 Lukács: Der historische Roman. S.292. 73 Hans Wagener: „Heinrich Mann im Exil in Amerika. Literatur, Legende und politische Vereinnahmung“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 3 (1985), S.45. 74 Ertl: „Politische und gesellschaftliche Vorstellungen Heinrich Manns“. S.271.

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Herden erwähnt die zwei Schlüsselbegriffe, mit denen Manns Humanismus-Begriff assoziiert

werden kann: „Toleranz und Vernunft“.75 Jürgen Haupt unterstreicht, dass der Begriff immer

wieder mit dem Liberalismus und dem Radikal-Demokratismus französisch-aufklärerischer

Prägung in Verbindung gebracht wird.76 Aber trotz seiner Bewunderung für Frankreich und

für die Aufklärung ist der Humanismus im Sinne Manns nicht antinational oder antideutsch

definiert.

Was seine Vorliebe für humanistische Themen betrifft, ist Mann aber keine Ausnahme

seiner Zeit, denn ähnliche Tendenzen sind auch bei anderen Exilschriftstellern festzustellen:

[Die Exilschriftsteller] gestalten und verlebendigen in konkreten dichterischen Bildern jenen humanistischen Typus des Menschen, dessen gesellschaftlicher Sieg zugleich den gesellschaftlichen und politischen Sieg über den Faschismus bezeichnet. Jenen Typus des Menschen, dessen Allgemeinheit, dessen Vorherrschaft die kulturelle Rettung der Menschheit mit sich bringt; jenen Typus um dessentwillen der Kampf gegen den Faschismus zu einer kulturellen Pflicht für jeden wird; jenen Menschentypus in dessen Zeichen der Kampf gegen den Faschismus, der Kampf der Volksfront vor sich gehen soll.77

Hieraus lässt sich ableiten, was die Exilschriftsteller mit ihren humanistisch inspirierten

Figuren ausdrücken wollten. Sie wollten das Gute des Menschen unterstreichen. Die

humanistische Art Menschen, die für „die kulturelle Rettung der Menschheit“ sorgen muss,

spielte die Hauptrolle im Kampf gegen die Nazis, die als die unmenschlichen Machthaber

bezeichnet werden. Aber dieser Formulierung von Stephan fehlt es an Nuancierung. Wegen

der strengen Zensur im Dritten Reich war es unmöglich, eine öffentliche und explizite Kritik

an den nationalsozialistischen Machthabern zu üben. Die Bücherverbrennung von 1938

illustriert das. Die Opposition der Schriftsteller gegen die Machthaber kann nicht so

nachdrücklich gewesen sein, wie hier formuliert. Doch war es ein Ziel von vielen

Exilschriftstellern, ihre Kritik zwischen den Zeilen darzustellen. Nach Lukács tauchen

ähnliche humanistische und zeitkritische Themen in Die Jugend des Königs Henri Quatre auf.

Er glaubt, dass Mann nicht nur den Kampf der Menschheit um den Fortschritt thematisierte,

sondern auch den Sieg der Menschlichkeit und der Vernunft. Henri Quatre ist für ihn ein

sprechendes Bespiel eines ewigen „Abgesandten der Vernunft und der Menschlichkeit.“78 Ob

das stimmt und in welchem Maße das der Fall ist, wird in vorliegender Arbeit näher

untersucht.

75 Herden: Geist und Macht. S.118. 76 Jürgen Haupt: „Willi Japer, Heinrich Mann und die Volksfrontdiskussion“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 1 (1983), S.236. 77 Stephan: „Die deutsche Literatur des Exils“. S.464. 78 Lukács: Der historische Roman. S.303.

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1.3. Die Rolle von Frankreich

Dass Mann seine Exilperiode in Frankreich verbracht hat, ist nicht erstaunlich. Er war für

dieses Land von Bewunderung erfüllt und wollte, dass es in gutem, freundschaftlichem

Verhältnis zu seiner Heimat Deutschland stand. Das wird von Alfred Kantorowicz

folgendermaßen bestätigt: „Kein Deutscher hat sich in unserem Jahrhundert tatkräftiger als

[Heinrich Mann] für die geistige Verständigung der beiden großen Nachbarvölker

eingesetzt.“79 Diese Aussage ist ein Beweis für die Freundschaft zwischen den

Nachbarländern Deutschland und Frankreich, für die der „frankophile“80 Mann immer wieder

plädiert hat.

Bertraux fasst in seinem Artikel „Heinrich Manns Verhältnis zu Frankreich“ die

wichtigsten Gründe für Manns Anhänglichkeit an die französische Kultur zusammen. Der

Hauptgrund lautet, dass er in seiner idealisierten Vorstellung der französischen Identität „ein

erwünschtes Gegenstück zur deutschen wilhelminischen Gesellschaft fand […], in der er zu

leben hatte, für die er schrieb und die ihm unerträglich war“81, und gleichsam „ein Gegengift

[…], um es in Deutschland […] aushalten zu können, und vielleicht auch seinen Landsleuten

nützlich, behilflich zu sein.“82 Die Gründe für seine Idealisierung von Frankreich sind vor

allem historisch. Erstens war er von der französischen Aufklärung und Rationalität stark

beeindruckt. Deswegen nennt Haupt ihn einen „deutsche[n] Aufklärer“.83 Zweitens erblickte

er in Frankreich „die Nation, die sich als erste in Europa von konservativen Staatsformen

befreit und zur demokratischen Republik durchgerungen hatte“.84 Drittens war die Dritte

Republik von Frankreich das Modell par excellence für eine Gesellschaft, in welcher der

Intellektuelle sich im Namen der Vernunft für die Menschheit einsetzt.85

Neben der Stärke von Frankreich auf der Ebene der Demokratie spielte auch der

Mangel der deutschen Geschichte an bedeutenden demokratischen Ereignissen in der

idealisierten Vorstellung von Mann eine Rolle.86 Lukács deutet darauf hin, dass Mann als

Publizist immer wieder auf den Kontrast der Politik der beiden Länder hingewiesen hat, und

Frankreichs Entwicklung als Vorbild für Deutschland dargestellt hat.87 Das ist auch im

79 Jürgen Haupt: „Heinrich Mann, Henri Barbusse und andere. Eine deutsch-französische Freundschaft zwischen den Weltkriegen“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 1 (1983), S.57. 80 Lützeler: „Heinrich Mann 1923“. S.83. 81 Pierre Bertaux: „Heinrich Manns Verhältnis zu Frankreich“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 3 (1985), S.19. 82 Ebd. S.20. 83 Haupt: „‘Französischer Geist‘ und der Mythos des ‚Volkes‘“. S.13. 84 Bertaux: „Heinrich Manns Verhältnis zu Frankreich“. S.23. 85 Ebd. S.24. 86 Lukács: Der historische Roman. S.294. 87 Ebd. S.293.

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Roman Die Jugend des Königs Henri Quatre merkbar. Lukács bezeichnet den Roman als

„eine Fortsetzung seiner publizistischen Propaganda der Popularisierung der französischen

Demokratie für die deutsche Intelligenz.“88 Er gilt als Markstein im ideologischen Kampf der

Exilschriftsteller der 1930er und 1940er Jahre. Aber nicht nur Manns Thematik ist französisch

inspiriert, sondern auch bestimmte literarische Figuren. Die Wahl, über Henri Quatre zu

schreiben, war nicht zufällig, denn er gehörte zu Manns Lieblingsfiguren aus der

französischen Geschichte, weil er eine Führerfigur einer neuen politischen Bewegung war,

„die [Mann] bejaht“89 hat.

Die Tatsache, dass Mann in seinen Werken großen Wert auf die französische

Geschichte legt, ist auch für ihre Bewertung von Bedeutung. Neben Manns „überragender

Befähigung als Stilist“ und seiner „Begabung zur Entwicklung von einprägsamen, klar

konturierten literarischen Gestalten“90 werden seine Werke gelobt, weil sie eine politische

Analyse außerhalb der deutschen Perspektive bieten. Sein Internationalismus bot und bietet

nicht nur eine breitere Perspektive als die spezifisch deutsche, sondern zeigte und zeigt auch

die Schwächen von Deutschland.91 Das ist der Grund dafür, dass viele Literaturkritiker seine

Beschäftigung mit Frankreich als einen Mehrwert abstempeln.

88 Ebd. S.294. 89 Lützeler: „Heinrich Mann 1923“. S.84. 90 Trapp: „Heinrich Mann: Politik und Psychologie“. S.14. 91 Ebd. S.14.

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2. Die politische Kritik

2.1. Henri als guter Herrscher

Zahlreiche Forschungsbeiträge haben sich schon mit Manns Henri Quatre auseinandergesetzt.

Allgemein wird angenommen, dass er ein guter Herrscher sei und dass seine Regierungsweise

eine Gegenwirkung biete „gegen die zerstörenden, verneinenden Kräfte: Krieg,

Unterdrückung, Ausbeutung, Entwürdigung des Menschen, Nichtachtung des Lebens“.92

Dennoch kann die Frage gestellt werden, warum und auf welche Art und Weise er als eine

gute Figur dargestellt wird. Im vorliegenden Teil wird eine Antwort auf diese Fragen

gegeben.

2.1.1. Henris Volksverbundenheit

Seit dem Anfang der Geschichte, was auch der Beginn seines Lebens ist, lässt sich ein erstes

Kennzeichen von Henri Quatre erkennen: seine Verbundenheit mit dem Volk. Das wird in der

folgenden Textstelle illustriert:

Er hatte kleine Freunde, die waren nicht nur barfuß und barhäuptig wie er, sondern auch zerlumpt oder halb nackt. Sie rochen nach Schweiß, Kräutern, Rauch, wie er selbst; und obwohl er nicht, gleich ihnen, in einer Hütte oder Höhle wohnte, roch er doch gern seinesgleichen. Sie lehrten ihn Vögel fangen und sie braten. Mit ihnen zusammen buk er zwischen heißen Steinen sein Brot und aß es […].93

Interessant ist, dass jede Form von Überlegenheit entkräftet wird. Die Volkskinder werden

seine „Freunde“ genannt, was eine Beziehung von Gleichheit impliziert. Das wird auch

anhand der Wiederholungen des Vergleichs „wie er“ bestätigt. Nicht nur sieht er wie ein

„schmutziger Junge“ (HQ 25) aus und läuft „barfuß und barhäuptig“ „wie sie alle“ (HQ 12),

auch ist es Henri, der etwas von den sozial als niedriger betrachteten Leuten lernt und nicht

umgekehrt. Ferner essen sie am selben Tisch, was zeigt, dass sie auf gleichem Fuß

miteinander leben und „seinesgleichen“ (HQ 12) sind. Eine dem Volk nahe Erziehung war

eine bewusste Entscheidung seiner Eltern, Antoine von Bourbon und Jeanne d’Albret. Seine

Mutter wollte, dass ihr Sohn „aufwuchs wie das Volk“ (HQ 8). Auch sein Vater rechnete

während seiner Herrschaft immer mit dem Wohl seines Volkes. Obwohl er selber katholisch

war, hatte er auch Respekt für seine protestantischen Untertanen. Er betrachtete sie als einen

Mehrwert für das Land, denn sie waren „nützliche Arbeiter, bebauten die Felder, zahlten

92 Herden: Geist und Macht. S.273. 93 Heinrich Mann: Die Jugend des Königs Henri Quatre. Hamburg: Claassen Verlag 1959, S.7. Alle nachfolgenden Zitate aus Die Jugend des Königs Henri Quatre werde ich mit der Sigle HQ und entsprechender Seitenzahl im Text angeben.

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Abgaben, vermehrten den Reichtum des Landes und seines Herrn. Er ließ sie daher ruhig zur

Predigt gehen“ (HQ 11-12). Die Gleichheit zwischen den königlichen Figuren und ihren

Untertanen herrscht im Schloss in Pau, wo Henris Familie sich aufhält, denn die Hofhaltung

gilt als „eine erweiterte Familie“ (HQ 10). Auch die Tatsache, dass Henri und seine Schwester

Catherine sich während ihrer Reisen „aus dem Fenster mit den Dorfkindern, die im Trab ein

Stück mitliefen“ (HQ 17), unterhielten, weist die Nähe zwischen dem Protagonisten und dem

Volk nach. Diese Nähe ist der Grund dafür, dass das Volk ihn liebt. „Alle hatten ihn im Blut,

die kleinen Bauern, ihre Eltern und das ganze Land.“ (HQ 8) Kurz, Henri wuchs mit Eltern

auf, die die Bedeutung des Volkes immer für wichtig hielten. Henris erste Lebensjahre und

seine Erziehung werden im ersten Kapitel des Romans beschrieben, dessen Untertitel Die

Herkunft lautet. Es skizziert die Situation am Anfang seines Lebens und bietet eine Erklärung

für die Herkunft seiner Volksverbundenheit während des weiteren Verlaufs seines Lebens.

Wenn Henri älter ist, spielt das Volk noch immer eine wichtige, wenn nicht die

wichtigste Rolle in seinem Leben. Während eines Kriegskampfes, zum Beispiel, stehen Henri

und seine Untertanen in einem sehr nahen und persönlichen Verhältnis zueinander. In der

Wir-Form reden sie ihn an, was beweist, dass sie sich als eine Einheit benehmen. Zusammen

sagen sie: „Wir gehen nicht ohne dich, noust Hernic [...], mit dir schlagen wir uns durch, mit

dir kehren wir tausendfach wieder.“ (HQ 275) Auffällig ist, dass das Volk ihn duzt. Hiernach

„umringten“ (HQ 275) sie ihn und betrachten ihn als einen Mann, der „sie deckte und den sie

nicht aufgaben, gegen keine Übermacht“ (HQ 275). Aus diesen Worten gehen die Einheit, die

Kraft und die Nähe zwischen dem Volk und ihrem König deutlich hervor. Was die anderen

Machthaber betrifft, fehlt ihnen dieser Aspekt. Sie haben nur ein Auge für ihre eigene

Sichtweise und rechnen nicht mit den Wünschen ihrer Untertanen. Im Gegensatz zu Henri

bilden sie keine Einheit mit dem Volk. Der Kontrast zwischen Henri und den anderen

Machthabern lässt sich während und nach der Bartholomäusnacht gut veranschaulichen.

Während dieser Nacht werden im Auftrag der Katholiken „die protestantischen Kräfte

dezimiert“.94 Die genaue „Schilderung des Mordtreibens“95 wird von vielen Forschern wegen

der detaillierten historischen Treue gelobt. David Roberts nennt die Szene den

„künstlerische[n] Höhepunkt“96 des Romans. Aber meines Erachtens ist das wichtigste Thema

dieser Szene Henris Handeln. Obwohl Trapp behauptet, dass „Henris Verhalten vor, während

94 Roberts: „Heinrich Mann und die Französische Revolution“. S.88. 95 Frithjof Trapp: „Geschichte als Spiegel politischer Reflexion – ‚Kunst‘ als Konkretisierung geschichtlicher Erfahrung. Überlegungen zum Alterswerk Heinrich Manns“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 3 (1985), S.94. 96 Roberts: „Heinrich Mann und die Französische Revolution“. S.88.

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und nach der Bartholomäusnacht fragwürdig“97 sei, glaube ich, dass es nicht sprechender sein

kann. Es ist das Beispiel par excellence für seine Verbundenheit mit dem Volk und weist

deutlich sein Gewissen und seine Machtlosigkeit nach. Das kann im folgenden Abschnitt

festgestellt werden:

Er hörte und sah. Der Platz drunten wimmelte von Menschen, die aus den Gassen herzudrängten – alle tätig, keiner als müßiger Zuschauer. Ihr Geschäft war überall das gleiche: töten und sterben; und es geschah mit der höchsten Emsigkeit, dem Schwung der Glocken vergleichbar und angepaßt dem Takt des Mordgeschreis. […] Das Volk entkleidete die Toten: das war Sache des Volkes, nicht der ehrbaren Leute. Jedem das Seine. Ehrbare Leute entfernten sich eilig mit schweren Goldsäcken. (HQ 331)

Der erste Satz dieser Textstelle ist einer der bedeutungsvollsten, denn er beschreibt, wie Henri

die Handlungen des Volkes in sich aufnimmt und nachdenkt über das, was stattfindet. Er hat

schon sein ganzes Leben Interesse für seine Untertanen, aber hier, während eines der

heftigsten Ereignisse in ihrem Leben, hat er buchstäblich ein Auge für ihre Lage, denn er

„hörte“ und „sah“ sie. Wie er selber sieht, entfernen ehrbare Leute sich. Sie wollen nichts mit

dieser schrecklichen Nacht zu tun haben. Obwohl er sich selber auch entfernen könnte, bleibt

er stehen. Er wird als eine Einzelfigur beschrieben: „[N]ur einer roch Blut, hörte das

Mordgeschrei; sah seine Freunde zum Haufen übereinandergeworfen, in Lagen, wie nur

Kadaver“ (HQ 364). Während andere Figuren flüchten, ist es „nur einer“, der betrachtet, was

passiert: Henri. Er wird als ein Beobachter dargestellt, der nur Aufmerksamkeit für die Seinen

hat. Die Szene lässt ihn „nicht kalt“ (HQ 364). Mit seiner eigenen Lage und mit der Frage, ob

er sich entfernen soll oder nicht, beschäftigt er sich nicht. So entsteht ein Kontrast zwischen

den Handlungen anderer Machthaber und Henris Verhalten. Dieser Kontrast symbolisiert die

politische Rolle, die er in seinem späteren Leben spielen wird. Die Bartholomäusnacht ist eine

der treffendsten Szenen des ganzen Romans, weil deutlich gezeigt wird, dass Henri nicht aus

Eigennutz handelt, sondern das Wohl des Volkes an die erste Stelle stellt. Seitenlang wird

beschrieben, wie er seine Untertanen betrachtet und analysiert. Er stellt fest, „[w]ie leicht man

sie zum Schlechten und Schädlichen bringt“, und weiß, dass sie nur „im Auftrag“ und „um

der Sache willen“ (HQ 331) töten. Er „will aufschrein“ und „eine Bewegung machen“ (HQ

332), um ihnen zu helfen, aber er ist wie versteinert. Gegenüber den Figuren, die für die

Mordnacht verantwortlich sind, erfährt er nur ein Gefühl: „Er haßte. Er erfuhr den Haß“ (HQ

364). Das zeigt, dass er anders als die anderen Machthaber ist. Während sie Leiden

verursachen, will er es verhindern. Nach der Bartholomäusnacht kämpft er mit einem

Schuldgefühl, da er nicht wusste, was passierte, und nichts unternommen hat, um das Unrecht 97 Trapp: „Geschichte als Spiegel politischer Reflexion“. S.103.

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zu verhindern: „Ich feierte Hochzeit, und inzwischen stöhnten alle von verhaltener Blutgier.

[…] Das ist meine sehr große Schuld.“ (HQ 336) Er endet seine Gedanken mit folgender

Überlegung: „Ehrbare Leute und Volk – zusammen ergibt das, wenn die Gelegenheit günstig

ist, das gemeine Pack“ (HQ 331). Das ist genau die Essenz seiner politischen Auffassung:

eine Zusammenarbeit zwischen den Machthabern und dem Volk. Ein Pakt zwischen beiden

ist, was er will. Wie schon erklärt, ist das auch das demokratische Ideal von Heinrich Mann.

Roberts hat die „zwei Pole“, die für Mann wichtig waren, erläutert: „Die zwei Pole,

entgegengesetzt und untrennbar – Demokratie und führender Wille, das Volk und der Führer,

Humanismus und Macht: ‚Macht und Mensch‘.“98 Es kann nicht geleugnet werden, dass

Manns Idee der Einheit zwischen dem Volk und ihrem König in der Szene der

Bartholomäusnacht ausdrücklich beleuchtet wird.

Henri will das Volk immer in sein Leben hineinziehen. Wenn er Marguerite von

Valois heiraten soll, will er es unmittelbar informieren. Das tut er wie folgt: „Aber, liebe

Freunde, das wird jetzt alles ganz anders. Ich heirate die Schwester des Königs. Ihr sollt die

Glaubensfreiheit haben, mein Wort darauf!“ (HQ 125) Hier zeigt sich nicht nur, dass er seinen

„Freunde[n]“, wie er seine Untertanen nennt, Auskunft über ein bedeutendes Ereignis in

seinem Leben gibt, sondern auch dass er ein Versprechen äußert, das er am Ende der

Geschichte mit dem Edikt von Nantes tatsächlich einhalten wird. Hierdurch wird Henri nicht

nur eine Figur, der man vertrauen kann, sondern auch ein Machthaber, der weiß, was sein

Volk verlangt. Das wird deutlich im Text belegt: „Henri begriff sie durchaus, er erkannte

diese Art Menschen in der Menge und liebte sie“ (HQ 125). Dieses Zitat bezeugt, dass er ein

verständnisvoller und liebevoller Führer ist. Die Bürger, die er mehrmals als „die Seinen“

(HQ 274) bezeichnet, sind Menschen mit einer Stimme, die seine Liebe verdienen. Das ist der

Grund dafür, dass „sie ihn bewunderten“ (HQ 387). Wenn er sich am Hof befindet, entfernt

von seinem Volk, denkt er oft an „seine Leute“: „Er hätte nur gewünscht, er könnte hören,

was sie draußen redeten, seine eigenen Leute“ (HQ 187). Aus diesem Gedanken geht hervor,

dass er wissen will, was das Volk sagt und was es von ihm denkt. Das scheint immer wieder

eines seiner größten Interessen zu sein.

