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Der Aufsatz geht auf die Antrittsvorlesung zurück, die der Verfasser im November 2008 an der Universität Tübingen zur Erlangung der Venia legendi in Ethik und Geschichte der Medi- zin hielt. Werner Janzarik sei für die kritische Durchsicht des Manuskripts gedankt. Die Arbeit ist Annemarie Heimann, der Witwe des im Juli 2006 verstorbenen Hans Heimann, gewidmet. Nervenarzt 2010 · 81:1346–1353 DOI 10.1007/s00115-010-3078-5 Online publiziert: 1. August 2010 © Springer-Verlag 2010 M. Bormuth Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Tübingen Psychiatrie als Kulturwissenschaft Überlegungen nach Max Weber Originalien Die Psychiatrie entfaltete in den 1950er Jahren stärker biologische Konturen, als Psychopharmaka erstmals erlaubten, schwere Psychosen gezielter zu behan- deln. Zugleich führten pneumenzephalo- graphische Studien zu theoretischen Fort- schritten, die allerdings erst mit der Ein- führung der neuen bildgebenden Ver- fahren zwei Jahrzehnte später die For- schungslandschaft verwandelten. Die psy- choanalytischen, anthropologischen und sozialpsychiatrischen Konzepte verloren dagegen ihre prominente Stellung. Dies entsprach dem internationalen Trend. Nachdrücklich pries Nancy An- dreasen, die langjährige Herausgebe- rin des American Journal of Psychiatry, die Wende zur biologischen Psychiatrie. So sprach sie zu Anfang der 1980er Jahr in The Broken Brain von einer „biologi- cal Revolution in Psychiatry“, die sich in einem „movement from a psychodynamic to a biomedical and neurobiological mo- del“ zeige [1]. Ihr Buch Brain Imaging. Ap- plications in Psychiatry verkündete 1989 die Hoffnung, man werde eine rein bio- logische Anthropologie entwickeln. Denn das funktionale Verständnis des Gehirns erlaube, uns selbst als menschliche Wesen im Fühlen, Denken und Glauben genau zu verstehen [2]. Allerdings zeichnet sich derzeit ei- ne gedankliche Trendwende ab, die von niemandem anderen als Frau Andreasen selbst ausgeht. So gab sie 2007 – publi- kumswirksam in einem Hauptreferat der Berliner Jahresversammlung der DGPPN – zu bedenken, dass angesichts der deut- schen Tradition verstehender Psychiatrie ein umgekehrter Marshall-Plan notwen- dig werden könne [3]. Nicht zuletzt nann- te Andreasen die Heidelberger Schule um Karl Jaspers und Kurt Schneider, deren methodologische Einsichten und philo- sophische Ideen für die gegenwärtige Psy- chopathologie und ihre Begriffsbildung von eminenter Bedeutung seien. Schon ein Jahrzehnt vor ihr hatte Paul McHugh, der lange Jahre an der Johns- Hopkins-University in Baltimore lehr- te, die englische Neuausgabe von Jaspers’ Standardwerk Allgemeine Psychopatho- logie mit einem Vorwort eingeleitet, das deutlich auf die Grenzen der naturwissen- schaftlichen Sichtweise hinwies. Die phi- losophischen Kategorien von Freiheit und Verantwortung seien im Sinne von Jaspers entscheidend für das psychopathologische Verständnis des Menschen [11]. Der Aufsatz will, von Überlegungen Max Webers ausgehend, diese kulturwis- senschaftlichen Züge der Psychiatrie frei- legen. Ihre Ursprünge liegen in der Auf- klärung und über die geisteswissenschaft- liche Methodenlehre nahmen sie ihren Weg in das psychiatrische Denken von Jaspers. Dies wiederum fand sowohl in der Heidelberger Schule als auch der Tü- binger Tradition der verstehenden Psychi- atrie Aufnahme. Deren scheinbar unüber- windbaren Gegensätze sind weniger groß als jüngst Heinz Schott und Rainer Töl- le konstatierten [44], wenn man die ver- stehenden Ansätze betrachtet, die Werner Janzarik und Hans Heimann in kritischer Rezeption von Jaspers entwickelten [19, 22, 26]. Ihre Werke zeigen auf unterschied- liche Weise, dass der hermeneutische Zu- gang einen unverzichtbaren Bestandteil psychiatrischen Denkens bildet. Kulturwissenschaftliches Verstehen nach Max Weber Max Weber gehört zu den international bekannten Begründern der modernen Kulturwissenschaft, die in Reaktion auf die herrschenden Naturwissenschaften um 1900 ihre methodische Gestalt er- hielt. Weber warnte vor der Illusion, man könnte im Verständnis der geschicht- lichen Welt zu einem rein objektiven Wissen kommen, das frei von aller sub- jektiven Wertung sei. Immer prägten Mo- mente des „Glaubens“ an Ideen und per- sönliche „Weltanschauungen“ das eigene Urteilen, ohne dass diese rational logisch aufzulösen seien. Deshalb setzte Weber in den Titeln seiner methodischen Aufsätze jeweils die geheiligten Begriffe „Objektivi- tät“ und „Wertfreiheit“ provokativ in An- führungsstriche [47, 48]. Die menschliche Wertungsfreiheit, die nach Weber eine unhintergehbare Bedin- gung allen Handelns, Erlebens und Ver- stehens ist, führte er ideengeschichtlich auf die jüdisch-christliche Erzählung vom Sündenfall zurück, der heute als „zen- traler Mythos der westlichen Kultur“ gilt [12]. So heißt es im Aufsatz „Die ‚Objekti- vität’ sozialwissenschaftlicher und sozial- politischer Erkenntnis“ über die Notwen- digkeit subjektiver Sinnfindung [47]: 1346 |  Der Nervenarzt 11 · 2010

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Der Aufsatz geht auf die Antrittsvorlesung zurück, die der Verfasser im November 2008 an der Universität Tübingen zur Erlangung der Venia legendi in Ethik und Geschichte der Medi-zin hielt. Werner Janzarik sei für die kritische Durchsicht des Manuskripts gedankt. Die Arbeit ist Annemarie Heimann, der Witwe des im Juli 2006 verstorbenen Hans Heimann, gewidmet.

