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KULTUR 1 ASYLPOLITIK Stunde der Wahrheit Angela Merkels Handeln in der Flüchtlingskrise verdient größten Respekt. Sie hat sich für das Asylrecht und gegen die "Festung Europa" entschieden. Auch wenn sich die konservative Abwehrfront bereits formiert: Nun muss sich der Kontinent demografisch erweitern und politisch neu definieren. VON Etienne Balibar | 22. Oktober 2015 - 03:33 Uhr  © Aris Messinis/AFP/Getty Images Ein geflüchteter Junge am Strand von Lesbos Nach dem Votum des Europäischen Parlaments haben sich die 28 Mitgliedstaaten der EU am Ende doch noch darauf geeinigt, 120.000 Flüchtlinge umzuverteilen. Selbst diese Lösung war eine schwere Geburt, und ihr haftet der Makel an, dass sie für die einzelnen Länder nur mit minimalen Verpflichtungen verbunden ist. Eine wirkliche Lösung der Notsituation ist also noch nicht in Sicht. Deshalb sind wir an dem Punkt, an dem wir das historische Ausmaß des Ereignisses erkennen müssen, mit dem die "Gemeinschaft" der europäischen Nationen konfrontiert ist. Getrost können wir Angela Merkels Prognose – "Was wir jetzt erleben, wird unser Land verändern" – übertragen: Es wird Europa verändern. In welche Richtung jedoch, das ist noch nicht entschieden. Was sich derzeit vor unseren Augen abspielt, ist eine Erweiterung der Union, ja der europäischen Konstruktion selbst. Im Unterschied zu früheren Erweiterungen wurde diese nicht vorbereitet und ausgehandelt; sie wird uns vielmehr durch die Ereignisse im Modus eines "Ausnahmezustands" aufgedrängt. Stärker noch als jede frühere ist die jetzige Erweiterung eine enorme Herausforderung, die politisch radikal umkämpft bleiben wird. Vor allem ist dies keine territoriale, sondern eine demografische Erweiterung: Europas "Beitrittskandidaten" sind keine neuen Staaten, sondern "staatenlose" Männer, Frauen und Kinder – potenzielle europäische Bürgerinnen und Bürger. Diese ihrer Natur nach menschliche Erweiterung ist zugleich eine Erweiterung der Definition Europas von seinem Selbstverständnis bis hin zu seinen Interessen und Zielen. Damit ist sie zugleich eine politische Erweiterung, die die Rechte und Pflichten der Mitgliedsländer revolutionieren wird. Sie kann selbstverständlich scheitern, allerdings steht dann auch die europäische Konstruktion infrage. Für Europa schlägt die Stunde der Wahrheit. ÉTIENNE BALIBAR Der französische Philosoph Étienne Balibar ist emeritierter Professor an der Universität Paris Ouest Nanterre La Défense und bekleidet derzeit eine Gastprofessur an der Columbia-Universi tät in New York.

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A S Y L P O L I T I K

Stunde der WahrheitAngela Merkels Handeln in der Flüchtlingskrise verdientgrößten Respekt. Sie hat sich für das Asylrecht und gegen die"Festung Europa" entschieden. Auch wenn sich die konservativeAbwehrfront bereits formiert: Nun muss sich der Kontinentdemografisch erweitern und politisch neu definieren.VON Etienne Balibar | 22. Oktober 2015 - 03:33 Uhr

 © Aris Messinis/AFP/Getty Images

Ein geflüchteter Junge am Strand von Lesbos

Nach dem Votum des Europäischen Parlaments haben sich die 28 Mitgliedstaaten der

EU am Ende doch noch darauf geeinigt, 120.000 Flüchtlinge umzuverteilen. Selbst diese

Lösung war eine schwere Geburt, und ihr haftet der Makel an, dass sie für die einzelnen

Länder nur mit minimalen Verpflichtungen verbunden ist. Eine wirkliche Lösung der

Notsituation ist also noch nicht in Sicht. Deshalb sind wir an dem Punkt, an dem wir das

historische Ausmaß des Ereignisses erkennen müssen, mit dem die "Gemeinschaft" der

europäischen Nationen konfrontiert ist. Getrost können wir Angela Merkels Prognose

– "Was wir jetzt erleben, wird unser Land verändern" – übertragen: Es wird Europa

verändern. In welche Richtung jedoch, das ist noch nicht entschieden.