Auch was die Liebe betrifft, kann festgestellt werden, dass er mehr Interesse für die

Dorfmädchen als für Margot, seine Braut, hat. Er „fand […] die neugierigen Dorfmädchen

meistens begehrenswert“ (HQ 145). In diesem Punkt muss man Thomas Koebner

widersprechen. Obwohl er behauptet, dass nur „die Liebesverwicklungen Henris mit den

98 Roberts: „Heinrich Mann und die Französische Revolution“. S.89.

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fürstlichen Frauen“99 im Mittelpunkt seines Lebens stehen, glaube ich, dass Henri eine

Vorliebe für die Dorfmädchen hat. Man kann dieses Interesse aufgrund seiner Verbundenheit

mit dem Volk erklären, denn er kann sich einfacher mit dem Volk als mit den königlichen

Figuren unterhalten und identifizieren. Der Erzähler sagt, dass er lieber arme Leute besucht,

denn „[d]ie Armen waren ihm von Natur näher als die Reichen“ (HQ 523). Die

Volksverbundenheit ist also ein Teil seiner Erziehung, seines Lebens und seiner Natur. Hinzu

kommt, dass Michel de Montaigne Henri den folgenden Rat gibt: „Gutsein ist volkstümlich,

nichts ist so volkstümlich wie Gutsein.“ (HQ 395) Dieser Satz umfasst den Kern von Henris

politischem Denken. Er will immer das Gute für seine Bürger tun, nicht weil er geliebt und

verherrlicht werden will, sondern weil er unbedingt mit ihrem Wohl rechnen will. Es ist auf

jeden Fall eine Aussage, die er während des weiteren Verlaufs seines Lebens im Hinterkopf

behält. Das kann mit folgender Textstelle belegt werden: „Von Montaigne hat er gelernt, daß

Gutsein das Volkstümlichste ist.“ (HQ 615) Jahre später schenkt er Montaignes Aussage noch

immer Glauben. Wert legen auf das Volkstümliche impliziert, dass immer mit dem Denken

und dem Fühlen des Volkes gerechnet wird. Interessant ist, dass das auch einer der

wichtigsten Standpunkte eines Demokraten ist.

Aus der Analyse kann gefolgert werden, dass Henris Volksverbundenheit als Beweis

für seine „Verteidigung der elementaren Lebensrechte des Menschen“100 und also für den

Humanismus im Text gilt. Herden zufolge führt die thematisierte Volksverbundenheit zu

einer von Mann gewünschten Verschiebung des Volkes „vom Objekt zum Subjekt der

Geschichte“.101 Der Ursprung dieser Idee liegt in der Deutschen Volksfront, denn „[d]ie

Volksfront verkörperte die Ideen der Einigung der Volksmassen für Frieden und Freiheit“102,

was genau den Gegensatz der Prinzipien einer nationalsozialistischen Diktatur bildet.

2.1.2. Henris Güte

Nicht nur die Volksverbundenheit kennzeichnet den Protagonisten, auch seine gute Natur

wird mehrmals hervorgehoben. Die Art und Weise, wie Henri vom Erzähler beschrieben wird,

unterstreicht sehr deutlich seine Güte. Er wird beschrieben als „de[r] Junge vom Lande […],

mit seinem lebendigen Herzen“ (HQ 106). „[S]ein zärtliches Herz“ (HQ 166), das mehrere

Male erwähnt wird, illustriert, dass seine Natur „einfach und gut“ (HQ 670) ist. Das kommt

99 Thomas Koebner: „Henri Quatre – Die Fiktion vom guten Herrscher“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 3 (1985), S.109. 100 Herden: Geist und Macht. S.97. 101 Ebd. S.108. 102 Ebd. S.125.

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zum Ausdruck in Themen wie Familie, Freundschaft und Liebe, Schlüsselthemen, auf die er

viel Wert legt. Obwohl er keine gewalttätige Figur ist, will er für seine Mutter kämpfen.

Wenn sie ihn fragt, für wen er kämpfen will, sagt er erstaunt: „Fragst du noch für wen? Für

dich!“ (HQ 66) Das belegt, dass er seine Familie für einen der wichtigsten Werte im Leben

hält. Dass seine Mutterliebe groß ist, wird auch deutlich, wenn er sich freut „mit seiner

Mutter, weil er sie glücklich sah“ (HQ 77). Und obwohl sein Vetter alles andere als seine

Lieblingsperson ist, sagt er: „Etwas neidisch, etwas schwach, aber doch mein Freund, und

wenn nicht, muß er’s werden!“ (HQ 74) Hieraus geht hervor, dass er Freundschaft dem Ärger

vorzieht. Ein anderes Beispiel ist die Szene, in der Katharina von Medici ihre Tochter Margot

wieder einmal in ihre Schranken gewiesen hat, und Margot weinend zu Henri kommt. Er

reagiert „mitleidig“ (HQ 467), und für die Zukunft verspricht er, „er werde sie schützen“ (HQ

467). Die Tatsache, dass er so zärtlich mit seiner Geliebten umgeht, „rührte das Herz der

armen Frau“ (HQ 468). Das bezeugt, dass sie durch seinen liebevollen und sorgsamen

Charakter ergriffen ist.

Interessant ist, dass der Erzähler den Protagonisten ausschließlich mit positiv

konnotieren Ausdrücken beschreibt. Henri wird der „Retter“ (HQ 360) genannt in einem

Königreich, das „brannte, blutete, zerfiel“ (HQ 360), was bedeutet, dass Henri für einen

positiven, progressiven Einfluss in einem als negativ bezeichneten Staat sorgen wird. Hinzu

kommt, dass er als ein Vorbild angesehen wird. Das bestätigt die These von Hertha Perez,

dass „[d]ie Haltung“ von Henri „ein Beispiel unter vielen“103 sei. Das wird vom Erzähler auch

bestärkt: „Henri persönlich aber sollte ein Beispiel geben“ (HQ 554), denn jeder „sollte bei

ihm finden, was er am meisten ersehnte, aber niemals erlebte: die Fürsten – Brüderlichkeit,

die Gerichte – Rechtssinn, das Volk – die Sorge, ihm Lasten abzunehmen.“ (HQ 554) Diese

Textstelle sagt voraus, dass er ein guter Herrscher werden soll, für Brüderlichkeit und Recht

sorgen wird und das Volk in Schutz nehmen wird. Diese Prinzipien gleichen sehr stark denen

der Französischen Revolution, die Heinrich Mann als eine der wichtigsten und

bedeutungsvollsten Perioden aus der Geschichte idealisiert hat. Daneben bestätigen die

Bürger, die überzeugt sind „von seiner Bestimmung zu siegen“ (HQ 674), mehrmals die

Vorbildfigur, die Henri einnimmt. Das beweist folgendes Fragment:

Wenn er vorbeikam, wurde ihr gefährdetes Leben sicherer; der Friede des Landes, der immer schwankt, stand diesmal fest im Gleichgewicht. […] Sie fingen damals an zu sagen, sein Geist wäre lebhaft, sein Verhalten schlechthin unvergleichlich und sehr mutig die Art, wie er sich

103 Hertha Perez: „Zu Heinrich Manns Erzähltechnik“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 2 (1984), S.113.

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durchsetzte. Aus solchem Stoff sind die größten Fürste erwachsen, versicherte jeder dem anderen (HQ 619)

Hier wird die positive Wirkung von Henri geschildert. Er verwandelt Gefahr in Sicherheit und

Schwankung in Stabilität, was aufs Neue seine Rolle als Retter in einer negativen Situation

betont. Auch die Adjektive, die in diesem Abschnitt benutzt werden, sind stark positiv

konnotiert. Sein Geist ist „lebhaft“, „unvergleichlich“ und „mutig“. Der letzte Satz endet mit

einem Superlativ: Mit Überzeugung „versicherte“ einer, dass Henri kein großer, sondern einer

der „größten“ Fürsten sein wird. Vom guten Herrscher Henri wird also deutlich erwartet,

wenn nicht vorausgesagt, dass er „mit Hilfe menschlichen Verstandes“ (HQ 593) für eine

positive, progressive Änderung in Frankreich sorgen wird.

Neben den zahlreichen Beschreibungen des Erzählers werden auch viele Anekdoten

gegeben, die den Charakter von Henri Quatre näher erläutern. Zum Beispiel, während andere

königliche Figuren nicht mit den Menschen der Hofhaltung umgehen wollen, betritt Henri

ohne Zögern den Gemüsegarten, wo ein Gärtner arbeitet. Henri „setzte sich hin, wühlte die

Hände, die bloßen Füße hinein und jauchzte leise: „Hier ist es schön!““ (HQ 22) Hiernach

stellt er „Fragen über den Garten und über die Lebensverhältnisse des Gärtners“ (HQ 22), was

sein Interesse und seine Verbundenheit mit den Untertanen des Hofes illustriert. Dass er sich

nicht überlegen fühlt, beweist, dass er nicht mit den hierarchischen Verhältnissen zwischen

Machthabern und Untertanen rechnet. Auch gegenüber anderen Machtfiguren fühlt er sich

nicht überlegen. Nach einer Diskussion mit Margot, in der er sie gekränkt hat, schlägt sie

Henri „mit aller ihrer Kraft ins Gesicht“ (HQ 38). „Das habe ich verdient“ (HQ 38), lautet

seine Reaktion. Statt sich hierüber zu erbosen, sieht er ein, dass er für sein Unrecht gestraft

werden soll. Unrecht ist ein Aspekt, den er seit seiner Kindheit auf keinen Fall ertragen kann.

Wenn Henri de Guise und Henri von Valois spielend einen gewalttätigen Streit führen,

beispielsweise, fragt er entrüstet: „Was machst du denn? […] Du tust ihm weh“ (HQ 47).

Aber einer der beiden „schlug unerbittlich, Navarra mußte jetzt ihn davon abhalten, den

anderen umzubringen.“ (HQ 47) Seine Einmischung ist eine Aktion gegen Unrecht und

Gewalt. Über die Tatsache, dass er nicht gewalttätig ist, freut seine Mutter Jeanne sich. Wenn

Henri sagt, dass er die Stimme des Bösen genau erkennen kann, ist Jeanne „glücklich, daß

wenigstens der Vierzehnjährige noch wußte, was recht ist.“ (HQ 62) Genau die „Klugheit und

Verständigkeit ihres jungen Sohnes waren Trost für ihren Stolz.“ (HQ 96) Diese

Verständigkeit führt dazu, dass er nichts anderes als das Gute verteidigen will. Deswegen

schwört er „bei seiner Seele, seiner Ehre und seinem Leben, er werde die gute Sache nie

verlassen, und ihm wurde zugejubelt“ (HQ 69). Für dieses Versprechen liebt das Volk ihn.

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Sprechend ist auch der Satz „Er fühlte schon jetzt, daß es im Leben stärkere Beweggründe

geben müßte als die einfache Aufrichtigkeit“ (HQ 42), aus dem hervorgeht, dass Henri bis zu

diesem Punkt in der Geschichte gedacht hat, dass Aufrichtigkeit einer der stärksten

Beweggründe eines Menschen sei. Wahrscheinlich dachte er das, weil Aufrichtigkeit für ihn

so wichtig ist. Für ihn ist es selbstverständlich, dass ein Mensch aufrichtig und tugendhaft ist,

da er selber so ist. Deswegen äußert er Unverständnis, wenn er Menschen begegnet, die

schlecht sind: „Heiter und duldsam sein, ist doch leicht?“ (HQ 522) Diese Frage illustriert,

dass das Gute tun für ihn einfach selbstverständlich ist. Henris Aufrichtigkeit wird auch

veranschaulicht in der Szene, in der Henri von Guise mit einem Dolch vor ihm steht und

intendiert, ihn zu töten. Das wird verhindert. Nach diesem Vorfall vernimmt Henri, dass seine

Frau, Margot, ihm eine Warnung vor diesem Ereignis geschickt hat. Hiernach fragt er sich:

„Hätte ich [die Warnung] schon gekannt, was dann? Würde ich den Dolch gezückt haben,

bevor Guise es tat?“ Aber hierauf antwortet er ohne Zögern: „Nein“ (HQ 251). Diese Antwort

ist aufs Neue ein Beweis für seine Gutheit und für seine Haltung gegen Unrecht, das er immer

wieder zu verhindern versucht.

Seine Verachtung des Unrechts äußert sich stark während des Religionskrieges

zwischen Katholiken und Protestanten, mit dem er aufwächst. Die Kriege konfrontieren ihn

mit Unrecht und Gewalt. Bestimmte Szenen sorgen dafür, dass er „die Zähne zusammen“

(HQ 76) beißt und mit einem „inneren Widerspruch“ (HQ 77) zu sich selber sagt: „Das alles

kann nicht Gottes Wille sein“ (HQ 76). Er „sah wahrhaftig nicht ein, warum er von Natur der

Feind des Königshauses hätte sein sollen“ (HQ 78). Diese Unverständlichkeit betont die

Frage nach der Bedeutung und dem Sinn des Krieges. Ein zweites Element, mit dem Henri

während der Kriegsszenen konfrontiert wird, ist sein Gewissen:

Dem jungen Henri schien es, als ob auch vorher nicht viel Gnade geübt worden wäre. Vor seinem Gesicht krümmten sich Bauern an Balken hängend, Feuer war angezündet unter ihren Füßen. Was ließ sich einwenden, wenn sogar seine geliebte Mutter aus Erfahrung wußte, daß dies das Gesetz der Welt war, und daß der wahre Kampf um die Religion und das Königreich nicht anders aussah. (HQ 99)

Der Leser, der Henris Volksverbundenheit kennt, weiß, dass der Protagonist Schwierigkeiten

mit diesem Vorfall hat. Die Tatsache, dass Bauern gehängt und verbrannt worden sind,

verursacht Gewissensprobleme bei ihm. Er braucht einen Moment, um zu sich selber zu

kommen und zur Einsicht zu gelangen, dass ein Krieg, wie seine Mutter behauptet, nicht

anders aussieht. Er, als junger, guter Mann, lebt mit der idealistischen Möglichkeit von

Gnade, aber die harte Realität und die Aussagen seiner erfahrenen Mutter beweisen, dass

während eines Krieges von Gnade nicht die Rede ist. Ein Krieg verursacht unvermeidlich

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Unrecht. Sein Wunsch nach Gnade ist so stark, dass er es nicht wagt, die Mörderin seiner

Mutter, Katharina von Medici, zu rächen. Obwohl sie die Gründe und die Mittel hatte, seine

Mutter zu ermorden, will er sie ohne Sicherheit nicht beschuldigen. So entdeckt er „in seinem

Empfinden, daß die Mörderin seiner Mutter erbarmungswürdig war“ (HQ 157). Das zeigt,

dass er im Bösen das Gute sieht. Während des ersten Gesprächs zwischen Katharina und

Henri bleibt er ruhig. Er wollte „Mörderin!“ (HQ 158) rufen, „[s]o hatte in seinem Geist die

Abrechnung mit Madame Catherine ausgesehn, bevor der Augenblick da war. Stattdessen

stockte er; seinem entschlossenen Haß begegnete ein Hindernis, das er noch nicht kannte“

(HQ 158). Er hat den Grund, sie zu beschimpfen, und das Recht, eine Erklärung zu fordern,

aber stattdessen wird sein Hass verhindert. Hier wird aufs Neue deutlich, dass Henri alles

andere als eine nachtragende Figur ist. Selbst gegen die Mörderin seiner Mutter findet er es

unmöglich, seinen Hass zu äußern, aus Furcht, dass er sie unberechtigt beschuldigen und ihr

so Unrecht tun würde. Sein eher versöhnlicher als nachtragender Charakter kommt mehrmals

in der Erzählung zum Ausdruck. Nachdem arme Leute ihn aus Verzweiflung fast erschossen

haben, straft er sie nicht. Er versucht, ihre Verzweiflung zu verstehen, und lädt sie ein, mit

ihm zu essen: „Henri forderte Stühle auch für die Armen“ (HQ 590). Das unterstreicht nicht

nur seine schon analysierte Verbundenheit mit dem Volk, sondern vor allem auch seine

versöhnliche Persönlichkeit. Er versteht, dass das Volk an ihn zweifelt, da es nicht begreifen

kann, warum er sich konvertieren lässt. Statt sich für den versuchten Mord zu rächen, versucht

er mit der Einladung zur Mahlzeit, eine für ihn so wichtige Treue und Verbundenheit

aufzubauen. Das gelingt ihm auch, denn „[s]o beschlossen sie denn, ihm allzeit treu zu

bleiben, und gelobten es kräftig.“ (HQ 592) Denn ein Fürst, der „an demselben Tisch mit arm

und reich“ (HQ 593) tafelt, ist ein guter Fürst.

Die Beschreibungen und Anekdoten über die Güte von Henri bedeuten aber

keineswegs, dass er als eine überlegene, idealisierte Figur dargestellt wird. In der Forschung

hat es oft den Anschein, dass Henri eine starke, tapfere und revolutionäre Figur ist, die jedes

Hindernis überwinden kann. Auch Herden geht auf eine idealisierende Weise aus von „seinem

Willen zum Fortschritt und zur Vernunft, seiner Streitbarkeit gegen die Kräfte der Reaktion

und des Antihumanismus, seiner Achtung und Liebe für die Gefährten, seiner Verbundenheit

mit dem Volk, seiner starken, lebensbejahenden Diesseitigkeit“.104 Hinzu kommt die

Annahme, dass er einen wahren Kämpfer gegen Unrecht personifiziert. Kantorowicz ist einer

der wenigen Forscher, der den Mangel an Nuancierung dieser Thesen erwähnt. Er gibt zu,

104 Herden: Geist und Macht. S.219.

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dass Henri mehrfach die religiösen Seiten wechselt und sich manchmal der feindlichen,

diktatorischen Seite der Familie Valois anschließt. Kantorowicz zufolge wird so eine

Darstellung von schwachen und „menschlichere[n] Zustände[n]“105 herbeigeführt. Viele

Textstellen belegen, dass Henri menschliche Schwäche statt Ruhm und Macht verkörpert.

Neben den starken humanistischen Standpunkten, die er verteidigt, ist er vor allem auch eine

menschliche Figur mit Schwächen. Anhand der Beschreibungen, die Henris Schwäche

hervorheben, gelingt es dem Erzähler, ein humanes, menschliches Bild eines klugen Jungen

zu skizzieren, der seinen Weg in der „unsicheren, unerklärlichen“ (HQ 43) Welt zu finden

versucht. Er versteht schon viel in einem jungen Alter: Die Welt „war nicht einfach, er fühlte

es“ (HQ 43). Manchmal wird er als eine unglückliche Figur beschrieben: „[D]er Protestant

erwies sich stark im Unglück, der Prüfungen bewußt, die er bestehen sollte. Niemand ging es

an, welches Elend ihn ergriff, wenn er allein blieb.“ (HQ 75) Da die unglückliche Seite seines

Lebens beschrieben wird, wird er als eine menschliche Figur mit Schwierigkeiten statt einer

Superiorität mit einem idealen Leben dargestellt. Seine Schwäche kommt auch zum Ausdruck

in Szenen, in denen erzählt wird, dass er krank ist oder sich schwach fühlt. Manchmal fällt er

in „Ohnmacht“ (HQ 474) oder kämpft mit „seine[r] gewohnte[n] Schwäche“ (HQ 605), einem

nicht zu erklärenden Fieber.

Trapp hat sich mit der „leicht erregbare[n] Emotionalität“106 von Henri

auseinandergesetzt. Seine Sensibilität kann durch die vielen Szenen, in denen er „weinte“

(HQ 34), „nasse Augen“ (HQ 431) hat oder ihm „Tränen in die Augen“ (HQ 421) schießen,

illustriert werden. Trapp ist der Meinung, dass der Erzähler mithilfe der Darstellung der

emotionellen Seite von Henri eine schwache Figur schildert, die siegt, „ohne nach Kräften der

Stärkere zu sein“.107 Aber meiner Meinung nach will der Erzähler Henri nicht als den

Schwächeren unter Stärkeren darstellen, sondern als einen natürlichen, echten Menschen. Der

Roman bietet keine Darstellung einer überlegenen, überirdischen Figur ohne Fehler, sondern

eine realistische eines echten Menschen. In dieser Hinsicht bin ich mit der These von Hans-

Albert Walter einverstanden. Ihm gemäß wird Henri durch seine Verschiedenheit von

Charakterzügen, von „einfach und klug“ bis „verschlagen“, von „gütig, bescheiden“ bis

„unbesonnen […] und wankelmütig“, wirklich „wie ein Mann aus dem Volk“108 beschrieben.

105 Kantorowicz: „Heinrich Manns Vermächtnis“. S.10. 106 Frithjof Trapp: „Schopenhauer-Einfluß bei Heinrich Mann?“ In: Heinrich Mann Jahrbuch 9 (1991), S.230. 107 Trapp: „Geschichte als Spiegel politischer Reflexion“. S.103. 108 Hans-Albert Walter: „Heinrich Mann im französischen Exil“. In: Text + Kritik. Heinrich Mann. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Stuttgart: Richard Boorberg 1971, S.119.

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Hierdurch wird er „eine durch und durch natürliche Figur“109, die seinen Untertanen ähnelt,

was mit seiner Volksverbundenheit in Verbindung gebracht werden kann.