Nervenarzt 2010 · 81:1346–1353DOI 10.1007/s00115-010-3078-5Online publiziert: 1. August 2010© Springer-Verlag 2010

M. BormuthInstitut für Ethik und Geschichte der Medizin, Tübingen

Psychiatrie als KulturwissenschaftÜberlegungen nach Max Weber

Originalien

Die Psychiatrie entfaltete in den 1950er Jahren stärker biologische Konturen, als Psychopharmaka erstmals erlaubten, schwere Psychosen gezielter zu behan-deln. Zugleich führten pneumenzephalo-graphische Studien zu theoretischen Fort-schritten, die allerdings erst mit der Ein-führung der neuen bildgebenden Ver-fahren zwei Jahrzehnte später die For-schungslandschaft verwandelten. Die psy-choanalytischen, anthropologischen und sozialpsychiatrischen Konzepte verloren dagegen ihre prominente Stellung.

Dies entsprach dem internationalen Trend. Nachdrücklich pries Nancy An-dreasen, die langjährige Herausgebe-rin des American Journal of Psychiatry, die Wende zur biologischen Psychiatrie. So sprach sie zu Anfang der 1980er Jahr in The Broken Brain von einer „biologi-cal Revolution in Psychiatry“, die sich in einem „movement from a psychodynamic to a biomedical and neurobiological mo-del“ zeige [1]. Ihr Buch Brain Imaging. Ap-plications in Psychiatry verkündete 1989 die Hoffnung, man werde eine rein bio-logische Anthropologie entwickeln. Denn das funktionale Verständnis des Gehirns erlaube, uns selbst als menschliche Wesen im Fühlen, Denken und Glauben genau zu verstehen [2].

Allerdings zeichnet sich derzeit ei-ne gedankliche Trendwende ab, die von niemandem anderen als Frau Andreasen selbst ausgeht. So gab sie 2007 – publi-kumswirksam in einem Hauptreferat der Berliner Jahresversammlung der DGPPN – zu bedenken, dass angesichts der deut-schen Tradition verstehender Psychiatrie ein umgekehrter Marshall-Plan notwen-

dig werden könne [3]. Nicht zuletzt nann-te Andreasen die Heidelberger Schule um Karl Jaspers und Kurt Schneider, deren methodologische Einsichten und philo-sophische Ideen für die gegenwärtige Psy-chopathologie und ihre Begriffsbildung von eminenter Bedeutung seien.

Schon ein Jahrzehnt vor ihr hatte Paul McHugh, der lange Jahre an der Johns-Hopkins-University in Baltimore lehr-te, die englische Neuausgabe von Jaspers’ Standardwerk Allgemeine Psychopatho-logie mit einem Vorwort eingeleitet, das deutlich auf die Grenzen der naturwissen-schaftlichen Sichtweise hinwies. Die phi-losophischen Kategorien von Freiheit und Verantwortung seien im Sinne von Jaspers entscheidend für das psychopathologische Verständnis des Menschen [11].

Der Aufsatz will, von Überlegungen Max Webers ausgehend, diese kulturwis-senschaftlichen Züge der Psychiatrie frei-legen. Ihre Ursprünge liegen in der Auf-klärung und über die geisteswissenschaft-liche Methodenlehre nahmen sie ihren Weg in das psychiatrische Denken von Jaspers. Dies wiederum fand sowohl in der Heidelberger Schule als auch der Tü-binger Tradition der verstehenden Psychi-atrie Aufnahme. Deren scheinbar unüber-windbaren Gegensätze sind weniger groß als jüngst Heinz Schott und Rainer Töl-le konstatierten [44], wenn man die ver-stehenden Ansätze betrachtet, die Werner Janzarik und Hans Heimann in kritischer Rezeption von Jaspers entwickelten [19, 22, 26]. Ihre Werke zeigen auf unterschied-liche Weise, dass der hermeneutische Zu-gang einen unverzichtbaren Bestandteil psychiatrischen Denkens bildet.

Kulturwissenschaftliches Verstehen nach Max Weber

Max Weber gehört zu den international bekannten Begründern der modernen Kulturwissenschaft, die in Reaktion auf die herrschenden Naturwissenschaften um 1900 ihre methodische Gestalt er-hielt. Weber warnte vor der Illusion, man könnte im Verständnis der geschicht-lichen Welt zu einem rein objektiven Wissen kommen, das frei von aller sub-jektiven Wertung sei. Immer prägten Mo-mente des „Glaubens“ an Ideen und per-sönliche „Weltanschauungen“ das eigene Urteilen, ohne dass diese rational logisch aufzulösen seien. Deshalb setzte Weber in den Titeln seiner methodischen Aufsätze jeweils die geheiligten Begriffe „Objektivi-tät“ und „Wertfreiheit“ provokativ in An-führungsstriche [47, 48].

Die menschliche Wertungsfreiheit, die nach Weber eine unhintergehbare Bedin-gung allen Handelns, Erlebens und Ver-stehens ist, führte er ideengeschichtlich auf die jüdisch-christliche Erzählung vom Sündenfall zurück, der heute als „zen-traler Mythos der westlichen Kultur“ gilt [12]. So heißt es im Aufsatz „Die ‚Objekti-vität’ sozialwissenschaftlicher und sozial-politischer Erkenntnis“ über die Notwen-digkeit subjektiver Sinnfindung [47]:

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Das Schicksal einer Epoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es, wissen zu müssen, daß sie den Sinn des Weltge-schehens […] selbst zu schaffen imstande sein muß.