Was sich derzeit vor unseren Augen abspielt, ist eine Erweiterung der Union, ja der

europäischen Konstruktion selbst. Im Unterschied zu früheren Erweiterungen wurde

diese nicht vorbereitet und ausgehandelt; sie wird uns vielmehr durch die Ereignisse im

Modus eines "Ausnahmezustands" aufgedrängt. Stärker noch als jede frühere ist die jetzige

Erweiterung eine enorme Herausforderung, die politisch radikal umkämpft bleiben wird.

Vor allem ist dies keine territoriale, sondern eine demografische Erweiterung: Europas

"Beitrittskandidaten" sind keine neuen Staaten, sondern "staatenlose" Männer, Frauen und

Kinder – potenzielle europäische Bürgerinnen und Bürger.

Diese ihrer Natur nach menschliche Erweiterung ist zugleich eine Erweiterung der

Definition Europas von seinem Selbstverständnis bis hin zu seinen Interessen und Zielen.

Damit ist sie zugleich eine politische Erweiterung, die die Rechte und Pflichten der

Mitgliedsländer revolutionieren wird. Sie kann selbstverständlich scheitern, allerdings

steht dann auch die europäische Konstruktion infrage. Für Europa schlägt die Stunde der

Wahrheit.

É TIE NNE BALIBAR

Der französische Philosoph Étienne Balibar ist emeritierterProfessor an der Universität Paris Ouest Nanterre LaDéfense und bekleidet derzeit eine Gastprofessur an derColumbia-Universität in New York.

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Dass der Zustrom der Flüchtlinge eine außergewöhnliche Situation schafft, ist

unübersehbar. Muss man aber von einem "Ausnahmezustand" sprechen, diesem mit

gefährlichen Assoziationen verbundenen Begriff? Ja, und zwar aus mindestens drei

Gründen. Der erste ist, dass ein wichtiger Teil der europäischen Verfassung de facto

nicht mehr funktioniert: das Schengener Abkommen samt Dublin-Verfahren. Beide

Mechanismen waren in dem Moment außer Kraft gesetzt, als die Bundesregierung erklärte,

sie nehme syrische Flüchtlinge von der Regel aus, dass ihr Asylantrag in dem Land gestellt

werden muss, in dem sie in die Schengen-Zone eingereist sind. Die Entscheidung vom 13.

September, die Grenze zu Österreich zu schließen, die Innenminister de Maizière mit der

Überlastung der Aufnahmekapazitäten und der Aufrechterhaltung der Ordnung begründete,

ändert daran nichts, im Gegenteil. In Erwartung einer völlig unwahrscheinlichen neuen

Gemeinschaftsregelung liegt die Öffnung und Schließung der europäischen Binnengrenzen

bis auf Weiteres wieder in der Willkür der Mitgliedstaaten. Die Freizügigkeit ist auf unbestimmte Zeit aufgehoben.

Der zweite Grund für die Rede vom Ausnahmezustand besteht darin, dass das

"Migrationsproblem" unmittelbar mit dem Krieg im Nahen Osten verbunden ist.