2.1.3. Das demokratische Ideal

Henris positive und menschliche Charakterzüge spielen eine wichtige Rolle in der

Übermittlung der politischen Ideen im Text. Wie im kontextuellen Kapitel erwähnt, stellt

Mann der Diktatur in Deutschland eine bessere, demokratische Staatsform gegenüber. Das

demokratische Ideal wird durch Henri Quatre personifiziert anhand seiner Güte, seiner

Haltung gegen Unrecht und vor allem seiner Volksverbundenheit. Daneben kann der Leser

auch buchstäblich Warnungen vor den diktatorischen Tyrannen lesen, wie in folgender

Aussage von Agrippa d’Aubigné, einem Militär in Henris Dienst:

Du bist weiter nichts, Prinz, als was das gute Volk aus dir gemacht hat. Deswegen kannst du dennoch höher sein, denn das Geschaffene ist manchmal höher als der Künstler, weh aber dir, wenn du ein Tyrann würdest! Gegen einen offenkundigen Tyrannen haben sogar die unteren Beamten alles Recht von Gott. (HQ 126)

Einerseits unterstreicht d’Aubigné die Wichtigkeit des Volkes für die Politik. Das Volk soll

einen König akzeptieren, weil ein Führer durch das Volk „gemacht“ wird. Ihm zufolge ist

Überlegenheit durch Geburt, Blut und Familie bedeutungslos. Andererseits werden die Gefahr

einer Tyrannenherrschaft und das Missgeschick von Untergeordneten, das hiermit verbunden

ist, hervorgehoben. Im Allgemeinen hält d’Aubigné hier ein Plädoyer für die Demokratie und

gegen die Diktatur. In derselben Szene äußert ein zweiter Höfling, Du Bartas, folgende

Worte:

„Ihr Könige, Knechte eures Wahnes, Habt Felder oft mit Mord bedeckt, Damit die Grenze eures Planes Sich um ein Haarbreit weiter streckt. Ihr Richter, die auf heiligen Plätzen Das öffentliche Wohl verkauft, Soll euer Sohn ein Erbe schätzen, Um das ihr euch wie Diebe rauft?“ […] Henri schwieg infolge dieser Worte […] und in aller Stille beschloß er, niemals sollten Menschen tot auf Fluren liegen und ihm sein vergrößertes Gebiet bezahlen. (HQ 126-127)

Diese Textstelle gilt als Plädoyer dafür, dass Könige ein Auge für das Volk und für Unrecht

haben sollen. Das impliziert eine notwendige Änderung der damaligen Situation. Mit harten

Worten nennt Du Bartas die aristokratischen Machthaber „Diebe“, ihre Handlungen „Mord“

109 Ebd. S.119.

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und ihre Ergebnisse nur ein „Haarbreit“. Die Hypokrisie der kritisierten Machthaber liegt

darin, dass sie das Gemeinwohl während öffentlicher Auftritte verkaufen, aber nie erreichen.

Eigennutz ist nicht die richtige Art und Weise, über ein Land und ein Volk zu herrschen.

Henris Reaktion zeigt, dass er mit Du Bartas einverstanden ist. Er verteidigt die anderen

Machthaber nicht. Er entscheidet für sich selber, dass er eine andere Strategie benutzten will.

In diesen letzten Sätzen sind seine progressiven Ideen und Charakterzüge festzustellen.

Erstens bestätigen Henris Ideen seine Verachtung von Unrecht. Zweitens sind sie ein Schritt

in die Richtung von Demokratie. Drittens bedeuten sie eine positive Evolution für das Volk,

was ein Beweis für seine Volksverbundenheit ist. Sowohl die Aussage von Du Bartas als auch

die Reaktion von Henri illustrieren die Negativität, die Hypokrisie und die Probleme einer

diktatorischen Staatsform einerseits und die Notwendigkeit einer Änderung in die Richtung

einer Demokratie andererseits. Das sind genau die Ideen, für die Heinrich Mann immer

wieder plädiert hat.

Meiner Meinung nach ist es auch symbolisch, dass Henri als Teil des Volkes der

König von Navarra wird. Wenn er sich bei seinen Untertanen befindet, erfährt er die

Nachricht, dass seine Mutter gestorben ist und dass er ab diesem Moment kein Prinz mehr,

sondern ein König ist. Obwohl ein derartiger Wendepunkt in den meisten Königsromanen am

Hof stattfindet, geschieht es in Henris Fall „auf der fremden Landstraße“ (HQ 138). Er teilt

diesen bedeutungsvollen Moment mit den Seinen, die ihn „mit erhobenen Händen“ (HQ 139-

140) zurufen. Er und sein Volk vermuten, dass Jeanne vergiftet worden ist. Als eine Einheit

sagen alle dasselbe: „Die Königin Jeanne ist vergiftet“ (HQ 140). Aber solange diese

Spekulation nicht mit Sicherheit bestätigt ist, will Henri nicht urteilen. Er sagt „Ich will es

lieber nicht wissen. Denn ich müßte überaus hassen und verfolgen. Zuviel Haß aber macht

ohnmächtig“ (HQ 142), und glaubt, „daß Leben wichtiger ist, als sich rächen“ (HQ 142). Mit

diesen Worten zeigt er seine Toleranz und bestätigt er seinen guten Charakter, weil er erklärt,

dass er so wenig wie möglich mit Hass leben will und kann. Das kann auch mit seiner

politischen Ideologie verbunden werden, in der die Toleranz das Schlüsselwort ist und jede

Form von Gewalt abgewiesen wird.

Wie schon erwähnt, hat Heinrich Mann sehr oft seine Bewunderung für die

Französische Revolution gezeigt. Die Änderungen, die während dieser Periode in Frankreich

vollzogen sind, wollte er auch in Deutschland realisiert sehen. Er glaubte, es würde sich

lohnen, „die bestehende Ordnung umzustürzen“110 und den Absolutismus fallen zu lassen.

110 Heinrich Mann: Geist und Tat. Essays. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1963, S.7.

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Diese Ideen kommen auch im Roman zum Ausdruck. So sagt ein Mann aus Henris

Hofhaltung: „Sire! Getötet wird nicht mehr. Ein neues Zeitalter bricht an.“ (HQ 505) Diese

Aussage weist die Notwendigkeit einer politischen Änderung nach. Die diktatorische

Staatsform der Familie Valois hat zu viel Fehler aufgewiesen und zu viel Menschen zum

Opfer gebracht. Man braucht eine Besserung: das Zeitalter der Demokratie, wo

Menschlichkeit das wichtigste Prinzip ist. Am Ende des Romans sagt ein Bürger:

„Menschlichkeit ist es. Die große Neuerung, der wir beiwohnen, ist die Menschlichkeit.“ (HQ

591) Die notwendige politische Änderung hat stark mit Menschlichkeit oder Humanismus zu

tun. Wie erklärt, ist das einer der von Mann betonten Schlüsselbegriffe der Politik.

Humanismus ist, was Henri Quatre personifiziert. Der Roman betont mehrmals, dass die Art

und Weise, wie er regiert, die richtige ist. Wie der Erzähler wörtlich sagt: „Er sah auch die

Menschen.“ (HQ 592) Hieraus geht hervor, dass Henri wirklich Interesse für die Lage und das

Wohl seiner Untertanen hat. Das ist ein Beweis für den Humanismus, den er verkörpert.

Aus der Analyse hat sich erwiesen, dass Henris politische Ideen demokratisch und

humanistisch sind. Das geht aus seiner Volksverbundenheit, seiner Toleranz, seinem

versöhnlichen und aufrichtigen Charakter, seiner Unfähigkeit, zu hassen, und seinem

Verlangen nach Gerechtigkeit deutlich hervor. Diese analysierten Charakterzüge treten auch

in der schon erläuterten Definition von Manns Humanismus-Begriff auf und führen zur

Bestätigung der These, dass Henri eine „humanistische Führergestalt“ sei, die „seine Macht

weder erschlichen […] noch sie zu eigensüchtigen Zwecken nutzt.“111 Bestimmte Forscher

haben aber Kritik an den humanistischen Ideen im Text geübt. Walter, zum Beispiel,

behauptet, Henris Humanismus sei „recht naiv und realitätsfern“.112 Diese These kann

entkräftet werden, da der Titel Die Jugend des Königs Henri Quatre lautet. Das impliziert,

dass der Protagonist noch sehr jung ist. Seine Ideen sind tatsächlich manchmal idealistisch,

aber der Leser muss in seiner Interpretation damit rechnen, dass Henri während der

Geschichte das Alter von zwanzig nicht überschreitet. Meines Erachtens können seine

idealistischen Ideen durch sein Alter erklärt werden. Das kommt seinem Ruf als

menschlichem Herrscher nur zugute.

111 Ebd. S.118. 112 Walter: „Heinrich Mann im französischen Exil“. S.132.

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2.2. Die aristokratischen Machthaber

Heinrich Mann war der Meinung, dass die politische Praxis der wilhelminischen Zeit nur eine

Triebfeder kannte: „das Streben nach Besitz und Macht um jeden Preis“.113 Das verursachte

„die Gefährdung der menschlichen Würde und schließlich der menschlichen Existenz

überhaupt“.114 Diese Ideen werden in der antinationalsozialistischen Literatur mithilfe der

Darstellung von guten, menschlichen Machthabern, wie Manns Henri Quatre, kritisiert. Viele

Forscher vertreten die These, dass Henri Quatre das gute Gegenbild von Hitler sei. Walter,

zum Beispiel, glaubt, der Roman biete „eine Alternative zu dem Morast aus Blut und Lüge,

dem verwahrlosten Zustand des Königreichs.“115 Roberts hat in diesem Zusammenhang

Folgendes geschrieben: „Die Wahl der Gestalt des Henri IV. als eines idealen Gegenentwurfs

zu Hitler zeigt Heinrich Manns Interesse für den erfolgreichen Führer, der in einer Person

Geist und Macht vereinigt.“116 Auch Herden gemäß will der Roman der diktatorischen,

aristokratischen Macht eine „Volksmacht“ oder eine „Macht der Güte“117 gegenüberstellen.

Er meint, dass Henris positive Charakterzüge die Negativität einer Diktatur noch stärker

hervorheben. Ich glaube, dass Henri tatsächlich als der Gegensatz von Hitler betrachtet

werden kann. Meines Erachtens kann diese These jedoch vertieft werden mit der Behauptung,

dass es auch konkrete Hitlerfiguren in der Geschichte gibt. In Geist und Tat erklärt Heinrich

Mann selber, dass Henri Quatre groß wird „mit der Demokratie, unter der das Drama in seiner

aristokratischen Enge abstirbt.“118 Hieraus kann der Kontrast zwischen der von Henri

verkörperten Demokratie und der zugrunde gehenden Aristokratie abgeleitet werden. Das sind

genau die zwei Gruppen, die in der Erzählung unterschieden werden können. Nach meiner

Meinung personifizieren die aristokratischen Machthaber im Roman die Diktatur, die Mann

im Nationalsozialismus verabscheut hat. Wichtig ist, darauf zu deuten, dass die französische

Aristokratie im Roman am Ende des sechzehnten Jahrhunderts gemeint ist. Von der deutschen

Aristokratie zur Zeit des Nationalsozialismus ist in meiner Analyse nicht die Rede. Im

vorliegenden Teil werden die zwei Figuren, die die diktatorischen Ideen am deutlichsten

verkörpern, analysiert: Jeanne d’Albret und Katharina von Medici.

Die erste diktatorische Figur, die in der Erzählung auftaucht, ist Henris Mutter Jeanne

d’Albret. Wie analysiert, ist es für Jeanne wichtig, dass ihr Sohn in der Nähe des Volkes

113 Herden: Geist und Macht. S.10. 114 Ebd. S.10 115 Walter: „Heinrich Mann im französischen Exil“. S.122. 116 Roberts: „Heinrich Mann und die Französische Revolution“. S.88. 117 Herden: Geist und Macht. S.157. 118 Mann: Geist und Tat. S.15.

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aufwächst. Trotzdem teilen sie nicht dieselbe politische Sichtweise. Im Gegensatz zu Henri ist

sie „keine Beobachterin der Wirklichkeit“ (HQ 13-14), was ein Beleg ist für die Tatsache,

dass sie Scheuklappen trägt und kein Auge für die Realität in ihrem Königreich hat. Vielmehr

hat sie „den Kopf voller Träume“ (HQ 14), was darauf deutet, dass sie nur den eigenen Ideen

und Träumen Beachtung schenkt. Über Sichtweisen von anderen sieht sie einfach hinweg.

Der Grund hierfür ist, dass sie „nur sich selbst“ (HQ 90) vertraut. Wenn andere Figuren ihre

Meinung nicht teilen, sie missachten oder nicht verstehen, lässt sie sich schnell „zum

Äußersten“ (HQ 26) bringen. Während solcher Momente will sie „mit Fäusten losgehen“ (HQ

26). Ihre Standhaftigkeit impliziert aber auch, dass sie nicht mit der Stimme ihrer Untertanen

rechnet. Das verhindert einen Demokratisierungsprozess. Ferner ist sie „ehrgeizig“ (HQ 13)

und kennzeichnet sich durch einen „unbeugsamen Charakter“ (HQ 13). Das zeigt einerseits,

dass sie Ambitionen hat, andererseits oft „zu stolz“ (HQ 92) ist, ihre Sichtweise mit einer

Nachsicht zu ändern. Sie fühlt „Verachtung“ (HQ 98) gegenüber allem, was ihr auch nur den

geringsten Widerstand bietet. Für sie ist „die Welt […] schlecht“ (HQ 91). Deswegen

versucht sie oft, die Pläne von Machthabern mit einer anderen Sichtweise „zu durchkreuzen“

(HQ 51). Viele Menschen, denen sie während ihres Lebens begegnet, sind „erstaunt über

soviel Hartnäckigkeit“ (HQ 178), denn „[n]ichts schreckte sie ab, nichts blieb bestehn, außer

ihrem Willen“ (HQ 45). Ihr eiserner Wille wird auch durch die Anekdote ihrer Eheschließung

illustriert. Widerwillig wurde sie von ihren Eltern verpflichtet, zu heiraten. Es wird erzählt,

dass ihr Kleid schwer wog, „[a]ber das größere Gewicht hatte ihr Wille, obwohl sie damals

noch ein Kind war“ (HQ 30). Hieraus geht nochmals ihr eiserner Wille hervor. Das bietet eine

Erklärung, warum sie nicht für neue politische Ideen, die anders als die ihrigen sind,

aufgeschlossen ist.

Jeanne handelt hauptsächlich aus Eigennutz. Obwohl es für ihre Kinder gut wäre, ins

Ausland zu reisen, will sie es verhindern, weil sie allein sein wird und „die Last der Geschäfte

nicht tragen“ (HQ 94) könnte. Um es sich selber bequemer zu machen, behält sie ihre Kinder

bei sich. Das beweist, dass ihre Entscheidungen auf Egoismus beruhen. Ferner handelt sie

„ohne Mitleid“ (HQ 97). Auch das bildet einen scharfen Kontrast mit ihrem Sohn. Wie schon

analysiert, hat er einen starken Drang, jedes Unrecht zu verhindern, und betrachtet sehr vieles

mit Mitleid. Die Häufung dieser Eigenschaften führt dazu, dass Jeanne als eine

antidemokratische Herrscherin dargestellt wird und während ihres Lebens „ahnungslos und

unerfahren“ (HQ 64) bleibt. Hiermit wird gemeint, dass sie im Gegensatz zu Henri nicht weiß,

was in ihrem Königreich passiert. Sie hat keine Ahnung der Lage ihrer Untertanen und keine

Erfahrung, sich mit ihnen zu unterhalten. Sie stirbt früh in der Geschichte und deswegen sind

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die Belege für das diktatorische Bild von Jeanne nicht zahlreich, aber sicherlich nicht weniger

sprechend. Zahlreicher sind die Textstellen, in denen Katharina von Medici als

antidemokratisch beschrieben wird.

Eine Diktatur beraubt das Volk ihrer „Entscheidungs- und Handlungsfreiheit“119,

sodass demokratische Initiativen in der Gesellschaft nicht möglich sind. Das ist genau, was

die Familie Valois tut, da sie nicht mit dem Volk, seinem Willen und seinen Rechten rechnet.

Sie „riefen nach Gewalt, jene nach ihrer verbürgten Sicherheit. Wer indessen der Schwächere

ist, muß nicht auf das Recht pochen, sondern Duldsamkeit und Güte empfehlen: unter dem

Schutz dieser Tugenden wird er leicht seine Macht vergrößern.“ (HQ 529) In diesen Sätzen

wird verdeutlicht, dass die Valois Gewalt als Waffe benutzen, während Henri Duldsamkeit

und Güte bevorzugt, um aufgrund von Tugend ein guter König werden zu können. Das bietet

auch einen Beweis für den Ruf von Henri als gutem Herrscher. Aber hierdurch übt die

Hofhaltung der Familie Valois Kritik an ihm, weil sie meint, dass er den Krieg „nicht streng

genug“ (HQ 544) führt. Doch bleibt Henri der Meinung, ein „Fürst sei bedacht, aufzutreten

mit Würde, ja mit Glanz“ (HQ 554) statt mit Gewalt. Wenn er sich nicht tugendhaft verhält,

weint er „aus Scham und Erbitterung über sein Verhalten“ (HQ 555), was zeigt, dass er davon

überzeugt ist, dass ein Fürst tugendhaft und gut sein soll. Mit der Nachlässigkeit dieser

Prinzipien kann er nicht leben. Hieraus kann der Kontrast zwischen ihm und der anderen

„Gattung Mensch“ (HQ 616), der Familie Valois, abgeleitet werden. Eine solche Gattung

bevorzugt „die düstere Gewalt“ und liebt „Ausschweifungen […] im Grauen und in der

unreinen Verzückung.“ (HQ 616) Henri dagegen ist „der Abgesandte der Vernunft und des

Menschenglückes“, der versucht, „ eine Provinz nach dem gesunden Sinn zu ordnen, später

ein Königreich, endlich aber den Weltteil: durch einen Friedensbund“ (HQ 616). Während

Henri immer mit positiv konnotierten Wörtern beschrieben wird, stehen die negativen im

Mittelpunkt der Beschreibung der anderen Gattung Mensch. Während Henri „einen

Friedensbund“ als Mittel benutzten will, bevorzugt sie die „düstere Gewalt“. Während Henri

sich für das Glück seiner Menschen einsetzt, wird sie als dunkel abgestempelt und mit

Sittenlosigkeit assoziiert. Die andere Gattung Mensch bildet „seine ewigen Gegenspieler“

(HQ 616), was die unterschiedlichen Standpunkte von beiden unterstreicht. Dass Henri die

richtige Seite vertritt, kann aus dem Kontrast zwischen „gesund“ und „unrein“ abgeleitet

werden. Hier tritt eine starke und stereotypische Polarisierung zwischen Gutem und Bösem in

den Vordergrund. Perez erklärt, dass diese Polarisierung auf Manns Erzähltechnik

119 Herden: Geist und Macht. S.135.

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zurückgeführt werden kann. Mann beschreibt Henri bewusst als „ein Beispiel unter vielen“120,

um seine Ideale hervorzuheben. Dass ein polarisierender Erzählstil für Mann kennzeichnend

ist, wird auch von Herden bestätigt. Ihm gemäß stellt Mann den kritisierten Figuren in seinen

Werken eine beispielhafte Figur gegenüber, um seine Kritik zu verstärken. Er äußert seine

Ideen anhand einer Kontrastierung zwischen den Figuren, die seine Ideale verkörpern, und

den Gegenspielern, die er kritisieren will.121 Das wird deutlich durch meine Analyse

illustriert.

Katharina von Medici ist das Haupt der Familie Valois. Sie verkörpert die

entgegengesetzten Prinzipien von Henri. Im Gegensatz zu Henris Volksverbundenheit und

Güte sind Falschheit und Kaltblütigkeit die Hauptmerkmale von Katharina. Wenn einer ihrer

Hauptmänner nach ihrer Meinung nicht treu genug ist, befiehlt sie, ihn die Treppe

hinunterzuwerfen. Nach dem Mord schließt sie „befriedigt“ (HQ 121) die Tür und sagt

„behaglich“ (HQ 121), dass er den Hals gebrochen habe. Beide Adjektive sind positiv

konnotiert und beweisen, dass sie beim Töten weder Gewissensprobleme noch Schuldgefühl

erfährt. Auch Jeanne war „den Mächtigen im Wege gewesen“ (HQ 137), und auch sie wurde

im Auftrag von Katharina vergiftet. Margot, Katharinas Tochter, ist sich der Kaltblütigkeit

ihrer Mutter bewusst. Sie weiß, „daß jeder, der ihre Mutter störte, aus dem Wege mußte“ (HQ

174). Das zeigt, dass Eigennutz im Mittelpunkt von Katharinas Sichtweise steht. Mit anderen

rechnet sie nicht. Die Kälte ihrer Mutter wird auch in folgender Textstelle nachgewiesen:

„öfters verliebte sie sich, während nebenan Morde geschahen.“ (HQ 174) Hieraus geht der

Unterschied zwischen Liebe und Mord sehr deutlich hervor. Der Gefühllosigkeit von

Katharina steht die Empfindlichkeit ihrer Tochter gegenüber. Dass sie alles andere als ein

emotionelles Wesen ist, kommt auch zum Ausdruck in der Szene, in der es den Anschein hat,

als ob sie weine. Sie bedeckt ihr Gesicht mit ihren Händen. „Immer höher und schriller

winselte sie, ohne daß über die Fingerchen der kleinste Wassertropfen rann.“ (HQ 255) Die

Unfähigkeit, zu weinen, steht im Zentrum dieser Szene und veranschaulicht deutlich

Katharinas Mangel an Emotionalität. Hinzu kommt, dass sie unmittelbar nach diesem Vorfall

mit einer strengen und „völlig trockene[n] Stimme“ (HQ 256) weiterredet. Hierdurch wird

ihre Gefühllosigkeit akzentuiert. Auch nachdem sie die Nachricht bekommt, dass ihr Sohn

gestorben ist, „behielt sie die Augen trocken.“ (HQ 411) Während Henri sich, wie analysiert,

emotionell mit seinen Untertanen verbunden fühlt, beherrscht die Kaltblütigkeit Katharina.

