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Barchudarow Sprache und Übersetzung

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L Barchudarou

..Sprache Übersetzung

PROBLEME DER ALLGEMEINEN UND SPEZIELLEN UBERSETZUNGSTHEORIE

Verlag Progreß Moskau 1979

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Л . Б а р х у д а р о в ЯЗЫК И ПЕРЕВОД Вопросы общей и частной теории перепода Autorisierte Übersetzung ins Deutsche von M. Zwilling

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Издательство „Международные отношения", Москва, 1979 Deutsche Übersetzung Verlag Progreß Moskau 1979 , Г)

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VORWORT

Das vorliegende Buch ist die deutsche Ubersetzung mei-ner Monographie „Язык и перевод", die 1975 im Verlag „Международные отношения" in Moskau erschienen ist. Der Arbeit liegen ein mehrjähriger Vorlesungszyklus des Verfassers an der Moskauer staatlichen pädagogischen Hoch-schule „Maurice Thorez" sowie Beobachtungen und Erkennt-nisse zugrunde, die er in früher veröffentlichten Aufsätzen dargelegt hatte. Im Mittelpunkt der Monographie stehen Prägen, die mit der allgemeinen Ubersetzungstheorie ver-bunden sind; zu ihrer Konkretisierung sowie zur Illustra-tion der vom Autor vertretenen allgemein-theoretischen Auffassungen dienen Beispiele übersetzungsmäßiger Ent-sprechungen im Beziehungsfeld von drei Sprachen: Bussisch, Englisch und Deutsch. Daher auch der Untertitel der Arbeit: „l'Vagen der allgemeinen und der speziellen Übersetzungs-Lheorie"; die allgemeine Übersetzungstheorie ist der Gegen-stand der vorliegenden Arbeit, die spezielle Ubersetzungs-l.lieorie ihr Material.

Da der Ausbau der allgemeinen Übersetzungstheorie ohne Verarbeitung der einschlägigen linguistischen Problematik nicht möglich ist, mußte bei der Niederschrift dieser Arbeit der Betrachtung von Fragen große Aufmerksamkeit gewidmet worden, die eigentlich nicht zum Bereich der Ubersetzungs-llioorie, sondern zur allgemeinen Sprachwissenschaft gehö-ren. Dies gilt vor allem für die Problematik der Semantik und dor Semasiologie, zumal im Rahmen der vom Autor akzeptierten übersetzungstheoretischen Anlage eine adäquate semantische Theorie notwendige Voraussetzung ist. Dies führ-te dazu, daß in einigen Fällen eine „Akzentverschiebung" vor-

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genommen werden mußte, durch die der Schwerpunkt sich u. U. von der eigentlichen übersetzungstheoretischen Proble-matik auf Fragen der allgemeinen und „kontrastiven" Sprach-wissenschaft verlagerte, was offenbar nicht nur unumgäng-l ich, sondern in gewissem Sinne auch begrüßenswert ist.

Als Material für die Untersuchung dienten vor allem veröffentlichte Ubersetzungen von Werken der schönen Literatur und zum Teil auch gesellschaftspolitischer Texte. Die Namen der Übersetzer werden nur beim jeweils ersten Zitat angegeben. Die Ubersetzungen ohne Quellenangabe stammen vom Verfasser oder vom Ubersetzer dieser deutsch-sprachigen Ausgabe des Buches.

Selbstverständlich kann dieses für den deutschen Leser bestimmte Buch nicht mit der für den russischen Leser bestimmten Originalausgabe identisch sein. Die russische Ausgabe operierte ausschließlich mit russisch-englischen bzw. englisch-russischen Übersetzungsbeispielen; in die deutsche Ausgabe sind dagegen zusätzlich zahlreiche Bei-spiele deutsch-russischer und z. T. deutsch-englischer Ent-sprechungen aufgenommen worden. Eine nicht zu über-schätzende Hilfe leistete dem Verfasser dabei Dr. M. J. Zwil -ling, der nicht nur die Ubersetzung dieser Monographie ins Deutsche besorgte, sondern darüber hinaus auch als Redak-teur und in gewissem Sinne sogar als Mitverfasser wirkte. Ich möchte ihm an dieser Stelle meinen aufrichtigen und tiefempfundenen Dank aussprechen.

Moskau, im Juni 1978 L. Barchudarow

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VORBEMERKUNG DES ÜBERSETZERS

Das russische Wort „перевод", das sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft allgemein gebräuchlich ist, wird in diesem Buch durchgehend mit „Ubersetzung" wiederge-geben. Eine mißverständliche Auffassung des deutschen Wortes, das sich in seinem Bedeutungsumfang nicht exakt mit dem russischen Worte deckt (da im Russischen die Gegenüberstellung Übersetzen — Dolmetschen nicht sprach-lich expliziert ist), ist schon durch die ausführliche Ana-lyse und anschließende Definition dieses Begriffes am Anfang des Buches ausgeschlossen. Auf die Verwendung der in Arbeiten von Fachkollegen in der D D R üblichen Bezeich-nungen „Sprachmittlung" bzw. „Translation" wurde deshalb verzichtet, weil es sich bei ihnen, im Gegensatz zu dem im Russischen gebräuchlichen Wort um ausgesprochen termi-nologische Bildungen handelt, die in ein spezifisches System von theoretischen Anschauungen eingebettet sind. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesen würde aber den Rahmen dieser Abhandlung sprengen.

M. Zwilling

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ERSTES KAPITEL DAS WESEN DER ÜBERSETZUNG

1. Der Gegenstand der Übersetzmigstheorie

§ 1. Das Wort „Übersetzung" hat im Deutschen, wie in den meisten anderen Sprachen, zwei verschiedene Bedeu-tungen:

1 . „Ubersetzung als E r g e b n i s e i n e s P r o -z e s s e s " — dabei bezeichnet dieses Wort eigentlich einen übersetzten Text (etwa in Aussagen wie „Dies ist eine sehr gute Ubersetzung des Bomans von Dickens", „Neulich er-schien eine neue deutsche Ubersetzung von Twardowskis ,Wassili Tjorkin '" , „Er hat diesen Autor nur in der Überset-zung gelesen" usw.).

2. „Ubersetzung als P r o z e ß " — als Tätigkeitsbezeich-nung nach dem Verb „übersetzen", d. h. als Vorgang, der zur Entstehung der Ubersetzung in der ersten, oben behan-delten Bedeutung führt. Nachstehend soll das Wort „Uberset-zung" vor allem in dieser zweiten Bedeutung verwendet werden.

Allerdings ist gleich am Anfang eine Erläuterung not-wendig, in welchem Sinne hier Ubersetzung als Prozeß bzw. Vorgang verstanden werden soll. Es sei zunächst festge-stellt, daß damit nicht die psychische oder geistige Tätig-keit des Ubersetzers gemeint sein kann, also nicht etwa die psycho-physiologischen Abläufe im Gehirn des Ubersetzen-den. Allerdings ist auch die Untersuchung dieser Prozesse, psycho]inguistisch gesehen, von großem Interesse, besonders im Bereich des Dolmetschens. Doch abgesehen davon, daß wir gegenwärtig eine noch sehr vage Vorstellung vom eigent-lichen Charakter dieses Prozesses haben (er kann seinem Wesen nach nur in einem komplexen psycho-physiologisch-

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linguistischen Verfahren untersucht werden), interessiert uns im gegebenen Fall der Ubersetzungsprozeß vorrangig unter rein linguistischen Gesichtspunkten, ohne Berück-sichtigung der physiologischen und psychologischen Fak-toren, die seine Realisierung mitprägen.

Der Begriff „Prozeß" wird von uns somit auf die Über-setzung in rein linguistischem Sinne angewandt, d. h. im Sinne einer sprachlichen oder vielmehr zwischensprachlichen Umwandlung oder Transformation eines in einer gegebenen Sprache vorliegenden Textes in einen Text einer anderen Sprache. Auch das Wort „Umwandlung" ist hier nicht wört-lich zu nehmen, denn das Original, der Ausgangstext, wird ja eigentlich gar nicht „umgewandelt", an ihm ändert sich nichts, es bleibt in unabgewandelter Form bestehen. Ande-rerseits entsteht aber auf der Basis ebendieses Textes ein neuer Text in einer anderen Sprache, den wir eben als „Ubersetzung" (in der ersten Bedeutung des Wortes) bezeich-nen. Der Ausdruck „Umwandlung" (bzw. „Transformation") wird hier nur in dem Sinne verwendet, wie das im allgemei-nen bei der synchronen Sprachbeschreibung üblich ist: Es handelt sich um ein Verhältnis zwischen zwei Sprach-oder Rede-Einheiten, bei dem die eine den Ausgangspunkt bildet und die andere auf ihrer Grundlage gebildet wird. Oder, auf unseren Fall angewendet: Dem Ubersetzer liegt der Ausgangstext a in der Sprache A vor, auf dessen Grund-lage er durch Operationen (die weiter als „Übersetzungs-transformationen" näher untersucht werden sollen) den Text b in der Sprache B erzeugt, der bestimmte gesetz-mäßige Relationen zum Text a aufweist. Diese sprachlichen (zwischensprachlichen) Operationen machen in ihrer Gesamt-heit das aus, was wir als „Ubersetzungsprozeß" im linguisti-schen Sinne bezeichnen, s Folglich kann die Übersetzung als eine bestimmte Art der Transformation betrachtet werden, nämlich als zwischensprachliche Transfor-mation.

Zusammenfassend läßt sich sagen, der Gegenstand der linguistischen Übersetzungstlieoiie ist die wissenschaftliche Beschreibung des Prozesses der übersetzung als zwischen-sprachliche Transformation, d. Ii. als Umwandlung eines Textes in einer gegebenen Sprache in einen ilnn äquivalenten Text in einer anderen Sprache (vom Inhalt des Terminus „äquivalent" soll weiter noch die Hede sein). Oder anders ausgedrückt: die Aufgabe der Ubersetzungstheorie ist die

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Modellierung des Übersetzungsprozesses im oben darge-legten Sinne.

§ 2. Die linguistische Ubersetzungstheorie stellt sich folglich die Aufgabe, ein Modell des Ubersetzungsprozesses zu entwickeln, ein wissenschaftliches Schema zu schaffen, das mit befriedigender Genauigkeit die wesentlichen Seiten dieses Prozesses abbildet. Da es sich dabei um einen Fall des theoretischen Modellierens handelt, gilt für die Über-setzungstheorie sinngemäß alles, was im allgemeinen für theoretische Modelle gilt. Dabei sind folgende zwei Erwä-gungen besonders hervorzuheben:

1. Wie jedes andere theoretische Modell bildet die Uber-setzungstheorie nicht alle, sondern nur die wesentlichsten Merkmale der darzustellenden Erscheinung ab.

Die Ubersetzungstheorie behandelt nicht beliebige Rela-tionen zwischen Texten in der Sprache des Originals und Texten in der Sprache der Übersetzung, sondern nur gesetz-mäßige, d. h. typische, regelmäßig wiederkehrende Rela-tionen. Bei der vergleichenden Analyse, der Ubersetzung und des Originals treten aber neben diesen Relationen meist zahlreiche einmalige, irreguläre Relationen (Entsprechun-gen) zutage, die nur für den konkreten Einzelfall gelten. Insofern sich derartige Einzelrelationen nicht verallge-meinern lassen, bleiben sie selbstverständlich auch von der linguistischen Ubersetzungstheorie unberücksichtigt, obwohl es zweifellos häufig gerade diese „unregelmäßigen" Entsprechungen sind, die in der Ubersetzungspraxis die größten Schwierigkeiten bereiten. Andererseits ist jedoch festzustellen, daß mit fortschreitender Entwicklung der Ubersetzungstheorie nicht wenige Erscheinungen, die man zunächst für einmalig, irregulär hielt, sich nach und nach zu einem Gesamtbild zusammenfügen lassen, eine entsprechende Erklärung finden und zu einem Untersuchungsobjekt der Ubersetzungstheorie werden. Wie in jeder anderen Wissen-schaft äußert sich auch in der Ubersetzungstheorie der Fort-schritt u. a. darin, daß aus dem scheinbaren Chaos von „Ausnahmen" und „Unregelmäßigkeiten" allmählich eine allgemeine Gesetzmäßigkeit hervortritt, der alle diese Ein-zelfälle unterliegen und von der sie in ihrem Wesen bestimmt werden.

2. Wie in jeder anderen wissenschaftlichen Disziplin, ist auch in der Übersetzungstheorie die Möglichkeit gegeben,

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und auch praktisch realisiert worden, nicht ein einziges Modell, sondern eine Vielzahl von Modellen zu schaffen, die den zu modellierenden Prozeß auf verschiedene Art und Weise abbilden und jeweils andere Seiten dieses Pro-zesses erfassen. Die Kompliziertheit des zu beschreibenden Objekts, seine Vielseitigkeit machen es unmöglich, ein ein-ziges „Universalmodell" zu konstruieren, das imstande wäre, gleichzeitig alle Seiten des Untersuchungsobjekts mit allen ihren Verflechtungen und Wechselbeziehungen zu erfassen. Daher bestehen in der modernen Ubersetzungstheorie meh-rere sogenannte „Ubersetzungsmodelle"* nebeneinander, wobei jedes Modell eine jeweils andere Seite, einen jeweils anderen Aspekt des real bestehenden Objekts „Ubersetzungs-prozeß" (als besondere Art zwischensprachlicher Transfor-mation) widerspiegelt. Es wäre indessen naiv, die Frage stellen zu wollen: „Welches von den vorhandenen Uberset-zungsmodellen ist das richtige, das wahre?" — Sie stimmen alle, jedes auf seine Art, denn sie bilden ein und dieselbe Erscheinung nach, nämlich den Ubersetzungsprozeß, wenn auch von verschiedenen Seiten her; dabei kann selbstver-ständlich keines der Modelle Anspruch auf absolute Allge-meingültigkeit oder Universalität erheben. Dasselbe gilt allerdings auch für jenes Ubersetzungsmodell, das der vor-liegenden Untersuchung zugrunde gelegt wurde und das sich als „semantisch-semiotisches Modell" bezeichnen ließe (die Begründung dieser Bezeichnung siehe in Kapitel 2). Es ist aber auch zu berücksichtigen, daß die bestehenden (und auch die noch in Zukunft zu erwartenden) Übersetzungs-modelle einander keineswegs ausschließen, sondern vielmehr miteinander in vielerlei Hinsicht übereinstimmen, sich teilweise überschneiden und nur in ihrer Gesamtheit dem Ubersetzungsprozeß in seiner ganzen Vielseitigkeit und in seinem ganzen Erscheinungsreichtum gerecht werden.

2. Das Wesen der Übersetzung

§ 3. Die Übersetzung wurde von uns weiter oben als Trans-formierung eines Textes in einer Sprache in einen Text einer anderen Sprache definiert. Man hat es bei der Übersetzung

*Die wichtigsten dieser Modelle werden im Buch von A. D. Schwei-zer beschrieben. А. Д. Швейцер: „Перевод и" лингвистика", М., Воениздат, 1973, гл. 1, 2.

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stets mit zwei Texten („Redeerzeugnissen") zu tun, von denen der eine die Ausgangsbasis bildet und unabhängig vom zweiten erzeugt wird, während der zweite auf der Grund-lage des ersten durch bestimmte Operationen — zwischen-sprachliche Transformationen — produziert wird. Den ersten Text nennt man „Originaltext" (oder kurz Original"), den zweiten — „Übersetzungstext" (oder einfach „Ubersetzung", gemäß der am Anfang dieses Kapitels erläuterten zweiten Bedeutung dieses Wortes). Die Sprache, in der der Origi-naltext geschrieben bzw. gesprochen wurde, nennen wir die Ausgangssprache (AS, englisch: source language, SL, rus-sisch:1 исходный язык, ИЯ). Die Sprache, in die übersetzt wird (die Sprache des Übersetzungstextes), nennen wir die Zielsprache (ZS, englisch: target language, TL, russisch: переводящий язык, ПЯ).