Und in der Studie „Der Sinn der ‚Wert-freiheit’ der soziologischen und ökono-mischen Wissenschaften“ weist Weber mit dem Blick auf den Paradiesmythos darauf hin, dass die Entscheidung des Einzelnen im Zentrum des kulturellen Lebens ste-he [48]:Die aller menschlichen Bequemlichkeit un-willkommene, aber unvermeidbare Frucht vom Baum der Erkenntnis ist gar keine an-dere als eben die: […] sehen zu müssen, daß jede einzelne wichtige Handlung und daß vollends das Leben als Ganzes, wenn es nicht wie ein Naturereignis dahinglei-ten, sondern bewusst geführt werden soll, eine Kette letzter Entscheidungen bedeu-tet […].

Dieter Henrich hat eindringlich gezeigt, dass Die Einheit der Wissenschaftsleh-re Max Webers im kantischen Denken gründet. So ist es kein Zufall, dass schon Kant, als er 1786 den Aufsatz „Mutmaß-licher Anfang der Menschengeschich-te“ schrieb, den biblischen Paradiesmy-thos nutzte, um die „Geschichte der ers-ten Entwicklung der Freiheit in der Natur des Menschen“ zu entfalten [36]. Die Ver-treibung aus dem Paradies ist demnach ein notwendiger Schritt auf dem Weg der menschlichen Selbstaufklärung von der Naivität zur gefahrvollen Mündigkeit, die erst – mythologisch gesprochen – nach dem Genuss der Frucht vom Baum der Erkenntnis möglich wurde. Kant geht da-von aus, dass im Laufe der Geschichte sich die menschlichen Dinge „vom Schlechten zum Bessern allmählich“ entwickeln: „zu welchem Fortschritte denn ein jeder an sei-nem Teile, soviel in seinen Kräften steht, beizutragen durch die Natur selbst berufen ist.“ Friedrich Schiller sprach vor diesem Hintergrund wenige Jahre später – nicht zufällig zurzeit der Französischen Revolu-tion – emphatisch vom Weg, den die Vor-sehung dem Menschen vom „Paradies der Unwissenheit und Knechtschaft“ in aller Mühe des aufgeklärten Lebens in das „Pa-radies der Erkenntnis und der Freiheit“ führe, da der Mensch „dem moralischen

Zusammenfassung · Summary

Nervenarzt 2010 · 81:1346–1353 DOI 10.1007/s00115-010-3078-5© Springer-Verlag 2010

M. Bormuth

Psychiatrie als Kulturwissenschaft. Überlegungen nach Max Weber

ZusammenfassungDie Psychiatrie kann als Natur- und Kultur-wissenschaft betrachtet werden. Demnach bildet das Postulat der Freiheit ihre Wertprä-misse, die seit der Aufklärung metaphorisch im Mythos der Vertreibung aus dem Para-dies beschrieben wird. In der Nachfolge Max Webers und Wilhelm Diltheys hat Karl Jas-pers diese Perspektive in die Psychiatrie ein-geführt. Sein strenger Dualismus von natur-wissenschaftlichem Erklären und kulturwis-senschaftlichem Verstehen wurde später von Werner Janzarik und Hans Heimann kritisch revidiert. Ihre Konzepte der Strukturdyna-

mik, der Pathographie und der Anthropolo-gie standen näher bei Max Weber, der natur- und kulturwissenschaftliches Denken enger verknüpfte. Vor allem das pathographische Beispiel Nietzsches erlaubt, die Unterschiede zwischen Jaspers und den späteren Psycho-pathologen der Heidelberger und Tübinger Schule zu verdeutlichen.

SchlüsselwörterPathographie · Dilthey · Jaspers · Janzarik · Heimann

Psychiatry as cultural science. Considerations following Max Weber

SummaryPsychiatry can be seen as a natural and cul-tural science. According to this the postu-late of freedom is its strong value judgment. Since the times of enlightenment it has been described metaphorically by the myth of the expulsion from Paradise. Following Max We-ber and Wilhelm Dilthey, Karl Jaspers has in-troduced this perspective into psychiatry. His strict dichotomy between explaining and un-derstanding has later been critically revised by Werner Janzarik and Hans Heimann. Their concepts of structure dynamic, of pathogra-

phy and of anthropology are closer to Max Weber who connected natural and cultur-al sciences in a much stronger way. Especial-ly the pathographic example of Nietzsche al-lows to demonstrate the differences between Jaspers and the later psychopathologists of the Heidelberg and Tübingen schools.

KeywordsPathography · Dilthey · Jaspers · Janzarik · Heimann

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Gesetze in seiner Brust ebenso unwandel-bar gehorchen würde, als er anfangs dem Instinkt gedient habe“ [43].

Nach Max Weber waren die „rosigen Aussichten“, die die Aufklärer über den moralischen Fortschritt der Menschheit verkündet hatten, ein Jahrhundert später verblasst [45]. Der mosaischen Geschich-te vom Sündenfall verleiht er eine ambi-valentere Deutung. Der Horizont der sitt-lichen Besserung der Gesellschaft fällt weg, während Weber die moralische For-derung an den Einzelnen unterstreicht, im wertenden Denken und Handeln sein mögliches „Menschentum“ zu bewähren. Ausdrücklich hielt er die kantische „Hel-denmoral“ gegen eine „Durchschnittsmo-ral“ hoch, deren Begriff von Freiheit nur an persönlichen Interessen und nicht an höheren Ideen orientiert sei [6]. Diese an-spruchsvolle Deutung der Freiheit sieht er als Prämisse seines Denkens [47]:Transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist, daß wir Kultur-menschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verlei-hen.

Über die Sozialwissenschaften hinaus fand diese an Kant orientierte Kulturwis-senschaft in Heidelberg auch im psychi-atrischen Denken Resonanz, wie nun zu zeigen sein wird.