Dabei handelt es sich um einen großflächigen Bürgerkrieg von einer Grausamkeit

und Zerstörungskraft, die in unseren Breitengraden seit dem Zweiten Weltkrieg

ohnegleichen sind. Derzeit lässt sich dieser Krieg nicht beenden, schon gar nicht durch

Militärinterventionen. Die Zahl der Flüchtlinge wird folglich weiter steigen. Der

gegenwärtig auf die "Pufferstaaten" konzentrierte Exodus droht diese zu überlasten und

an den Rand des Zusammenbruchs zu bringen. Die damit verbundene Ansteckungsgefahrbetrifft ganz Europa.

Die aktuelle ZEIT können Sie am Kiosk oder hier erwerben.

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Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 41 vom 08.10.2015.

Drittens kann man von einem Ausnahmezustand sprechen, weil der (zumindest scheinbare)

Konsens über die grundlegenden "Werte" des demokratischen Staats zu zerbrechen droht.

Die Folge ist eine Konfrontation Europas mit sich selbst, die durchaus gewaltsame Formen

annehmen kann.

An dieser Stelle sind einige Anmerkungen zum Vorgehen der Bundeskanzlerin angebracht.

Seit dem Ausbruch der Krise war vor allem sie es, die die Flüchtlingskrise als eine

 politische begriffen hat. Sie war es, die den Ausnahmezustand erklärte, indem sie

"einseitige" Maßnahmen verkündete, um den Vorrang des Asylrechts vor der "Festung

Europa" zu behaupten. Auf dem Spiel steht also nicht weniger als eine Erneuerung

der demokratischen Werte unserer Staaten; sie schließt jede "Toleranz" gegenüber

fremdenfeindlichen Strömungen definitiv aus. Wer (wie ich) die Art und Weise absolut

missbilligt, in der Merkel Europa ihre Austeritätspolitik aufzwang, wer die Demütigung

und Enteignung Griechenlands scharf kritisiert, der muss heute anerkennen, wie wertvoll

ihr Handeln in der Flüchtlingskrise war.

Natürlich agierte Angela Merkel nicht im leeren Raum. Sie hat die Welle der Solidarität

eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung aufgenommen und ist dabei das Risiko

eingegangen, einen anderen Teil vor den Kopf zu stoßen. Manche vermuten, sie habe dabei

die Interessen der deutschen Wirtschaft im Auge gehabt. Man kann sich sogar vorstellen,

dass "Merkiavelli" eine Gelegenheit sah, das Bild der Unmenschlichkeit geradezurücken,

welches ihr die "Regelung" der Griechenlandkrise eingetragen hat. Und dennoch: Es ist

die objektive Folge von Merkels Entscheidung, dass sie den latenten Konflikt um die

europäische Identität verschärft hat. Sie veränderte die Rahmenbedingungen, in der künftig

die ungelöste Frage nach der europäischen Verfassung diskutiert werden wird. Mag sein,

dass der Kanzlerin die Größe der Verpflichtung nicht gleich bewusst war, die mit ihrer

Entscheidung verbunden sein würde. Doch nun hat sie einen Punkt überschritten, an dem es

kein Zurück mehr gibt.

Vier Konsequenzen drängen sich auf. Die erste betrifft das europäische Grenzregime,

aber auch das Verhältnis der Grenzen zur nationalen Souveränität. Das Schengener

Abkommen beruhte auf der wackligen Annahme, man könne die Überwachung der Ein-

und Ausreisen im EU-Raum "vergemeinschaften", die Staaten aber unverändert in die

Verantwortung für die Sicherheit der Menschen nehmen, die sich auf "ihrem" Staatsgebiet

aufhalten. Zum anderen hat die EU stets versucht, an zwei Vorstellungen gleichzeitig

festzuhalten: dass ihr letztes Ziel in der Eingliederung aller EU-Nationen besteht und dass

die Mitgliedschaft mit Beitrittsbedingungen verbunden ist, denen sie Geltung verschaffen

muss. Aus genau diesem Grund fristen heute bestimmte Länder Exjugoslawiens, die

das "Zugangstor" zum europäischen Kernland bilden, ein Dasein als anachronistische

Enklaven; ein Zustand, der unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit genau so unhaltbar

ist wie unter dem humanitären. Entweder müssen die Balkanländer als vollberechtigte

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Mitgliedstaaten in die EU aufgenommen werden, oder Europa muss sämtliche Prozeduren

gemeinschaftlicher Sicherheit aufgeben.