120 Perez: „Zu Heinrich Manns Erzähltechnik“. S.113. 121 Herden: Geist und Macht. S.74.

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Ich bin der Meinung, dass das Verhältnis zwischen Katharina und ihren Kindern mit

dem Verhältnis zwischen Henri und dem Volk verglichen werden kann. Was den

hierarchischen Rang der verschiedenen Figuren betrifft, ähneln beide Verhältnisse sich.

Katharina herrscht wie eine Mutterfigur über ihre Kinder, Henri herrscht wie eine Vaterfigur

über sein Volk. Was die Art und Weise, wie sie regieren, betrifft, kontrastieren sie aber völlig.

Während Henri bewundert und als positiv bezeichnet wird, hat jede Figur in der Geschichte

Angst vor Katharina, weil sie ein schreckliches Wesen ist. Das wird in folgender Aussage

bestätigt: „Man wird den Eindruck nicht los, daß hinter allem die Königinmutter steckt. Ihre

Pläne sind noch dunkel, aber der Sinn wird vielleicht früher aufgehen, als wir denken – und

auch furchtbarer.“ (HQ 223) Hieraus lässt sich ableiten, dass ihre Pläne als die Ursache für die

Negativität im Königreich gesehen werden. Auch die Adjektive „dunkel“ und „furchtbarer“

betonen die Falschheit dieser Figur. Dass die Angst berechtigt ist, kann festgestellt werden,

wenn Karl, einer ihrer Söhne, Henri warnt: „Hüte dich vor meiner Mutter“ (HQ 230). Diese

Aussage beweist, dass ein eigenes Kind das Böse in seiner Mutter sieht. Karl ist aber nicht das

einzige Kind, das sich des Bösen seiner Mutter bewusst ist. Auch Margot weiß das aus

eigener Erfahrung. Eines Morgens hat Katharina ihre Tochter „gebissen“ (HQ 240), und ihre

„schiefen alten Zähne“ (HQ 240) haben eine Narbe auf Margots Körper zurückgelassen.

Hieraus kann der schlechte und gewalttätige Charakter von Katharina abgeleitet werden. Sie

benutzt Gewalt als Mittel, jemanden zu strafen. Nicht nur physisch, sondern auch verbal

erniedrigt sie Margot. Henri hört, zum Beispiel, dass Katharina Margot ein Wort zuruft, „das

„Hure“ bedeutete“ (HQ 299). Hinzu kommt, dass sie eine nachtragende Figur ist: „Sie haßt

Karl.“ (HQ 245) Es geht so weit, dass Henri davon überzeugt ist, dass sie gegen ihren Sohn

„etwas vorhat“ (HQ 245). Der Hass gegen Karl kommt auch im Folgenden zum Ausdruck:

„Sie fand die Wahrheit hart wie einen Stock und daher nützlich für […] Karl“ (HQ 301). Das

unterstreicht die „hart[e]“ Haltung, die Katharina gegenüber ihren Kindern hat. Es steht außer

Zweifel, dass sie alles andere als eine liebhabende Mutterfigur ist. Sie legt mehr Wert auf ihre

Macht als auf ihre Kinder: „Wenn jeder nur etwas vorhielt, konnte Madame Catherine ihnen

weiter die Sorgen des Reiches abnehmen und konnte bleiben, die sie war – auf immer, meinte

sie.“ (HQ 408) Ihre Superiorität findet sie so wichtig, dass sie nachdenkt über die

Maßnahmen, die sie ergreifen kann, um die Macht, die sie hat, behalten zu können. Sie stellt

ihre eigenen Interessen über die von ihren Kindern. Es unterliegt also keinem Zweifel, dass

die Verbundenheit zwischen Henri und seinen Untertanen völlig kontrastiert mit dem

Verhältnis, das Katharina mit ihren Kindern hat. Das beweist, dass sie eine völlig andere

Sichtweise haben. Während Katharina sich hauptsächlich mit ihrer eigenen Machtposition

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beschäftigt, wird Henri durch seine Bemühungen für das Wohl seiner Untertanen

charakterisiert.

Wie analysiert, hat Henri eine deutliche Haltung gegen Unrecht. Er kann es nicht

ertragen und versucht aktiv, es zu verhindern. Auch das bildet einen Unterschied mit

Katharina. Sie hat keine Probleme damit, Gewalt und Falschheit als Mittel einzusetzen, um

etwas zu erreichen. Das kann zum Beispiel während der Bartholomäusnacht konstatiert

werden. Obwohl der genaue Verantwortliche nicht mit Sicherheit angegeben wird, drückt

folgender Satz die Schuld Katharinas aus: „Madame Catherine: um sie hing, mit ihr ging, von

je und überall, das brütende Geheimnis dieser Nacht!“ (HQ 335) Das illustriert, dass jeder sie

der Mordnacht verdächtigt. Auch von ihrer Falschheit ist oft die Rede. Sie ist alles andere als

eine ehrliche Figur, „so groß war ihr Ehrgeiz oder ihr Bedürfnis nach Umtrieben“ (HQ 386),

und sobald sie „nicht mehr die Stärkere war, pflegte sie zur List überzugehen.“ (HQ 260)

Diese Aussagen stellen klar, dass Katharina Listen einsetzt, um ihre Ziele zu erreichen. Der

Superlativ beweist ihren Drang nach Superiorität und die Tatsache, dass sie eingreifen will,

wenn sie ihre überlegene Position zu verlieren anfängt. „Überlegen war Madame Catherine

den Tatsachen durch ihre Gefaßtheit und ihr Selbstvertrauen; und dieses bestand ganz aus der

Gewißheit, daß das Leben böse war und daß sie selbst mit dem Leben ging, die anderen aber

dagegen.“ (HQ 297) Neben ihrer gewünschten Superiorität, die in den Vordergrund tritt,

illustriert dieser Abschnitt ihre Überzeugung, dass ihre Sichtweise die richtige ist. Mit

„Gewißheit“ glaubt sie, dass sie mit der richtigen Sichtweise „mit dem Leben“ geht, während

andere Leute „dagegen“ gehen. Diese Überzeugung ist der Grund dafür, dass sie nicht mit

anderen rechnet. Sie hat kein Auge für die Meinung anderer Menschen, da diese nach ihrer

Meinung falsch ist.

Was ihre Regierungsweise betrifft, reflektiert sie ohne Nachsicht. Im Text wird

erzählt, wie sie vergisst, „wofür die Welt und auch dies Land bestimmt waren: beherrscht zu

werden, unweigerlich und unumstößlich“ (HQ 359). Sie „erachtete sich als ein wichtiges

Werkzeug der Weltmacht“ und schenkt nur ihrem „eigenen Wohl“ (HQ 359) Beachtung.

Hieraus geht hervor, dass sie in erster Linie mit ihrer Superiorität und mit ihrem Eigennutz

rechnet. Das bildet einen außerordentlichen Kontrast mit der politischen Sichtweise von

Henri, bei dem die Tugend und die Stimme der Bürger die wichtigsten Rollen spielen. Das

kann Katharina nicht ertragen. Obwohl Henri vom Volk geliebt wird, versucht sie immer

wieder, ihre Superiorität gegenüber ihm auszudrücken. Mehrmals nennt sie ihn einen

„Zaunkönig“ (HQ 403), ein kleines Vögelchen, das ihr zufolge „noch immer nicht klein

genug“ (HQ 403) war. Sie behandelt ihn deutlich herablassend.

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Den positiven Beschreibungen von Henri gegenüber stehen die negativen von

Katharina. Wenn Henri an sie denkt, nennt er sie eine „alte Hexe, von der er schon als Kind

geträumt hat“ (HQ 151). Für ihn ist sie eine Spinne und „in ihrem Spinnennetz“ (HQ 151) hat

sie seine Mutter verfangen. Interessant ist auch, dass der Titel des Kapitels, in dem sie zum

ersten Mal erwähnt wird, „Die böse Fee“ (HQ 154) heißt. Das impliziert, dass sie als eine Fee

aussieht, aber einen bösen Charakter hat. Henri ist sich bewusst, „daß die Herrin des Palastes

wohl die alte Giftmischerin, aber zugleich eine Fee war“, und er weiß, dass er sich hüten soll

vor ihr, denn „derartiges kann auch eine schöne Fassade sein.“ (HQ 155) Auch die

Beschreibungen von Henris und Katharinas Augen unterscheiden sich voneinander. Sie hat

„Augen ohne Glanz“ (HQ 316), die immer „trocken“ (HQ 411) bleiben. Henris Augen

dagegen werden oft „feucht“ (HQ 392), und seine Tränen sind immer „zweifellos echt“ (HQ

173). Es kann also nicht geleugnet werden, dass Henri und Katharina eine ganz andere Natur

haben. Henri ist ein emotionelles, warmes Wesen, während Katharina die „Natur einer

Mörderin hat“ (HQ 412) und die Welt „mit Geringschätzung“ (HQ 420) betrachtet. Sie wird

von niemandem geliebt, nicht von ihren Kindern, nicht von ihren Untertanen, weil „niemand

ihr glaubte, daß nicht sie dahinterstak, wo gemordet wurde“. (HQ 706) Ihr Abstand zum Volk

wird thematisiert, indem beschrieben wird, dass Katharina nicht „geeignet“ war, „vom Volk

in der Nähe betrachtet zu werden“ (HQ 599). Vielmehr sah sie „hinter einem Fenster zu“ (HQ

599). Wenn sie am Ende der Geschichte stirbt, lassen ihre Kinder und ihre Untertanen das mit

einer Kälte passieren, welche der ihrigen sehr ähnelt: „Ihr blieb nur übrig, die Erde zu

verlassen.“ (HQ 706)

Die einzige Figur der Familie Valois, die Hoffnung für das demokratische Ideal bringt,

ist Margot. Im Gegensatz zum Rest ihrer Familie ist sie nicht mit einer gewalttätigen,

diktatorischen Staatsform einverstanden. Jedoch verhält das Volk sich misstrauisch gegenüber

Margot: „[W]arum sollte sie nicht von ihrer klugen Mutter gelernt haben, Tränke zu

mischen?“ (HQ 222), fragt ein Bürger sich. Dass sie ihrer Mutter nicht ähnelt, äußert sich in

ihrer „mit vollem Klang“ (HQ 257) betonten Äußerung „Ich verbiete, daß ein Mord

geschieht“ (HQ 257). Hier lässt sich der Widerstand erkennen, den sie gegen ihre Mutter

leistet. Sie billigt das Unrecht, das sie verursacht, keinesfalls. Während ihres Versuchs,

Katharina ihre gewalttätigen Pläne auszureden, sagt sie: „Ich bin nicht dumm, Mutter. Ich

höre manche Worte, die ihren wahren Sinn erst in der Zukunft bekommen sollen.“ (HQ 259)

Sie stellt sich selber als eine kluge Figur dar, die Einsicht in das Verhalten ihrer Mutter hat,

und die weiß, dass sie vorsätzlich handelt und Unrecht verursacht. Ihre Kenntnis, die sie „aus

Büchern“ und „von Menschen“ (HQ 297) selber gelernt hat, benutzt sie, um sich gegen die

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Manipulation ihrer Mutter zu schützen. Obwohl Katharina ihre Opfer, hauptsächlich

Hugenotten, als negative Wesen bewertet, weiß Margot, dass sie lügt. Die Hugenotten sind

„unschuldig und wehrlos […] wie die Lämmer“ (HQ 297), und ihre Mutter ist diejenige, die

als negativ bezeichnet werden soll. Wegen des Unrechts, das ihre Mutter verursacht, wäscht

sie „viele Tränen“ (HQ 319) vom Gesicht, was zeigt, dass sie ein emotionelles Wesen ist statt

eines harten, wie Katharina. Ihre Emotionalität kommt während des Religionskrieges, in dem

sie immer wieder auf eine Mauer von Verständnislosigkeit stößt, zum Ausdruck. Sie will

Henri lieben, aber sie sind bestimmt, „Feinde zu sein und einander Schmerzen zu bereiten.“

(HQ 342) Hierdurch weint sie wiederholt, da der Wunsch, geliebt zu werden, „durch ihre

schreckliche Mutter“ „gefährdet“ (HQ 600-601) wird. Man kann also den Eindruck gewinnen,

dass Margot das einzige Familienmitglied der Valois ist, das einen bescheiden Widerstand

gegen die diktatorische Sichtweise ihrer Mutter leistet. Trotz der Tatsache, dass sie ihrer

Mutter gehorchen soll, ähneln ihre Ideen diesen von Henri. Deswegen kann sie als eine

hoffnungsvolle Figur in der Erzählung bezeichnet werden.

2.3. Die moralités

In der Henri Quatre-Forschung wird „die moralische Klarheit und Gewißheit“122 in Die

Jugend des Königs Henri Quatre hervorgehoben. Die moralistische Seite in Manns Werken

hängt mit seiner Auffassung zusammen, „daß die Bücher von heute die Taten von morgen

sind“.123 Ihm gemäß ist die Literatur „eine soziale Erscheinung, deren Aufgaben in der […]

Bestimmung zusammengefaßt sind, mit ihren Mitteln auf optimale Weise zu helfen, neue

moralische Realitäten zu schaffen.“124 Diese Moralität wird deutlich in der schon analysierten

Figur Henri, die das Gute in der Welt verkörpert. Diese Sichtweise schließt an die

Behauptung von Herden an, dass Henris Regierungsweise „den für diese Gegenwart

angemessenen prinzipiellen moralischen Gehalt“ bildet. Das macht vom Roman ein Plädoyer

für die „unverlierbare[n] Werte der Sittlichkeit und Güte“.125 Trotz der Einstimmigkeit über

die moralistischen Aspekte im Text werden die moralités am Ende jedes Kapitels, die defasn

Fabeln à la Fontaine ähneln, kaum erwähnt oder analysiert. Deshalb wird im vorliegenden

Teil überprüft, ob sie Aspekte enthalten, die der Opposition zwischen den demokratischen

und den diktatorischen Figuren beitreten.

122 Herden: Geist und Macht. S.134. 123 Ebd. S.192. 124 Ebd. S.192. 125 Hinrichs: „Die Legende als Gleichnis“. S.111-112.

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Ein erster Aspekt, der in den moralités zum Ausdruck kommt, ist die Warnung vor

dem Bösen in der Welt. Dem Erzähler gemäß kennzeichnet das Leben sich durch ein „danger

effroyable“ (HQ 59). Er glaubt, dass jeder Mensch mit „adversité“ (HQ 414) bzw.

Missgeschick konfrontiert wird. Aber die Konfrontationen mit „la méchanceté des hommes“

(HQ 59) sind nicht nutzlos, denn „[l]e malheur peut apporter une chance inespérée

d’apprendre la vie“ (HQ 414). Es wird darauf hingedeutet, dass die Erprobungen „leçons“

(HQ 414) sind und zur Lebensweisheit führen. Das bewirkt die Entwicklung zu einem

besseren Menschen. Auch wird erklärt, dass Henri durch sein Missgeschick die richtigen

„connaissances morales“ (HQ 414) kennen lernen kann und als ein erfahrener, skeptischer

und versöhnlicher Mann (HQ 415) aufwachsen kann. Er spezifiziert, dass Henri dank der

harten Realität, mit der er konfrontiert wird, eine Entwicklung von einem unerfahrenen zu

einem guten Mann mit Einsicht in die Welt durchmachen wird.

Zweitens wird Henris Verhalten in jedem Kapitel beleuchtet und bewertet. Anhand

von Konstruktionen wie „[v]ous auriez beaucoup mieux fait“ (HQ 215) hat es den Anschein,

als ob der Erzähler Henri Rat und Kritik gibt. Er verdeutlicht, dass es wichtig ist, „les

avertissements“ (HQ 332) von bestimmten Figuren Beachtung zu schenken. Er kritisiert Henri

wegen seiner Blindheit bzw. „aveuglement“ (HQ 332), da er den „menaces“ (HQ 144) des

Lebens „en jouant“ (HQ 144) begegnet. Der Erzähler glaubt, dass Henri sich trotz vieler

Warnungen durch Illusionen verblenden lässt. Er schenkt dem Guten in der Welt zu viel

Vertrauen und sieht nicht ein, dass das Böse eine Gefahr bilden kann. Das wird vom Erzähler

kritisiert, und er nimmt ihm übel, dass er ohne Nachdenken und mit „aveuglement“ (HQ 332)

seinen Idealen nachstrebt.

Ein dritter Aspekt, der in den moralités definiert wird, ist die herrschende Moral am

Hof der Familie Valois:

Seule une nature tempérée et moyenne pouvait impunément s’adonner aux mœurs relâchées de cette cour. Seule aussi elle pouvait se risquer au fond d’une pensée tourmentée tout en restant apte à reprendre cette sérénité d’âme dans laquelle s’accomplissent les grandes actions généreuses, et même les simples réalisations commandées par le bon sens. (HQ 415)

In dieser Textstelle steht die lockere Moral der Hofhaltung der Valois im Zentrum. Dem

Erzähler zufolge haben Menschen wie Katharina von Medici „une nature tempérée et

moyenne“ (HQ 415). Sie sind Figuren, die sich fragwürdigen Normen unterwerfen und

zugleich ihr inneres Gleichgewicht und ihren gesunden Menschenverstand behalten können.

Die Fähigkeit, diese zwei Aspekte zu kombinieren, ist alles andere als bewundernswert, und

deswegen nennt der Erzähler derartige Figuren gemäßigt. Das impliziert, dass sie die

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Gegenpole von Henri bilden. Dass er als moralistische Figur zwar bewundernswert ist, wird

in der Beschreibung von „sa belle santé“ (HQ 518) bestätigt. Er hat eine „personnalité

morale“ (HQ 518) und „humaniste“ (HQ 604). Die Essenz seiner moralistischen Auffassung

lautet : „qu’on peut être fort tout en restant humain, et qu’on défend les royaumes tout en

défendant la saine raison.“ (HQ 679) Aus dieser Auffassung geht hervor, dass ein König

humanistisch sein kann und mithilfe eines gesunden Menschenverstandes regieren kann, ohne

sich einer lockeren Moral zu unterwerfen. Das steht im krassen Gegensatz zur

Regierungsweise von Katharina von Medici. Es wird also deutlich ein Licht auf den schon

analysierten Kontrast zwischen Henri und den aristokratischen Machthabern geworfen. Henri

wird als eine Sonderfigur dargestellt, denn „il se distingue“ (HQ 679) und er ist „unique“

(HQ 604), was bedeutet, dass er sich von der Hofhaltung der Valois distanziert. Er hat

entschieden, der lockeren Moral dieser Machthaber Gegenwehr zu leisten. „Il a choisi de

combattre“ (HQ 603) und arbeitet wie ein „travailleur“ (HQ 603) für die Normen, die er

verteidigt. Wie alle Beschreibungen von Henri sind auch die Schilderungen seiner Moral

positiv konnotiert. Es ist die Rede von „son intelligence“ (HQ 415) und „honnêteté

pathétique“ (HQ 679). Obwohl er wie das Volk „les misères communes“ (HQ 603)

durchmacht, ist seine Stabilität so stark, dass er nicht zugrunde geht „pendant cette longue

épreuve“ (HQ 415). Hierdurch tritt aufs Neue seine menschliche und schwache Seite in den

Vordergrund: „Il a eu ses heures de faiblesse“ (HQ 679). Diese Schwierigkeiten und

Leidenschaften erlauben, dass er „généreux“ (HQ 604) wird und das Humane in sich selber

findet. Der Nachdruck auf die Moral in jedem Kapitel des Textes ist nicht erstaunlich in

einem Werk eines Autors, dessen „Bannspruch“ wie folgt lautete: „Gegen moralischen

Verfall! Für Sitte, Familie und Staat!“126

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die moralités alle bisher analysierten Themen

verstärken, nicht nur Henris Tugend, Volksverbundenheit und demokratische Ideale, sondern

auch das Böse der aristokratischen Machthaber. Es unterliegt also keinem Zweifel, dass der

Kontrast zwischen dem demokratischen Herrscher Henri und seinen diktatorischen

Gegenspielern bestätigt wird. Ich bin der Meinung, dass dieser Kontrast den Kern der

politischen Kritik in Die Jugend des Königs Henri Quatre umfasst, und schließe mich an die

These von Herden an, die lautet, dass Mann seine Ideale verteidigt, „indem er jene

gesellschaftlichen Verhältnisse angreift, die sie gefährden und bedrohen“.127 Mann äußert mit

anderen Worten seine Ideen anhand eines guten Beispiels einerseits, anhand einer Darstellung

126 Herden: Geist und Macht. S.33. 127 Ebd. S.74.

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der Gefahren und Bedrohungen dieses Ideals andererseits. Meines Erachtens wird Henris

humanistische Haltung gegen die Diktatur bewusst als kraftvoll und positiv bewertet, um zu

zeigen, dass eine antidemokratische Staatsform besiegt werden kann. In dieser Hinsicht trete

ich einer anderen Behauptung von Herden bei, dass „im historischen Gleichnis die Kräfte der

Reaktion“128 hervorgehoben werden. Diese Idee weist auf eine Ähnlichkeit mit der politischen

Biografie von Mann hin. Er hat sich als Mitglied der Deutschen Volksfront als einer der

stärksten Gegner des Nationalsozialismus profiliert. Genau wie Henri war auch Mann Teil des

Widerstandes gegen die herrschende Diktatur seiner Zeit. Wenn die Kraft der Deutschen

Volksfront stark genug wäre, meinte er, könnte sie für eine demokratische Revolution sorgen.