Nun müssen wir aber noch das eigentlich Wichtigste definieren — nämlich, was uns dazu berechtigt, den Text der Ubersetzung als dem Originaltext äquivalent zu be-trachten. Was berechtigt dazu, den deutschen Satz Mein Bruder wohnt in Moskau als Ubersetzung des russischen Satzes Мой брат живёт в Москве zu bezeichnen und den Satz Ich studiere an der Universität als Übersetzung eben-desselben Satzes abzulehnen, ihn als nichtäquivalent zu verwerfen? Es leuchtet ein, daß nicht jede Substituierung eines anderssprachlichen Textes für einen gegebenen Text als Ubersetzung gelten kann. Derselbe Gedanke läßt sich auch anders formulieren: Der Ubersetzungsprozeß, die zwischensprachliche Transformation, vollzieht sich nicht willkürlich, sondern nach gewissen feststehenden Regeln, innerhalb streng umrissener Grenzen, bei deren Überschrei-tung man nicht mehr von einer Übersetzung sprechen kann. Um als Übersetzung bezeichnet werden zu können, muß der zielsprachliche Text das enthalten, was der ausgangs-sprachliche Text enthielt. Wenn also der zielsprachliche Text an die Stelle des ausgangssprachlichen Textes tritt, muß eine bestimmte Invariante erhalten bleiben, das Erhal-tungsmaß dieser Invariante ist der gesuchte Maßstab für die Äquivalenz von Übersetzung und Original.- Es kommt folglich zunächst darauf an, festzustellen, was eigentlich während des Übersetzungsprozesses, also bei der Transfor-mierung des AS-Textes in den ZS-Text unverändert bleibt.

S" Bei der Beantwortung dieser Frage ist von folgender Voraussetzung auszugehen. Der Ubersetzungsprozeß wird

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unmittelbar von dem geprägt, was in der Semiotik — der Wissenschaft von den Zeichensystemen — das Doppelwesen des Zeichens genannt wird. Jedes Zeichen besitzt nämlich zwei Seiten oder auch Ebenen — die Ausdrucksebene (oder die Ebene der Form) und die Inhaltsebene (oder die Ebene der Bedeutung)?; Die Sprache ist bekanntlich ein spezifisches Zeichensystem, daher besitzen die sprachlichen Einheiten (von deren Arten in Kap. 4 die Rede sein wird) ebenfalls ein doppeltes Wesen, sowohl eine Form als auch eine Bedeu-tung. Entscheidend für die Ubersetzung ist dabei die Tat-sache, daß verschiedene Sprachen Einheiten enthalten, die sich in der Ausdrucksebene, d. h. von der Form her, vonein-ander unterscheiden, sich aber inhaltlich, d. h. in ihrer Bedeutung, miteinander decken. So besteht z. B. in den vorstehend angeführten Sätzen ein Unterschied in der Form zwischen russisch брат, und deutsch Bruder*, während die beiden Wörter in ihrem Inhalt, in ihrer Bedeutung gleich sind. (Der Einfachheit halber sehen wir vorläufig von der übersetzungstheoretisch schwer ins Gewicht fallenden Tat-sache ab, daß diese inhaltliche Kongruenz von Einheiten verschiedener Sprachen meist nur eine partielle und fast nie eine totale ist. Das deutsche Wort Bruder hat nicht nur die Bedeutung von russisch брат, sondern darüber hinaus auch noch die von собрат, тип usw., während wiede-rum dem russischen брат in der Fügung двоюродный брат das deutsche Wort Vetter gegenübersteht. Wir werden weiter sehen, daß diese unvollständige Kongruenz der Bedeutungs-systeme verschiedener Sprachen den Ubersetzungsprozeß wesentlich erschwert, seinen grundsätzlichen Charakter aber unberührt läßt.) Wenn wir nun das deutsche Wort Bruder durch das russische брат ersetzen, so können wir das auf Grund des vorstehend Gesagten als Übersetzungs-prozeß bezeichnen, da diese beiden in ihrer Form verschie-denen Wörter inhaltlich, d. h. in ihrer Bedeutung, kon-gruieren, bzw. äquivalent sind. Der kleinste real bestehende Text (das minimale Bedeprodukt) ist aber stets ein Satz, und daher vollzieht sich der Übersetzungsprozeß mindestens

*Die phonetische Ähnlichkeit von „Bruder" und „брат" hat etymologische Gründe und beruht auf der gemeinsamen Abstammung dieser Wörter von derselben indoeuropäischen Wurzel. Für die Über-setzung ist dies völlig belanglos: die phonetisch einander unähnlichen Wörter „Vater" und „отец" kongruieren semantisch genauso miteinan-der wie „Bruder" und „брат".

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an Sätzen* (häufiger jedoch an Satzgruppen). Innerhalb der Sätze werden aber auch die Inkongruenzen in den Bedeu-tungen der Einheiten verschiedener Sprachen behoben bzw. überwunden, von denen oben die Rede war (Näheres darüber siehe Kapitel 2). Auf unser Beispiel bezogen heißt das, daß wir bei der Ubersetzung nicht einfach das deutsche Wort „Bruder" durch das russische брат und das deutsche „wohnt" durch das russische живёт ersetzen, sondern eben den deut-schen Satz „Mein Bruder wohnt in Moskau" als Ganzes durch den russischen Мой брат живёт в Москве, der sich vom Ausgangssatz in der Form unterscheidet, aber ihm inhaltlich äquivalent, d. h. bedeutungsgleich ist.

Davon ausgehend können wir nun nachstehende präzi-sierte Definition der Ubersetzung formulieren:

Die Übersetzung ist der Prozeß der Umwandlung eines Redeprodukts in einer Sprache in ein Redeprodukt in einer anderen Sprache unter Wahrung des unveränderten In-halts, d. h. der Bedeutung.

Gleich am Anfang ist hier allerdings ein zweifacher Vorbehalt notwendig.

1. Der Begriff „Inhalt" bzw. „Bedeutung" ist hier im weitesten Sinne zu verstehen, er umfaßt alle Arten von Beziehungen, deren Träger die Zeicheneinheit (in unserem Falle die Spracheinheit) ist. Die Beschreibung dieser Bezie-hungen macht den Inhalt des nächsten Kapitels aus; hier sei dazu lediglich festgestellt, daß kein triftiger Grund be-steht, den Begriff „Bedeutung" ausschließlich darauf zu reduzieren, was gemeinhin als „logisch-gegenständliche" bzw. „denotative" (oder in der Terminologie dieses Buches „referentielle") Bedeutung bezeichnet wird. Das richtige Verständnis des Wesens des Übersetzungsprozesses setzt somit vor allem eine detaillierte Entwicklung der Theorie der sprachlichen Bedeutungen oder der Semasiologie voraus.

2. Von der „unveränderten Erhaltung des Inhalts" kann nur im relativen und keineswegs im absoluten Sinne ge-sprochen werden. Bei zwischensprachlichen Transformatio-nen (wie bei jeder anderen Umwandlung) sind Verluste oft unvermeidlich, die Wiedergabe der im Originaltext enthal-

* Ausnahmsweise kommt es manchmal auch zur Ubersetzung isolierter Wörter, z . B . technischer Fachwörter in Stücklisten, tech-nischen Zeichnungen und anderen technischen Dokumenten, aber auch diese Fälle können als Nennsätze besonderer Art betrachtet werden.

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tenen Bedeutungen ist notgedrungen unvollständig. Dem-zufolge kann der Ubersetzungstext fast nie ein vol lkom-menes und absolutes Äquivalent des Originals sein. Es ist die Aufgabe des Ubersetzers, die maximal erreichbare Äquivalenz zu gewährleisten, die Verluste auf ein Mindest-maß herunterzudrücken, aber die Forderung nach „hun-dertprozentiger" Ubereinstimmung der Bedeutungen der Ubersetzung mit denen des Originals ist unrealistisch. Dar-aus ergibt sich auch als Aufgabe für die Ubersetzungstheo-rie die Ermittlung der Prioritäten der Wiedergabe der Bedeutungen. Da es bekanntlich verschiedene Typen von Bedeutungen gibt, gilt es festzustellen, welche von ihnen, beim Ubersetzungsprozeß den Vorrang genießen und welche man „opfern" darf, wenn man die semantischen Verluste bei der Ubersetzung minimieren will . Dieses Problem wird im weiteren ausführlich behandelt werden.

Mit diesen beiden wesentlichen Vorbehalten können wir nun die obige Definition der Übersetzung als Arbeitsdefini-tion akzeptieren und dem hier zu entwickelnden „semanlisch-semiotischen Modell" der Ubersetzung zugrunde logen.

§ 4. Um die Betrachtung des Wesens der Übersetzung abzurunden, müssen wir noch auf ein weiteres Problem eingehen, das sich aus der vorstehenden Äquivalenzdefini-tion ergibt, die sich auf die Erhaltung der unveränderten Bedeutung stützt. Die Möglichkeit, den Inhalt, d. h. die Bedeutung, bei der Ubersetzung zumindest relativ unverän-dert zu erhalten, beruht, wie bereits gesagt, auf dem ange-nommenen Vorhandensein inhaltsgleicher Einheiten in verschiedenen Sprachen. Hier ist jedoch die Frage berech-tigt, inwieweit diese Annahme den Gegebenheiten ent-spricht. Wenn die Bedeutung, wie wir meinen (und nach-stehend begründen werden), ein integrierender Bestandteil des Zeichens und somit auch der Spracheinheiton ist, so scheint daraus zu folgen, daß jedes Zoichonsystom und somit auch jede einzelne Sprache über eigene, spezifische Bedeu-tungen verfügt. Daraus aber würde sich wiederum ergeben, daß bei der Umwandlung des ausgangsspracliliclien Textes in den zielsprach]icben zusammen mit den sprachlichen Formen zwangsläufig auch dio durch sie ausgedrückten Bedeutungen ausgetauscht werden. Mit welchem Recht sprechen wir dann also von der Unveränderlichkeit der Bedeutung bei der Übersetzung?

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Öiese Frage ist durchaus ernst zu nehmen und verdient eine eingehende Erörterung. Die Diskrepanz der semanti-schen Systeme verschiedener Sprachen ist eine unbestreit-bare Tatsache, die den Ubersetzer beim Vollzug der Uber-setzung vor zahlreiche Schwierigkeiten stellt. In Kapitel 3 sollen diese Diskrepanzen näher behandelt werden. Ver-schiedene Autoren glauben, dies berechtige sie zur Behaup-tung, daß die Äquivalenz des Originals und der Ubersetzung nicht auf der Identität der in ihnen enthaltenen Bedeutun-gen beruht. Stellvertretend für zahlreiche andere sei hier nur der Standpunkt des englischen Ubersetzungstheoretikers J. C. Catford angeführt: „Die Ansicht, daß der AS-Text und der ZS-Text ,ein und denselben Inhalt' haben, oder daß bei der Ubersetzung eine ,Bedeutungsübertragung' erfolgt, ist unbegründet. Die Bedeutung ist für uns die Eigenschaft einer bestimmten Sprache. Der AS-Text besitzt die der Aus-gangssprache eigene Bedeutung, während der ZS-Text die der Zielsprache eigene Bedeutung besitzt. So besitzt z. B. ein russischer Text eine russische Bedeutung (und ebenfalls eine russische Phonologie oder Graphologie, Grammatik und Lexik), der ihm äquivalente englische Text aber eine englische Bedeutung."*

Wir bestehen aber trotzdem auf der Stichhaltigkeit der von uns vorstehend formulierten Definition der Ubersetzung und wollen dies durch folgende Argumente bekräftigen:

1. Das Bedeutungssystem einer jeden Sprache speichert die menschlichen Erfahrungen, d. h. die Ergebnisse dex Erkenntnis der objektiv bestehenden Wirklichkeit durch den Menschen.

In jeder Sprache ist das System der sprachlichen Bedeu-tungen ein Abbild der den Menschen umgebenden Außen-welt in ihrer Gesamtheit sowie seiner eigenen Innenwelt, es fixiert die gesamte praktische Erfahrung der jeweiligen Sprachgemeinschaft. Gleiche Erfahrungen verschiedener Sprachgemeinschaften schlagen sich in gleichen Bedeutun-gen nieder, die sich in den Sprachen dieser Gemeinschaften vorfinden. Gleich sind jedoch, wohlgemerkt, nur die Bedeu-tungen an sich und nicht etwa die sie ausdrückenden Spracheinheiten. Da aber die reale Wirklichkeit, in der verschiedene Sprachgemeinschaften leben, viel mehr gemein-

*/. C. Catford: A Linguistic Theory of Translation, Ldn., 1965, p. 35.

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same Züge als Unterschiede aufweist, bestehen auch zwischen den Bedeutungen verschiedener Sprachen viel mehr Über-einstimmungen als Verschiedenheiten. Die Tatsache, daß diese Bedeutungen (atomare Bedeutungseinheiten oder „Seme") in jeder Sprache anders kombiniert werden, auf spezifische Art gebündelt sind, liegt auf einer ganz anderen Ebene. Das gehört nicht zum Inhalt, sondern zu den Aus-drucksformen der Sprache. Weiter sollen zahlreiche Bei-spiele dafür angeführt werden, wie verschieden die Bedeu-tungen in verschiedenen Sprachen (Englisch, Russisch, Deutsch) gegliedert, klassifiziert und zusammengefaßt wer-den. Diese Erscheinung macht den Ubersetzungsprozeß zu einem recht komplizierten Vorgang, das Prinzip der Uber-setzung aber bleibt davon unberührt, die Wiedergabe der Bedeutungen mit den Mitteln einer anderen Sprache wird dadurch nicht unmöglich gemacht.

2. Aus dem Gesagten geht hervor, daß die größten Über-setzungsschwierigkeiten dort auftreten, wo sich für die im Ausgangstext dargestellte Situation kein Gegenstück in den Erfahrungen der zielsprachlichen Gemeinschaft findet, wenn im Ausgangstext sogenannte „Realien" beschrieben werden, Gegenstände und Erscheinungen, die für das gegebene Volk oder Land spezifisch sind. Daß die Lösung des Ubersetzungs-problems in derartigen Fällen mit Schwierigkeiten verbun-den ist, bedeutet keinesfalls, daß es grundsätzlich unlösbar ist. Jede menschliche Sprache ist nämlich so angelegt — und das unterscheidet sie offenbar von allen oder fast allen anderen Zeichensystemen —, daß sich mit ihrer Hilfe nicht nur bereits bekannte, sondern auch völl ig neuartige, bisher nie aufgetretene Situationen beschreiben lassen, und zwar eine unbeschränkte Anzahl solcher neuen, bisher unbekannten Situationen. Eine Sprache, der diese Eigen-schaft abgeht, die unfähig ist, neue, bisher unbekannte Situationen zu beschreiben, würde keinerlei kommunikati-ven Wert besitzen, denn in ihr ließe sich nur ausdrücken, was schon bekannt, was schon früher einmal gesagt worden ist. Ebensowenig könnte eine solche Sprache als Erkennt-nisinstrument dienen, und der Menschheit wäre dadurch jeder Fortschritt verwehrt. Die Fähigkeit, neue, unbekannte Situationen zu beschreiben, ist eine unabdingbare Eigen-schaft einer jeden Sprache, und diese Eigenschaft ist es, die den uns interessierenden Vorgang — die Wiedergabe spe-zifischer Realien eines Volkes oder Landes, die keine Ana-

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loga im Leben anderer Völker und Länder haben, mit den Mitteln einer anderen Sprache — erst möglich macht.* Wie diese Realien bei der Übersetzung wiedergegeben wer-den, soll im weiteren näher behandelt werden, hier sei nur die grundsätzliche Möglichkeit dieser Wiedergabe fest-gestellt.

3. Wir haben die Ubersetzung vorhin als Prozeß der Umwandlung eines Redeprodukts in einer Sprache in ein Redeprodukt in einer anderen Sprache definiert. Der Über-setzer hat es folglich nicht mit Sprachen als Systemen zu tun, sondern mit Redeprodukten oder Texten. Die Ver-schiedenheiten im semantischen Bereich, die Bedeutungs-unterschiede, von denen oben die Rede war, treten vor allem in den Systemen verschiedener Sprachen zutage, in der Rede aber werden diese Unterschiede meist neutrali-siert, überbrückt oder ausgelöscht.

Wenn man sich auf die Unterschiede der Bedeutungssy-steme beruft, um damit die angebliche Unmöglichkeit der Wiedergabe der ausgangssprachlichen Bedeutungen mit zielsprachlichen Mitteln zu beweisen, so führt man als Beispiele semantischer Differenzen meistens entweder Ein-zelwörter oder bestenfalls isolierte, aus dem Kontext heraus-gelöste Sätze an. Bei der Übersetzung kommt es aber nicht auf die Äquivalenz der Bedeutungen einzelner Wörter und auch nicht isolierter Sätze an, sondern auf die Äquivalenz des zu übersetzenden Textes (Redeprodukts) als Ganzheit gegenüber dem gesamten Übersetzungstext. Die konkrete Verteilung der elementaren Bedeutungseinheiten („Seme" bzw. „semantische Komponenten") auf die jeweiligen Wör -ter, Wortfügungen und Sätze des Textes ist ein Ergebnis der Wirkung zahlreicher und vielfältiger Faktoren und zeigt in der Regel im AS-Text und im ZS-Text keine Kon-gruenz. Doch dies ist wiederum ein Faktum der Ausdrucks-ebene und nicht der Bedeutungsebene und kann somit nicht als eine Verletzung des Prinzips der semantischen Äquiva-lenz von Original und Ubersetzung angesehen werden.