Inzwischen dürfte deutlich geworden sein, dass Europa keine Grenzen im klassischenSinne "hat": weder wirkliche föderale Grenzen noch Grenzen der Nationen. Europa

ist selbst eine "Grenze" neuer Art, ein Grenzland beziehungsweise ein Komplex von

Institutionen und Sicherheitsmaßnahmen, die sich auf sein gesamtes Territorium erstrecken,

um Bevölkerungsbewegungen in mehr oder weniger gewaltsamer Weise zu "regeln". Für

seine Bürgerinnen und Bürger ist dieser Zustand nur schwer zu verstehen.

Etwas anderes kommt hinzu. Im Streit um Quoten zur Verteilung von Flüchtlingen

klammern sich Deutschland und die EU-Kommission mit aller Kraft an die Unterscheidung

zwischen "Flüchtlingen" und "Wirtschaftsmigranten". Ich möchte gar nicht sagen, dass

diese Unterscheidung keinen Sinn hat – schließlich bezeichnet die erste Kategorie, imUnterschied zur zweiten, einen völkerrechtlichen Status. Einen "Status des Migranten" gibt

es in der heutigen Welt nicht. Doch ist die soziologische Willkür dieser Unterscheidung

nicht zu übersehen, weil die Globalisierung Armuts- in Kriegszonen verwandelt (und

umgekehrt), kurz: in Todeszonen, deren Einwohner in Scharen fliehen, auch wenn sie

dafür alles aufs Spiel setzen müssen. Man fragt sich besonders, mit welchen Mitteln, wenn

nicht neuen Gewaltmaßnahmen großen Stils, die EU eine Politik der "Rückführung" nicht

erwünschter Neuankömmlinge durchsetzen will. Was seit Jahrzehnten auf individueller

Ebene nicht funktioniert, kann unmöglich in massenhaftem Maßstab gelingen.

Gibt es neben dem Status des Flüchtlings oder des "unerwünschten" Einwanderers– jener "Nicht-Person", wie der Soziologe Alessandro Dal Lago sie nennt – noch

andere Perspektiven für Menschen, die von Krieg oder Elend nach Europa getrieben

werden? Es gibt sie. Was ihnen Europa anbieten sollte, ist der Zugang zur europäischen

Staatsbürgerschaft. Die Vorstellung von einer europäischen Staatsangehörigkeit muss

endlich den Kinderschuhen entwachsen, in denen sie immer noch steckt – und das nur

deshalb, weil sich die Staaten weigern, den Weg zur Supranationalität zu gehen.

Die demografische Erweiterung der EU, deren Zeuge wir sind, muss reglementiert,

standardisiert und ausgestaltet werden. Jeder weiß, dass die Flüchtlinge in diesen Tagen

nicht nach Europa kommen, um wieder zurückzugehen: jedenfalls nicht alle und nicht sehrbald. Will man die Migranten nicht über Generationen in ein inneres Exil abschieben, dann

muss man die Möglichkeit der Integration massiv ausbauen, das heißt die Möglichkeit von

Arbeit, von sozialen und gleichen kulturellen Rechten.