Karl Jaspers als Theoretiker der Psychiatrie

Der junge Psychiater Karl Jaspers ori-entierte sich als Mitglied des intellektu-ellen Zirkels um Weber ausdrücklich an den Aufsätzen zur Wissenschaftslehre und nahm in die Allgemeine Psychopatholo-gie 1913 vor allem die Unterscheidung von „Erklären und Verstehen“ auf [29]. Man dürfe die Psychiatrie nicht allein aus Sicht naturwissenschaftlicher Empirie be-treiben, sondern müsse, um der Realität menschlicher Handlungs- und Wertungs-freiheit gerecht zu werden, auch das kul-turwissenschaftliche Verstehen metho-disch berücksichtigen.

Allerdings entfernt sich Jaspers inso-fern von Max Weber, der natur- und geis-teswissenschaftliche Rationalität zu ver-knüpfen suchte, indem er auch Wilhelm

Dilthey rezipierte, der in den Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psy-chologie eine scharfe Dichotomie der Me-thoden vorgenommen hatte [10]:Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.

Anders als Weber gestand Dilthey den Na-turwissenschaften allein Objektivität zu, während die kulturwissenschaftliche Er-kenntnis der menschlichen Weltanschau-ungen eine rein subjektive Größe sei. Des-halb unterstrich er die wesensmäßige Un-schärfe des psychologischen Verstehens in der Philosophie:[Die erklärende Psychologie] muß die Un-möglichkeit, Erlebnisse überall zu Begriffen zu erheben, klar machen.

In diesem Sinne begrenzte auch Jaspers zunehmend die subjektive Evidenz, die das Verständnis seelischen und geistigen Erlebens leite. So heißt es in der zweiten Auflage der Allgemeinen Psychopatho-logie, die 1920 erschien, als Jaspers sich schon auf dem Weg zur Philosophie be-fand [31]:Doch kommen wir mit diesem genetischen Verstehen – man nennt es auch das psycho-logische Erklären, das man dem kausalen, objektiven Erklären mit Recht als wesens-verschieden gegenüberstellt –, besonders in der Psychopathologie, bald an Grenzen.

Die letzte Auflage der Allgemeinen Psycho-pathologie, die er 1942 nach 20 Jahren phi-losophischer Tätigkeit verfasste, reserviert die Möglichkeit, subjektive Evidenz zu er-leben, fast vollständig für die Sphäre exis-tenziellen Verstehens [33].

Diese Reserve gegenüber dem gene-tischen Verstehen spiegelt sich deutlich in den kritischen Urteilen, die Jaspers über andere Ansätze einer kulturwissenschaft-lichen Psychiatrie fällte. Der Psychoanaly-se warf er besonders vor, ihre subjektiven Denkmöglichkeiten im Sinne des natur-wissenschaftlichen Ansatzes als empi-rische Wahrheiten misszuverstehen. Die anthropologischen Psychiater seiner Zeit achtete Jaspers in ihrer Hermeneutik, be-schränkten sie ihr einfühlendes Deuten doch auf eine humane Atmosphäre po-tenzieller Sinnhorizonte [33]:Sie entwerfen nicht entschieden eine Total-theorie. […] wirken manchmal wie ein hu-

manes Sinngeben, wie ein liebenswürdiges Spiel – […] Auslegungen tun wohl, Ausle-gungen sind nichts als Auslegungen.

Da die Tübinger Schule der verstehenden Psychologie, die Robert Gaupp mit dem Fall des paranoischen Oberlehrers Wag-ners profiliert hatte [12], nach Jaspers allzu sicher psychodynamische Evidenzen be-anspruchte, beurteilte er sie skeptisch. Im Blick auf das Konstrukt des sensitiven Be-ziehungswahns, das Ernst Kretschmer in der Folge entfaltet hatte, heißt es exemp-larisch [30]:Das Verstehen leistet viel, aber hier hat es seine Grenze.

Auch die Psychosomatik schätzte Jaspers nur solange, als ihr Spiritus rector, Viktor v. Weizsäcker, seine Vorschläge, wie die kör-perlichen Krankheiten im Lebensganzen des Patienten verankert sein könnten, als Denkmöglichkeiten verstand [47]:Wir müssen als Erkennende in einer of-fenen Biographie bleiben, welche im Ganzen noch frei lässt, was wirklich und wesentlich ist, nämlich die nicht mehr psy-chologisch zu erkennende, sondern philoso-phisch oder dichterisch zu erhellende Tiefe des Menschseins.

Als v. Weizsäcker nach 1945 seine Psycho-somatik gedanklich stärker mit der Psy-choanalyse amalgamierte, eindeutige Zu-schreibungen zwischen psychischer Ge-nese und somatischem Korrelat vornahm und zudem die naturwissenschaftlich ori-entierte Psychiatrie angriff, gab Jaspers die alte Sympathie auf. Seine polemische Re-aktion, die sich auch auf die psychoana-lytische Psychosomatik Alexander Mit-scherlichs bezog, knüpfte fast nahtlos an die Kritik an, die er zuvor gegen Freuds Anspruch hatte laut werden lassen [5].

Ebenso ging Jaspers in diesen Jahren auf Distanz zu Viktor Frankl, dessen Lo-gotherapie dem Arzt im Prozess der mög-lichen Sinnfindung seines Erachtens eine zu dominante Stellung einräume [7]: „Die sokratische Haltung schien mir nicht ver-lässlich da.“ Die Sorge war, dass „intellek-tuelle Übermacht oder suggestive Wir-kung“ den Charakter der „existenziellen Kommunikation“ gefährden könnten. In der Grenzsituation psychischer Krankheit könne der Arzt wohl existenzielle Sinnho-

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rizonte eröffnen, diese seien jedoch im-mer nur subjektive Vorschläge des Ver-stehens.