Wir wollen das Gesagte durch zwei Beispiele untermau-ern. Beim bekannten britischen Schriftsteller S. Maugham

*Vgl. O. Kade. Kommunikationswissenschaftliche Probleme der Translation. Beihefte zur Zeitschrift „Fremdsprachen", II . Leipzig, 19ß8, S. 10; В. II. Комиссаров: Слово о переводе, М. , „Международ-ные отношения", 1973, с. 89.

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treffen wir in der Kurzgeschichte „A Casual Affair" fo l -genden Satz:

He 'd always been so spruce and smart; he was shabby and unwashed and wild-eyed. Die deutsche Übersetzung dieser Stelle könnte etwa so

klingen: Früher ist er immer so elegant, so modisch gekleidet gewesen, jetzt aber schleppte er sich schmutzig und abgerissen, mit wirrem Blick durch die Straßen von Singapur. Auf den ersten Blick scheint der deutsche Text als

dem englischen nicht vollständig äquivalent zu sein. Für die Worte früher, jetzt, schleppte sich ... durch die Straßen von Singapur finden sich keine direkten Entsprechungen im Original. In Wirklichkeit aber ist hier die semantische Äquivalenz gewährleistet, obwohl die wörtliche Äquivalenz fehlt. Die deutschen Wörter früher und jetzt geben hier Bedeutungen wieder, die im Englischen allein durch die g r a m m a t i s c h e n F o r m e n des Hilfsverbs b e („had been" und „was") zum Ausdruck gebracht werden. Die Aufeinanderfolge der Ereignisse wird im Deutschen aber zusätzlich durch die entsprechenden Adverbien cha-rakterisiert. Die Worte schleppte sich durch die Straßen von Singapur enthalten eine Information, die im englischen Text ebenfalls vorhanden ist, wenn auch nicht in dem be-treffenden Satz, sondern i n e i n e m d e r v o r a n g e -g a n g e n e n S ä t z e (He didn't keep the job i n Sumatra long and h e w a s b a c k a g a i n i n S i n g a p o r e ) . Die semantische Äquivalenz ist hier folglich nicht zwischen einzelnen Wörtern, ja nicht einmal zwischen einzelnen Sätzen gewährleistet, sondern zwischen d e m g a n z e n A S-T e x t u n d d e m g a n z e n Z S - T e x t .

Ein anderes'Beispiel dazu. In der Erzählung der ameri-kanischen Autorin Harper Lee „To Kill a Mookingbird" gibt es folgenden Satz: Mr. Raymond sat up against the tree-trunk, deutsch: Mr. Raymond setzte sich hin und lehnte sich gegen den Stamm der Eiche. Man könnte meinen, daß auch in diesem Falle der deutsche Satz auf Grund der in ihm enthaltenen Bedeutungen mit dem englischen nicht vollständig übereinstimmt, denn wir finden hier das Wort lehnte sich, das im Original fehlt. Das englische Adverb up in sat up weist darauf hin, daß das Subjekt der Handlung

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v o r d e m H i n s e t z e n gelegen haben mußte (vgl. sat down); im Deutschen ist diese Information weggelassen. Das englische tree-trunk bezeichnet schließlich einen Baum-stamm schlechthin, ohne Angabe der Art, also auch nicht speziell eine Eiche. Die bedeutungsmäßige Äquivalenz ist hier aber trotzdem gegeben, kann aber nur dann festgestellt werden, wenn man einmal die lexikalisch-grammatischen Umwandlungen (übersetzungsmäßige Transformation) be-rücksichtigt, die beim Ubersetzungsprozeß auftreten, und zum anderen über den Rahmen dieses Einzelsatzes in den weiteren Kontext hinausgeht. Das deutsche setzte sich hin und, lehnte sich entspricht dem englischen sat up against insoweit, als die Präposition against unter anderem auch die Bedeutung der Berührung mit etwas oder des Lehnens gegen etwas hat. Die spezifische Information, die in sat up enthalten ist, ergibt sich im deutschen Text aus dem d a r -a u f f o l g e n d e n Satz: Er hatte im Gras gelegen. Der Baum, gegen den sich Raymond lehnte, wurde wiederum im v o r h e r g e h e n d e n Kontext spezifiziert, e s geht dort ausdrücklich um eine Eiche (We cliose the fattest live o a lc and we sat under it).

Die sinngemäße Äquivalenz des AS- und des ZS-Textes wird in diesem Falle nicht auf der Ebene der einzelnen Wörter und nicht einmal auf der der Sätze hergestellt, son-dern auf der Ebene des gesamten Textes (vgl. auch Kap. 4).

Wir sehen also, daß die semantischen Diskrepanzen zwi-schen den Sprachen kein unüberwindliches Hindernis für die Übersetzung sein können, da es die Übersetzung nicht mit den Sprachen als abstrakten Systemen zu tun hat, sondern mit konkreten Redeprodukten (Texten), in denen eine vielfältige Verflechtung und Wechselwirkung verschieden-artiger bedeutungstragender sprachlicher Mittel — Wörter, grammatische Formen, syntaktische und „suprasegmentale" Mittel usw. — stattfindet, die in ihrer Gesamtheit eine gegebene semantische Information vermitteln. Die seman-tische Äquivalenz des Ziel- und des Ausgangstextes, die nach unserer Auffassung die notwendige Voraussetzung für das Zustandekommen der Übersetzung ist, besteht nicht zwischen einzelnen Elementen dieser Texte, sondern zwischen den Texten als Ganzheiten, wobei innerhalb des jeweiligen Textes zahlreiche Umgruppierungen, Umstellungen und Umverteilungen einzelner Bedeutungselemente (eben „Über-setzungstransformationen") nicht nur erlaubt, sondern häufig

•A*

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geradezu unerläßlich sind. Ein unumstößlicher Grundsatz der Ubersetzung ist folglich das Prinzip der Unterordnung der Elemente unter das Ganze, der niederen Einheiten unter die höheren, wovon wir uns im weiteren noch öfter werden überzeugen können.

4. Das Gesagte soll keineswegs bedeuten, daß im Uber-setzungsprozeß eine absolut vollständige („hundertprozenti-ge") Wiedergabe aller im Originaltext vorgefundenen Bedeu-tungen stattfindet. Wir haben bereits festgestellt, daß bei der Übersetzung semantische Verluste unvermeidlich sind und daß e s nur u m die m ö g l i c h s t v o l l s t ä n d i g e Wiedergabe aller Bedeutungen gehen kann, die im Aus-gangstext ausgedrückt sind. Zweifel an der Möglichkeit der Wahrung der im ausgangssprachlichen Text enthaltenen Bedeutungen bei der Übersetzung sind nur insofern berech-tigt, als es um die absolute Identität der Bedeutungen geht. Diese Zweifel schwinden indessen, wenn man bedenkt, daß es uns nicht auf eine absolute, sondern auf eine höchst-mögliche Vollständigkeit der Wiedergabe der Bedeutungen ankommt, und zwar unter Berücksichtigung ihrer „Bangord-nung".

§ 5. Das bisher Dargelegte genügt eigentlich schon zur Klärung der Frage nach der Wiedergabe der durch den AS-Text ausgedrückten Bedeutungen bei der Übersetzung in die Zielsprache. Um jedoch mit diesem Problem, dem „Problem der Übersetzbarkeit", wie man es nennt, endgültig ins reine zu kommen, muß noch ein Zweifel ausgeräumt werden, der die Möglichkeit der vollständigen und adäquaten Wiedergabe der in einer Sprache ausgedrückten Bedeutun-gen mit den Mitteln einer anderen Sprache betrifft. Die Ursache dieses Zweifels ist die Ansicht oder eher das Vorur-teil, es gäbe einerseits „entwickelte", „zivilisierte" Sprachen und andererseits „unentwickelte", „primitive", „rückstän-dige". Von diesem in Laienkreisen noch heute vertretenen Standpunkt aus treffen die vorstehend dargelegten Argu-mente zugunsten der Ubersetzbarkeit nur für „entwickelte" Sprachen zu. Für „primitive" oder „unentwickelte" Sprachen sei das ungültig, da sie auf Grund ihrer „Rückständigkeit" unfähig seien, alle diejenigen Bedeutungen auszudrücken, die sich in den „entwickelten", „zivilisierten" Sprachen ausdrücken lassen.

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Dieser Standpunkt muß entschieden zurückgewiesen werden, da er in jeder Hinsicht völ l ig unhaltbar ist. Seine politische Unhaltbarkeit liegt auf der Hand, wenn man ihm die These des Marxismus-Leninismus von der Gleich-berechtigung der Sprachen entgegenhält. „Wer die Gleich-berechtigung der Nationen und Sprachen nicht anerkennt und nicht verteidigt ... der ist kein Marxist, der ist nicht einmal ein Demokrat", sagt W. I. Lenin.* Die politische Gleichheit der Sprachen setzt aber ihre linguistische Gleich-heit voraus, da sonst das Prinzip der Gleichberechtigung der Sprachen zu einer bloßen Formalität ausarten würde.

Aber auch rein linguistisch gesehen ist dieser Stand-punkt unhaltbar. Bei der Untersuchung zahlreicher „exotischer" Eingeborenensprachen Afrikas, Australiens, Nord-und Südamerikas konnten die Sprachwissenschaftler feststellen, daß diese Sprachen alle eine ausreichend „entwik-kelte" grammatische Struktur und einen reichen Wort -schatz haben. Bei keiner bisher bekannt gewordenen Sprache — ob lebend, oder tot — konnten Merkmale nach-gewiesen werden, die man mit einiger Sicherheit als Kenn-zeichen von „Primitivität" oder „Rückständigkeit" werten könnte.

Uber legen wir einmal: Worin eigentlich kann sich der Unterschied zwischen „entwickelten" und „unentwickelten" Sprachen äußern? Die Eigenart einer jeden Sprache wird bestimmt durch ihr Lautsystem (1), durch ihr grammati-sches System (2) und durch ihren Wortbestand (3). Was das Lautsystem anbetrifft, wird es kaum jemandem ein-fallen zu behaupten, daß es einen Unterschied zwischen einem „primitiven" und einem „zivilisierten" Lautsystem gibt. In vielen „exotischen" Sprachen kommen freilich für uns recht fremdartige Laute vor (wie z. B. die sogenann-ten „Clicks" oder „Schnalzlaute" in den Hottentotten- und Buschmännersprachen), doch gibt es keinerlei Anhalts-punkte dafür, daß diese Laute ihrem Charakter nach in irgendeiner Hinsicht „primitiv" oder „unzivilisiert" seien. Somit verbleiben nur die Grammatik und der Wortbestand als etwaige Kriterien. Aber auch die Analyse dieser Seiten der sprachlichen Struktur liefert nicht das geringste Beweis-material zugunsten einer Einteilung der Sprachen in „pri-mitive" und „entwickelte". In der Tat besitzen viele Spra-

*W• I• Lenin: Werke, Bd. 20, S. 13.

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chen einen eigenartigen, spezifischen grammatischen Rau, der nicht mit den gewohnten Mustern der lateinischen, deut-schen oder russischen Grammatik übereinstimmt. Doch ist das etwa Grund genug, um ihre grammatische Struktur als „primitiv" abzustempeln?

Das Fehlen der grammatischen Kategorien „Zeit" oder „Zahl" in verschiedenen „exotischen" Sprachen berechtigt nicht zu dem Schluß, daß die entsprechenden Begriffe an sich dem Denken der Menschen dieser Sprachgemeinschaften fremd sind. Die Analyse der Struktur dieser Sprachen be-weist, daß sie beliebige Begriffe auszudrücken vermögen und diese Möglichkeit auch praktisch realisieren, indem sie selbst die abstraktesten Begriffe wie die Zeit der Hand-lung oder die Zahl von Gegenständen nicht grammatisch, sondern eben lexisch zum Ausdruck bringen. Es wäre viel zu simpel, dies als „Primitivität" dieser Sprachen auszulegen. S p r a c h e n v o n b e l i e b i g e m g r a m r a a t i -s c h e m A u f b a u s i n d i m s t a n d e , e i n e n b e l i e b i g e n G e d a n k e n u n d e i n e n b e -l i e b i g e n B e g r i f f a u s z u d r ü c k e n . Das ist eine unumstößliche Tatsache, die bisher von niemandem wi-derlegt werden konnte.

Aufschlußreich ist folgende „Gesetzmäßigkeit", die in den Deutungen des Sprachbaus verschiedener Sprachen durch Anhänger der Theorie von der Ungleichwertigkeit der Sprachen zutage tritt. Wenn in einer „exotischen" Sprache eine bestimmte grammatische Kategorie fehlt, wird dies als Merkmal von „diffusem", „ungegliedertem" primitivem Denken ausgelegt; stellt man dagegen eine Kategorie fest, die den uns vertrauten (vor allem europäischen) Sprachen fremd ist, so führt man dies auf mangelnde „Abstraktions-fähigkeit" des primitiven Denkens und auf sein Unvermögen zurück, sich über den Ausdruck konkreter Bedeutungen und Verhältnisse zu erheben. Ein und dieselbe Erscheinung ist in den „eigenen" Sprachen ein Merkmal hohen Entwick-lungsstandes („Abstraktheit" und differenzierte „Gliederung" sind gute Eigenschaften!), in den „primitiven" Sprachen aber ein Merkmal von Rückständigkeit („Ungegliedertheit" und „übermäßige Konkretisierung" erhalten das Prädikat „schlecht"). Hier wird konsequent die absolute Überlegen-heit der eigenen Sprache immer als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, was mit wissenschaftlicher Argumentation natürlich nichts gemeinsam hat.

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Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt man bei der Analyse des Wortbestandes der sogenannten „exotischen" Sprachen. Der Wortbestand der Sprache speichert und verankert be-kanntlich auf unmittelbare und direkte Weise die mensch-lichen Erfahrungen, d. h. die reale Wirklichkeit, die im Bewußtsein der Trägergemeinschaft der jeweiligen Sprache abgebildet ist. Es ist nicht zu bestreiten, daß in den Spra-chen der Völker, die sozial und kulturell auf einem niedrigen Entwicklungsstand stehen, die wissenschaftliche, technische und politische Terminologie, Bezeichnungen für abstrakt-philosophische Begriffe und andere ähnliche Wortschatz-gruppen entweder ganz fehlen oder nur sehr spärlich ver-treten sind, und zwar aus dem ohne weiteres einleuchtenden Grunde, daß es die dazugehörigen Gegenstände oder Gedan-keninhalte in der Erfahrung des Sprachträgerkollektivs nicht gibt. Ist das aber ein Grund, diese Sprachen als „pri-mitiv", „unentwickelt" zu bezeichnen? Diese Frage muß entschieden negativ beantwortet werden, denn im Prinzip sind alle diese Sprachen f ä li i g, beliebige Begriffe, Ge-genstände und Situationen zu bezeichnen und zu beschrei-ben, mit denen ihre Träger in der Gegenwart oder Zukunft konfrontiert werden. Sobald ein Trägerkollektiv solch einer „primitiven" Sprache irgendwelche neue Gegenstände, tech-nische Vorrichtungen, politische Institutionen, wissen-schaftliche Begriffe u. dgl. kennenlernt, tauchen in seiner Sprache die erforderlichen Bezeichnungen für diese Gegen-stände und Begriffe, d. h. die bisher fehlenden Wörter und Ausdrücke auf. Wir erinnern in diesem Zusammenhang an das bereits früher (s. §§ 2, 4 dieses Kapitels) Gesagte: Jede menschliche Sprache ist so eingerichtet, daß man mit ihrer Hilfe nicht nur bereits bekannte Gegenstände, Begriffe und Situationen bezeichnen kann, sondern auch völ l ig neuartige, die den Sprachträgern bisher unbekannt waren. Anders ausgedrückt: Das Lexikon einer Sprache ist ein offenes Sy-stem, das zu ständiger Ergänzung und Bereicherung fähig ist. Dies gilt für jede Sprache ohne Ausnahme und nicht etwa nur für die sogenannten „entwickelten" oder „zivilisier-ten" Sprachen.

Man darf andererseits aber auch nicht außer acht lassen, daß lexikalische Teilbereiche wie die wissenschaftliche, technische und abstrakt-philosophische Terminologie im aktiven und selbst im passiven Wortschatz vieler Menschen fehlen, die eine sogenannte ,,entwickelte" Sprache sprechen.