Der Schlüssel dazu liegt in der Staatsbürgerschaft. Da das Problem in dieser

Größenordnung für uns ein Novum ist, müssen wir neue Perspektiven des Zugangs zur

Staatsbürgerschaft erfinden. Sie sollten spezifisch europäisch sein und werden doch

die Selbstdefinition Europas verändern. Idealerweise sehe ich zwei Möglichkeiten: Die

eine bestünde darin, parallel zum Zugang zur europäischen Staatsbürgerschaft einen

direkten Weg zu eröffnen, nämlich den einer "föderalen Nationalität". Wenn dieser

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Gedanke an eine eigene EU-Nationalität zu waghalsig erscheint, bliebe eine zweite,

zweifellos bessere Möglichkeit: die nämlich, das ius soli oder das Geburtsortprinzip auf 

die gesamte EU auszuweiten. Auf diese Weise würde Europa die Zukunft der Kinder von

Flüchtlingen garantieren, eine Aussicht, die bekanntlich einer der mächtigsten Faktoren für

die Integration auch der Eltern ist.

Mit anderen Worten: Deutschlands Entscheidung hat den europäischen Ausnahmezustand

offiziell gemacht. Dies wird auch wirtschaftliche Folgen haben, und zu Recht ist von

den Kosten der Aufnahme die Rede, von den erforderlichen Beihilfen der Gemeinschaft,

ohne die einige europäische Länder die Belastungen nicht verkraften könnten. Viel

wichtiger jedoch ist die Feststellung, dass die Öffnung Europas für die Flüchtlinge eine

Veränderung der herrschenden Politik mit sich bringen wird, die quer zu seiner jetzigen

Wirtschaftsordnung steht.

Gewiss, in absoluten Zahlen machen die Flüchtlinge nur einen minimalen Anteil an der

europäischen Bevölkerung aus. Sie werden jedoch für lange Zeit bestimmten Gemeinden,

bestimmten Regionen und bestimmten Ländern zur Last fallen, die selbst in enormen

wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken. Das aber heißt: Wir müssen den neoliberalen

Trend umkehren, den EU-Haushalt deutlich erhöhen. Wir müssen einen Integrationsplan in

europäischem Maßstab auflegen, wir müssen die Solidarität zwischen den Staaten fördern

und gemeinsam eine neue Gesellschaft bauen.

Dabei sollten wir allerdings dringend darauf achten, dass die Integration der Flüchtlinge in

den Arbeitsmarkt nicht zum Nachteil der "alten Europäer" ausfällt – und umgekehrt. DiesePläne werden Veränderungen in der Geldpolitik und Fortschritte in der Föderalisierung

der EU erforderlich machen. Diese Veränderungen können demokratisch entschieden, sie

könnten aber auch technokratisch von oben aufgezwungen werden. Im ersten Fall werden

sie scheitern, im anderen haben sie immerhin eine Chance auf Erfolg. Mit einem Wort: Wir

brauchen ein anderes Europa.

Nichts von alldem wird spontan und einträchtig vonstattengehen. Der migrationsbedingte

Ausnahmezustand stößt uns mit der Nase auf all die Widersprüche, die Brüssel bislang

durch die Ideologie des "gemeinsamen Projekts" und der "gemeinsamen Normen" mehr

schlecht als recht verdeckt hat. Wir müssen mit gewaltsamen Widerständen rechnen, miteiner politisch organisierten "Ablehnungsfront". Häufig ist von dem Graben die Rede, der

sich zwischen dem "alten Europa" (im Westen) und dem "neuen" (im Osten) aufgetan hat.

Tatsache ist aber, dass Flüchtlinge in den Niederlanden oder Dänemark genauso abgelehnt

werden wie in Ungarn oder der Slowakei, ganz zu schweigen von England oder selbst

Frankreich, das sich der Idee verbindlicher Quoten erst relativ spät angeschlossen hat.

Die viel bezeichnendere Spaltung, die wirklich zwei "Europas" voneinander trennt, geht

durch alle Länder hindurch. Es ist zweifellos ein "Wunder", wie Josef Joffe in der ZEIT 

schrieb , dass ein so großer Teil der deutschen Bevölkerung den syrischen Flüchtlingen

helfen will. Nicht weniger bezeichnend ist es aber, dass sich die CSU-Führung offen

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von der Regierungspolitik distanziert, bis hin zum Schulterschluss mit dem ungarischen

Ministerpräsidenten Viktor Orbán, und dass die FAZ  verkündete, die osteuropäischen

Länder hätten recht. Seit der Schließung der Grenze zu Österreich freuen sich dieselben

Stimmen unverhohlen über eine "beispiellose Kehrtwende" der Kanzlerin und scheinen an

ihrem Stuhl zu sägen.