Mit anderen Worten: Jaspers sah die schulenübergreifende Gefahr, in der ver-stehenden Psychotherapie persönliche Wertannahmen unreflektiert im asym-metrischen Behandlungsverhältnis zu verwenden und so ärztliche Autorität für Fragen zu suggerieren, deren Beantwor-tung den Horizont wissenschaftlicher Ob-jektivität überschreitet. Für Jaspers stan-den die beiden Perspektiven, die natur-kausale der Wissenschaften und die exis-tenzielle des menschlichen Verstehens, unverbunden nebeneinander. Mit Dilth-ey ist er eindeutig als Dualist in der heu-te so weit diskutierten Frage menschlicher Freiheit zu verstehen.

Jaspers’ dualistischer Ansatz in der Pathographie

Besonders anschaulich zeigen sich die problematischen Folgen des dualistischen Denkens, das kausales Erklären und ein-fühlendes Verstehen rigoros trennt, in den Pathographien von Jaspers. Es handelt sich einmal um die Studie Strindberg und van Gogh. Versuch einer pathographischen Analyse, die er 1922 verfasste [32], und um die Krankengeschichte Nietzsches, die 1936 als Teil der Monographie Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Phi-losophierens erschien [35].

Betrachtet man zuerst Strindberg und Van Gogh, so beanspruchte Jaspers nur, die „unverstehbaren Kausalzusammen-hänge“ anzudeuten, die „zwischen Aus-bruch einer Geisteskrankheit und dem Schaffen eines Künstlers“ bestehen. Der schizophrene Prozess, der das künstleri-sche Schaffen beeinflusst, ist für den Pa-thographen immer etwas „Unzugäng-liches“ und „Fremdes“. Deshalb spricht Jaspers unspezifisch von der „anderen Atmosphäre“, dem „qualitativ Anderen“ oder dem „eigentümlichen Plus“, das den kranken Künstler kennzeichne.

Dass diese „subjektivistische Wen-dung“ sachlich heikel ist, stellte schon vor Jahrzehnten Heinz Häfner im phänome-nologischen Rückblick auf die Diskus-sion um „Prozeß und Entwicklung“ fest [18]. Johann Glatzel beurteilte die dia-gnostische Verknüpfung, die Jaspers zwi-

schen der „vermeintlichen“ Schizophre-nie Strindbergs und abwertenden Be-schreibungen seines moralischem Verhal-ten traf, zu Recht für ein Indiz seines eige-nen „Wertsystems“ [17]. Dies spiegelt sich in den gegensätzlichen Urteilen über die beiden Künstler. Während August Strind-berg für Jaspers literarisch das oberfläch-liche Leben moderner Beliebigkeit reprä-sentiert, verdichte sich in van Gogh die tiefsinnige Kunst der Moderne [32]. Aller-dings bleiben die Gründe geheimnisvoll, die die existenzielle Wirkung des kranken Künstlers van Gogh ausmachen:Es ist, als ob eine letzte Quelle der Existenz vorübergehend sichtbar würde, als ob ver-borgene Gründe alles Daseins hier sich un-mittelbar auswirkten.

Die in Strindberg und van Gogh auf zwei Künstler aufgeteilte Darstellung, wie psy-chische Krankheit im Positiven wie Nega-tiven das Werk steigern könne, führt Jas-pers 1936 in der Pathographie Nietzsches in einer Person zusammen [35]. Nietz-sches Werk stoße – pathologisch bedingt – in bislang unerreichte Höhen vor und stürze zugleich in absurde Abgründe. Bei der Annahme einer rein biologisch be-dingten Psychose bleibt Jaspers psycho-dynamisch unbestimmt: Eine physische Weichenstellung habe rund ein Jahrzehnt vor dem paralytischen Zusammenbruch 1889 die „philosophischen Grenzerfah-rungen“ und „verzehrenden Wahrheiten“ im Guten wie im Bösen ermöglicht und freigesetzt.

Hatte Jaspers 1936 noch vermieden, Nietzsches antichristliche Philosophie des „Willens zur Macht“ direkt anzugreifen, so äußerte er sich zwei Jahre später deut-licher, als er aufgrund der jüdischen Her-kunft seiner Frau den Heidelberger Lehr-stuhl verloren hatte. Sein Vortrag „Nietz-sche und das Christentum“, gehalten vor regimekritischen Theologen, nutzte die pathographische Perspektive, um die anti-christliche Tendenz und das Lob der vor-nehmen „Raubtiermoral“ zu diskreditie-ren [34]:Nietzsches Werk liegt im Schatten der Krankheit.

Die Pathologisierung, die sich auf die bio-logische Ursache des psychischen Zu-sammenbruchs bezog, ergänzte Jaspers

durch eine psychodynamische Vermu-tung. Die tiefe Ablehnung, mit der Nietz-sche im Spätwerk dem Christentum und dem Protestantismus begegnet war, zeuge vom Selbsthass des Philosophen, der ge-gen die eigene tiefe Affinität zu den Kir-chenvätern aufbegehre:Paulus, Augustin, Luther. Nietzsche sah sie; er mochte sie nicht sehen; und er voll-zog doch sein Denken in ständiger Selbst-erhellung.

Man kann schließen: Pathologisierung und Psychologisierung Nietzsches er-möglichten es Jaspers, ihm wenig zusa-gende Wertaussagen des späten Nietzsche generalisierend zu entwerten. Tatsächlich hatte Nietzsche in der Genealogie der Mo-ral – ganz anders als Kant und die Aufklä-rung – das christliche Denken scharf ab-gelehnt, da ihm die Kategorien des Gewis-sens und des Bösen, wie sie im Paradies-mythos geschildert werden, als „Verteu-felung der Natur“ erschienen, von Pries-tern und Theologen ursprünglich erfun-den, um das starke Individuum moralisch zu knechten [39].