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Dasselbe gilt für den Vergleich verschiedener Geschichts-perioden derselben Sprache. Nicht nur in den Sprachen der Eingeborenen Neuguineas oder Zentralafrikas, sondern auch in der deutschen Sprache zu Goethes Zeiten sucht man verge-bens nach Wörtern wie Telefon, Rundfunk, Fernsehen, Raum-flug, Rationalisator, Betriebsgewerkschaftsleitung, die heute jedem Schüler geläufig sind. Wird man deshalb die deutsche Sprache, wie sie in den Werken Goethes fortlebt, für weniger „entwickelt" und „zivilisiert" halten müssen als das heu-tige Deutsch?

Rein quantitativ betrachtet, ist der Wortschatz der sogenannten „primitiven" Sprachen keineswegs ärmer als der der „entwickelten" Sprachen. Das Fehlen der wissen-schaftlich-technischen und abstrakten Terminologie wird hier aufgewogen durch den Reichtum und die Vielfalt der Wörter, die sich auf lebenswichtige Umweltbereiche der Trägerkollektive dieser „primitiven" Sprachen beziehen. Die Sprachen vieler zivilisationsferner Völker sind gekenn-zeichnet durch eine Fülle von Wörtern und Ausdrücken für Bereiche des menschlichen Tuns wie Jagd, Fischfang oder Ackerbau, sie sind überaus reich an Bezeichnungen für verschiedene Tiere, Pflanzen, Arbeitsgeräte, von denen viele den Trägern „zivilisierter" Sprachen völl ig unbekannt sind. Die Behauptung, es gäbe Sprachen und Völker mit nur wenigen hundert Wörtern, ist trotz ihrer Häufigkeit wis-senschaftlich unhaltbar. Obwohl es äußerst schwierig ist, den genauen Umfang des Wortschatzes selbst eines einzelnen Menschen, geschweige denn eines ganzen Volkes exakt zu ermitteln, dürfen wir mit Sicherheit behaupten, daß es zwischen den „entwickelten" und den „primitiven" Sprachen keinerlei prinzipiellen Unterschied in der Größe ihres Wort -schatzes gibt.

Ein weiteres Argument, zu dem die Verfechter der Theo-rie der Ungleichheit der Sprachen zuweilen Zuflucht nehmen, ist die Behauptung, daß im Lexikon der „unentwickelten" Sprachen angeblich Wörter mit eng begrenzter, konkreter Bedeutung überwiegen, während Wörter mit abstrakter, verallgemeinernder Bedeutung nicht vorhanden sind. Man beobachtet in den sogenannten „exotischen" Sprachen mitun-ter ein Phänomen, das auf den ersten Blick diese Annahme zu bestätigen scheint. In der Busclimännersprache zum Beispiel fehlt nach Angabe ihrer Kenner ein Wort mit der allgemeinen Bedeutung „tragen", dafür gibt es aber eine

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ganze Menge von Wörtern, die verschiedene Arten des Tra-gens bezeichnen — auf dem Kopf , auf dem Rücken, auf den Schultern, an einem Schulterstock, in den Armen usw. Aber dieser Umstand berechtigt keinesfalls zur Schlußfolgerung, daß es sich hier um eine besonders „primitive" Sprache handelt; die gleiche Erscheinung, nämlich die stärkere Differenzierung der Wortbedeutungen in einer Sprache gegen-über einer anderen, kann man auch bei einem Vergleich soge-nannter „zivilisierter" Sprachen feststellen. In Kapitel 3 werden derartige Beispiele aus dem Bereich der russischen, englischen und deutschen Sprache angeführt werden. Aus ihnen ist zu ersehen, daß die Wortschatzstruktur verschie-dener Sprachen eben v e r s c h i e d e n ist, ohne daß sich daraus irgendwelche Anhaltspunkte für die „Überlegenheit" einer Sprache über eine andere ableiten ließen. Aus der Tatsache, daß es im Deutschen (oder Englischen) kein Wort mit der allgemeinen Bedeutung von russisch палец gibt, sondern nur spezialisierte Bezeichnungen (Finger — Zeh, finger — toe), ergibt sich keinesfalls eine Rückständigkeit dieser beiden Sprachen gegenüber dem Russischen. Beim Vergleich „primitiver" Sprachen mit „zivilisierten" beobach-tet man übrigens nicht weniger häufig auch ein umgekehrtes Verhältnis: die Nichtdifferenziertheit von Wortbedeutungen. So bezeichnet in der schon erwähnten Buschmännersprache ein und dasselbe Wort nicht nur Fleisch, sondern auch jedes beliebige eßbare Wi ld . Die Anhänger der Theorie der „entwickelten" und „unentwickelten" Sprachen lassen sich allerdings dadurch nicht beirren, sie sprechen dann eben vom „diffusen" Charakter des primitiven Denkens, getreu dem bewährten Grundsatz: „was für die eigene Sprache gut ist, ist für die fremde schlecht."*

Schließlich sieht man manchmal einen Unterschied zwi-schen „fortgeschrittenen" und „primitiven" Sprachen darin, daß den letzteren jede stilistische Differenzierung fehlt, während die ersteren durch eine Vielzahl hochentwickelter Funktionalstile gekennzeichnet sind. Auch dieses Argument ist haltlos: In jeder Sprache gibt es eine bestimmte stili-stische Differenzierung, allerdings gibt es nicht in allen Sprachen (und in allen Entwicklungsphasen ein und derselben

*E. Nida: Principles of Translation as Exemplified by Bible Translating. „On Translation", ed. by B. Brower. Cambridge. Mass., 1959, p. 26.

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Sprache) die g l e i c h e n Funktionalstile. In Sprachen sozial und kulturell zurückgebliebener Völker fehlen selbst-verständlich solche Stile wie der wissenschaftliche, der publizistische und einige andere, dafür aber sind der reli-giös-mythologische, der Folklore-Stil, der Stil der alltägli-chen Umgangssprache u. a. deutlich genug ausgeprägt. Sobald in einer Sprache eine wissenschaftliche, politische oder andere Literatur aufkommt, entsteht unverzüglich auch der entsprechende Funktionalstil und vor allem die erforderliche Fachterminologie, was wir bereits im Zusam-menhang mit der Behandlung des Wortschatzes der Sprache erwähnt haben.

Sicher bewiesen ist auf jeden Fall, daß die Einteilung der Sprachen in „höhere" und „niedere", „fortschrittliche" und „rückständige", „zivilisierte" und „primitive" ihrem Wesen nach rassistisch ist, unabhängig von den jeweiligen subjektiven Standpunkten und Absichten ihrer Vertreter. In nicht allzu ferner Vergangenheit erlebte diese Theorie in der Sowjetunion eine spezifische Verkörperung in der berüchtig-ten „neuen Sprachlehre" von Prof. N. Marr und seinen Nach-folgern. Ausgehend von ihrer vulgärsoziologischen Deutung der Sprache als unmittelbares Produkt des jeweiligen sozia-len Entwicklungsstandes der Gesellschaft, versuchten die „Marristen", in der Entwicklung der menschlichen Sprachen bestimmte „Stadien" nachzuweisen. Die auf den unteren Stufen der sozialen Entwicklung stehenden Völker seien durch niedrigere Entwicklungsstufen des Denkens und der Sprache gekennzeichnet, während für sozial höher entwik-kelte Völker ein „höheres" Stadium des Denkens und der Sprache typisch sei, sagten sie. Sie räumten zwar ein, daß diese Ungleichheit der geistigen und sprachlichen Entwick-lung der Völker nicht rassisch, sondern sozial bedingt sei, doch praktisch lief dieses „Argument" darauf hinaus, daß an die Stelle des biologischen der soziologisieronde Rassis-mus trat.

Hätten die „Marristen" recht, so würde daraus folgen, daß der Ubergang eines Volkes von einer niedrigeren auf eine höhere Entwicklungsstufe eine Veränderung des Sprachbaus nach sich ziehen müßte. Die Geschichte der Völker und Sprachen der Sowjetunion widerlegt glatt diese vulgärsozio-logische Konzeption. Bekanntlich lebten viele Völker des russischen Zarenreiches vor der Revolution unter urgesell-schaftlichen Verhältnissen, aus denen sie, die feudalistische

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und kapitalistische Formation überspringend, direkt zum Sozialismus übergingen. Ihre Sprachen blieben dabei aber im wesentlichen unverändert, es sind keinerlei „qualitative" Wandlungen festzustellen, weder in ihrer Grammatik noch in ihrem Grundwortbestand. Ihr Wortschatz hat allerdings zahlreiche Fachausdrücke aus den Bereichen der Wissen-schaft und Technik, der gesellschaftspolitischen Tätigkeit und der Philosophie aufgenommen (durch Entlehnung und durch Nutzung eigener Sprachquellen) — aber ein derartiger Prozeß vollzieht sich, wie bereits gesagt, kontinuierlich in einer j e d e n Sprache. Unter der Sowjetmacht wurde in die Sprachen der ehemals rückständigen Völker eine umfangreiche wissenschaftlich-technische, gesellschaftspoli-tische und philosophische Literatur übersetzt, und dabei gab es nie und nirgends unüberwindliche Hindernisse für derartige Übersetzungen. Die sprachpolitische Praxis in der M№ ist somit ein denkbar überzeugendes Argument gegen die Konzeption der Uniibersetzbarkeit aus „fortge-schrittenen" in „primitive" Sprachen und umgekehrt, sie hat die Haltlosigkeit einer solchen Einteilung der Sprachen anschaulich bewiesen.

Heutzutage sehen nicht nur marxistische Sprachwissen-schaftler, sondern auch die meisten Linguisten des west-lichen Auslands die Unwissenschaftlichkeit der Einteilung der Sprachen in „entwickelte" und „primitive" ein. Dazu möchten wir nachstehend nur zwei Belege bringen. Zunächst die Stellungnahme des bekannten amerikanischen Linguisten R. A. Hall : „Alle Untersuchungen, die bisher an pr imit iven ' Sprachen vorgenommen wurden, ergaben, daß sie über den-selben Strukturtyp und einen genauso reichen Wortschatz verfügen wie andere Sprachen... Kurz, es gibt in der gegen-wärtigen Entwicklungsphase der Menschheit nichts, was als wirklich ,primitive' Sprache bezeichnet werden könnte. Es muß eine Phase gegeben haben, in der die menschliche Sprache weniger entwickelt war als heute, aber diese Periode liegt Hunderttausende von Jahren zurück, und es haben sich nirgends auch nur Spuren dieses Zustandes erhalten. Alle gegenwärtig gesprochenen Sprachen, die der amerika-nischen Indianer, der afrikanischen Buschmänner und der australischen Eingeborenen nicht ausgenommen, haben im wesentlichen den gleichen Entwicklungsstand erreicht... Unsere eigene Sprache, sei es die englische, französische, italienische oder deutsche, wie auch jede andere sogenannte

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zivi l is ierte ' Sprache, ist nur insofern zivilisiert, als sie zufälligerweise von Menschengruppen gesprochen wird, die in bestimmten Bereichen derartige technische Fortschritte machen konnten, daß sie es zu eigenen Ziv i l isat ionen ' , d. h. komplexeren Kulturen brachten... Viele der sogenannten pr imit iven ' Sprachen ... besitzen grammatische Strukturen, mit denen andere, aber nicht weniger wichtige Unterschei-dungen in der uns umgebenden Welt bezeichnet werden, als dies in der Struktur unserer zivi l isierten' Sprachen der Fall ist. Als ein weitverbreitetes Wochenmagazin (Newsweek — der Verf.) Hindi als ,eine verhältnismäßig primitive Sprache' bezeichnete, 5der es an wissenschaftlichen und technischen Fachwörtern mangelt ' , haben die Bedakteure der Zeitschrift damit nur ihre eigene Ignoranz bewiesen sowie die Neigung, kritiklos landläufige Urteile nachzuplappern, die in einer wissenschaftlichen oder populären Darstellung von Sprach-verschiedenheiten völl ig fehl am Platze sind."*

Und hier die Meinung des amerikanischen Anthropologen Prof. Bichard Lee, der mehrere Jahre unter den Buschmän-nern gelebt hat: „Ihre Lebensverhältnisse liefern uns den Schlüssel für das Verständnis vergangener Geschichtsperio-den, denn sie müssen in ihrem Alltag dieselben Probleme bewältigen, wie die Menschen in grauer Urzeit. Ich habe mehrere Jahre unter ihnen verbracht, ihre Lebensweise kennengelernt und ihre Sprache erlernt. Ich kam zu der Überzeugung, daß ... sie genauso vollwertige Monschen sind wie wir und daß ihr Verstand dem unsrigen in keiner Weise unterlegen ist... Die meisten von uns stimmen überein, daß der Bau größerer nuklearer Sprengköpfe niemandem Nutzen bringt. Auf meinen eigenen Fachbereich bezogen, kann ich mit Sicherheit behaupten, daß die Versuche, Unterschiede in den geistigen Fähigkeiten verschiedener Rassen zu fin-den, keinem guten Zweck dienen können."**

Man kann es wirklich kaum deutlicher sagen! Uns bleibt nur noch die Schlußfolgerung: Da die Gegen-

überstellung von „entwickelten" und „unentwickelten" Spra-chen wissenschaftlich unhaltbar ist, gilt der von uns formu-lierte Grundsatz der prinzipiellen Ubersetzbarkeit (der

*R. A. Hall: Introductory Linguistics. Philadelphia, 1964, pp. 1 3 - 1 4 , 469.

**Zitiert nach einem Interview in „Moscow News", 2. Oktober 1971.

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Ausdrückbarkeit der Bedeutungen einer ' Sprache mit den Mitteln einer anderen) uneingeschränkt fiir jedes beliebige Sprachenpaar.

3. Die Stellung der Übersetzungstheorie unter den anderen wissenschaftlichen Disziplinen

§ 6. Bisher haben wir einigemal den Ausdruck „1 i n -g u i s t i s c h e Übersetzungstheorie" verwendet. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, mehrere Probleme zu klären: Erstens, mit welcher Begründung rechnen wir die Über-setzungstheorie zu den linguistischen Disziplinen? Zweitens, sind neben der linguistischen, auch andere, nichtlingui-stische Auffassungen über die Übersetzungsproblematik mög-lich? Drittens, welchen Platz nimmt die Übersetzungstheo-rie unter den anderen linguistischen Teildisziplinen ein?

Bei der Übersetzung erfolgt die Umwandlung eines aus-gangssprachlichen Textes in einen zielsprachlichen unter unveränderter Erhaltung des Inhalts bzw. der Bedeutungen, die im AS-Text enthalten sind. Um ihrer Aufgabe gerecht zu werden und die wesentlichen Gesetzmäßigkeiten des Übersetzungsprozesses zu erfassen, muß die Übersetzungs-theorie vor allem die Koinzidenzen und Diskrepanzen bei den Ausdrucksmitteln für identische Bedeutungen beider Sprachen reflektieren und, davon ausgehend, die geeignet-sten Mittel zur Überwindung dieser Diskrepanzen („Über-setzungshandgriffe") nachweisen. Eine solche Aufgabe ist ihrem Wesen nach eine linguistische, und eine Übersetzungs-theorie, deren Anliegen die Lösung dieser Aufgabe ist, kann nur eine linguistische Disziplin sein.

Auf den ersten Blick scheint hier allerdings der Einwand berechtigt, daß für die Ermittlung von Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten unter den Ausdrucksmitteln verschiede-ner Sprachen nicht die Ubersetzungstheorie, sondern die kontrastive Linguistik zuständig sein muß. Die Übersetzungs-theorie ist in der Tat aufs engste mit der kontrastiven Linguistik verflochten, die ihre unmittelbare theoretische Basis ist, aber zwischen diesen beiden Disziplinen besteht keine Identität. Die kontrastive Sprachwissenschaft hat — wie auch die Sprachwissenschaft im allgemeinen — mit den S p r a c h e n a l s S y s t e m e n z u tun, ihr geht

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es um die Peststellung von Ähnlichkeiten und Verschieden-heiten zwischen den Systemen zweier Sprachen im Bereich der Phonologie, des Lexikons und der Grammatik. Deshalb ist es für die kontrastive Linguistik wie für die Sprachwis-senschaft im allgemeinen von entscheidender Bedeutung, d i e E b e n e n der sprachlichen Hierarchie a u s e i n -a n d e r / u h a l t e n , d . h . die Einheiten einer Sprache (bzw. eines Sprachenpaares) jeweils einer bestimmten Ebene, einem bestimmten Teilsystem der Sprache zuzuord-nen. Die Ubersetzung hat aber, wie bereits ausdrücklich betont wurde, nicht mit sprachlichen Systemen, sondern mit R e d e e r z e u g n i s s e n , also mit T e x t e n z u tun. In der Rede wird aber bekanntlich die Schichtung des sprachlichen Systems in mehrere Ebenen oder Aspekte (den morphologischen, syntaktischen, lexisch-semantischen usw.) überwunden und eine komplexe Wechselwirkung und Synthese qualitativ verschiedener Ausdrucksmittel inner-halb des geschlossenen Redeerzeugnisses gewährleistet. Folglich ist für die Ubersetzungstheorie die Zugehörigkeit der in Frage kommenden Einheiten zu einer bestimmten Ebene des Sprachsystems völl ig irrelevant. Die Gegen-überstellung der sprachlichen Einheiten erfolgt in der Uber-setzungstheorie einzig und allein auf der Grundlage der Gemeinsamkeit des durch sie ausgedrückten Inhalts, d. h. der Bedeutungen, der semantischen Affinität dieser Einhei-ten, ohne Rücksicht auf ihre Zugehörigkeit zu gleichen oder verschiedenen Ebenen der sprachlichen Hierarchie.