Meine Analyse hat gezeigt, dass die Stärke und die positive Bewertung des demokratischen

Widerstandes gegen die herrschende Diktatur auch im Roman festgestellt werden können.

128 Ebd. S.95.

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3. Die rhetorische Konfiguration

Wie in der Einleitung erwähnt, will ich überprüfen, ob neben der Güte von Henri und dem

Kontrast mit den aristokratischen Machthabern noch andere Aspekte, die an die politische

Kritik anschließen, im Roman auftauchen. Der Titel dieses Kapitels verrät meine These, dass

die rhetorische Konfiguration im Text so ein Aspekt ist. Rhetorik ist aber ein Begriff mit

einem breiten Spektrum an Konnotationen. Das von Gert Ueding herausgegebene Historische

Wörterbuch der Rhetorik bietet nur eine Illustration hierfür. Im vorliegenden Kapitel wird die

Rhetorik im Sinne Uedings verstanden. Er definiert den Begriff als „eine ästhetisch

anspruchsvoll geformte Sprachhandlung, in deren Konstitution die Beziehung zwischen

sprachlicher Produktion und der Gesellschaft (dem Publikum) miteingegangen ist.“129 Es wird

vor allem auf Glaubwürdigkeit und auf die von Heike Mayer formulierten Konzepte der

Vertrauenswürdigkeit, der fachlichen Kompetenz, der Attraktivität und des persönlichen

Einflusses geachtet, die hiermit zusammenhängen.130

Jetzt kann man sich fragen, worauf die Entscheidung, die Rhetorik in Die Jugend des

Königs Henri Quatre zu untersuchen, beruht. Hierfür können drei Gründe angeführt werden:

Erstens wird die Periode der Veröffentlichung des Romans mit einer „Wiedererweckung der

Rhetorik“131 assoziiert. Deutschland befand sich zu dieser Zeit „in einer Phase des

Umbruchs“, die zur Diktatur Hitlers geführt hat. Klaus Roß unterstreicht die wichtige Rolle,

die das antidemokratische Denken und der Nationalismus in den Rhetorikkonzeptionen dieser

Periode spielten.132 Nach ihm sind „Nationalsozialismus und gesprochenes Wort […] einfach

nicht voneinander zu trennen“.133 Viktor Klemperer hat mit seinem Werk LTI, die

unbewältigte Sprache einen ersten Schritt in die Richtung einer rhetorischen Analyse der

Sprache des Nationalsozialismus gesetzt. Er hat als Philologe das „Phänomen der

Deformation einer Sprache – der Sprache des 3. Reiches – und die daraus resultierende

Zerstörung der Vernunft“134 unter die Lupe genommen. Johannes G. Pankau hat aber den

Mangel an „umfassende[n] Ansätze[n]“135 über diese Thematik angeprangert.

129 Gert Ueding: Rhetorik des Schreibens. Frankfurt am Main: Athenäum 1996, S.122. 130 Heike Mayer: Literarische Rhetorik. Münster: Aschendorff 2002, S.83. 131 Klaus Roß: „Reden für alle Redelehre und Sprecherziehung“. In: Hitler der Redner. Hg. v. Josef Kopperschmidt. München: Wilhelm Fink 2003, S.75. 132 Ebd. S.75. 133 Ebd. S.83. 134 Viktor Klemperer: „LTI“ Die unbewältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Philologen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1969: S.1. 135 Johannes G. Pankau: „Neuere Arbeiten zur Rhetorik und Propaganda im Nationalsozialismus“. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch. Band 16 (1997), S.56.

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Zweitens ist die Rhetorik ein Thema, dem Heinrich Mann Interesse entgegengebracht

hat. Auf der einen Seite liebte er die Redekunst. Die Mann-Forschung ist sich einig über

Manns Beschäftigung mit und Liebe für die Rhetorik. Hans-Jörg Knobloch erwähnt „die

große rhetorische Gebärde, die Heinrich Mann, ob Strategie oder nicht, so sehr liebte“.136 Von

Herden wird die „Sprachkraft des Autors“137 hervorgehoben. In einem negativeren Sinn

thematisiert Koopmann Manns „rhetorischen Extremismus“.138 Auf der anderen Seite war er

sich der Gefahr der rhetorischen Wirkung bewusst. Stephan erklärt, dass Mann zu den

wenigen Autoren gehörte, die die Rhetorik und „die drohende Gefahr der

nationalsozialistischen Machtübernahme“ erkannten und „die weitere Entwicklung richtig“

eingeschätzt haben.139 Selber schreibt Mann in seinem Werk Geist und Tat über „die helle

Vollkommenheit des Wortes“, die „zur Verachtung der dumpfen, unsauberen Macht“ dient.140

Drittens war Adolf Hitler sich zu dieser Zeit auch der Kraft des Wortes bewusst. In Mein

Kampf hat er die Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit, die die Rhetorik verursachen kann,

verherrlicht als „die fast übermenschliche Kraft des Redners.“141 Diese Kraft haben er und die

anderen Nationalsozialisten angewendet, um politischen Erfolg zu buchen. Sie waren der

Meinung, dass in ihren Reden alles erlaubt war, „was dem Ziel diene, es gehe um den Sieg,

nicht um Inhalte irgendwelcher Art.“142 Erich Straßner, der das besondere Verhältnis

zwischen Rhetorik und Politik untersucht hat, erläutert, dass ein politischer Erfolg erklärt

werden kann durch die Fähigkeit einer Person, virtuos mit dem „Instrumentarium an

manipulativen Taktiken“143 umzugehen. Diese Taktiken werden benutzt, um „die Adressaten

zu überreden, zu überrumpeln“.144 In dieser Hinsicht dient Rhetorik als eine Waffe: „Wo aber

Politiker bedroht werden in ihrer Glaubwürdigkeit, beschuldigt werden, Unrecht zu tun oder

getan zu haben, wo sie als korrupt und bürger- bzw. staatsfeindlich entlarvt werden, greifen

sie zu den schärfsten Waffen“, der Rhetorik, und scheuen sich nicht vor „dem Lügen,

Betrügen und Täuschen.“145 Diese Taktiken können auch bei den Nationalsozialisten

festgestellt werden. Ihr Erfolg und der „Mythos“, den sie kreierten, waren das „Ergebnis einer

136 Knobloch: „‘Der Schriftsteller ist Führer jeder Demokratie‘“. S.110. 137 Herden: Geist und Macht. S.158. 138 Koopmann: „Heinrich Mann, die Revolution und die Revolutionen“. S.71. 139 Inge Stephan: „Literatur im ‚Dritten Reich‘“. In: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. v. Wolfgang Beutin et.al. 7. Auflage. Stuttgart: J.B. Metzler 2008, S.433. 140 Mann: Geist und Tat. S.12. 141 Johannes G. Pankau: „Hitlers Rede – Ergebnisse und Probleme der Forschung“. In: Hitler der Redner. Hg. v. Josef Kopperschmidt. München: Wilhelm Fink 2003, S.53. 142 Ebd. S.53. 143

Erich Straßner: „Dementis, Lügen, Ehrenwörter. Zur Rhetorik politischer Skandale“. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch. Band 11 (1992), S.1. 144 Ebd. S.1. 145 Ebd. S.2.

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raffinierten, massenwirksamen Propaganda“146, die durch Hitlers „erstaunliches Fluidum, […]

hypnotische Ausstrahlungskraft“147 und „Fähigkeit zur Gefühlsübertragung“148 erreicht

werden konnte.

Pankau aber hat mit seinen Äußerungen über die „Macht und Wirkung

nationalsozialistischer Manipulations- und Herrschaftsstrategien“149 auf die negative,

manipulative Seite des Sprachgebrauchs gewiesen. Das tut Alexander Kirchner auch, wenn er

Hitler einen „Verführer“150 nennt. Noch negativer sind Bewertungen seiner „diabolische[n]

Meisterschaft der Massensuggestion“151, die von ihm ein „Bild des dämonischen Redners, der

die versammelte Masse ‚in seinen Bann schlägt‘“152, machen. Hitlers Sprachgebrauch an und

für sich wird oft mit Metaphern wie „Lähmung der Sprache“, „Angriff auf die intellektuellen

Potentiale der Sprache“, „Mechanismen intellektueller Kastration“ und „Absperrung des

Universums der Rede“153 belegt, was die manipulative Seite des Sprachgebrauchs im Dritten

Reich illustriert. Ulrich Nill, der die Funktion und Wirkung der Rhetorik im

Nationalsozialismus untersucht hat, erklärt, dass zwei Prinzipien für die Nationalsozialisten

konstitutiv gewesen sind: das Prinzip „von der Macht des Wortes“ einerseits und das „von der

bedingungslosen Manipulierbarkeit einer passiven, homogenen Menschenmasse“154

andererseits. Hieraus geht die Weise hervor, wie Hitler andere Menschen beeinflussen und

manipulieren konnte. Anhand „eines verzweigten, flexiblen und inhaltlich nur schwer

bestimmbaren Komplexes von Manipulations- und Machttechniken“155 appellierte er bei

seinen Zuhörern an das „Affektive“.156 Der Zweck bestand „in der Auflösung fester

Affektgrenzen, zugleich in der Herstellung einer Empfänglichkeit für die Angebote der

‚Führer‘.“157 Anhand einer derartigen Beeinflussung empfanden die Zuhörer nicht nur

„Ehrfurcht“158 vor ihm, sondern wurde „das Volk dazu gebracht […], sich Sichtweisen und

Auffassungen zu eigen zu machen, die dem Redner und seinen Hintermännern nützen, den

146 Ebd. S.53 147 Ulrich Nill: “Sprache und Gegenaufklärung. Zu Funktion und Wirkung der Rhetorik im Nationalsozialismus“. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch. Band 16 (1997), S.3. 148 Ebd. S.14. 149 Johannes G. Pankau: “Vorwort des Herausgebers“. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch. Band 16 (1997), S.X. 150 Alexander Kirchner: „Hitler – „der Verführer“. Guido Knopp zieht Bilanz“. In: Hitler der Redner. Hg. v. Josef Kopperschmidt. München: Wilhelm Fink 2003, S.171. 151 Pankau: „Hitlers Rede“. S.54. 152 Pankau: “Vorwort des Herausgebers“. S.IX. 153 Nill: “Sprache und Gegenaufklärung. S.7. 154 Ebd. S.3. 155 Pankau: “Vorwort des Herausgebers“. S.IX. 156 Pankau: „Hitlers Rede“. S.60. 157 Pankau: “Vorwort des Herausgebers“. S.IX. 158 Nill: “Sprache und Gegenaufklärung“. S.15.

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wahren Interessen der Zuhörer und deren Grundüberzeugungen aber widersprechen:

Manipulation.“159 Das bedeutet mit anderen Worten, dass das Volk durch bewusste

Beeinflussung in eine bestimmte Richtung gelenkt wurde und dass eine „Immunisierung der

einfachen Welt gegen andere Sichtweisen“160 bewirkt wurde.

Im Nachfolgenden werden erstens die allgemeinen Äußerungen im Roman in Bezug auf

die Kraft und Wirkung der Rhetorik besprochen. Zweitens wird argumentiert, warum der Hof

als eine Theaterbühne betrachtet werden kann. Schließlich wird die Rhetorik der

verschiedenen Figuren untersucht. Ihr Sprachgebrauch wird mit dem von Hitler verglichen,

weil er als der Prototyp der nationalsozialistischen Redner gilt. So kann überprüft werden, ob

sprechende Verweise auf die Rhetorik der Nationalsozialisten auftauchen, und ob die

rhetorische Konfiguration an die politische Kritik in Die Jugend des Königs Henri Quatre

anschließt.

3.1. Allgemeine Äußerungen über die Kraft des Wortes

Bevor wir die verschiedenen Redner analysieren, werden die allgemeinen Aussagen des

Erzählers über die Kraft des Wortes besprochen. Das wirft ein Licht auf die Perzeption und

die Bewertung von Rhetorik im Roman.

Rhetorisch starke Figuren werden positiv bewertet. Wenn man einen guten Redner

sprechen hört, wird dafür Bewunderung geäußert mit Sätzen wie „So gut reden kann ich

nicht“ (HQ 66) oder „Sie sprechen so gut“ (HQ 104). Nach der ersten Erscheinung von

Margot, beispielsweise, wird gesagt: „[D]ie Prinzessin von Valois beherrschte die Rede“ (HQ

107). Dass dieser Aspekt in ihrer Beschreibung auftaucht, zeigt, dass die rhetorische Stärke

und die Glaubwürdigkeit als wichtige Punkte in ihrer Bewertung gesehen werden. Umgekehrt

wird die Unfähigkeit, gut zu reden, als negativ bewertet, wie in der Äußerung „die Sprache

versagte ihr“ (HQ 262). Auch im folgenden Zitat wird ein Mensch durch seine Redensart

gekennzeichnet: Er war „eine peinliche Erscheinung von unangenehmer Sprechweise, dumm,

frech und käuflich“ (HQ 430). Es steht außer Zweifel, dass die Bewertung dieser Figur auf

seiner unangenehmen Sprechweise beruht. Das weist darauf, dass die rhetorische Fähigkeit als

ein Mehrwert eines Menschen erfahren wird.

Manche Unterhaltungen werden als „schön und treffend“ (HQ 378) bezeichnet. Das

zeigt, dass man für rhetorisch schöne und starke Unterhaltungen ein Auge hat. Interessant ist

vor allem das Adjektiv „treffend“, das die Überzeugung, die Prägnanz und die treffende

159 Ebd. S.2. 160 Ebd. S.7.

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Wirkung der Unterhaltung betont. Umgekehrt wird eine weniger treffende Rede als negativ

bewertet, wie in folgender Textstelle: „Die letzten, unglücklich gewählten Worte machten

dem empfindlichsten der Hörer etwas übel.“ (HQ 347) Aus der Tatsache, dass bestimmte

Worte „unglücklich gewählt“ genannt werden, geht das Interesse für geeignete, treffende

Worte deutlich hervor. Auch über den Ton, in dem geredet wird, wird nachgedacht.

D’Armagnac, zum Beispiel, redet im „natürlichsten“ und „wirksamsten Tonfall“ (HQ 341),

was auf das Bewusstsein eines Tons deutet, der angemessen ist, um auf eine natürliche Art

und Weise einen Effekt zu erzielen. Viele der Figuren glauben „an die Macht des Wortes“

(HQ 713) und setzen Vertrauen „in die Kraft und Dauer der Worte, die für entschlossene

Seelen ganz wie Handlungen sind und, einmal aufgezeichnet, den Nachruhm versprechen“

(HQ 496). Auch dieses Zitat weist auf die Bedeutsamkeit von Worten. Es illustriert, dass die

„Kraft“ und die „Dauer“ von Worten so stark sein können, dass sie wie Handlungen gesehen

werden können und für Nachruhm sorgen können. Mithilfe einer starken und treffenden

Rhetorik kann ein Mann bis nach seinem Tod einen fast unsterblichen Ruhm erringen.

Daneben widmet der Erzähler der Reflexion über Rhetorik ausführliche Sätze. Ein

Beispiel: „Beredet man aber die Dinge zu lange, wird alles zweifelhaft, und zwar sowohl in

Hinsicht der Ausführbarkeit wie der Wünschbarkeit.“ (HQ 417) Der Erzähler thematisiert die

geeignete Länge einer Rede. Hieraus kann das Bewusstsein abgeleitet werden, dass eine Rede

bestimmte Bedingungen erfüllen soll, um seine Wirkung nicht zu verlieren. Erfüllt sie diese

nicht, sorgt sie für Zweifel an der Glaubwürdigkeit. Auch die Art und Weise, wie bestimmte

Figuren reden, ruft häufig eine Reflexion hervor. Redet jemand fremd oder schlecht, wird

gefragt, „ob sie es nun künstlich so anstellte oder sich wirklich ausgegeben hatte“ (HQ 262).

Aus dieser Frage geht hervor, dass über die eventuelle zugrundeliegende Bedeutung der

Sprechweise spekuliert wird. Auch das ist ein Beweis für die Reflexion über Rhetorik. Ferner

wird oft über den Effekt von Worten nachgedacht. Nachdem Henri sein Volk zugesprochen

hat, beispielsweise, wird Folgendes erzählt: „Jetzt hatte er gesprochen, die Worte waren zu

Ende; nur war die Frage, ob sie wirklich hinaufgelangten und angenommen wurden.“ (HQ

292) Diese Textstelle enthält deutlich die Frage nach dem Effekt von Henris Rede auf das

Volk. Dass man mit einem guten Einsatz von angemessenen Worten eine Glaubwürdigkeit

suggerieren kann, kann auch im folgenden Satz festgestellt werden: „Mit den Worten, die

reichlich hervorstürzten, kam unvermeidlich auch der gute Glaube.“ (HQ 314) Hieraus lässt

sich ableiten, dass Worte „unvermeidlich“ einen Glauben bewirken, was bedeutet, dass mit

Rhetorik eine Glaubwürdigkeit aufgebaut werden kann, die dazu führt, dass bestimmte

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Zuhörer überzeugt werden und der vom Redner ausgesprochenen Idee Glauben schenken. Das

ist deutlich eine Illustration für die überzeugende Wirkung, die Worte haben können.

Auch dass die Rhetorik als Mittel zur Manipulation eingesetzt werden kann, wird

manchmal thematisiert. Henri „begriff zugleich den vollen Wert der Heuchelei“ (HQ 317),

was darauf weist, dass er schon früh in seinem Leben erfährt, dass die Redekunst manipulativ

sein kann. Das Wort „Heuchelei“ betont die Manipulationstechniken, die in einer Rede

angewendet werden können. Diese wurden auch von den Nationalsozialisten benutzt. Die

manipulative Seite des Sprachgebrauchs wird auch bestätigt, wenn eine Rede als ein

„ausgezeichnet[es]“ Mittel betrachtet wird für jemanden mit der „Absicht des Besänftigens

und wohltuenden Vertuschens.“ (HQ 348) Während des Besänftigens wird durch Zureden

bewirkt, dass jemands Erregung langsam beruhigt wird. Vertuschen bedeutet, dass etwas

verheimlicht wird. In beiden Fällen wird mithilfe des Redens ein gewünschter Effekt

beabsichtigt. Das deutet darauf, dass eine Rede als Manipulation eingesetzt werden kann.

Auch die Tatsache, dass zweifelhafte Entscheidungen der Machthaber durch die Geistlichen

„mit dem passenden Bibelwort“ (HQ 682) gerechtfertigt werden müssen, bezeugt, dass man

glaubt, dass Rhetorik ein zweifelndes Volk durch Überredung überzeugen kann.

3.2. Das Theater des Hofes

Die nationalsozialistischen Auftritte werden häufig mit „Theater-Assoziationen“161

verbunden. Hitler selber gehört für viele zu den „größten Schauspieler[n] Europas“162, der

„ein ganzes Land zu seiner Bühnenschau“ machte. Alles, was er sagte und tat, kam sorgsam

eingeübt „wie im Theater“163 vor. Am Hof der Familie Valois hat es auch oft den Anschein,

dass Theater gespielt wird. Das ist der Grund für meine These, dass sowohl auf der

politischen als auch auf der rhetorischen Ebene die königlichen Figuren am Hof den

Nationalsozialisten ähneln. Diese These kann mit verschiedenen Belegen unterstützt werden.

Eine erste Illustration ist die Freundschaft zwischen Henri de Guise und Henri Quatre.

De Guise hat ihn „genähert aus Haß“ (HQ 437), und „weil er mehr über ihn wissen wollte“

(HQ 437). Das beweist, dass die Freundschaft seinerseits nicht echt, sondern gespielt ist, und

dass die gespielte Freundschaft einen heimlichen Grund hat: seine eigenen Vorteile

sicherstellen. Jedoch will er Henri Quatre nicht zu nah kommen, denn „[k]ennt man den Feind

dann aber besser, tritt wieder die Gefahr ein, daß man ihn ganz leidlich findet. Mehr als das:

161 Günter Scholdt: „Der Redner Hitler aus der Sicht zeitgenössischer Schriftsteller“. In: Hitler der Redner. Hg. v. Josef Kopperschmidt. München: Wilhelm Fink 2003, S.270. 162 Ebd. S.271. 163 Kirchner: „Hitler – „der Verführer““. S.177.