Kulturwissenschaftliche Psychiatrie nach Jaspers

In Heidelberg führte Kurt Schneider nach 1945 die Tradition der deskriptiven Psy-chopathologie fort, die Jaspers metho-disch begründet hatte. Werner Janzarik, der 1946 dort seine Ausbildung begann und 1973 an die Klinik zurückkehrte, ging über diesen Ansatz hinaus und betonte in der Antrittsvorlesung „Die Krise der Psy-chopathologie“ die Herausforderung des dynamischen Verstehens [26]. Welche Fortschritte der strukturdynamische An-satz [28] gegenüber dem Dualismus von Jaspers bieten kann, soll nun im Blick auf Nietzsche erläutert werden. Die Ausfüh-rungen verdichten eine längere Analy-se, die Teil der Habilitationsschrift Ambi-valenz der Freiheit. Suizidales Denken im 20. Jahrhundert ist [9].

Bevor man mit dem strukturdyna-mischen Ansatz mögliche Auswirkungen pathologischer Phänomene auf Nietz-sches Denken erhellen kann, muss man zuerst eine vereinfachte Werkgenese vor-nehmen. Demnach kann man bei Nietz-sche eine frühe Phase des Denkens von ei-

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Originalien

Page 6: art%3A10.1007%2Fs00115-010-3078-5

ner späten unterscheiden. Der junge Phi-losoph schätzte im Sinne Arthur Schopen-hauers die Gestalt asketischer Vornehm-heit, die besonders Künstler, Priester und Philosophen zeigten. Sie waren bestrebt, verschiedene Willenstriebe intellektuell und ästhetisch in sozial nützlicher Weise zu kontrollieren und zu verwandeln. Spä-ter machte Nietzsche in den Schriften Jen-seits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral Schopenhauers asketisches Ide-al lächerlich [38, 39]. Der pessimistische Philosoph habe sich vom Christentum verführen lassen. Sein resignatives Den-ken sei säkulares Produkt einer scheinhei-ligen Sklavenmoral, die allen Starken kul-turelle Fesseln anlegen wollen, sodass die wunderbare Kultur der römischen Anti-ke endgültig ihrem Untergang überlas-sen worden sei. Es gelte, das Ideal der ex-pansiven Vornehmheit, wie man Nietz-sches Vorstellungen benennen kann, oh-ne falsche religiöse Rücksichten erneut zu leben, um vielleicht eine Renaissance des menschlichen Machtwillens bewirken zu können.

Die Frage, warum der späte Nietzsche das Ideal der asketischen Vornehmheit entwertete und dem expansiven Willen-simpuls bis in wahnhafte Ideen huldig-te, steht im Horizont seiner psychischen Krankheit. Mit der medizinhistorischen Forschung [45] kann in dem Antwortver-such vorausgesetzt werden, dass Nietzsche an einer schweren, langsam progredienten Paralyse litt, die im späteren Verlauf mit Episoden maniformer Enthemmung und wahnhafter Symptomatik einherging, be-vor die geistige Persönlichkeit in der De-menz verflachte. Um den Verlust der si-gnifikanten Ambivalenz, die bei Nietzsche zwischen der asketischen und expansiven Vornehmheit bestand, aus strukturdyna-mischer Perspektive verstehen zu können, sind deren Grundprinzipien der Autopra-xis und Desaktualisierung zu erläutern.

Autopraktisch sind alle Lebensäuße-rungen, gerade auch Phänomene des geis-tigen Lebens, d. h. sie liegen bereit und ak-tualisieren sich im psychischen Feld, so wie es die Korrelation zwischen den situ-ativen Erfordernissen und der seelischen Dynamik in Gestalt der spezifischen Wer-tigkeiten ermöglicht. Desaktualisierung bezeichnet hingegen die ursprünglich biologische Hemmung instinktgebunde-

ner Antriebe, die mit zunehmender Dif-ferenzierung in der menschlichen wie in der persönlichen Entwicklung wertratio-nal mitbestimmt sind. In psychischer Ge-sundheit erlaubt das dynamische Wider-spiel dieser Strukturmechanismen eine geordnete Denk-, Fühl- und Handlungs-weise, da alternative Triebimpulse um der normativen Wertehierarchie willen untergeordnet werden könnten. Im Fal-le psychotischer Entgleisung nimmt die Fähigkeit zur Desaktualisierung ab, so-dass es zur ungehemmten Aktualisierung kommt und das psychische Feld mit Im-pulsen überschwemmt wird, die kaum zu ordnen sind.

Versucht man vor diesem Hintergrund Nietzsche zu verstehen, so kann man sa-gen: Strukturdynamisch gesehen kam es bei Nietzsche im Zuge der progressiven Paralyse, bevor der Turiner Zusammen-bruch und später der dementive Abbau er-folgten, zu psychotischen Entgleisungen. Diese beruhten, biologisch bedingt, so-wohl auf der Enthemmung der Autopra-xis als auch auf der geminderten Fähigkeit zur Desaktualisierung. Das dynamische Gleichgewicht von Aktualisierung und Desaktualisierung, das zuvor die signifi-kante Ambivalenz seines Denkens ermög-licht hatte, ging somit im Spätwerk zuneh-mend verloren. Es kann sein, dass Nietz-sche in der späten Autobiographie Ecce homo versuchte [40], die Gewichtsverla-gerung zwischen asketischer Steuerung und expansiven Impulsen werkgeschicht-lich zu rationalisieren. Denn nur so konn-te es gelingen, das eigene Werk von dem veränderten inneren Erleben her rückbli-ckend zu einer neuen Kohärenz zu brin-gen, in der die ehemalige Ambivalenz zwi-schen Askese und Expansion nicht mehr vorhanden war, sondern seine Entstehung von Anfang an auf den Topos des „Willens zur Macht“ zulief.