Das Gesagte sei durch folgendes konkretes Beispiel erläu-tert. Nehmen wir an, unser Ziel ist die kontrastive Unter-suchung der Zeit- und Aspektformen des Verbs im Deutschen und im Russischen. Die kontrastive Grammatik beider Sprachen müßte sich dabei auf die Untersuchung der Ge-meinsamkeiten und Verschiedenheiten der Aspekt- und Zeitf o r m e n d e s V e r b s beschränken, dürfte also nicht über den Rahmen der morphologischen Ebene im Deutschen und im Russischen hinausgehen. Die Frage, ob diese Bedeutungen in einer der behandelten Sprachen auch mit nichtmorphologischen und überhaupt grammatikfrem-den Mitteln, etwa im lexikalisch-semantischen Bereich zum Ausdruck kommen, bleibt dabei unberührt und unbeant-wortet. Die Ubersetzungstheorie geht an dieses Problem ganz anders heran. Sie kann sich keineswegs mit dem Vergleich innerhalb des morphologischen Systems begnügen, sie

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gellt über die Grenzen dieser Systeme hinaus, um festzustel-len, wie die Bedeutungen, die in einer der beiden Sprachen grammatisch ausgedrückt sind, in der anderen etwa durch lexikalische Mittel zum Ausdruck gebracht werden. Die Bedeutung der deutschen Zeitform Plusquamperfekt wird im Russischen meist durch lexikalische Mittel, Wörter wie прежде, раньше u. dgl. wiedergegeben. Die Ubersetzungs-theorie ist somit gegenüber dem sprachlichen Status der kor-relierenden Einheiten gleichgültig, ihre Zugehörigkeit zum grammatischen, lexikalischen oder einem sonstigen Subsy-stem ist für die Ubersetzungstheorie irrelevant. Worauf es ihr ankommt, ist ihre s e m a n t i s c h e Identität, die Gleichheit der durch sie ausgedrückten Bedeutungen. Für die Sprachwissenschaft im allgemeinen und für die kontra-stive Sprachwissenschaft im besonderen ist somit die Abgren-zung der Ebenen des sprachlichen Systems von wesentlicher Bedeutung, für die Ubersetzungstheorie hingegen ist das Wesentlichste die Betrachtung und Gegenüberstellung sprachlicher Einheiten in ihrer gegenseitigen Verbunden-heit, in der Wechselwirkung, die sie in der Rede, im Gefüge kohärenter Texte eingehen.*

Der modernen Sprachwissenschaft ist überhaupt die Tendenz eigen, an die Stelle der Untersuchung der Sprache als abstraktes System die Untersuchung des Funktionierens der Sprache in der Rede treten zu lassen. Diese Tendenz äußert sich u. a. im wachsenden Interesse für die Proble-matik der Redetätigkeit, mit der sich die Psycholinguistik beschäftigt, in der Beschäftigung mit der sogenannten „ak-tuellen Syntax" und der „kommunikativen Gliederung des Satzes", was nur unter Berücksichtigung der Leistung des Satzes in der zusammenhängenden Rede möglich ist, und schließlich in der Entstehung einer neuen linguistischen Teildisziplin — der Textlinguistik.** Alle diese Richtungen der Sprachforschung sind aufs engste mit der Ubersetzungs-theorie verbunden, ja man kann sogar mit gutem Grund behaupten, daß die linguistische Ubersetzungstheorie selbst eigentlich „kontrastive Textlinguistik" ist, nämlich gegen-

*Vgl. А . Швайцер: К вопросу об анализе грамматических явле-ний при переводе. „Тетради переводчика", вып. I, М., 1963.

„Материалы научной конференции , Лингвистика текста' ", МГПИИЯ им. М. Тореза^ М., 1974.

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überstellende Untersuchung semantisch gleichwertiger ver-schiedensprachlicher Texte.

Es ist aber noch eine Klarstellung erforderlich. Die Rede (Parole) als solche kann an sich nicht Gegenstand der Sprachwissenschaft sein, denn sie ist stets individuell, ein-malig und nicht nachvollziehbar, die Wissenschaft aber kann nur das Allgemeine, Gesetzmäßige, Typische und regelmäßig Nachvollziehbare untersuchen. Die Rede ist für die Sprachwissenschaft lediglich das Material, aus dem diese ihr Untersuchungsobjekt — nämlich die Sprache* — herausarbeitet. Wenn wir sagen, daß in der modernen Sprach-wissenschaft eine Tendenz zur Erforschung der Verwendung und Funktion der Sprache in der Rede festzustellen ist, so bedeutet dies eine Verlagerung des Forschungsschwerpunk-tes am gleichen Objekt: die Sprache wird nicht mehr in der Statik, sondern in der Dynamik untersucht, nicht als Inven-tar von Einheiten, sondern als Tätigkeit in realer Funktion. Die Hauptaufgabe der modernen Sprachwissenschaft ist die Schaffung eines solchen S p r a c h m o d e l l s , das den dynamischen Aspekt der Sprache repräsentiert, in dem die Sprache, nach W. v. Humboldt, als „energeia" (Tätigkeit) und nicht als „ergon" (Tätigkeitsprodukt) erscheint. Diesen Weg geht eine der maßgebenden Richtungen der modernen Sprachwissenschaft, die sogenannte generative Linguistik. Die linguistische Übersetzungstheorie ist auch ein dynami-sches Modell besonderer Art, sie beschreibt in linguistischen Termini den Prozeß des Uberganges vom AS-Text zum ZS-Text, den Prozeß der zwischensprachlichen Transfor-mation bei Erhaltung der inhaltlichen Invarianz. Die Gesetzmäßigkeiten dieses Übergangs, d. h. die „Regeln" der übersetzerischen Transformation machen den eigentli-chen Forschungsgegenstand der linguistischen Ubersetzungs-theorie aus.

§ 7. Nachdem wir die Übersetzungstheorie als linguisti-sche Disziplin definiert haHen7*Äüssen wir IRren "Platz unter den äncleren "sprachwissenschaftlichen Disziplinen näher bestimmen. In der heutigen Sprachwissenschaft werden ge-wöhnlich zwei Hauptgebiete unterschieden — die Mikro-

*A. И. Смирницкий: Объективность существования языка. М., изд-во МГУ, 1954, с. 19.

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linguistik und die Makrolinguistik.* Zum ersten gehört die Linguistik, im engeren Sinne, d. h. die Erforschung der Sprache "an und tur sich", wieTTHe*Saussure es ausdrückte, losgelöst von den extralinguistischen Tatsachen, als ein von anderen Erscheinungen relativ unabhängiges Objekt. Hierher gehören solche klassische Disziplinen des sprach-wissenschaftlichen Zyklus wie die Phonetik und Phonologie, die Grammatik, die Lexikologie und die Semasiologie** — sowohl im Rahmen der allgemeinen als auch der speziellen Sprachlehre, sowohl historisch (diachronisch) als auch be-schreibend (synchronisch) angewandt, und auch die histo-risch-komparativistische und kontrastiv-typologische Sprach-

forschung. Zur Makrolingujst.ik, d. h. zur Linguistik im weiteren

Sinne, gehören die Richtungen der Sprachwissenschaft, die die Sprache in ihren Beziehungen zu den außersprachlichen (extralinguistischen) Gegebenheiten erforschen. Hierher ge-hören Disziplinen wie die Psycholinguistik, die sich mit den psychophysiologischen Mechanismen der Redetätigkeit be-faßt; die Ethnolinguistik, die sich für die Wechselbeziehun-gen der Sprache uniTcIeFethnisch-kulturellen Faktoren inter-essiert; die Soziolinguistik, der es um die Wechselwirkung von Sprache und sozialen "Faktoren geht; die Sprachgeo-graphie, deren Objekt die Beeinflussung der Sprache~clurch territorial-geographische Faktoren ist, und einige weitere Richtungen derJBprachforschung.

Neben UTeSer Teilung der Sprachwissenschaft in Mikro-und Makrolinguistik besteht auch eine Einteilung der sprachwissenschaftlichen Disziplinen in theoretische und angewandte.*** Zu den letzteren rechnet man diejenigen

*Vgl. G. Trager and Ii. Smith: An Outline of English Structure. Washington, 1957, pp. 81—82. Streng genommen umfaßt die Makro-linguistik eigentlich auch die Mikrolinguistik als einen ihrer Teil-bereiche. Wir werden im weiteren unter „Makrolinguistik" nur dieje-nigen ihrer Bereiche verstehen, die nicht unter der „Mikrolinguistik" zusammengefaßt werden können („Metalinguistik" nach Trager und Smith).

**Die ausschließliche Zurechnung dieser Disziplin zum mikro-linguistischen Bereich ist allerdings nicht unbestritten, da die Be-ziehung der Sprachsemantik zu extralinguistischen Faktoren auf der Hand liegt (vgl. auch Kap. 2).

***Man darf aber nicht vergessen, daß die Gegenüberstellung der Begriffe „theoretisch" und „angewandt" in bezug auf wissenschaftliche

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Teilbereiche der Sprachwissenschaft, die unmittelbar mit der Verwendung der Sprache in verschiedenen Arten der menschlichen Tätigkeit verbunden sind und die dafür er-forderlichen wissenschaftlichen Voraussetzungen liefern. Es sind dies der Sprachunterricht; die Teile der Nachrichten-theorie, die sich mit der Verwendung der Sprache in techni-schen Informationskanälen (Telefon, Rundfunk) befassen; Probleme der automatischen Informationssuche (Recherche-sprachen), des Referierens u. dgl. m .* ; die Theorie der Schrift und die wissenschaftlichen Grundlagen der Schaf-fung neuer Alphabete; die Rechtlautung und die Sprach-pflege und vieles andere.

Was die Übersetzungstheorie anbetrifft, so gehört sie u. E. erstens zu den Disziplinen der Makrolinguistik und zweitens zum Bereich der angewandten Sprachwissenschaft. Daß die Ubersetzungstheorie zu den angewandten Diszipli-nen gehört, ist selbstverständlich und bedarf wohl keiner besonderen Begründung. Weniger selbstverständlich ist ihre Zuordnung zur Makrolinguistik. Dies bedeutet im Grunde, daß es nach unserer Ansicht unmöglich ist, die Ubersetzungstheorie auf rein linguistischer Basis, ohne Berücksichtigung extralinguistischer Faktoren, aufzubauen, d. h. ohne Bezugnahme auf die Phänomene, die außerhalb der Struktur der Sprache selbst liegen, wenn auch unmit-telbar mit ihr verbunden sind. Nachstehend versuchen wir dies näher zu erläutern.

Vorstehend wurde gesagt, daß am Übersetzungsprozeß nicht die Sprachsysteme als abstrakte Objekte, sondern kon-krete R e d e e r z e u g n i s s e (Texte) beteiligt sind, die vor allem aus sprachlichem Material aufgebaut sind. Aber dieses sprachliche Material allein macht noch keinen vollwertigen Text aus, ein Text ist nicht restlos auf die Sprache reduzierbar. Notwendige Voraussetzungen für das Zustandekommen eines beliebigen Redeerzeugnisses sind folgende Momente: 1) der Gegenstand (das „Thema") der Mitteilung, das, wovon im Text die Rede ist; 2) die Situa-tion des Verkehrs, d. h. die Umstände, unter denen die

Disziplinen nur einen relativen Wert hat: jede angewandte Disziplin baut ebenfalls auf einer Theorie auf, die somit die Grundlage für bestimmte „Empfehlungen" oder „Vorschriften" praktischer Art bildet.

*Dieser Bereich der Sprachwissenschaft wird auch als „Compu-terlinguistik" (computational linguistics) bezeichnet.

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Kommunikation stattfindet; 3) die Teilnehmer des Redeak-tes, d. h. der „Absender" (der Sprechende oder der Schrei-bende) und der „Empfänger" (der Hörende oder der Lesende), die beide über individuelle Erfahrungen sowohl im sprach-lichen (Sprachkenntnisse) als auch im außersprachlichen Bereich (Kenntnis der realen Umwelt) verfügen. Ohne diese extralinguistischen Momente — Mitteilungsthema, Verkehrssituation und Teilnehmer des Redeakts — ist der Redeakt genauso unmöglich und unausführbar wie ohne Sprache. Die erwähnten extralinguistischen Faktoren — und dies ist für unsere Problemstellung von vorrangiger Bedeu-tung — stehen in engster Verbindung, in unmittelbarer Wechselwirkung mit den sprachlichen Mitteln, aus denen das Redeerzeugnis aufgebaut ist. Das Verstehen, die Erschlie-ßung („Entzifferung") der Bedeutung des vorliegenden Textes geschieht nämlich vor allem auf Grund eben dieser extra-linguistischen Faktoren, gestützt auf die Information, die der „Empfänger" aus ihnen gewinnt, die gleich-berechtigt neben der aus den eigentlichen sprachlichen Komponenten der Mitteilung gewonnenen Information steht.

Wie in der sprachwissenschaftlichen Literatur wiederholt festgestellt wurde, besteht der Anteil der extralinguisti-schen Komponenten des Redeaktes an der Manifestierung der Bedeutung von Textelementen in der Beseitigung der lexi-kalischen und der grammatisch-strukturellen Vieldeutigkeit der im Text verwendeten Spracheinheiten sowie in der Kompensierung von Spracheinheiten, die infolge situativ bedingter Ellipsen „eingespart" wurden. An sich besitzt jede Sprache alle Mittel, um einen beliebigen Inhalt vollständig und eindeutig wiederzugeben, ohne zu extralinguistischen Faktoren Zuflucht nehmen zu müssen. In der Praxis wird aber, wie sich zeigt, das Vorhandensein dieser außersprach-lichen Faktoren von beiden Teilnehmern des Redeaktes voll berücksichtigt, wodurch sie befähigt werden, alle oder doch die meisten redundanten Elemente aus der Rede auszu-schalten und. dadurch eine höhere Ökonomie der sprachlichen Mittel zu erreichen. Eine vollständige Ignorierung der extralinguistischen (situationsbedingten) Faktoren würde die Beseitigung jeglicher Mehrdeutigkeit erforderlich ma-chen — der „Absender" müßte den Inhalt aller Elemente der Rede mit Hilfe sprachlicher Mittel erschöpfend und eindeutig klarmachen, und dadurch würde das Redeprodukt

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unmäßig „anschwellen", einen unvertretbaren Grad an Redundanz erreichen.

Die in der Redesituation vorhandenen Elemente, die es ermöglichen, die Bedeutung der sprachlichen Einheiten ein-deutig zu erschließen, gestatten die Weglassung (Ellipse) von Textelementen, deren Bedeutung der aktuellen Situation selbst entnommen werden kann. Der russische elliptische Satz Можно? ist an sich, losgelöst von einer konkreten Situation, semantisch unvollständig. Wenn aber dieser Satz von einem Menschen gesprochen wird, der hinter einer geschlossenen Tür steht, der vor der Äußerung dieses Satzes an die Tür geklopft hat, so wird dieser Satz ohne weiteres eindeutig ergänzt zu Можно мне войти? (Darf ich ein-treten?) In einer anderen Situation erhält derselbe Satz eine andere Interpretation. Wenn ihn ein Kind ausspricht, indem es nach einem auf dem Tisch liegenden Apfel greift, so begreift man ihn als Abkürzung der Frage Можно мне взять яблоко? (Darf ich den Apfel nehmen?) Die als Folge der Ellipse fortgelassenen Elemente des Satzes (Wörter) werden aus der Situation, auf Grund der gegebenen Umstän-de rekonstruiert, und das Phänomen der Ellipse ist als sol-ches nur möglich, weil sowohl der Redende als auch der Hörende die vorhandene Situation eindeutig erfassen und interpretieren kann, so daß die in der jeweiligen Situation redundanten sprachlichen Elemente eingespart werden können.