Was sich in Wirklichkeit gerade in Europa herausbildet, ist eine transnationale Front

der Ablehnung von Flüchtlingen, in der die offen rassistischen Gruppen nur die Spitze

des Eisbergs darstellen. Zweifellos werden wir nun erstmals etwas erleben, das bislang

an Rivalitäten und Nationalismen scheiterte: die Entstehung einer gesamteuropäischen

ausländerfeindlichen "Partei", die ein weites Spektrum von links bis rechts abdecken und

auch die alten "politischen Familien" spalten könnte. Wie es scheint, wird das Europa der

Solidarität nicht um einen politischen Kampf herumkommen, der mit der kompromisslosen

Verurteilung der Gewalt gegen Migranten beginnt und mit den Forderungen nach einer

Veränderung der Aufnahmebedingungen weitergeht. Es ist dieser politische Kampf, der

die Europäische Union am tiefgreifendsten verändern dürfte. Von Frankreich aus gesehen,

wo der Front National das gesamte politische Leben infiziert hat, stellt er sich sogar als

ausgesprochen schwierig dar. Dieser politische Kampf ist aber unvermeidlich, weil die

Sache der Flüchtlinge, wenn sie nicht in der öffentlichen Meinung und in den Institutionen

Fortschritte macht, einen brutalen Rückschlag erleiden wird.

Ein solcher Kampf ist auf eine hohe Legitimität angewiesen. Und die einzige Legitimität,

die die Widerstände zu überwinden vermag, ist die demokratische, die von den Bürgern

und ihren Repräsentanten auf allen Ebenen zum Ausdruck kommen muss, von den

kommunalen über die nationalen Parlamente bis hin zu den europäischen Instanzen. Allein

der politische Wille der europäischen Völker kann eine Solidarität erzeugen, die angesichts

des Flüchtlingselends moralisch geboten ist und ohne die Deutschland vielleicht wirklich

feststellen muss: "Wir schaffen es doch nicht!"

Sagen wir es so: Zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung ist Deutschland wieder

auf die Solidarität der anderen europäischen Länder angewiesen, sowohl um ihrer selbst

willen als auch im Interesse aller. Die Voraussetzungen für eine solche Solidarität müssen

 jedoch erst neu geschaffen werden. Denn durch die Art und Weise, wie Deutschland seine

Hegemonie in Europa ausgeübt hat, ist es leider in keiner günstigen Ausgangslage, um sich

zur Nachahmung zu empfehlen und dafür zu sorgen, dass auch andere Völker ihren Beitrag

leisten.

Tatsächlich legen die anderen EU-Regierungen keine Eile an den Tag, um ihren Teil der

Last zu tragen. Dies wiederum entmutigt die deutschen und österreichischen Bürger, die

den Flüchtlingen spontan Hilfe geleistet haben. Anstatt uns auf neue Flüchtlingsdramen

an den griechischen und italienischen Küsten einzustellen und die Integration der

Flüchtlinge voranzutreiben, erleben wir eine Kakofonie in Sachen "Grenzpolizei" und

"Migrationspolitik". Es ist höchste Zeit, dass sich in allen Ländern die Menschen, die sich

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der Bedeutung, der Gefahren und der Möglichkeiten des historischen Augenblicks bewusst

sind, zusammenschließen und ihre Anstrengungen verdoppeln, um Einheit, Solidarität und

Gastfreundschaft zum Durchbruch zu verhelfen.

 Aus dem Französischen von Michael Adrian

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