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der Feind zieht tiefer an als einer, den man eben hinnimmt, wie er ist.“ (HQ 437) Hieraus lässt

sich ableiten, dass Henri de Guise eine gespielte Freundschaft mit Henri Quatre aus Furcht

vor ihm angeht, weil er ihn als einen Feind betrachtet. Er will aber nicht, dass er ihn „leidlich“

findet, was zeigt, dass er auf keinen Fall eine echte Freundschaft mit ihm angehen will. Er

will einfach Informationen über ihn bekommen, so dass er sich selber stärker vor ihm hüten

kann. Er handelt also aus Eigennutz. Die Aussagen bedeuten aber auch, dass er immer wieder

eine Maske aufsetzt. Hierdurch benimmt er sich wie ein Schauspieler. Das kann auch mit dem

folgenden Zitat in Verbindung gebracht werden: „Ein Herr ist darauf angewiesen, seine

Feinde für sich zu gewinnen, sie zu kaufen, zu bezaubern oder sogar zu überzeugen.“ (HQ

485) Die Tatsache, dass das Bezaubern und das Überzeugen von Menschen zur Sprache

kommen, bekräftigt die manipulative Seite der Höflinge. Das kann mit der „Macht und

Wirkung nationalsozialistischer Manipulations- und Herrschaftsstrategien“164 verknüpft

werden.

Das, was die Höflinge sagen, stimmt selten überein mit dem, was sie echt denken. Das

wird zum Beispiel nachgewiesen durch die Aussage „Ich glaube es nicht“ (HQ 470), der

unmittelbar gefolgt wird durch die Gedanken: „obwohl er es wußte“ (HQ 470). Aus den zwei

Zitaten geht deutlich ein Unterschied zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was gedacht

wird, hervor. Die geäußerten Worte bilden einen schrillen Kontrast mit den Gedanken. Das

zeigt, dass nicht die Wahrheit, sondern die wirksamsten Worte ausgesprochen werden.

Auffällig ist auch, dass eine Szene manchmal eine „Komödie“ (HQ 434) genannt wird. Einer

der Höflinge tut, als ob er vergiftet wird. Hiernach will er Henri Quatre die Schuld geben,

sodass der König ihn ausliefern muss. Dieser Vorfall betont, dass der Hof Komödie und

Theater als Mittel einsetzt, um seine Ziele zu erreichen. Auch um die Gerüchte zu widerlegen,

dass der König Henri von Valois homosexuell wäre, wird eine Inszenierung auf die Beine

gestellt. Man lädt einen Bürger in das Zimmer des Königs ein, wo eine Frau sich wie eingeübt

ins Bett legt. Hiernach fragt sie den Mann: „Ich möchte Sie um eine Gunst bitten, Herr

Heurtebise. Wenn Sie draußen erzählen werden, was Ihnen alles begegnet ist hier in Schloß

Louvre: vergessen Sie auch mich nicht. Ich bin das Fräulein von Lusignan.“ (HQ 461) Diese

Sätze bestätigen, dass die Szene eine Komödie ist mit dem Ziel, die Gerüchte über die

eventuelle Homosexualität des Königs zu entkräften. Aber dem Mann „könnte der Gedanke

nicht kommen, daß sie eine Rolle spielten“ (HQ 470). Das Spielen einer Rolle ist eine

164 Pankau: “Vorwort des Herausgebers“. S.X.

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deutliche Assoziation mit einer Schauspielerin. Diese Szene beweist, dass der Hof durch

Inszenierungen und Theater beherrscht wird.

Nach einigen Jahren am Hof wird über Henri Folgendes erzählt: „Nach dreijähriger

Prüfung beherrschte Henri sein Gesicht in jeder Lage. […] Ihn umgaben dunkle Gespinste,

indessen er selbst mehr als je den ganzen Hof zum besten hielt mit seiner guten Laune und

scheinbarer Gedankenlosigkeit.“ (HQ 476) Dieses Zitat bringt zum Ausdruck, dass der Hof

eine Bühne ist, auf der fortwährend Theater gespielt wird. Das sorgt dafür, dass Henri nach

manchen Jahren lernt, sein Gesicht zu beherrschen. Wie die anderen Machthaber hat auch er

gelernt, eine Maske aufzusetzen. Es wird nicht erzählt, dass er tatsächlich eine gute „Laune“

und eine „Gedankenlosigkeit“ beherrscht, sondern dass er versucht, sich so darzustellen. Das

unterstreicht nicht nur den Einfluss, den der Theater spielende Hof auf ihn ausübt, sondern

auch Henris Bewusstsein über seine Selbstdarstellung. Er sieht ein, wie er sich am besten

präsentieren soll. Das wird auch im folgenden Abschnitt illustriert:

Er bringt es fertig und ruft in den Wind und in die Finsternis: „Ich denke nicht daran, Sie [Jeanne] zu rächen, Herr Admiral. Denn Ihre Mörder sind jetzt meine besten Freunde, ich aber bin ein witziger Bursche, guter Tänzer und will immerfort in Schloß Louvre bleiben.“ Er ist laut genug, daß jeder Lebende, der in der Nähe versteckt gewesen wäre, ihn hätte hören müssen. Für sich aber, in sein Inneres hinein, flüstert der junge Henri, flüstert dringend: ‚Herr Admiral, ich bin, der ich immer war!‘ (HQ 491)

Nach dem Tod von Jeanne herrscht ein Misstrauen gegen Henri. Manche Höflinge glauben,

dass er Katharina von Medici und ihre Hauptmänner, die Verantwortlichen für den Tod seiner

Mutter, rächen will. Das stimmt, aber niemand außer Henris Hauptmännern ist darüber

unterrichtet. Um die Gemüter zu beruhigen, setzt Henri die Rhetorik ein. Mit überzeugenden

Worten und in einem überzeugenden Ton ruft er, dass er die Familie Valois nicht als Mörder,

sondern als seine besten Freunde betrachtet. Er hebt hervor, dass er sie auf keinen Fall rächen

will. Er will unbedingt von jedem „Lebenden, der in der Nähe versteckt gewesen wäre“

gehört werden, sodass seine Zuhörer ihm glauben können. Das weist auf sein Bewusstsein der

Kraft des Wortes und seiner überzeugenden Wirkung hin. Was auch hier in den Vordergrund

tritt, ist der Kontrast zwischen Henris Aussagen und seinen Gedanken. Was er sagt, ist nicht,

was er denkt. Dass es um eine Komödie geht, äußert sich im letzten Satz des Zitats, wo seine

eigentlichen Gedanken gelesen werden können: „ich bin, der ich immer war!“ Das zeigt, dass

seine Rede eine Notlüge war, um den Frieden zu behalten, aber dass er in seinem Inneren

noch immer die aufrichtige, gute Figur ist, die er immer gewesen ist.

Obwohl es manchmal den Anschein hat, als ob Henri selber am Theater des Hofes

teilnehme, kann nach meiner Meinung nicht gefolgert werden, dass er genau wie die anderen

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Machthaber manipulativ ist. Er ist sich vom Anfang bis zum Ende davon bewusst, dass die

Falschheit, die Manipulation und die Hypokrisie am Hof herrschen. Hieran will er sich nicht

beteiligen. Das kommt zum Ausdruck in der Tatsache, dass er nicht wirklich zum Hof gehört,

sondern zur Natur, wo seine Herkunft liegt, und wo seine Untertanen sich befinden. Ehrliche

und aufrichtige Unterhaltungen kann er, wie analysiert, nicht mit den anderen Machthabern

haben. Nur bei seinen Bürgern kann er Ehrlichkeit finden. „Nur am Tisch der armen Leute“

(HQ 525) kann er sein wahres Gesicht und seine echten Gefühle zeigen. Dort „brach seine

Wut aus“ (HQ 525), zum Beispiel. Der Grund für Henris Aufrichtigkeit wird folgendermaßen

erklärt: „Da er sie jetzt nicht mehr gewinnen, überlisten, niederschlagen mußte, hatte er erst

den richtigen Blick für die armen Menschengesichter – vorher wut- und angstverzerrt, jetzt

ausgelassen glücklich.“ (HQ 592) Hieraus geht deutlich hervor, dass Henri entfernt vom Hof

das Gefühl hat, dass er niemanden „gewinnen“, „überlisten“ und „niederschlagen“ soll. In der

Natur bei dem einfachen Volk kann er „den richtigen Blick“ finden, ohne teilzunehmen am

Theater des Hofes. Das Wort „richtig“ illustriert, dass seine wahre Natur sich hier befindet

und nicht im Leben am Hof. Auch der Gegensatz zwischen dem „ausgelassen glücklich“-Sein

und dem „wut- und angstverzerrt“-Sein bekräftigt das. Nur in der Natur findet Henri Ruhe.

In der Henri Quatre-Forschung wird Henri als ein wahres „Kind der Natur“165

beschrieben, weil am Anfang der Geschichte nicht von seinen Eltern die Rede ist, „sondern

von den Bergen, die den kleinen Henri umgeben, von der sonnigen und heißen Wildnis,

Wasserfällen, Wäldern und dem blauschwebenden Himmel.“ 166 Nach Koebner bleibt er im

weiteren Verlauf seines Lebens „unter dem Kostüm der Macht“ immer „ein lebendiger,

nackter Mensch“ und vor allem „die Verkörperung der Natur“.167 Diese These kann mit

zahlreichen Textstellen unterstützt werden. Vom großen Ozean, beispielsweise, glaubt er

einerseits, „daß dieses große Wasser nicht aufhörte zu rollen und zu brüllen“, und

andererseits, dass er „frei vom Bösen, vom Haß, vom Zwang“ (HQ 65) ist. Das beweist, dass

er Naturphänomene als etwas Gutes sieht. Seine Verbundenheit mit der Natur wird auch

illustriert, wenn er sich nachts „umgeben vom Meer und auf den Steinen“ befindet und „[d]ie

Sterne funkelten“ (HQ 66). Seine Umgebung vergleicht er in diesem Moment mit dem „Reich

Gottes“ (HQ 66). Was er aber nicht versteht, ist, warum Gott „die unschuldigste Natur

unmittelbar […] an die abscheuliche Welt“ (HQ 548) rühren lässt. Die Natur, die von Henri

personifiziert wird, wird unschuldig genannt, während der Rest der Welt, so auch der Hof,

165 Koebner: „Henri Quatre – Die Fiktion vom guten Herrscher“. S.108. 166 Ebd. S.108. 167 Ebd. S.109.

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abscheulich ist. Ferner hat er ein „ganze[s] Vertrauen zur Natur“ (HQ 275) und zur Erde, „an

ihr wird er haften mit seinen Sinnen und seinen Gedanken“ (HQ 66). Seine kleine Schwester,

die Henri am besten kennt und versteht, empfiehlt ihn, „[f]ort von Paris“ (HQ 211) zu gehen.

Sie sieht ein, dass sie nicht in Paris, sondern „unter den grünen Bäumen ihrer Kindheit“ (HQ

535) gehören. Das kann auch in der Beschreibung „Prinz aus weiter Ferne“ (HQ 216)

festgestellt werden. Die Nähe zur Natur zeigt, dass er nicht zu den städtischen Machthabern

gehört.

In diesem Zusammenhang kann Trapps Ortsymbolik in Die Jugend des Königs Henri

Quatre erwähnt werden. Seine These lautet wie folgt:

Die Provinz ist Symbol politisch-sozialer Rückständigkeit wie zugleich Symbol gescheiterter, weil zu zaghafter Demokratisierungsversuche – die Metropole ist Symbol der Industrialisierung, der neuen (proletarischen) Massengesellschaft, aber auch des (wilhelminischen) Geistes einer „neuen Zeit“.168

Mit dieser These bin ich nur teilweise einverstanden. Die Provinz, aus der Henri kommt, kann

mit Demokratisierungsversuchen assoziiert werden, aber nicht mit Rückständigkeit. Wie

analysiert, sorgt Henri für neue, progressive Ideen, denn er verkörpert humanistische,

demokratische Ideale. Meines Erachtens steht das für Progressivität. Deswegen kann die

Provinz, die Herkunft von Henri, nicht als rückständig betrachtet werden. Es sind die

Machthaber in Paris, die ihre politische Sichtweise nicht ändern wollen. Deshalb können sie

als rückständig bezeichnet werden. Die These, dass die Demokratisierungsversuche

gescheitert sind, gilt sowohl für Die Jugend des Königs Henri Quatre als auch für Die

Vollendung des Königs Henri Quatre. Aufgrund der Lektüre und der Analyse eines Romans

der beiden kann hierüber keine Meinung gegeben werden. Hinzu kommt, dass Trapps These

nach meiner Analyse ergänzt werden kann mit einer positiven Bewertung der Provinz

einerseits und mit einer negativen der Stadt andererseits. Sowohl auf der politischen Ebene als

auch auf der rhetorischen Ebene sind Toleranz, Ehrlichkeit, Volksverbundenheit und

Aufrichtigkeit die wichtigsten Werte für Henri, während Falschheit, Manipulation und

Hypokrisie am Pariser Hof herrschen. Ferner wird das Schloss mehrfach als eine Bühne

betrachtet. Hieraus kann also gefolgert werden, dass sowohl der politische Kontrast als auch

der rhetorische zwischen Henri und den anderen Machthabern durch ihre Umgebung deutlich

vergrößert werden.

168 Trapp: „Realismus nach dem Modell Heines“. S.14.

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3.3. Die verschiedenen Redner

Sowohl die Bemerkungen des Erzählers als auch die Theaterassoziationen des Hofes deuten

auf einen Sprachgebrauch, der der nationalsozialistischen Rhetorik ähnelt. Im Nachfolgenden

wird spezifischer untersucht, in welchem Maße die verschiedenen Figuren durch ihren

Sprachgebrauch gekennzeichnet werden, wie das bewertet wird, und ob auch hier

Ähnlichkeiten mit der Rhetorik des Dritten Reiches auftauchen.

3.3.1. Henri

Es wurde schon analysiert, dass Henri im Gegensatz zu den aristokratischen Machthabern

kein Teil des Theaters sein will. Er hat eine Vorliebe für ehrliche, aufrichtige Gespräche in

Anwesenheit seines Volkes und entfernt vom Hof. Das bedeutet aber nicht, dass er rhetorisch

nicht stark ist. „[S]eine guten Antworten“ (HQ 64-65) und die Tatsache, dass er „um so

eifriger und überzeugter sprach und handelte“ (HQ 64), betonen, dass Henri ein gewandter

Redner ist. Die Adjektive „gut“, „eifrig“ und „überzeugt“ zeigen, dass er die Redekunst

beherrscht und überzeugend vorkommt. Auch versteht er, wann und wie er reden soll.

Manchmal kann gelesen werden, wie er seine Worte abwägt: „Ich halte nicht zu den

Besiegten. Ich bin immer dort, wo man – Er wollte sagen: lustig ist – bemerkte aber plötzlich,

daß er hier einen besonderen Feind hatte.“ (HQ 428) Die Reflexion über das, was er sagen

will, wird in dieser Textstelle deutlich illustriert. Er denkt nach über seine Zuhörer und passt

seine Worte an sie an. Das zeigt nicht nur die Beherrschung seines Sprachgebrauchs, sondern

auch das Bewusstsein, wie er in einer bestimmten Situation am besten reden soll. Wenn er,

beispielsweise, jemanden zur Besinnung rufen will, benutzt er bewusst „den Ton dessen, der

jemand zur Besinnung ruft.“ (HQ 655) Während anderer Gespräche schweigt er lieber, „[u]m

nicht zu viel zu sagen“ (HQ 78). Er versteht also deutlich, wann es angemessen ist, zu reden,

und wann, zu schweigen.

Sein Verständnis von Rhetorik bietet ihm auch eine Einsicht in den Sprachgebrauch

anderer Personen. Wenn er zu theatralisch redenden Menschen begegnet, denkt er bei sich:

“Alter Schwäter! Kann er das nicht einfacher sagen?“ (HQ 95-96) Das belegt, dass er

schlechte, theatralische Redner durchschaut, was ein Beweis für seine Einsicht in Rhetorik ist.

Auch einen Mangel an Argumenten durchschaut er einfach. In Zweifelfällen ruft er „Beweise!

[…] Sonst glaube ich von all dem kein Wort.“ (HQ 161) Hier kann deutlich festgestellt

werden, dass Henri sich nicht überreden lässt. Er kennt die Kraft des Wortes, und sieht ein,

dass Worte nicht immer die Wahrheit zum Ausdruck bringen. Ferner reden viele Machthaber

auf eine aggressive Art und Weise, um anderen zu imponieren oder Schrecken einzujagen.

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Sein Vetter, zum Beispiel, „brüllt […] körperlich“, um seine Zuhörer zu beeindrucken,

während Henri „sanft wie ein Lamm“ (HQ 323) antwortet. Aus dem Kontrast zwischen Henri

und seinem Vetter geht deutlich hervor, dass Henri seine Redekunst nicht theatralisch benutzt,

um zu beeindrucken. Er beabsichtigt ehrlichere, nicht-manipulative Ziele, wie das Ermutigen

seiner Soldaten:

Ich und ihr […]. Unser Stand will, daß wir ganz Blut und Pulver sind. Mit heiler Haut kommt davon, wer mir gut dient und nicht von mir weicht, wär’s um die Länge einer Hellebarde. […] Eng ist der rechte Weg zum Heil, uns aber führt Gott bei der Hand. (HQ 647)

Mithilfe von Wörtern wie „ich und ihr“, „wir“ und „unser“ unterstreicht Henri die Einheit, die

er mit seinen Soldaten bildet. Das weist seine schon analysierte Volksverbundenheit nach. Die

Themen seiner Rede sind die Treue und die Aufrichtigkeit. Die Treue wird veranschaulicht

durch die Menschen, die ihm gut und lange gedient haben. Die Aufrichtigkeit wird durch den

Gang auf dem „rechte[n] Weg“ skizziert. Bevor der eigentliche Kampf anfängt, zielt er

darauf, sich mit seinen Soldaten zu vereinen, Mut zuzusprechen und sie davon zu überzeugen,

dass sie das Richtige tun. Seine treffende Wirkung wird bestätigt durch die Tatsache, dass

seine Soldaten „ihm jedes Wort glaubten.“ (HQ 647)

Es kann also gefolgert werden, dass Henri ein gewandter Redner ist, der sich der

Wirkung der Rhetorik bewusst ist. Im Gegensatz zu vielen anderen Figuren setzt er Rhetorik

nicht für manipulative Ziele ein, sondern um zu ermutigen und seine Volksverbundenheit

auszudrücken. Theatralischen und manipulativen Rednern steht er misstrauisch gegenüber.

Hieraus geht hervor, dass Henri nicht am Theater des Hofes teilnimmt. Dass auch Henris

Ratgeber keine Schauspieler auf der Bühne des Theater spielenden Hofes sind, wird im

folgenden Teil bewiesen.

3.3.2. Henris Ratgeber

Die drei wichtigsten Männer, die Henri umringen, sind der Admiral Coligny, Philippe de

Mornay und Agrippa d’Aubigné. Die drei gelten als Henris Ratgeber. Obwohl sie

Nebenrollen spielen, bietet die Analyse ihres Sprachgebrauchs ein interessantes Ergebnis.

Es kann nicht bezweifelt werden, dass der Admiral Coligny ein eindrucksvoller

Redner ist. Er kann dafür sorgen, dass die Zuhörer von seinen Worten „tief bestürzt“ sind und

ihnen „der Atem vergeh[t]“ (HQ 95). Hieraus geht die Stärke seiner Worte hervor. Dass er mit

seinen Aussagen das Publikum „nicht bestimmt“ (HQ 95) beeindruckt, betont, dass er nicht

die Absicht hat, seinen Zuhörern zu imponieren. Es ist einfach so, dass sie „einander in dem

überfüllten Zimmer [stoßen], jeder wollte nach vorn“ (HQ 33). Das illustriert, dass Coligny

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wegen seiner Redekunst geliebt wird. Jeder will ihm zuhören, wenn er redet. Auffällig ist vor

allem, dass er spricht „in Worten, die niemand mißverstehen konnte“ (HQ 33). Die

Unmöglichkeit, ihn falsch zu verstehen, beweist, dass es keine tiefere, zugrundeliegende

Bedeutung in seiner Rede gibt. Was er sagt, ist für jeden Menschen klar. Von Manipulation

oder Überredung kann also nicht die Rede sein. Dass Henri mit ihm „einverstanden“ und

durch ihn „ergriffen“ (HQ 33) ist, ist auch sprechend. Henri bevorzugt in jeder Situation

Tugend und Aufrichtigkeit. Seine Meinung beruht immer auf Ehrlichkeit. Die Tatsache, dass

er Colignys Aussagen Glauben schenkt, zeigt, dass sie aufrichtig ankommen. Manipulierende

Worte, denen er misstrauisch gegenübersteht, würde er durchschauen. Mit ihnen wäre er nie

einverstanden.

Obwohl die „Sprache des tugendhaften Mornay“ (HQ 266), eines Staatsmanns Henris,

nicht oft zur Sprache kommt, wird doch beschrieben, wie seine Rede seine Zuhörer stark

„rührte“ (HQ 266). So hat er eine Rede für den gestorbenen Admiral Coligny gehalten, die

von Henri wegen seiner „glänzende[n]“ (HQ 272) Sprache gelobt wurde. Dass Mornay wie

Henri tugendhaft ist, kommt auch in seinem Sprachgebrauch zum Ausdruck. Er „bitte[t]“ (HQ

271), zum Beispiel, statt zu fordern. Ferner wird über ihn Folgendes geschrieben: „Mornay

[…] ist im vollen Ernst ein Mann, der gläubig bleibt […] an die Macht des Wortes“ (HQ

713). Das bedeutet, dass er sich der „Macht“ und der Wirkung von Rhetorik bewusst ist. Der

Erzähler fügt aber hinzu, dass er „in aller eigenen Klugheit“ mit der „Bosheit vieler

Begegnenden“ (HQ 713) rechnet. Das begründet seine Einsicht, dass viele Menschen die

Rhetorik als ein manipulatives Mittel einsetzen und bösartige Ziele beabsichtigen. Auch warnt

er Henri vor den „Gespräche[n] ringsum“ (HQ 272). Hierdurch will er auf die Falschheit der

anderen Machthaber weisen, die es nicht immer gut mit Henri meinen. Auch das betont sein

Bewusstsein der manipulativen Seite von bestimmten Rednern.