Ähnlich erfolgt auch die Aufhebung der Vieldeutigkeit in einer konkreten Situation, die Erschließung der jeweils in Frage kommenden Bedeutung eines polysemen Wortes oder einer polysemen syntaktischen Konstruktion. Die Bedeutung eines polysemen Wortes wird im allgemeinen durch den Redekontext, d. h. „intralinguistisch" erschlos-sen. Die Bedeutung des englischen technischen Fachwortes „tube" (seine deutschen Entsprechungen sind u. a. „Rohr", „Röhre", „Schlauch", „[Geschütz-]Lauf", „Tubus") läßt sich im Satz „Such units that use a Single tube for hol Ii functions are called transceivers" eindeutig identifizieren als Radio-röhre, und zwar dank dem Vorhandensein des funktechnischen Terminus „transceiver" sowie weiterer funktechnischer Aus-drücke in anderen Sätzen des gleichen Textes. Der fehlende sprachliche Kontext kann aber durch eine bestimmte extra-linguistische Situation kompensiert werden. Dasselbe Wort „tube" kann im Satz „Where did you put the tube?" mit

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hoher Wahrscheinlichkeit als Radioröhre gedeutet werden, wenn dieser Satz von einem Funktechniker während seiner Arbeit in einer Radiowerkstatt gesprochen wird. Der engli-sche Satz „Passengers are not allowed to ride on the plat-form" kann wegen der Polysemie des Wortes „platform" nur dann eindeutig verstanden werden, wenn er als Auf-schrift in einem Bus gelesen wird — hier kann das Wort „platform" nur die Plattform des Fahrzeugs bedeuten.

Eine nicht geringere, ja eher noch größere Rolle spielt die extralinguistische Information, über die die Teilnehmer des Redeaktes verfügen, spielen ihre Kenntnisse von der sie umgebenden Welt , ihr Wissen um die Tatsachen der objektiv bestehenden Wirklichkeit. Das kommt ebenfalls in der Fähigkeit zum Ausdruck, die Bedeutung vieldeutiger sprach-licher Einheiten sowohl lexikalisch als auch grammatisch richtig zu identifizieren. Das englische Wort „pen" ver-stehen wir im Satz „John is in the pen" als Viehhof und nicht als Federhalter, nur weil uns die Abmessungen dieser Gegen-stände bekannt sind, und weil wir wissen, daß ein Mensch wohl in einem Viehhof, aber keineswegs in einem Federhalter Platz hat. Im russischen Satz Весеннее солнце сменило лет-нее — оно значительно щедрее erkennen wir ohne weiteres unbeschadet der fehlenden grammatischen Unterscheidungs-merkmale летнее (солнце) als Satzsubjekt, und zwar nur auf Grund der extralinguistischen Tatsache, daß der Sommer auf den Frühling folgt und nicht umgekehrt. Die Zahl solcher Beispiele läßt sich beliebig vermehren. Betrachten wir z. B. folgende Sätze aus Werken von Charles Dickens:

. . .that Rob had anything to do with his feeling as lonely as Robinson Crusoe. (Dombey and Son, Ch. X X X I X )

„Rome wasn't built in a day, ma 'am. . . In a similar manner, ma'am", said Bounderby, „I can wait, you know. If Romulus and Remiss could wait, Josiah Boun-derby can wait ." (Hard Times, Ch. X)

„1 do not wonder that you ... are incredulous of the existence of such a man. But he who sold his birthright for a mess of pottage existed, and Judas Iscariot existed, and Castlereagh existed, and this man exists!" (Hard Times, Ch. IV)

„Open the door", replied a man outside; „it 's the o f f i -cers from Bow Street, as was sent to, to-day." (The Adventures of Oliver Twist, Ch. X X X I )

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Keiner dieser Sätze kann vollständig begriffen werden, wenn der „Empfänger", in diesem Falle also der Leser, keine ausreichenden Kenntnisse über die darin erwähnten Gegen-stände, Personen oder Erscheinungen besitzt, gleich, ob sie real oder nur erfunden sind. Um den ersten Satz zu ver-stehen, muß man wissen, warum der Name Robinson Crusoe mit dem Begriff der Einsamkeit verbunden wird, und dazu muß man mit dem Boman D. Defoes „The Life and Sur-prising Adventures of Robinson Crusoe" und somit mit der klassischen englischen Literatur bekannt sein. Um den zweiten der hier angeführten Sätze zu verstehen, muß man wissen , wer Romulus und Remus waren, und sich in der Geschichte und Mythologie des alten Roms auskennen. Das dritte Beispiel bleibt unverständlich, wenn der Leser oder Zuhörer nicht mit der biblischen Legende von Esau vertraut ist, der seine Erstgeburt für ein Linsengericht verkauft hat, und wenn er nicht weiß, daß Judas Ischariot nach der evangelischen Legende der Verräter von Jesus Christus war. Darüber hinaus muß man mit dem Namen Castlereagh auch etwas anzufangen wissen, um zu verstehen, was er mit den Begriffen Verrat und Bestechlichkeit zu tun hat — den Schlüssel dazu liefert die Kenntnis bestimmter Ereignisse aus der Geschichte Englands. Der letzte Satz ist wiederum nur dem Leser verständlich, der weiß, daß in der Londoner Bow Street das Polizeipräsidium stand. Kurzum, in allen diesen Fällen — wie übrigens in vielen anderen auch — ist die Erfassung der Bedeutung unmöglich ohne die Kenntnis bestimmter Fakten und Erscheinungen, die außerhalb der Sprache liegen, d. h. ohne extralinguistische („enzyklopädi-sche") Information.

Diese Erwägung ist von grundsätzlicher Bedeutung für die Übersetzungstheorie, und zwar nicht nur, weil der Über-setzer über einen bestimmten Vorrat an extralinguistischem Wissen verfügen muß, um den zu übersetzenden Text zu ver-stehen, sondern vor allem auch deshalb, weil der Übersetzer nie damit rechnen kann, daß die zum Verständnis des Textes erforderlichen Kenntnisse bei den Trägern der Ausgangs-sprache und den Trägern der Zielsprache in gleicher Qualität und Quantität vorhanden sind. Es ist vielmehr gerade das umgekehrte Verhältnis der Normalfall: Es besteht keine Über-einstimmung der extralinguistischen Information nach Quan-tität und Qualität bei den Trägern der A usgangssprache und den Trägern der Zielsprache; vieles davon, was den Lesern und

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Zuhörern im Original bekannt und verständlich ist, ist den Lesern und Zuhörern der Übersetzung fremd und unverständ-lich. Auf unsere vorstehenden Beispiele zurückkommend, kann man sagen, daß der Ubersetzer mit Sicherheit damit rechnen kann, daß dem deutschen Leser Robinson Crusoe (als Heid eines auch ins Deutsche übersetzten Romans), Romulus und Remus, Judas Ischariot u. a. vertraute Begriffe sind, aber kaum erwarten darf, daß sein Leser auch weiß, wer Viscount Castlercagh war, und was es mit der Bow Street auf sich hat. Diese Namen, die den englischen Lesern als Dickens' Zeitgenossen geläufig waren, sind dem heutigen deutsch-sprachigen Leser völl ig bedeutungsleer. Die sich daraus für die Praxis und die Theorie der Ubersetzung ergebenden Schlußfolgerungen haben grundsätzliche Bedeutung, auf dieses Problem soll noch näher eingegangen werden (Kap. 3).

Man könnte denken, daß die Notwendigkeit extralin-guistischer Kenntnisse beim „Empfänger" (folglich auch beim Übersetzer und beim „Abnehmer" der Ubersetzung — ihrem Leser oder Zuhörer) nur im Falle von Eigennamen (wie in obigen Beispielen), historischen Ereignissen u . d g l . eine Rolle spielt. In Wirklichkeit ist aber die extralinguistische Information für die Teilnehmer des Redeaktes nicht nur in diesen Spezialfällen, sondern grundsätzlich bei j e d e m K o m m u n i k a t i o n s a k t unerläßlich, ohne sie ist der sprachliche Verkehr unmöglich. Jedesmal, wenn wir mit sprachlichen Mitteln Gedanken austauschen, setzen wir bei unserem Partner die begriffliche Vorstellung von der uns umgebenden Welt voraus, v o m dreidimensionalen Raum, von den zeitlichen, kausalen und sonstigen Verhältnissen, d. h. die Kenntnis der objektiven Wirklichkeit selbst. Wie weiter (vgl. Kap. 2) gezeigt werden soll, beinhaltet der Begriff der sprachlichen Bedeutung vor allem die Bezogen-heit des sprachlichen Zeichens auf die objektive Wirkl ich-keit, auf die Gegenstände und Begriffe, die in der uns um-gebenden Welt existieren und uns durch Erfahrung gegeben sind. Ohne Kenntnis dieser Gegenstände und Begriffe ist keinerlei Kommunikation möglich: Es würde nicht nur jede Rede unverständlich werden, sondern die Redetätigkeit als solche könnte einfach nicht zustande kommen, da es ja keinen Austausch von Informationen geben kann, wenn jede Information fehlt. Man kann keine Gedanken austauschen, wenn es für Gedanken keinen Gegenstand gibt.

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§ 8. Wir sind somit zur Schlußfolgerung gekommen, daß für das Zustandekommen eines Redeprodukts außer der Sprache, die das Baumaterial dafür liefert, auch bestimmte extralinguistische Faktoren erforderlich sind, und zwar: das Thema (der Gegenstand) der Mitteilung, die über eine bestimmte linguistische und extralinguistische Information verfügenden Teilnehmer des Redeaktes und die Umstände (die Situation) des Verkehrs. Die extralinguistischen oder nichtsprachliclicn Faktoren sind nicht etwa eine Art „über-sprachliches Restgut", sondern sie sind integrierender Be-standteil des Redeprozesses (des Kommunikationsaktes) selbst, ohne den die Rede undenkbar ist. Deshalb ist für den Übersetzer als Teilnehmer (besonderer Art!) am Redeakt der Besitz bestimmter extralinguistischer Informationen unerläßlich. Um übersetzen zu können, muß man außer der Ausgangssprache, der Zielsprache und den Übergangsregeln von der einen zur anderen auch noch den G e g e n s t a n d u n d d i e U m s t ä n d e d e r K o m m u n i k a -t i o n kennen, d. h. man muß wissen, wovon in dem zu übersetzenden Text die Rede ist und in welcher Situation der vorliegende Text funktioniert.

Das hier Gesagte ist jedem praktizierenden Ubersetzer aus eigener Erfahrung bekannt: Um der Aufgabe des Über-setzers gerecht zu werden, bedarf es nicht nur der Kenntnis beider Sprachen (der Ausgangssprache und der Zielsprache), sondern auch der Vertrautheit mit dem Gegenstand der Rede. Das gilt für alle Arten der Ubersetzung und des Dolmet-schens und für Texte jeder Gattung — literarische, gesell-schaftspolitische, technisch-wissenschaftliche. Für den Über-setzer der schöngeistigen Literatur ist es unerläßlich, den von ihm übersetzten Autor zu kennen, über seine Weltan-schauung, seine ästhetischen Ansichten und Neigungen, die ihn prägende literarische Strömung, seine Schaffensmethode im Bilde zu sein und eine umfassende Vorstellung von der im Werk dargestellten Epoche, den Bedingungen des gesell-schaftlichen Lebens, der materiellen und geistigen Kultur usw. usf. zu besitzen. Der Übersetzer von gesellschaftspoli-tischen Materialien muß den Staatsaufbau, die politische Lage und andere Faktoren des Landes, aus dem der zu übersetzende Text stammt, genauso gut kennen, wie die Epoche, in welcher dieser Text geschrieben oder gesprochen wurde. Der Übersetzer von wissenschaftlich-technischen Texten wiederum muß über ein bestimmtes Wissen im

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Fachbereich verfügen, auf den sich seine Ubersetzungsvor-lage bezieht, ob es nun die Biologie, die Physik, die Astro-nomie oder ein anderer Wissenszweig ist.

Es sei hier noch einmal betont, daß das Gesagte für alle Aspekte oder „Ebenen" des sprachlichen Systems gilt, sowohl für die Lexik als auch für die Grammatik. Es mag zunächst überraschen, daß zum Verständnis grammatischer Konstruk-tionen die Kenntnis des Redegegenstandes, d. h. der im Text behandelten Fakten der Wirklichkeit, erforderlich ist. Aber es verhält sich in der Tat so und nicht anders. Ein Beispiel genügt, um dies zu veranschaulichen. In einem wis-senschaftlichen Text stößt der Ubersetzer auf folgende Wortgruppe: investigation of microdocument storage system using fractional wavelength optical reading methods. Bei dieser Wortgruppe haben wir es mit einem typischen Fall der sogenannten strukturellen (syntaktischen) Zweideutig-keit zu tun, da das Partizip using hier sowohl auf investiga-tion, als auch auf system bezogen werden kann. Eine Ent-scheidung ist nur auf Grund konkreter Sachkenntnis mög-lich, die formal-grammatischen Unterscheidungsmerkmale nützen uns hier nicht. Nur der Fachmann kann eindeutig entscheiden, welche von beiden Deutungen die sinngemäß zulässige ist. In der Wortfügung the man in the armcliair reading a newspaper verfahren wir genauso, wenn wir reading richtig auf man und nicht auf armcliair beziehen, denn wir gehen nicht etwa von grammatischen Kennzeichen aus (die es hier nicht gibt), sondern von der allgemein be-kannten Tatsache, daß das Subjekt des Lesens eben nur ein Mensch, keinesfalls aber ein Lehnstuhl sein kann.

Dieser Umstand — die Notwendigkeit extralinguisti-scher Kenntnisse — erwies sich als ernsthaftes Hindernis für die Entwicklung der maschinellen Übersetzung. Die Maschi-ne, die keinerlei Kenntnisse über die uns umgebende Welt besitzt, zeigte sich unfähig, Konstruktionen dieser Art zu „begreifen", d. h. richtig zu analysieren, da die Aufhebung der lexikalischen bzw. syntaktischen Vieldeutigkeit beim „Empfänger" die Kenntnis der Tatsachen der Wirklichkeit voraussetzt. In einem Experiment übersetzte die Maschine die englische Wortgruppe De Gaulle's rule als die Regel de Gaulies statt die Regierung de Gaulies. Das englische Wort rule bedeutet sowohl Regel als auch Regierung. Um in die-sem Falle ein passendes Äquivalent zu finden, muß man wissen, daß de Gaulle ein Staatsmann, nämlich der Präsident

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Frankreichs war. Wäre er ein Wissenschaftler gewesen, so könnte die Übersetzung die Regel de Gaulies richtig sein. Der Computer, der selbstverständlich nicht über diese Information verfügte, griff nach dem nächstliegenden Wör-terbuchäquivalent für rnle und übersetzte eben mit Regel.

Heute ist es nicht nur den praktizierenden Übersetzern, sondern auch vielen maßgeblichen Theoretikern der Lingui-stik klar, daß die Auswertung extralinguistischer Informa-tionen beim Ubersetzungsprozeß absolut notwendig ist. So schreibt der holländische Sprachwissenschaftler E. M. Uhlen-beck: „. . . allein die Kenntnis der Ausgangssprache und der Zielsprache reicht nicht aus. Was man als Ubersetzer außer-dem braucht, ist die Kenntnis der Kulturen, zu denen die in Frage kommenden Sprachen gehören."* Noch entschiedener äußert sich dazu der prominente amerikanische Linguist N. Chomsky: „Obwohl es viele Gründe für die Annahme gibt, daß die Sprachen weitgehend nach dem gleichen Muster geschaffen sind, ist kaum anzunehmen, daß ver-nünftige Übersetzungsverfahren (reasonable pröcedures of translation) überhaupt möglich sind. Unter einem v e r -nünftigen Verfahren' verstehe ich ein Verfahren, das keine extralinguistische Information, also keine enzyklopädi -schen Angaben' enthält."**

Genauso wie der Ubersetzungsprozeß nicht auf extra-linguistische Faktoren verzichten kann, kann aiich die Uber-setzungstheorie diese Faktoren nicht außer acht lassen. Dies ist durchaus begreiflich, denn jede Theorie muß, wie bereits betont, die wesentlichen Züge des Objekts (des Prozesses oder Gegenstandes) widerspiegeln, dessen Modell die Theorie liefern will . Deshalb kann die Übersetzungstheorie nicht den Charakter einer mikrolinguistischen Disziplin besitzen; sie muß vielmehr als Teildisziplin der Makrolinguistik verstan-den werden, die die Sprache nicht als eigenständiges Phäno-men, sondern in ihren Wechselbeziehungen zu den extralin-guistischen Faktoren untersucht, die außerhalb der eigentli-chen Sprachstruktür liegen.