Leitend für die strukturdynamische Erklärung der Ambivalenzreduktion ist die Wertprämisse, die Max Weber sei-nem kulturwissenschaftlichen Denken zugrunde legte und die schon Freud in Das Unbehagen in der Kultur pointiert be-schrieb [14]. Sie findet sich auch in Scho-penhauers pessimistischer Willensphilo-sophie und vor allem bei Kant, der in sei-ner Auslegung des Paradiesmythos von der Spannung schrieb, die der „bürger-

liche Mensch“ im Vergleich mit seinem Vorfahren, dem „Naturmenschen“, in den „kultivierten Zuständen“ der entwickelten Gesellschaften auszuhalten habe [36].

Der kulturelle Vorbehalt der an-spruchsvollen Freiheit, der metaphorisch in der jüdisch-christlichen Geschichte vom Sündenfall verdichtet ist, erwähnt auch Benjamin Libet in der Diskussion seiner empirischen Forschung zum Be-reitschaftspotenzial. Der emeritierte Har-vard-Professor deutete das von ihm be-schriebene Phänomen eines Vetorechts, das die Desaktualisierung eines Impulses meint, im kulturhistorischen Horizont des amerikanischen Puritanismus [9]. Man kann also das strukturdynamische Den-ken, das sich als erfahrungswissenschaft-lich gegründete Spekulation versteht, mit naturwissenschaftlichen Sichtweisen ver-knüpfen. Janzarik hatte diese Möglichkeit, seinen hermeneutischen Ansatz mit em-pirischen Einsichten kritisch zu verglei-chen, schon früher als sinnvoll beurteilt [27]. Während bei Jaspers die naturkau-sale und kulturwissenschaftliche Dimen-sionen der Psychiatrie unverbunden ne-beneinander standen, erlaubt das struk-turdynamische Denken, unter seiner spe-zifischen Wertprämisse das erklärende und verstehende Denken begrifflich an-zunähern.

Eine zweite Perspektive kulturwissen-schaftlichen Denkens, das in der Psychia-trie an Jaspers anküpft und über ihn hin-ausgeht, hat Hans Heimann entfaltet. Der Schweizer Psychiater, der fast zur selben Zeit, als Janzarik in Heidelberg den Lehr-stuhl übernahm, an die Tübinger Klinik berufen wurde, hatte sich schon früh in-tensiv mit den methodologischen und philosophischen Aspekten der Allgemei-nen Psychopathologie beschäftigt [19]. Jas-pers war sehr angetan und schrieb 1950 an Jacob Klaesi [16]:Ungemein erfreut hat mich die Arbeit Ih-res 1. Assistenzarztes Dr. Heimann. Er hat in der Tat meine ‚Psychopathologie’ in dem für mich entscheidenden Sinn aufgefasst als methodologisches Bewusstsein. Daß nur auf diesem Weg wirklich unbefangene Erkenntnis und allseitige Offenheit für Er-kenntnismöglichkeiten gewonnen wird, ist mir heute noch gewisser als in meiner Ju-gend. Bitte sagen Sie Herrn Dr. Heimann meinen herzlichen Dank.

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Rund 25 Jahre später benannte Heimann in der Psychiatrie der Gegenwart das Pro-blem deutlich, das im rein deskriptiven Ansatz von Jaspers und der bei Dilthey kategorisch begründeten Trennung der Psychopathologie von dem empirischen Feld lag [22].

Noch stärker als Janzarik suchte Hei-mann als Psychopathologe im Sinne von Max Weber eine begriffliche Verknüpfung des erklärenden und verstehenden An-satzes. Zum einen legte er seit der Berner Antrittsvorlesung Prophetie und Geistes-krankheit verschiedene Pathographien vor, die von Strindberg und van Gogh an-geregt waren, jedoch die Zusammenhän-ge begrifflich schärfer fassten [20]. Das Phänomen der psychisch alterierten Pro-pheten faszinierte Heimann in ihrem Be-streben, mit „schöpferischen Qualitäten“ die Welt aus einem Punkt zu deuten und zu ordnen. Offen fragte er:…ob das Schöpferische einer solchen schi-zophrenen prophetischen Haltung sich nicht nur in bizarren Wahnsystemen er-schöpft, sondern einmal auch eine über den Einzelnen hinausgehende gemeinschaftsbil-dende Kraft hat.

Denn trotz aller verzerrten Wahrnehmun-gen, die bei den Schweizer Propheten des 18. Jahrhunderts festzustellen waren, kons-tatierte Heimann für sie exemplarisch das menschliche Bedürfnis, von einer Wahr-heit ergriffen zu werden, die von außen auf den Menschen zukommt. Von daher unter-suchte er auch das mit akustischen Halluzi-nationen einhergehende Bekehrungserleb-nis Augustins. Allerdings sei die Trennlinie zwischen noch gesund und schon krank aufgrund wandelbarer Wertmaßstäbe nicht scharf zu ziehen. Deshalb sah Heimann pa-thographische Studien immer als solche an, die trotz aller begrifflichen Genauigkeit und sachlichen Beispielhaftigkeit nur mittel-bar für das klinische Denken von Bedeu-tung sein konnten.

Der naturwissenschaftliche Zug seiner Forschung gewann vor allem in der expe-rimentellen Psychopathologie Kontur, die Heimann in Tübingen entwickelte. Mit quantitativen Messungen suchte er me-thodisch strenge Parameter somatischer Art, die er mit einer deskriptiven Psy-chopathologie im Sinne von Jaspers ver-knüpfte. [8]. Heimann wollte mit dem me-

trischen Vorgehen der spekulativen Will-kür begegnen, die ihm bei hermeneutisch und anthropologisch vorgehenden Psych-iatern nicht selten vorhanden schien.