Agrippa d’Aubigné ist ein Militär in Henris Dienst. Als Redner hat er viele Gesichter.

Manchmal profiliert er sich als einen drohenden, aggressiven Redner. Zu einem Lügner

„brüllt“ (HQ 322) er: „Aufrührer! Empörer und Empörerssohn! Wenn du in drei Tagen nicht

anders redest, laß ich dich erdrosseln.“ (HQ 322) Hieraus gehen seine Aggressivität und sein

drohender Ton hervor. Hiernach redet er auf eine ganz andere Art und Weise zu seinen

Soldaten. In diesem Moment „verlangsamt“ seine Rede und klingt sie „sehr gedämpft“, wie

„im Sinn der Toten“ (HQ 324). Durch seine verschiedenen Töne und Sprechweisen, die er an

jede Situation anpasst, kann man den Eindruck gewinnen, als ob er am Theater des Hofes

teilnehme. Das ist aber nicht der Fall, weil der Effekt, den er mit seinen Worten beabsichtigt,

immer positiv zu bewerten ist. Genau wie Henri versucht er, die Soldaten der Armee zu

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ermutigen. Er nennt sie „Freunde“ (HQ 730) und benutzt Formulierungen mit „unser“ und

„[w]ir“ (HQ 730), die das Einheitsgefühl verstärken. Er sagt: „Auf unseren Sieg wartet die

Menschenwelt, bis in die fernsten Länder blicken auf uns alle, die Verfolgung leiden.“ (HQ

730) Mit dieser Aussage unterstreicht er die Wichtigkeit ihres Kampfes für den Rest der

„Menschenwelt“. Er thematisiert auch die Verbundenheit mit den Humanisten, wenn er sagt:

„Wir sind im Einverständnis mit den Humanisten des ganzen Erdteils. Das wäre noch nichts,

gesetzt, die Humanisten hätten nur denken gelernt, nicht aber auch reiten und zuschlagen.“

(HQ 730) Hierdurch macht er nicht nur deutlich, dass sie für die Humanisten wichtig sind,

sondern auch, dass sie sich für das Gute und die Menschlichkeit, die Henri verkörpert,

einsetzen. Er fügt hinzu, dass sie für die „Bedrängten“ und „Mißachteten“ (HQ 730) kämpfen.

Deshalb bekommen die Soldaten die Idee, dass sie dem guten Zweck dienen. Dass seine Rede

den gewünschten Effekt hat und dass man seinen Worten Glauben schenkt, zeigt die Tatsache,

dass seine Ideen von vielen „bestätigt“ (HQ 730) werden.

Zusammengefasst sind sowohl Henri als auch seine Ratgeber rhetorisch starke

Figuren. Jedoch können keine bemerkenswerten Ähnlichkeiten mit den rhetorischen

Auftritten Hitlers festgestellt werden. Von Manipulationstechniken ist bei keiner der Figuren

die Rede. Hierdurch unterscheiden sie sich stark von den aristokratischen Machthabern, deren

rhetorische Analyse ein völlig anderes Ergebnis bietet.

3.3.3. Jeanne d‘Albret

Was ihre politische Sichtweise betrifft, unterscheiden Henri und seine Mutter sich stark

voneinander. Das gilt auch für die rhetorische Ebene, denn im Gegensatz zu ihrem Sohn setzt

Jeanne ihre Redekunst für manipulative Ziele ein und nimmt am Theater des Hofes teil. Ihre

Unterhaltungen werden mit einer „Predigt“ (HQ 38) verglichen, und immer wieder versucht

sie, Menschen zu überreden. Im Fall von Heiratsplänen, die sie nicht billigt, „redet Jeanne die

französische Heirat aus“ (HQ 89). Das beweist, dass sie Rhetorik einsetzt, um Zwecke zu

erreichen, die ihr einen Vorteil bieten. Dass sie kein schlechter Redner ist, wird mehrmals im

Text beschrieben. So ist sie in der Lage, „inständig und schnell“ (HQ 28) zu reagieren.

Obwohl sie sich als „eine Frau, die weiß, was sie sagt“ (HQ 97) benimmt, gelingt es ihr nicht,

beherrscht zu reden wie ihr Sohn. Sie versucht, zu verstecken, was sie wirklich fühlt oder

denkt. Fühlt sie sich gedemütigt, „sie zeigte es nicht“ (HQ 34). Das gelingt aber nicht immer.

Zum Beispiel, wenn sie versucht, „fein und überlegt“ zu reden, kann sich das plötzlich

ändern. Dann verliert sie „den Kopf“ und fängt an, „zu wettern und zu predigen […], um

auszurotten das Verderbte (HQ 32). Mit dem Verderbten ist alles gemeint, was nicht zu ihrer

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Sichtweise gehört. Denn, wie schon erwähnt, „vertraute sie […] nur sich selbst“ (HQ 90). Der

Rest der Welt bezeichnet sie als „schlecht“ (HQ 91). Sie verliert die Kontrolle über ihre

Sprache, und das führt dazu, dass sie unbeherrscht weiterredet. Selbst „[w]enn Jeanne ihre

wahre Gesinnung noch so fest im Herzen verschlossen hatte, plötzlich befreite die Wahrheit

sich und wurde laut.“ (HQ 37) Auch diese Textstelle ist ein deutlicher Beweis für ihre

unkontrollierte Sprechart.

Ihre Meinung äußert sie immer „mit aller Entschiedenheit“ (HQ 93). In ihren Briefen

an Henri, zum Beispiel, schreibt sie:

Gehe oft in die Predigt und täglich zum Gebet! Bürste Deine Haare nach oben, aber nicht wie man sie früher trug! Der Eindruck, den Du hier sofort machen mußt, ist: Anmut mit Keckheit. Aber rühr Dich nicht fort aus Béarn, bis ich Dir wieder schreibe! […] Laß Dich nicht verführen, nicht im Leben, nicht im Glauben! (HQ 111-112)

In diesem kurzen Brieffragment werden vier Imperative gebraucht. Sie befiehlt ihren Sohn auf

der Ebene seiner Religion, seiner täglichen Handlungen, seines Äußeren und seiner

Begegnungen. Sie bestimmt, was er tun soll. Hier zeigt sich also, dass Jeanne eine harte,

fordernde Frau ist. Das ist ein Grund dafür, dass ihr Sprechstil als „hartnäckig“ (HQ 25)

bezeichnet wird. Sie redet mit „Verachtung“ (HQ 25) und hat weder ein Auge für ein

vernünftiges Gespräch noch für Ideen von anderen. Sie spricht „ernüchtert, kalt“ und oft mit

einer „Geringschätzung“ (HQ 107). Manchmal überrascht sie mit „einer Stimme wie eine

Orgel, zu groß, zu klingend für diese schwache Brust.“ (HQ 30) Dann wird sie „laut“, und

„[d]er Ton der schmächtigen Jeanne bekam dann etwas Herrisches und Hohes“ (HQ 37).

Diese Beschreibungen zeigen, dass sie durch ihre „selten gehörte Glockenstimme“ (HQ 94)

charakterisiert wird. Interessant ist, dass auch Hitlers „am meisten vermerkte Kennzeichen“

seine „Stimmqualitäten“169 waren. Kurt Tucholsky beschrieb Hitler wie folgt: „Der Mann …

ist nur der Lärm, den er verursacht.“170 Von anderen wurde seine Stimme mit einem

„Geblaff“171 verglichen. Es steht also außer Zweifel, dass Ähnlichkeiten zwischen Jeannes

und Hitlers Stimme bestehen, was auf eine Anspielung auf den Sprachgebrauch der

Nationalsozialisten in Manns Zeit deutet.

Auffällig ist, dass schon am Anfang des Romans Jeannes manipulative Seite deutlich

wird. Während eines Gesprächs mit Henri über ihre Feindin Katharina von Medici fängt sie

ihre Beschreibung mit der folgenden Behauptung an: „[D]ie Königin, ist eine zu böse Frau.“

169 Ulrich Kühn: „Rede als Selbstinszenierung – Hitler auf der „Bühne““. In: Hitler der Redner. Hg. v. Josef Kopperschmidt. München: Wilhelm Fink 2003, S.377. 170 Josef Kopperschmidt: „War Hitler ein großer Redner? Ein redekritischer Versuch“. In: Hitler der Redner. Hg. v. Josef Kopperschmidt. München: Wilhelm Fink 2003, S.185. 171 Ebd. S.185.

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(HQ 16) Sie ändert ihr Gesicht, und Henri „erschrak und seine Phantasie erhielt einen jähen

Anstoß.“ (HQ 16) Sein Geist war „ganz erfüllt von seinen Vorstellungen“ (HQ 16) und vom

Bild einer „Hexe“ (HQ 16). Auf die Frage, ob Katharina eine Hexe ist, Feuer speien kann

oder zaubern kann, gibt Jeanne affirmative Antworten. Sie redet „drohend“ (HQ 16), sodass

Henri immer tiefer „erschrak“ (HQ 16). Die Absicht von Jeanne war bei Henri Antipathie

gegenüber Katharina zu erwecken. Mit der Erzählung gelingt es ihr, einen Keim von Hass in

ihrem Sohn zu pflanzen, denn „Henri glaubte an seine Mutter; was sie sprach, nahm vor

seinen Augen feste Gestalt an“ (HQ 39). Jeanne will bekommen, dass Henri ihre Sichtweise

teilt. Es kann nicht geleugnet werden, dass sie ihr Kind anhand ihrer Worte zu manipulieren

versucht.

Erich Straßner hat in seinem Artikel „Dementis, Lügen, Ehrenwörter. Zur Rhetorik

politischer Skandale“ das Verhältnis zwischen Rhetorik und Politik näher untersucht. Er

erklärt, dass politische Figuren ihre Gesprächspartner und Zuhörer anhand einer

manipulativen Rhetorik von ihren subjektiven und interessengeleiteten Sichtweisen

überzeugen wollen. „Es geht um einseitige, eindimensionale, ausschließende, ausgrenzende

Sichtweisen der Wirklichkeit, um interessenverpflichtete Normen, die an Denkschablonen, im

schlimmsten Fall an Ideologien gebunden sind“.172 Das Manipulative, das mit der

Übermittlung derartiger Sichtweisen zusammenhängt, liegt darin, dass bestimmte

Informationen „dem Bürger entweder verheimlicht […] oder […] mit einer Fülle

unterschiedlichster und irrelevanter Details gefüttert“ wird, „so daß er nicht mehr weiß, was

nun für sein eigenes Urteil, für seine eigene Entscheidung wichtig ist und was nicht“.173 Auch

werden nur „positiv verwendbare Teile der Realität“ als Themen in eine Rede eingeführt,

während negative ausgegrenzt werden, gar nicht ins Blickfeld kommen oder schlicht

abgeleugnet werden.174 Diese Analyse kann auch auf Jeannes Sprachgebrauch bezogen

werden. Sie hat nur ein Auge für ihre eigenen, interessengeleiteten Sichtweisen. Ihre

Erzählungen verheimlicht sie und füttert mit Details, die sie für wichtig hält, und die am

besten geeignet sind, andere Figuren schlicht abzuleugnen. In ihren Beschreibungen von

Katharina, zum Beispiel, schildert sie sie auf eine sehr negative Art und Weise. Sie wirft ein

negatives Licht auf sie als Mensch. Hierdurch gerät Henri in Verzweiflung und weiß nicht

mehr, was sein eigenes Urteil ist, wenn er Katharina zum ersten Mal sieht. Er betrachtete die

„schreckliche und böse Katharina“, aber sie „enttäuschte Henri“, weil sie „so gewöhnlich“

172 Straßner: „Dementis, Lügen, Ehrenwörter.“ S.1. 173 Ebd. S.1. 174 Ebd. S.2.

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(HQ 27) war. Das zeigt, dass Jeannes Beschreibungen und Erzählungen manipulative

Versuche waren, um Katharina als ein böses Wesen darzustellen. Jeanne gilt also als eine

deutliche Illustration von Straßners These. Zusammenfassend ist Jeanne eine manipulative,

fordernde Figur, die mit einer charakteristischen Stimme und durch das Überreden von

anderen am Theater des Hofes teilnimmt.

3.3.4. Katharina von Medici

Katharina von Medici wird durch ihre „sonderbare Rede“ (HQ 584) gekennzeichnet. Man

erkennt sie an ihrer Sprechweise. Das wird mehrmals im Text bestätigt: „Sie lachte nach ihrer

Art in sich hinein“ (HQ 52) und redet „in ihrer behäbigen Art“ (HQ 378). Das verdeutlicht,

dass sie eine auffällige Sprechweise hat, die sie charakterisiert. Ferner stellt sie sich selber

„wie eine selbständige Fürstin“ (HQ 52) dar, die „mit lauter unbefriedigten und stürmischen

Forderungen“ (HQ 52) ihre Sichtweise mitteilt. Die These von Straßner über die

„einseitige[n], eindimensionale[n], ausschließende[n], ausgrenzende[n] Sichtweisen“, die

mithilfe von Rhetorik als feststehende Tatsachen dargestellt werden können, ist auch bei

Katharina festzustellen. Sie hat nur für ihre eigenen Ideen ein Auge. „[S]obald sie keinen

Nutzen mehr brachten“ (HQ 52), verliert sie jedes Interesse für ein bestimmtes Subjekt oder

Gespräch. Dann kann sie nicht „gleichgültiger“ (HQ 52) werden. Das zeigt, dass sie nur mit

den eigenen interessengeleiteten Ideen rechnet.

Das Theaterspiel am Hof meidet Katharina nicht. Als Illustration kann die schon

analysierte Szene, die ihre Unfähigkeit, zu weinen, ausdrückt, gegeben werden: “Immer höher

und schriller winselte sie, ohne daß über die Fingerchen der kleinste Wassertropfen rann.“

(HQ 255) Sie versucht, zu weinen, aber aus der Tatsache, dass sie keine Tränen aus dem Auge

wischt, geht hervor, dass es auch in dieser Szene um eine Komödie geht. Sie „konnte alles

anschaulich machen, nur Tränen nicht.“ (HQ 255) Dass Katharina alles „anschaulich“ machen

kann, weist auf ihre Fähigkeit, eine Inszenierung aufzuführen. Anhand einer glaubwürdigen

Komödie gelingt es ihr, Menschen zu überzeugen und zu beeindrucken. Diese Kunst wird

auch durch den Kontrast mit der „völlig trockene[n] Stimme“ (HQ 256), mit der sie

unmittelbar nach dem Weinen weiterredet, bestätigt. Der Erzähler erwähnt, dass sie mit „einer

so fest sitzenden Maske wie je vorher“ (HQ 256) weiterredet, dass man bezweifeln konnte,

„daß die Szene des Weinens stattgefunden hatte.“ (HQ 256) Das beweist, dass sie eine Maske

aufgesetzt hat. Die Beschreibung einer Maske belegt, dass sie Theater spielt, um Menschen zu

überzeugen. In dieser Szene will sie ihre Emotionalität sehen lassen. Jedoch zeigt das schon

untersuchte Verhältnis mit ihren Kindern, dass sie alles andere als ein emotionelles Wesen ist.

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Das kommt auch zum Ausdruck, wenn sie den Befehl, einen Hauptmann zu ermorden, gibt,

„ohne den Ton zu erheben“ (HQ 301). Ihre Kaltblütigkeit kann deutlich in ihrem

Sprachgebrauch festgestellt werden.

Ferner kann nicht geleugnet werden, dass Katharina die Rhetorik als Manipulation

einsetzt. Sie kann, zum Beispiel, nicht ertragen, dass Henri vom Volk geliebt wird und eine

immer größere politische Rolle spielt. Deswegen versucht sie, ihn zu erniedrigen und seine

Macht zu unterdrücken. In einem Moment mustert sie ihn und ruft: „Zaunkönig!“ (HQ 378)

Der Vergleich mit einem kleinen Vogel unterstreicht, dass sie sich als die Überlegene

darstellen will. Dass sie „[d]ies vor ihrem Hof“ (HQ 378) äußert, illustriert, dass sie ihn in

Anwesenheit einer großen Gruppe von Menschen herabwürdigen will. „Henri verneigte sich

denn auch zuerst vor ihr, dann vor ihrem Hof“ (HQ 378). Hierdurch gelingt es ihr, die

Superiorität am Hof für sich anzufordern, sodass jede Person sich spontan für sie verneigt.

Hätte sie diese Worte während eines persönlichen Gesprächs ohne Zuschauer geäußert, hätte

sie keine Zeugen, und wäre ihr Ziel nicht erreicht. Das beweist, dass sie sich ihrer

Inszenierung und deren Effekt bewusst war. In diesem Zusammenhang taucht eine

beachtenswerte Ähnlichkeit mit Hitlers Rhetorik auf. Ulrich Ulonska erklärt, dass Hitler sich

immer als „Über-Ich“ profilieren und sich selber als „allen anderen überlegen“ darstellen

wollte.175 Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Selbstdarstellung als überlegenes Wesen

auch bei Katharinas Auftritten konstatiert werden kann. Ein anderer Aspekt, den Ulonska

betont, ist das Gefühl der Vertrautheit des „Zutraulich-Zutunlichen“176, das für Hitlers Reden

typisch ist. Das tat er, um „Glaubwürdigkeit, Vertrauen“177 bei seinen Zuhörern zu erregen.

Das taucht auch in den Beschreibungen von Katharina auf. Obwohl die Geschichte zeigt, dass

sie eine diktatorische und kaltblütige Frau ist, überwiegt „das Gefühl des Vertrauens“ (HQ

167) in ihren Reden. Wie analysiert, ist Henri sich der manipulativen Seite der Rhetorik

bewusst. Trotzdem hat er Schwierigkeiten, Katharina zu durchschauen, und erfährt Vertrauen

für sie, „das ihn langsam ergriffen hatte im Lauf ihrer Reden“ (HQ 167). Deswegen gerät er in

Verzweiflung, was zeigt, dass sie eine selbstsichere und kluge Figur ist, die jemanden anhand

eines „schmeichelhafte[n] Vertrauen[s]“ (HQ 167) überreden und manipulieren kann.

Die Manipulation von Katharina wird am deutlichsten illustriert in der Szene, in der

sie Henri davon überzeugen kann, dass sie Jeanne nicht vergiftet hat. Obwohl Henri mit

Sicherheit weiß, dass Katharina für den Tod seiner Mutter verantwortlich ist, lässt er sich

175 Ulrich Ulonska: „Ethos und Pathos in Hitlers Rhetorik zwischen 1920-1933“. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch. Band 16 (1997), S.14. 176 Ebd. S.15. 177 Ebd. S.15.

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durch Katharina überreden, wenn sie sagt, dass das nicht der Fall sei. Während eines langen

Gesprächs überredet sie Henri. Sie hat ihn gerade in dem Moment entlassen, wo sie sicher

war, dass „er endlich überzeugt war, sie hätte seine Mutter nicht vergiftet.“ (HQ 168) Das

unterstreicht ihre Stärke als Rednerin, weil sie ihn unheimlich „durchschaute“ (HQ 168).

Henri hat „vergebens versucht, hinter ihre undurchsichtigen Augen zu gelangen“ (HQ 168),

und wollte sie eine „Mörderin“ (HQ 168) nennen. Aber das wird verhindert, weil Katharina

ihn „wirklich vertrauensvoll und dumm gemacht hatte“ (HQ 168). Das bildet einen Kontrast

mit seinem Bewusstsein der Wirkung von Rhetorik. Im Text kann aber eine Erklärung gelesen

werden für die Tatsache, dass Henri sich trotz seiner Einsicht überreden lässt. Dem Erzähler

zufolge ist es seine „Jugend“, die ihn „zur Ohnmacht verurteilt“ (HQ 168) hat. Obwohl Henri

überzeugt war, dass seine Mutter vergiftet gewesen ist, ist er es nach der Rede von Katharina

nicht mehr. Es steht also außer Zweifel, dass sie eine rhetorisch starke Frau ist, weil es ihr

gelingt, ihre Gesprächspartner durch Überredung zu manipulieren und zu überzeugen.

3.3.5. Margot von Valois

Neben Jeanne und Katharina profiliert sich Margot auch als eine rhetorisch starke Figur, bei

der Ähnlichkeiten mit der Rhetorik des Nationalsozialismus auftauchen.