Nebenbei bemerkt, beruhen die Einwände vieler Überset-zungspraktiker und Literaturwisäenschaftler gegen die Auf-fassung der Ubersetzungstheorie als einer linguistischen

*„Lingua", v. 18, Nr. 2 (1967), pp. 201—202. **N. Chomsky: Aspects of the Theory of Syntax. Cambridge,

Mass., 1965, pp. 201—202.

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Disziplin (wovon nachstehend noch die Rede sein wird) vor allem auf einer allzu engen Auffassung der Linguistik als bloße Mikrolinguistik. Setzt man den Begriff „Lingui-stik" dem Begriff „Mikrolinguistik" gleich, so entzieht man sich tatsächlich jede Grundlage für den Aufbau einer ge-nügend vollständigen und objektadäquaten Ubersetzungs-theorie. Wenn aber die Übersetzungstheorie als makrolin-guistische Disziplin aufgebaut wird, wie wir clas vorstehend zu begründen suchten, so wird selbst der unversöhnlichste „Antilinguist" unter den Übersetzern kaum etwas dagegen einzuwenden haben.

§ 9. Uns bleibt nur noch die Klärung einer Frage übrig, nämlich der, wie sich in der Übersetzungstheorie die „de-skriptiven", d. h. beschreibenden (konstatierenden), und die „präskriptiven", d. h. vorschreibenden (normativen) Aspekte zueinander verhalten. Die skeptische, ja ablehnende Haltung vieler Übersetzer gegen die Übersetzungstheorie rührt näm-lich nicht nur daher, daß sie diese als eine mikrolinguistische und damit im Sinne des tieferen Verständnisses des Überset-zungsvorganges nicht objektgerechte Disziplin auffassen, sondern auch daher, daß sie in ihr ein Sammelsurium diver-ser Vorschriften und „Regeln" zu sehen glauben, welche die schöpferische Freiheit des Übersetzers durch rigorose Be-stimmungen der sogenannten „gesetzmäßigen Entsprechun-gen" einengen. Wie unbegründet derartige Befürchtungen sind, wurde wiederholt in einschlägigen Arbeiten nachge-wiesen*, was leider nicht verhindern konnte, daß sich dieses Vorurteil in bestimmten Ubersetzerkreisen, vor allem unter Ubersetzern schöngeistiger Literatur, hartnäckig be-hauptet.

Demgegenüber ist mit allem Nachdruck zu betonen, daß die Übersetzungstheorie weder ausschließlich noch vorwie-gend eine präskriptive Wissenschaft ist. Es ist falsch, sich die Übersetzungstheorie als einen Satz von „Rezepten" oder „Befehlen" vorzustellen, wie etwa die, welche in einen Computer eingeführt werden, und die der Übersetzer strikt zu befolgen hätte. Die Übersetzungstheorie ist vielmehr eine vorrangig d e s k r i p t i v e Wissenschaft, ihr eigentli-

А . В. Фёдоров: „Основы общей теории перевода". Москва, высшая школа", с. 6, 26.

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ches und wichtigstes Anliegen ist es, zu b e s c h r e i -b e n, wie der Übersetzungsprozeß tatsächlich (im oben dargestellten Sinne) vor sich geht. Sie soll die objektiv vorhandenen Gesetzmäßigkeiten des AS—ZS-Überganges erschließen, indem sie diese Gesetzmäßigkeiten durch Ana-lyse bereits ausgeführter Ubersetzungen erfaßt (ähnlich wie Sprachtexte und Auskünfte von Muttersprachlern als Mate-rial für die sprachwissenschaftliche Theorie dienen) und den Übersetzungsvorgang in geeigneten Termini modelliert. Es ist dieser deskriptive Aspekt, der für die Ubersetzungstheorie wie für jede andere wissenschaftliche Theorie maßgebend ist.

Daraus darf jedoch nicht gefolgert werden, daß die Uber-setzungstheorie keinerlei präskriptiven Aspekt besitzt. Es ist nicht zu übersehen, daß es sich bei der Ubersetzungstheo-rie nicht um eine linguistische Disziplin schlechthin han-delt, sondern um einen Zweig der a n g e w a n d t e n Sprachwissenschaft. Jede angewandte Disziplin ist bekannt-lich stets mit einem bestimmten Bereich der menschlichen Tätigkeit verbunden, dessen wissenschaftliches Fundament sie bildet. Daher kann eine angewandte wissenschaftliche Disziplin nie einen gewissen Anteil vorschreibender oder präskriptiver Aussagen entbehren. Die Übersetzungstheorie, wenn es uns darum geht, ihr einen praktischen (applikati-ven) Wert abzugewinnen, darf nicht auf die Feststellung objektiv vorhandener Gesetzmäßigkeiten des Übersetzungs-prozesses beschränkt bleiben, sondern sie muß darüber hinaus dem Übersetzer normative Weisungen bzw. „Vorschriften" erteilen, deren Befolgung ihn in seiner praktischen Tätig-keit zum Erfolg führt.

Dabei hat es die Übersetzungstheorie, wie bereits fest-gestellt, nicht mit dem immanenten System oder der eigenen Struktur der Sprache an sich zu tun, sondern mit der Uberset-zung als einem Prozeß zwischensprachlicher Transformation, der an einem bestimmten Bedeprodukt vollzogen wird. Das System der Sprache existiert objektiv, unabhängig von dem jeweiligen Individuum, das diese Sprache spricht (wenn auch nicht unabhängig von der G e m e i n s c I i a f t der Spre-cher). In der Rede aber, die immer individuell ist, können auch Fehler auftreten, Abweichungen von der Sprachnorm, die durch außerhalb der Sprache liegende und daher für die Sprachwissenschaft irrelevante Ursachen hervorgerufen wer-den (wie etwa mangelhafte Sprachbeherrschung, Gedächt-nislücken, Unaufmerksamkeit beim Sprechen u. dgl.) . Da

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derartige Fehler und Abweichungen von der Sprachnorm (vom „Usus") in der Rede des sprechenden Individuums ge-genüber dem Sprachsystem Zufallscharakter tragen*, kön-nen sie auch nicht Gegenstand der Sprachwissenschaft sein. In der Übersetzungstheorie aber ist die Situation völl ig anders: Im Ablauf des Übersetzungsprozesses sind Fehler und Abweichungen von den Normen der „äquivalenten" Übersetzung unvermeidlich, und dazu sind sie ihrem Cha-rakter nach häufig auch nicht individuell bedingt, sondern g e s e t z m ä ß i g , da sie sich aus den objektiv vorhande-nen Diskrepanzen zwischen den Systemen der Ausgangs-und der Zielsprache ergeben. (Natürlich gibt es auch „Uber-setzungsfehler", die durch individuelle, zufällige Faktoren bedingt sind — durch ungenügende Qualifikation des Über-setzers, durch die Unkenntnis bestimmter sprachlicher oder außersprachlicher Fakten u. a. m.— doch fallen sie nicht in den Zuständigkeitsbereich der linguistischen Uberset-zungstheorie.) Der normative oder „vorschreibende" Aspekt der Übersetzungstheorie richtet sich ja gerade darauf, diese Abweichungen von den Normen der äquivalenten Überset-zung zu beseitigen bzw. zu minimieren, soweit sie durch das objektiv vorhandene Phänomen der zwischensprachlichen Interferenz bedingt sind. Darin tritt die weitgehende Ähn-lichkeit des normativen Aspekts der Übersetzungstheorie mit dem einer anderen angewandten linguistischen Disziplin zutage, und zwar der Methodik des Sprachunterrichts. Auch hier geht es um die Beseitigung von Fehlern und Normwid-rigkeiten in der Rede der Lernenden, die durch das objektiv bestehende Phänomen der zwischensprachlichen Interferenz bzw. durch den Einfluß der muttersprachlichen Normen auf die fremdsprachlichen Äußerungen des Lernenden bedingt sind.

Es ist jedoch notwendig, folgende sehr wesentliche Ein-schränkung zu machen: Was wir hier als „Normen der äqui-valenten Übersetzung" bezeichnen, ist keinesfalls als eine Art „Rezept" oder „Anweisung" aufzufassen, die ausnahmslos in jedem Falle gültig bleibt und in der Tätigkeit des Uber-setzers keinerlei Abänderung oder schöpferischen Weiter-entwicklung unterliegt. Eine derart primitive Auffassung

*Zum Verhältnis von Gesetzmäßigem und Zufälligem in der Sprache und insbesondere in der Übersetzung vgl. O. Iiade: Zufall und Gesetzmäßigkeit in der Übersetzung. Beihefte zur Zeitschrift „Fremdsprachen", I. Leipzig 1968.

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des normativen Aspekts der Übersetzungstheorie ist wohl mit eine Ursache für die skeptische Haltung mancher prak-tischer Übersetzer gegen die Übersetzungstheorie, wovon schon vorher die Rede war. A. W. Fjodorow stellt dazu mit gutem Grund fest: „D ie Ausarbeitung von normativen Grundsätzen, von Übersetzungs-,Regeln' ist nur in be-schränkten Bereichen (d. h. für relativ einfach liegende Fälle) möglich und dabei stets in relativ allgemeiner Form. Aus dem Vorhandensein von Gesetzmäßigkeiten im gegen-seitigen Verhältnis zweier Sprachen sowie gewisser Überein-stimmungen zwischen ihnen folgt noch lange nicht die Möglichkeit oder Notwendigkeit, immer die gleichen Über-setzungsmittel anzuwenden... Gegenüber jedem normativ empfohlenen Übersetzungsmittel, selbst wenn es durch noch so beweiskräftige theoretische Argumente begründet wird, ist in der Praxis eine bewußte schöpferische Haltung not-wendig."*

Zusammenfassend kann man sagen, daß die linguistische Ubersetzungstheorie eine zweiseitige, deskriptiv-präskriptive Disziplin ist, in der dem deskriptiven Aspekt die führende, dem präskriptiven Aspekt aber eine untergeordnete, wenn auch nicht unwesentliche Rolle zukommt. Die Ubersetzungs-theorie geht von dem Material aus, das ihr durch die Tätig-keit der praktischen Ubersetzer geboten wird, sie deckt die objektiv vorhandenen Gesetzmäßigkeiten des Ubersetzungs-prozesses auf und gelangt, von diesem Material ausgehend, zu ihren theoretischen Schlußfolgerungen. Dann aber proji-ziert sie diese Schlußfolgerungen wieder in die Praxis zu-rück, und zwar in Form bestimmter normativer Richtlinien, die aber keine starren und unabänderlichen „Pauschalregeln" sind, sondern eher anhaltspunktartige Empfehlungen, die nicht absolut, sondern relativ aufzufassen sind, und die den konkreten Bedingungen des jeweiligen Falles angepaßt werden müssen. Der praktische Ubersetzer hat ebensowenig Grund, sich durch die Ubersetzungstheorie bedroht zu fühlen, wie der praktische Arzt durch die theoretische Medizin oder der ausübende Musiker durch die Theorie der Musik. Die Theorie will keinesfalls die praktischen Fertig-keiten und das Können, das Talent und die Begabung ver-

*A. В. Фёдоров: ebenda, S. 26. Das Gesagte gilt selbstverständlich nicht für die automa tische (maschinelle) Ubersetzung, die ohne strenge (eindeutige und obligatorische) Regeln oder Befehle undenkbar ist.

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drängen oder ersetzen, ganz im Gegenteil, sie geht mit ihnen Hand in Hand und ebnet der Praxis den Weg.

§ 10. Bisher verstanden wir unter Übersetzungstheorie stets die l i n g u i s t i s c h e Ubersetzungstheorie, auch wenn wir das einschränkende Bestimmungswort „linguistisch" zuweilen als selbstverständlich wegließen. Das soll aber nicht so verstanden werden, als sei überhaupt keine andere Ubersetzungstheorie möglich. Die Ubersetzung ist eine viel-seitige und aspektreiche Form der menschlichen Tätigkeit, und deshalb ist es nur natürlich, daß sie nicht von einer einzigen Wissenschaft, sondern gleichzeitig von mehreren als ihr Objekt untersucht wird. Zahlreiche Aspekte der literari-schen Ubersetzung können auf Grund ihrer Spezifik mit Erfolg im Rahmen der Literaturwissenschaft untersucht werden. In der Sowjetunion und im Ausland besteht auch tatsächlich eine sich aktiv entwickelnde 1 i t e r a t u r -w i s s e n s c h a f t l i c h e Übersetzungstheorie. Der psychophysiologische Aspekt der Übersetzung, d. h. der neurophysiologische Prozeß, der im Gehirn des Ubersetzers während der Ubersetzung abläuft, kann und muß zum Forschungsgegenstand der P s y c h o l o g i e u n d P h y -s i o l o g i e d e r h ö h e r e n N e r v e n t ä t i g k e i t werden. Die Probleme, die sich aus den auf Automatisierung der Übersetzung abzielenden Versuchen ergeben, fallen un-mittelbar in den Kompetenzbereich von Wissenschaften wie K y b e r n e t i k , I n f o r m a t i o n s t h e o r i e u n d a n g e w a n d t e M a t h e m a t i k . Der praktische Ein-satz der Ubersetzung als Mittel des Fremdsprachenunterrichts gehört schließlich zum Bereich der M e t h o d i k des Fremdsprachenunterrichts.*

Das Interesse der nichtlinguistischen Disziplinen, und darauf sei hier ausdrücklich hingewiesen, ist jedoch stets beschränkt. Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Ubersetzungstheorie sind Probleme der Ubersetzung schöner

*Das Ubersetzungsstudium im Rahmen aller dieser nichtlingui-stischen Disziplinen ist allerdings so oder so mit den entsprechenden Teildisziplinen der Sprachwissenschaft verbunden, d. h. mit der Stilistik der schönen Literatur, der Psycholinguistik, der mathema-tischen Sprachwissenschaft („Computerlinguistik") usw. (Bei der Methodik des Sprachunterrichts handelt es sich ohnehin um einen Zweig der angewandten Sprachwissenschaft.)

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Literatur, aber selbst der eifrigste Verfechter der literatur-wissenschaftlichen Interpretation übersetzungstheoretischer Fragen wird die unbestreitbare Tatsache zugeben müssen, daß die Literaturwissenschaft zur Untersuchung solcher Arten der Ubersetzung, wie die wissenschaftlich-technischer Fachtexte oder die Simultanübersetzung von gesellschafts-politischen oder diplomatischen Diskussionsreden nichts beizusteuern hat. Den Psychologen interessiert die Uberset-zung vornehmlich als psychologischer Vorgang, d. h. als eine besondere Aktivität der Großhirnrinde. Bei der Unter-suchung der Ergebnisse dieses Prozesses aber, zum Beispiel beim Vergleich von Ubersetzungen und Originaltexten, hat die Psychologie nichts zu sagen. Die Untersuchung der Ubersetzung mit Methoden der mathematischen Wissen-schaften, der Informationstheorie und der Kybernetik be-schränkt sich, zumindest beim heutigen Entwicklungsstand, auf die Erforschung der einfachsten Wechselbeziehungen zwischen den Einheiten der Ausgangssprache und denen der Zielsprache, die in gröbster Annäherung eine Modellierung des Übersetzungsvorganges ermöglichen. (Immerhin lassen sich viele Erkenntnisse dieser Wissenschaften schon heute erfolgreich für die Erforschung der „nichtmaschinellen" Ubersetzung, der sogenannten „Humanübersetzung" an-wenden.) Die Methodik des Fremdsprachenunterrichts inter-essiert sich für die Übersetzung nur insofern, als sie beim Lernen von Fremdsprachen Anwendung findet, d. h. , ihr geht es nur um die Lehrübersetzung, nicht aber um die Übersetzung als Art der praktischen Tätigkeit des Menschen („professionelle Übersetzung").

Der Interessenbereich der Sprachwissenschaft hingegen umfaßt ausnahmslos alle Arten und Varianten der Uber-setzungstätigkeit: ihr Objekt sind die schriftliche wie die mündliche Ubersetzung, die literarische, die gesellschafts-politische, die wissenschaftliche Übersetzung usw. In allen diesen Fällen befaßt sich die linguistische Ubersetzungstheo-rie begreiflicherweise nur mit der eigentlich s p r a c h -l i c h e n Problematik der Übersetzung (wohlgemerkt, nicht nur innerhalb der Grenzen der Mikrolirigiiistik, wie vorstehend betont!), sprachfremde Probleme — psychologi-sche, ästhetische u. dgl. m.— bleiben selbstverständlich außerhalb ihres Gesichtsfeldes. Es liegt uns daher fern, behaupten zu wollen, der linguistische Aspekt sei die einzig berechtigte Behandlnngsweise von Problemen der Uber-

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Setzung; es spricht im Gegenteil vieles dafür, daß die erfolg reiche Entwicklung übersetzungstheoretischer Untersu-chungen nur im engsten Zusammenwirken verschiedener Wissenschaften möglich ist, die sich mit den unterschiedli-chen Aspekten des vielseitigen Phänomens Übersetzung befassen.