Das kulturwissenschaftliche Denken, das Heimann in den pathographischen Arbeiten vor allem genutzt hatte, entfalte-te er zuletzt in anthropologischen Überle-gungen. So beschrieb seine Abschiedsvor-lesung den Arzt ebenso wie den Patienten als „Mängelwesen“ im biblischen Sinne [23]. Heimann gab dem Menschen der Moderne in säkularer Deutung des Mythos vom Sündenfall zu bedenken, dass er nicht in vornehmer Selbstgenügsamkeit exis-tieren könne, sondern im höheren Sinne der Ergänzung bedürfe. Seine anthropolo-gische Sicht steht somit konträr zum späten Nietzsche, der den theologischen Bogen, den Augustin und Luther nach Paulus vom Sündenfall zur Erlösungsbedürftigkeit des Menschen schlugen [37], als hinterlistiges Verbrechen am vornehmen Menschentum bezeichnete [42].

Die normative Spannung zwischen solch gegenläufigen Positionen ist nicht kulturwissenschaftlich und auch nicht psychopathologisch aufzulösen. Jedoch kann man, wie es Janzarik und Heimann auf unterschiedliche Weise tun, psychopa-thologisch bedingte Veränderungen des Erlebens und Denkens kenntlich machen, wenn man der kulturellen Wertprämissen des eigenen Denkens eingedenk bleibt.

Solches Vorgehen setzt eine Vertrautheit mit den kulturellen Werthorizonten vor-aus, die im Raum der psychiatrischen For-schung verloren zu gehen droht. Dass der moderne Rationalismus maßgeblich die-se Entwicklung bedingte, hat Max Weber am Ende seiner epochemachenden Schrift Die protestantische Ethik und der“Geist“ des Kapitalismus herausgestellt [46]. Die ratio-nale Standardisierung des Denkens, Füh-lens und Handelns führe zu einer Verfla-chung des kulturellen Lebens, zu dem er auch die Wissenschaften zählte:Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz, dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschen-tums erstiegen zu haben.

Hans Heimann hat um diese Ambivalenz des Rationalismus gewusst. Auch er mo-nierte den Wandel des kulturellen Klimas [21]:

Die Größe und der Reichtum der Innerlich-keit in der Zeit der Klassik und Romantik, die Tiefendimension des damals bewusst-seinsfähigen Erlebens hat heute einem hek-tischen, oberflächlichen, aufs Äußerliche gerichteten Betrieb Platz gemacht.

Nach 1800 hatte die Berliner Reformuni-versität Wilhelm von Humboldts den Bil-dungsgedanken in das Selbstverständ-nis des Studiums aufgenommen, um je-dem Akademiker die Chance zu geben, für sein Wissensgebiet eine kulturell an-spruchsvolle Urteilsfähigkeit zu entwi-ckeln [15]. Einhundert Jahre später for-derte William James, gleichermaßen ein Klassiker der Psychopathologie und der Philosophie, für den akademischen Nach-wuchs in Harvard, dass man dieses euro-päische Erbe im universitären Bildungs-prozess nicht aufgebe [25]. Wiederum ein Jahrhundert darauf hat Nancy Andrea-sen selbstkritisch die Gefahr beschrie-ben, in die eine Psychiatrie gerät, wenn sie die Tradition des kulturwissenschaft-lichen Verstehens im einseitigen Enthu-siasmus für die neuen Möglichkeiten der biologischen Forschung vergisst, anstatt sie ebenfalls zu pflegen.

Will Psychiatrie heute als akademische Disziplin wieder befähigen, Phänomene menschlicher Freiheit und Wertung in der psychopathologischen Arbeit zu berück-sichtigen, so ist es notwendig, dem herme-neutischen Ansatz gegen die dominieren-de Standardisierung des Denkens erneut in der Aus- und Fortbildung Raum zu geben. Nur so können verstehende und erklären-de Einsichten jenseits des rigiden Dualis-mus verknüpft werden. Eine kulturwissen-schaftliche Psychiatrie dieser Art erlaubt, sich positiv mit dem naturwissenschaft-lichen Vorgehen ins Verhältnis zu setzen. Denn – so Dietrich Bonhoeffer [4]:Quantitäten machen einander den Raum streitig, Qualitäten ergänzen einander.

KorrespondenzadressePD Dr. M. BormuthInstitut für Ethik und Geschichte der MedizinGartenstraße 47, 72074 Tü[email protected]

Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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Originalien

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Mädchen haben häufiger psychische Probleme

Heidelberger Wissenschaftler präsentierten

erste Ergebnisse einer europaweiten Schul-

studie, die selbstschädigendes Verhalten bei

Jugendlichen untersucht. Ziel der Studie ist

es, psychische Probleme von Jugendlichen zu

erkennen und mit gezielten Präventionsmaß-

nahmen vorzubeugen. Besonders Mädchen

scheinen unter psychischen Problemen wie

Depressivität und Selbstmordgedanken

zu leiden. Junge Männer trinken dagegen

häufiger Alkohol oder haben bereits Drogen-

erfahrung.

Vier konkrete Präventionsprogramme wur-

den an den teilnehmenden Schulen auf

ihre Wirksamkeit überprüft. Dabei handelt

sich neben einem speziellen Lehrertraining

(„Gatekeeper-Training“) um Schüler-Rollen-

spiele („Awareness-Programm“), um psycho-

logische Beratungsangebote („Professional

Screening“) sowie um die Verbreitung von

Kontaktinformationen („Minimal Interven-

tion“). Die ersten Erfahrungen damit sind

positiv. Welche Maßnahme effektiv zur Prä-

vention von selbstschädigendem Verhalten

der Jugendlichen beiträgt bzw. ihre psy-

chische Gesundheit am besten fördert, soll

in einem weiteren Schritt der Studie geklärt

werden. Langfristig wird die Etablierung von

effektiven Präventionsmaßnahmen für alle

Schulen als fester Bestandteil der präventiven

Gesundheitsförderung in Deutschland und

anderen Ländern angestrebt.

Quelle:Universitätsklinikum Heidelberg,

www.klinikum.uni-heidelberg.de

Fachnachrichten

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