Einerseits durchschaut Margot die manipulativen Versuche im Sprachgebrauch von

Katharina. Sie kennt „[d]ie zwiespältige Zunge“ (HQ 260) ihrer Mutter. Auch sagt sie: „Ich

bin nicht dumm, Mutter. Ich höre manche Worte, die ihren wahren Sinn erst in der Zukunft

bekommen sollen.“ (HQ 259) Hieraus geht ihre Einsicht hervor, dass die Aussagen ihrer

Mutter kraftvoll sind. Nachdem sie Katharinas Worte gehört hat, weiß sie, dass sie einen

zukünftigen Effekt haben werden. Durch diese Einsicht kann man den Eindruck gewinnen, als

ob sie, wie Henri, aufrichtige und ehrliche Gespräche bevorzuge. Das ist aber nicht der Fall,

denn andererseits ist sie selber eine gute Rednerin, die mit ihren Worten zu überzeugen

versucht. Erzählt wird, wie sie Henri „bezauberte […] mit einer dunklen, gleichmäßigen

Stimme“ (HQ 191). Sie hat eine eindrucksvolle Stimme, die Henri nicht kalt lässt. Der Satz

„Marguerite von Valois beschenkte ihn aufs neue mit ihrer Stimme“ (HQ 194) bekräftigt das.

Er sieht ihre Stimme als ein Geschenk. Die Worte „aufs neue“ beweisen, dass sie ihn schon

mehrmals bezaubert hat. Dass aber von dem Bezaubern einer Person die Rede ist, impliziert

eine Manipulation. Der Effekt ihrer Worte und ihrer Stimme ist, dass sie „wieder sein Herz

ergriffen“ (HQ 194) hat. Dass es nicht das erste Mal ist, dass sie sein Herz ergriff, wird durch

das Wort „wieder“ unterstrichen. Sie erreicht sein Herz, was darauf deutet, dass sie seine

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Affekte beeinflusst. Dies tut an Hitlers oft mystifizierte „Fähigkeit zur Gefühlsübertragung“178

denken. Ulrich Nill erklärt, dass Hitler „das ganze Register menschlicher Emotionen“

durchläuft, „bis er sein Ziel erreicht“.179 Auch Pankau unterstreicht, dass Hitlers

Sprachgebrauch „an das Irrationale, Affektive bei den Zuhörern appellier[t].“180 Auch das

bildet eine Ähnlichkeit mit Margot. Denn es gelingt ihr, dass Henri ihr glaubt, „gleichgültig,

ob ihre Rede züchtig war“ (HQ 194). Henri wird mit anderen Worten empfänglich für

dasjenige, was Margot sagt. Das kann mit Pankaus Analyse der nationalsozialistischen

Rhetorik verknüpft werden, die lautet, dass Hitler mit „der Auflösung fester Affektgrenzen“

eine „Empfänglichkeit für die Angebote de[s] ‚Führer[s]‘“ 181 herstellt. Genauso wie Hitler

appelliert auch Margot an die Affektgrenzen, um eine Empfänglichkeit bei Henri zu

bewirken. Hieraus kann gefolgert werden, dass auch in Margots Sprachgebrauch

Anspielungen auf Hitlers Rhetorik konstatiert werden können.

3.3.6. Cathérine von Navarra

Was ihre Rhetorik betrifft, ähnelt Cathérine von Navarra Margot von Valois. Einerseits ist sie

sich der „streitsüchtigen“ und „verräterischen Gesichter […] an der königlichen Tafel“ (HQ

210) bewusst. Andererseits redet sie selber „mit ihrer rührenden Stimme“, mit „Nachdruck“

und mit „hohen erschreckten Endsilben.“ (HQ 210) Ihre Rede wird oft als eine „[s]onderbare

Formel“ (HQ 210) beschrieben. Wenn Henri sie reden hört, ist er erstaunt über ihre

Glaubwürdigkeit, denn „hier sprach ein Glaube, der seinen eigenen beschämte“ (HQ 210).

Aus diesem Zitat gehen die Glaubwürdigkeit, die Entschiedenheit und die Überzeugung

hervor, die so stark sind, dass Henri Scham erfährt, wenn er an seine eigene Glaubwürdigkeit

denkt, die viel kleiner als die seiner Schwester ist. Er vergleicht Cathérine und ihre

Überzeugungskraft mit dem „eigensinnigen Glauben der Mutter“ (HQ 210), Jeanne. Die

Rhetorik ihrer Mutter „barg diese kleine steile und gewölbte Stirn.“ (HQ 210) Dass Henri

beide vergleicht, belegt, dass auch Cathérine eine rhetorisch starke Figur ist. Das wird auch

illustriert in Szenen, in denen sie wirklich gehört werden will. Dann wächst sie zusammen mit

„ihre[r] kleine[n] Stimme“ (HQ 211). Das zeigt, dass sie trotz ihres jungen Alters rhetorisch

groß sein kann. Sie redet mit körperlichen Bewegungen, mit „ausgestreckten Hände[n]“ (HQ

211) und guckt ihren Gesprächspartnern genau „in die Augen“ (HQ 211). In einem Moment

sagt sie zu ihrem Bruder:

178 Nill: “Sprache und Gegenaufklärung“. S.14. 179 Ebd. S.15. 180 Pankau: „Hitlers Rede“. S.60. 181 Pankau: “Vorwort des Herausgebers“. S.IX.

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Fort von Paris, mein Bruder! Vor Tagesanbruch alle Unseren aus ihren Quartieren geholt und abziehen, auch wenn Gewalt dafür nötig wäre. Reitende Boten über das Land! Die Königin Jeanne! Vergiftet ist die Königin! Das Volk erhebt sich, das Heer steht sogar aus den Schlachtfeldern wieder auf, mein Bruder, und so rücken Sie an zu Ihrer Hochzeit. So will es unsere Mutter. Das und nichts anderes ist ihre Nachricht und Befehl! (HQ 211)

Beachtenswert ist der auffällige und vielfältige Gebrauch von Ausrufezeichen in ihrer Rede.

Ihr Schreien erinnert an Hitlers überzeugende Redensart. Ulrich Kühn hat erläutert, dass

Hitler einen „Ton gefühlsmäßiger Überzeugung“182 einsetzte. Ferner bricht Cathérine

verschiedene Sätze und Satzteile ab. Hierdurch führt sie Pausen in ihre Rede ein. Auch Kühn

interpretiert den „Eindruck des widersinnig-rhythmischen Hineintastens“183 und die

„Zäsuren“184 als Kennzeichnen der Hitler‘schen Reden. Deutlich ist also, dass Cathérine von

Navarra die vierte Figur im Roman ist, bei der Merkmale der im Dritten Reich gehaltenen

Reden auftauchen.

3.3.7. Jean Boucher

Für Koopmann steht es fest: Die nationalsozialistischen Redner tauchen „in der Rede des

wildgewordenen Priesters Boucher durchaus auf, und zwar wiederum mit wörtlichen

Anspielungen und Zitaten.“185 Auch Walter hat die „Zitierung Hitler’scher oder

Goebbels’scher Verhaltensweisen“186 des Predigers Boucher unter die Lupe genommen. Im

Text selber wird der Pfarrer Boucher einen „Redner von neuer Art“ (HQ 439) genannt, was

ihn auf rhetorischer Ebene zu einer Sonderfigur macht. Da in der Forschung keine konkreten

Beispiele für diese These gegeben werden, wird im Nachfolgenden überprüft, welche Aspekte

genau für die Ähnlichkeiten zwischen Bouchers Auftritten und den im Nationalsozialismus

gehaltenen Reden sorgen.

In der Hitler-Forschung wird betont, „[d]ass Hitler in seinen Reden schrie“, was das

„am meisten vermerkte Kennzeichen seiner Stimmqualitäten“187 war. Auch in subjektiveren

Äußerungen wurde seine Stimme als „Geblaff!“188 bezeichnet, weil er seine Wörter

„geiferte“.189 Hieraus können Analogien mit der Stimme vom Pfarrer Boucher abgeleitet

werden. Auch er „schäumte“ mit einer „rohe[n] Stimme“, die „überschlug“ (HQ 439). Was er

182 Kühn: „Rede als Selbstinszenierung“. S.378. 183 Ebd. S.378. 184 Ebd. S.378. 185 Helmut Koopmann: „Henrich Mann und die politische Satire“. In: Heinrich Mann Jahrbuch 12 (1994), S.107. 186 Walter: „Heinrich Mann im französischen Exil“. S.118-119. 187 Kühn: „Rede als Selbstinszenierung“. S.377. 188 Kopperschmidt: „War Hitler ein großer Redner?“. S.185. 189 Ebd. S.185.

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sagt, behauptet er „tobend“ (HQ 439), was auf eine Kombination von Begeisterung und

Aggressivität deutet. Ferner werden seine Stimme und seine Sprechweise mit einem

„weibischen Gekreisch“ (HQ 439) verglichen, das wie „Gebell“ (HQ 439) klingt. Immer

wieder „bellte er weiter“ (HQ 440). Hieraus kann gefolgert werden, dass in den

Beschreibungen von Bouchers Stimme bemerkenswerte Analogien mit Hitlers Stimme ans

Licht kommen. Hinzu kommt, dass Bouchers Laute „angelernt“ (HQ 440) klingen. Das kann

als eine Anspielung auf die schon erwähnten „Theater-Assoziationen“190 der

nationalsozialistischen Reden betrachtet werden, denn jeder Auftritt von Hitler schien

„sorgsam eingeübt wie im Theater.“191 Auch Pankau hat in seinen Werken erklärt, dass es bei

Hitler deutlich um inszenierte Reden geht.192

Was den Inhalt von Bouchers Rede betrifft, tritt ein Gedanke in den Vordergrund:

„Protestanten sollten verabscheut werden bis zur Vernichtung“ (HQ 439). Er, als Katholik, ist

resolut gegen jeden Versuch, Frieden mit den Ketzern zu schließen. Er will, dass jeder

Vertrag mit ihnen „zerrissen“ (HQ 439) wird und droht damit, „einen Andersgesinnten aus

der Menge zu holen und ihn aufzufressen“ (HQ 440). Auch mit „[g]emäßigten“ und

„[d]uldsamen“ Katholiken will er „abrechnen“ (HQ 439). Sein Ideal ist eine „Reinigung von

allem, was ihnen fremd wäre“ (HQ 439). Diese Thematik steht mit dem Inhalt von Hitlers

Reden in Verbindung, in denen das Bild „eines engagierten, unermüdlichen Kämpfers für

Deutschland“193 im Mittelpunkt steht. Auch er unterstrich die Homogenität des deutschen

Volkes und den Hass gegen alles, was er als undeutsch oder andersdenkend betrachtete.

Auffällig ist auch die Reaktion des Volkes, das sich als eine „gedrängte Masse bis

hinter den Altar und in die entferntesten Kapellen“ (HQ 439) begibt. Die Bürger „drückten

einander tot, um bis unter die Kanzel zu gelangen und den Redner zu erblicken.“ (HQ 439)

Und „durch wildes Stöhnen“ drücken sie auf fast ähnliche Weise ihre Begeisterung aus. Auch

im Dritten Reich war das Volk durch die „hypnotische Ausstrahlungskraft“194 des Redners

beeindruckt, der sein Publikum „in seinen Bann schlägt“.195 Die treffende Wirkung von

Boucher wird in folgender Textstelle veranschaulicht: „Da klappte Boucher den Kiefer zu und

lächelte holdselig in die Runde, wodurch er die Herzen gewann […]. Boucher ermutigte seine

Hörer“ (HQ 440). Hieraus geht hervor, dass Boucher das Volk rührt, was zu einer „Auflösung

190 Scholdt: „Der Redner Hitler aus der Sicht zeitgenössischer Schriftsteller“. S.270. 191 Kirchner: „Hitler – „der Verführer““. S.177. 192 Pankau: „Hitlers Rede“. S.53. 193 Nill: “Sprache und Gegenaufklärung“. S.11. 194 Ebd. S.3. 195 Pankau: “Vorwort des Herausgebers“. S.IX.

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fester Affektgrenzen“196 führt. Das kann deutlich mit „Hitlers oft mystifizierte[r] ‚Fähigkeit

zur Gefühlsübertragung‘“197 assoziiert werden.

Pankau hat in seinem Artikel „Hitlers Rede – Ergebnisse und Probleme der

Forschung“ die textuellen Strukturen der nationalsozialistischen Reden in einem

sprachanalytischen Kontext untersucht. Er hat das Prinzip der Wiederholung festgestellt,

sowohl auf thematischer Ebene als auch auf Wortebene. Ferner konstatierte er den vielfältigen

Gebrauch von Adjektiven, Übertreibungen, Superlativen, Elativen und Pleonasmen.198

Bemerkenswert ist auch, dass Hitler jede Rede nach einer polaren Struktur ordnete. Er

benutzte ein „binäres Schematisieren“, in dem „eine aversive Semantik“199 im Fokus stand.

Diese sprachanalytischen Eigenschaften werden auch von Boucher eingesetzt. Er wendet das

Prinzip der Wiederholung an, wenn er sagt: „Gewalt, Gewalt, Gewalt“ (HQ 439). Die

Protestanten nennt er „die Schlimmsten“ (HQ 439), was den Gebrauch von Superlativen

illustriert. Ferner verstärkt er seine Aussagen mit Adjektiven, wie „kraftvollen“,

„zersetzenden“ und „faulen“ (HQ 439). Auch kann in der Rede ein binäres Schema

wahrgenommen werden. Boucher bespricht deutlich zwei Pole: den katholischen einerseits,

den protestantischen andererseits. Von diesem Zwiespalt geht er aus, um seine eigene

Religion, den Katholizismus, zu verherrlichen, und den Protestantismus als negativ

darzustellen. Daneben sind Wörter wie „Abrechnen“ (HQ 439) und „aufzufressen“ (HQ 440)

und Konstruktionen wie „verabscheut werden bis zur Vernichtung„ (HQ 439) Beispiele für

einen Widerwillen, eine Abneigung. Das sind deutlich Beweise für die aversive Semantik in

seiner Rede. Es unterliegt also keinem Zweifel, dass die Ähnlichkeiten zwischen Hitlers und

Bouchers Reden zahlreich und sprechend sind.

Es kann gefolgert werden, dass die Thesen von Koopmann und Walter, dass die

Reden des Pfarrers Boucher Zitierungen „Hitler’scher oder Goebbels’scher

Verhaltensweisen“200 enthalten, stimmen. Jedoch können sie nach meiner Meinung nuanciert

werden, denn die Analyse des Sprachgebrauchs der anderen Figuren hat deutlich gezeigt, dass

Boucher nicht die einzige Figur im Roman ist, bei der Analogien mit der für die

Nationalsozialisten charakteristischen Rhetorik auftauchen. Alle aristokratischen Machthaber

setzen eine manipulative Rhetorik ein oder werden durch Elemente in ihrem Sprachgebrauch

gekennzeichnet, die deutlich mit der Rhetorik des Dritten Reiches in Verbindung gebracht

196 Ebd. S.IX. 197 Nill: “Sprache und Gegenaufklärung“. S.14. 198 Pankau: „Hitlers Rede“. S.58. 199 Ebd. S.58. 200 Walter: „Heinrich Mann im französischen Exil“. S.119.

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werden können. Hinzu kommt, dass Nill erläutert hat, dass Themen wie Tapferkeit, Fleiß,

Zuverlässigkeit, Aufrichtigkeit, (soziale) Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und

Menschlichkeit Hitlers reden dominieren.201 Er betont aber, dass Hitler diese Themen nur

durch eine manipulative Glaubwürdigkeit und Selbstdarstellung suggerierte, wodurch es für

seine Zuhörer den Anschein hatte, dass er tatsächlich ein zuverlässiger und aufrichtiger

Mensch war.202 Interessant ist, dass alle analysierten Figuren, außer Henri und seinen

Ratgebern, diese Elemente auch in ihren Sprachgebrauch integrieren. Das ist aber ein Teil

ihrer aufgeführten Selbstdarstellung, mit der sie auf eine glaubwürdige Art und Weise

suggerieren, dass sie positiv zu bewertende Menschen sind.

Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass aus der Analyse der rhetorischen

Konfiguration ein deutliches Bewusstsein der Kraft des Wortes und der manipulativen Seite

der Rhetorik hervorgegangen ist. Da die Anspielungen auf die im Nationalsozialismus

eingesetzte Rhetorik hauptsächlich bei den aristokratischen Machthabern festgestellt werden

können, kann hieraus ein Kontrast zwischen ihnen und dem guten Herrscher Henri abgeleitet

werden.

201 Nill: “Sprache und Gegenaufklärung“. S.11. 202 Ebd. S.15.

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Schlussfolgerung

Am Ende meiner Arbeit sind die in der Einleitung gestellten Forschungsfragen beantwortet.

Einerseits hat die Analyse der politischen Kritik eine Antwort auf die Frage, wie Mann den

Humanismus in sein Werk integriert hat, gegeben. Durch seine Volksverbundenheit, seine

Güte, seine Haltung gegen Unrecht, die Verweigerung einer überlegenen Position und die

Tatsache, dass er seinen Untertanen eine Stimme gibt, wird Henri als ein beispielhafter

Herrscher, der eine idealistische Menschlichkeit verkörpert, dargestellt. Dass Henris Ideale

demokratisch sind, kann nicht geleugnet werden. Mehrere Anspielungen auf die Prinzipien

der Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, tauchen im Roman

auf. Aus der Analyse hat sich erwiesen, dass Henris beispielhafte Rolle durch seine

Kontrastierung mit den aristokratischen Machthabern, die eine diktatorische Staatsform

personifizieren, verstärkt wird. Wie zahlreiche Textbeispiele gezeigt haben, wird die

Notwendigkeit “einer revolutionär-demokratischen Erneuerung der Gesellschaft“203 im

Roman unterstrichen.

Andererseits hat die Analyse der rhetorischen Konfiguration in Die Jugend des Königs

Henri Quatre zwei Ergebnisse ans Licht gebracht. Erstens hat sich gezeigt, dass alle

aristokratischen Machthaber eine manipulative Rhetorik benutzen, um den Eindruck zu

wecken, als ob sie aufrichtig seien. Bei allen ist der Einsatz von tugendhaften Themen ein Teil

eines Theaterspiels mit dem Ziel, zu beeindrucken, zu überzeugen oder sich selber positiv

darzustellen. Henri dagegen ist die einzige Figur, die diese Themen nicht anhand seines

Sprachgebrauchs simuliert, sondern wirklich verkörpert. Hierdurch wird sein Ruf als guter

Herrscher verstärkt und werden seine kritisierten diktatorischen Gegenspieler noch negativer

abgebildet. Zweitens wurde bewiesen, dass der Roman sprechende Anspielungen auf die

Rhetorik des Dritten Reiches enthält. Da die Ähnlichkeiten nur bei den diktatorischen,

manipulativen und negativ dargestellten Figuren auftreten, spricht hieraus eine Kritik an den

Manipulationstechniken und am aggressiven Sprachgebrauch der Nationalsozialisten der

1930er Jahren. Die rhetorischen Manipulationsversuche und Lügen sind so zahlreich, dass sie

als ein Hauptthema des Textes betrachtet werden können. Deshalb kann gefolgert werden,

dass die Anspielungen als bewusste Warnungen von Mann vor der Rhetorik im

Nationalsozialismus gelesen werden können.

Auf die Frage, wie die politische und die rhetorische Kritik sich zueinander verhalten,

kann geantwortet werden, dass sie aneinander anschließen. In beiden Analysen steht die

203 Herden: Geist und Macht. S.154.

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demokratische, aufrichtige Figur Henri den diktatorischen, manipulativen Machthabern

gegenüber. In beiden Analysen bildet der Kontrast zwischen Henri und seinen

aristokratischen Gegenspielern den Kern für die Kritik am Nationalsozialismus. In beiden

Analysen tauchen bei den aristokratischen Figuren Analogien mit den Nationalsozialisten auf.

Hieraus geht hervor, dass das Ergebnis der rhetorischen Analyse der politischen Kritik beitritt.

Der Mehrwert dieser Arbeit ist, dass meine Analyse eine vertiefende, mit textuellen

Beweisen unterstützte Erweiterung der politischen Kritik am Nationalsozialismus bietet.

Hinzu kommt ein weiterer Kritikpunkt: Die Nationalsozialisten werden nicht nur auf

politischer, sondern auch auf rhetorischer Ebene kritisiert, denn der Roman enthält eine

Warnung vor ihrem Sprachgebrauch und der manipulativen Art und Weise, wie sie

Glaubwürdigkeit aufweckten. Zusammenfassend führt meine Analyse zur folgenden

Hauptthese: Anhand der Kontrastierung zwischen dem guten Herrscher Henri und seinen

negativ dargestellten Gegenspielern wird nicht nur Kritik an der politischen Sichtweise der

Nationalsozialisten geübt, sondern auch an ihren rhetorischen Manipulationstechniken. Diese

These kann zurückgeführt werden auf den im Titel erwähnten Glaubenssatz von Mann, der

lautet: „Nihil est tam populare quam bonitas.“204 Die Analyse hat gezeigt, dass die Güte von

Henri positiver und stärker als die Gewalt seiner diktatorischen Gegenspieler bewertet wird.

Interessant wäre, die Fortsetzung des Romans, Die Vollendung des Königs Henri

Quatre, einer politischen und einer rhetorischen Analyse zu unterwerfen. So könnte überprüft

werden, ob eine ähnliche Kritik am Nationalsozialismus im Roman auftritt und ob hierfür

dieselben Verfahren wie in Die Jugend des Königs Henri Quatre benutzt werden. Im Fall von

unterschiedlichen Ereignissen könnte nachgeschaut werden, welche Unterschiede auftauchen,

und wie sie erklärt werden könnten.

204 Lautenbach: Latein-Deutsch: Zitaten-Lexikon. S.119.

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