Man könnte den Komplex der Disziplinen, die die Uber-setzung von den verschiedensten Gesichtspunkten aus be-trachten, als „ U b e r s e t z u n g s k u n d e " („nepeB0fl0-BCfleiuie") bezeichnen; das Kernstück der Übersetzungskunde wäre dann die linguistische Ubersetzungstheorie, um die herum sich die übrigen Richtungen der Ubersetzungsfor-schung gruppieren — die literaturwissenschaftliche, die psy-chologische, die kybernetisch-mathematische usw.*

Bekanntlich gab es seinerzeit in der übersetzungstheoreti-schen Literatur heftige Auseinandersetzungen darüber, ob die literarische Ubersetzung Gegenstand der linguistischen Ubersetzungstheorie sein könne, oder ob sie ausschließlich in den Kompetenzbereich der Literaturwissenschaft ge-höre.** Die beiden folgenden Zitate sind anschauliche Beispiele für die negative Haltung mancher Literaturwissen-schaftler gegenüber der Idee selbst, die literarische Uber-setzung in die Interessensphäre der linguistischen Uberset-zungstheorie einzubeziehen. „Der Nachweis sprachlicher Entsprechungen ist Aufgabe der Sprachwissenschaft, nicht aber Gegenstand der Analyse des künstlerischen Schaffens, während es sich bei der Auseinandersetzung mit der Uber-setzung eines literarischen Kunstwerks gerade um einen Spezialfall dieser Analyse handelt.. . Bildlich ausgedrückt, beginnt das Gebiet der literarisch-künstlerischen Uber-setzung dort, wo das Gebiet der sprachlichen Gegenüber-stellungen endet... Die literarisch-künstlerische Ubersetzung ist als eine Untergattung der Dichtkunst zu betrachten, folglich unter einem literaturwissenschaftlichen und nicht

*Eine andere Auffassung vom Begriff „Ubersetzungskunde" („переводоведение") sowie des Verhältnisses zwischen dem deskriptiven und präskriptiven Aspekt in der Ubersetzungstheorie vertritt W. N. Komissarow in seinem Buch „Слово о переводе".

**Don ersten Standpunkt vertrat in recht kategorischer Form Л. W. Fjodorow in seinem Buch „Введение в теорию перевода", Москва 1953; der zweite wurde ebenso kategorisch im Sammelband „Вопросы художественного перевода", Москва, „Советский писа-тель", 1955, formuliert.

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unter einem sprachwissenschaftlichen Gesichtspunkt."* Noch härter und „unversöhnlicher" ist der gleiche Gedanke in folgender Äußerung formuliert: „Die sowjetische Schule der literarisch-künstlerischen Ubersetzung ... entstand im Kampf ... gegen die Buchstäblichkeit, gegen die formalisti-sche Pedanterie, gegen die Theorie der linguistischen Adä-quaten."** Hier wird, wie wir sehen, die linguistische Übersetzungstheorie mit der buchstäblichen Übersetzung geradezu gleichgesetzt.

Heutzutage dürften diese Auseinandersetzungen ihre Schärfe weitgehend eingebüßt haben. Allein schon die Gegenüberstellung der linguistischen und der literaturwis-senschaftlichen Betrachtungsweise der Probleme der lite-rarisch-künstlerischen Ubersetzung ist unberechtigt: Die literarisch-künstlerische Ubersetzung ist wie jede andere auch die Transformierung eines Textes in einer gegebenen Sprache in einen anderssprachigen Text, und daher sind ihr die Gesetzmäßigkeiten jeder anderen Art der Uberset-zung eigen. Daher ist die linguistische Ubersetzungstheorie ohne jeden Vorbehalt berechtigt, ihr Material auch aus den von ihr beobachteten Gesetzmäßigkeiten der literarisch-künstlerischen Ubersetzung zu schöpfen. Zugleich kann jedoch nicht bestritten werden, daß verschiedene Probleme der literarisch-künstlerischen Ubersetzung, die duţch die Eigenart des literarischen Kunstwerkes als Text bedingt sind und maßgeblich durch ästhetische Faktoren mitbe-stimmt werden, gerade von der Literaturwissenschaft vol l -ständiger durchleuchtet und erklärt werden können als von der Sprachwissenschaft. Deshalb stimmen wir auch folgen-der Feststellung A. W. Fjodorows zu, die in einer seiner späteren Arbeiten enthalten ist: „Gegenwärtig auf der Berechtigung des nur-literaturwissenschaftlichen oder nur-linguistischen Weges in der Theorie der literarisch-künstle-rischen Ubersetzung bestehen zu wollen, wäre unzeitgemäß und fortschrittswidrig. Unsere Zeit ist die Zeit einer bisher nie dagewesenen Zusammenarbeit cler Wissenschaften."***

*Г. Гачичеладзе: Вопросы теории художественного перевода. Тбилиси. Лит. да хеловнеба, 1964, с. 75—77.

**Н. Чуковский: Реалистическое искусство. „Мастерство пере-вода", Москва, „Советский писатель", 1963, с. 12.

***А. В. Фёдоров: За синтез мнений в теории перевода. „Лите-ратурная Грузия", 1966, № 3, с. 62.

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Deshalb vertreten wir die Ansicht, daß sowohl die linguisti-sche als auch die literaturwissenschaftliche Ubersetzungs-theorie (wie auch einige andere vorstehend erwähnte) durch-aus dazu imstande und darüber hinaus geradezu verpflichtet sind, im Rahmen einer allgemeinen komplexen Disziplin zusammenzuarbeiten — eben im Rahmen der Ubersetzungs-kunde, die von verschiedenen Seiten her mit den Methoden verschiedener Wissenschaften das einheitliche Objekt Über-setzung erforscht.*

4. Arten der Übersetzung

§ 11. Bisher sprachen wir von der Ubersetzung schlecht-hin, ohne auf ihre einzelnen Arten und Gattungen einzugehen. Die Übersetzung erscheint aber in Wirklichkeit in einer Vielfalt von Arten und Gattungen, die sich voneinander durch die Form der Redeverwirklichung wie auch durch die Beschaffenheit des Materials unterscheiden, das der Uber-setzung zugrunde liegt. Jede Sprache kann sowohl in münd-licher als auch in schriftlicher Form auftreten. Je nachdem, in welcher Form die Ausgangssprache und die Zielsprache jeweils auftreten, lassen sich folgende Grundarten der Ubersetzung unterscheiden:

1. Schriftlich-schriftliche Übersetzung oder schriftliche Ubersetzung eines schriftlichen Textes (im Deutschen wird das Wort „Ubersetzung" vorwiegend in diesem Zusammen-hang verwendet.— Der Übers.). Beide Sprachen — AS und ZS — treten dabei in schriftlicher Form auf. Es ist dies eine der am meisten verbreiteten Ubersetzungsarten, bei der man noch verschiedene Gattungen je nach der Beschaffen-heit des zu übersetzenden Ausgangstextes unterscheiden kann. So nennt z. B. A. W. Fjodorow** folgende Gattungen: a) Ubersetzung von Zeitungsinformationen, dokumentari-schen Texten und wissenschaftlichen Fachtexten; b) Über-setzung gesellschaftspolitischer Literatur, publizistischer

*In gewisser Hinsicht besitzt die Ubersetzungswissenschaft Ähnlichkeit mit Disziplinen wie „Slawistik", „Orientalistik", in denen ebenfalls ein Zusammenwirken verschiedener Wissenschaften besteht, die verschiedene Aspekte des Lebens und der Kultur der Völker der slawischen Länder, des Orients u. dgl. untersuchen.

В. Фёдоров: Основы общей теории перевода, гл. 6

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Texte und rednerischer Darbietungen (in schriftlicher Auf-zeichnung); c) Ubersetzung von Werken der schönen Lite-ratur. (Einige^ Fragen, die mit den Besonderheiten der Ubersetzung schriftlicher Texte verschiedener Gattungen zusammenhängen, werden in Kap. 3 behandelt.)

2. Mündlich-mündliche Übersetzung oder mündliche Ubersetzung eines gesprochenen Textes (im Deutschen vor-nehmlich als „Dolmetschen" bezeichnet.— Der Übers.): Beide Sprachen — AS und ZS — treten hier in mündlicher Form auf. Im Rahmen dieser Übersetzungsart sind zwei Unter-arten zu unterscheiden, das sogenannte Konsekutivdolmet-schen (auch „Konferenzdolmetschen".— Der Übers.) und das Simultandolmetschen. Das Konsekutivdolmetschen er-folgt zeitlich, nachdem der Text des Originals (die Rede in der Ausgangssprache) entweder vollständig vorgetragen und beendet ist oder aber abschnittsweise gesprochen wurde. Im letzteren Falle haben wir es entweder mit „Absätzen" (d. h. Gruppen aus mehreren Sätzen) oder aber mit Ein-zelsätzen zu tun, wobei der Redner nach jedem Satz eine Pause einlegt. Das Simultandolmetschen erfolgt gleichzeitig mit dem Sprechen des Originaltextes, oder, genauer gesagt, im ganzen gleichzeitig, da auf einzelnen Redeahschnitten entweder ein Z u r ü c k b l e i b e n der Übersetzung um eine minimale Zeitdifferenz (bis zu einigen Wörtern) oder ein V o r a u s e i l e n gegenüber der Rede in der Ausgangs-sprache festzustellen ist. Letzteres wird ermöglicht durch den Mechanismus des sogenannten „wahrscheinlichkeitsbe-dingten Prognostizierens", durch die Fähigkeit des Dolmet-schers, den Inhalt von noch nicht ausgesprochenen Rede-abschnitten in der Ausgangssprache in gewissen Grenzen vorwegzunehmen. Diese „Prognostizierung", die das Zurück-bleiben des Simultandolmetschens gegenüber der ausgangs-sprachlichen Rede auf anderen Redeabschnitten auszuglei-chen gestattet, ermöglicht es, die Gleichzeitigkeit des Dol -metschens mit dem Sprechen des Ausgangs textes im ganzen zu gewährleisten.

Es versteht sich, daß beide Unterarten des Dolmet-schens— das Konsekutivdolmetschen und das Simultandol-metschen — mit spezifischen Schwierigkeiten psychologi-scher Natur verbunden sind. Das Konsekutivdolmetschen verlangt vom Dolmetscher ein gut trainiertes kurzfristiges Gedächtnis (wobei als Hilfsmittel allerdings fast immer die Aufzeichnung einzelner Einheiten des Ausgangstextes zur

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Anwendung kommt) .* Beim Simultandolmetschen dagegen kommt es vor allem auf die Fertigkeit des gleichzeitigen Hörens und Sprechens an, die nur durch längeres zielgerich-tetes Üben erworben werden kann.

3. Schriftlich-miindliche Übersetzung oder mündliche Übersetzung eines schriftlichen Textes: Die Ausgangssprache tritt in schriftlicher Form in Erscheinung, die Zielsprache — in mündlicher. Diese Übersetzungsart kann auch in zwei verschiedenen Formen ablaufen: entweder erfolgt die Über-setzung gleichzeitig mit dem stummen Lesen der Vorlage (wie beim Simultandolmetschen mit wechselndem Zurückbleiben und Vorauseilen), oder aber die Übersetzung erfolgt „konse-kutiv", nach dem Durchlesen des Gesamttextes oder des jeweiligen Absatzes. Die erste Unterart wird häufig als „Ubersetzung vom Blatt" (a livre ouvert) bezeichnet, die zweite als „Übersetzung mit Vorbereitung" (was allerdings nicht wörtlich zu verstehen ist, da die Vorbereitung hier minimal ist: der Text muß eben durchgelesen und verstanden worden sein).

4. Mündlich-schriftliche Übersetzung oder schriftliche Ubersetzung eines mündlichen (gesprochenen) Textes: Die Ausgangssprache tritt in mündlicher, die Zielsprache in schriftlicher Form auf. In der Praxis ist eine solche Über-setzung selten, denn das Tempo der Niederschrift eines Textes ist dem des Sprechens weit unterlegen, weswegen die praktische Ausführung einer solchen Übersetzung unter nor-malen Verhältnissen kaum möglich ist. Man könnte freilich einen gesprochenen Text etwa stenografisch festhalten und das Stenogramm schriftlich übersetzen, aber das wäre keine mündlich-schriftliche Übersetzung mehr, sondern eben eine schriftlich-schriftliche, da das Stenogramm ja kein mündli-cher, sondern ein schriftlicher Text ist. Wohl der einzige in der Praxis übliche Fall der mündlich-schriftlichen Über-setzung ist das sogenannte Übersetzungsdiktat, eine im Fremdsprachenunterricht häufig angewandte Übung, bei der der mündliche Ausgangstext in künstlich verlangsamtem Tempo („Diktiergeschwindigkeit") vorgesprochen wird, um seine schriftliche Übersetzung zu ermöglichen. Soviel wir wissen, kommt das Ubersetzungsdiktat mitunter auch in der praktischen Tätigkeit des, Ubersetzens vor, wenn z. B.

*Siehe J.-F. Rozan: La prise de notes en interpretation consecu-tive. Geneve 1956.

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der Ubersetzer die Übersetzung eines ihm im Diktiertempo vorgelesenen Textes auf der Schreibmaschine schreibt.

Abschließend wollen wir die angeführten vier Überset-zungsarten je nach dem Verhältnis der mündlichen und schriftlichen Redeform in der Ausgangs- bzw. Zielsprache durch die folgende Zeichnung veranschaulichen:

Redeformen AS ZS

s c h r i f t l i c h 1 ^ s c h r i f t l i c h

1 — schriftlich-schriftliche Ubersetzung 2 — mündlich-mündliche Ubersetzung 3 — schriftlich-mündliche Ubersetzung 4 — mündlich-schriftliche Ubersetzung

In der weiteren Darlegung konzentrieren wir uns vor-wiegend auf allgemein-theoretische Probleme der Überset-zung ohne Rücksicht auf die einzelnen Arten und Gattungen, deren Spezifik wir aber überall dort behandeln werden, wo es uns notwendig erscheint.

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ZWEITES KAPITEL SPRACHLICHE BEDEUTUNGEN UND UBERSETZUNG

1. Die Grundlagen der Theorie der sprachlichen Bedeutungen

§ 12. In Kapitel 1 (§ 3) definierten wir den Prozeß der Übersetzung als Transformierung eines Redeproduktes in einer gegebenen Sprache in ein Redeprodukt einer anderen Sprache unter unveränderter Erhaltung der Bedeutung, richtiger, des S y s t e m s der Bedeutungen, die im Aus-gangstext ausgedrückt waren („Inhaltsebene des AS-Textes"). Dort wurde ebenfalls betont, daß zum Verständnis des Wesens der Ubersetzung vor allem eine tiefschürfende Aus-arbeitung der Theorie der sprachlichen Bedeutungen erfor-derlich ist. In diesem Kapitel soll (notwendigerweise knapp und schematisch) unsere Auffassung vom Wesen der sprach-lichen Bedeutungen, den in der Sprache zum Ausdruck kommenden Bedeutungstypen sowie ihrer Bolle im Uber-setzungsprozeß dargelegt werden.

Die Frage, was eigentlich die sprachliche Bedeutung ist, und welche grundsätzlichen Typen und Arten sprachlicher Bedeutungen es gibt, ist bis auf den heutigen Tag Gegen-stand von Auseinandersetzungen und Diskussionen. Es ist nicht unsere Aufgabe, alle oder auch nur alle maßgeblichen Ansichten zur Frage des Charakters der sprachlichen Bedeu-tung zu analysieren. Wir beschränken uns auf die Betrach-tung einer weitverbreiteten, aber unseres Erachtens trotz-dem irrigen Ansicht über die Natur der sprachlichen Bedeu-tung und ihr Verhältnis zur sprachlichen Form (zur „lautli-chen Materie" der Sprache). Nach dieser Ansicht handelt es sich bei der Bedeutung um ein gewisses psychisches Gebilde, um eine gewisse, der Sphäre des menschlichen Bewußtseins, der „Ideenwelt" eigene Kategorie, folglich um eine gedank-liche Kategorie, A. I. Smirnizki, der diesen Standpunkt

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teilte, schrieb dazu in einer seiner Arbeiten: „ . . . die Bedeu-tung des Wortes .. . besteht als bestimmte Erscheinung im B e w u ß t s e i n (Hervorhebung des Verf.) und ist eine Funktion des Gehirns."* In einer anderen Arbeit gibt A. I. Smirnizki folgende Definition der Bedeutung, die für diese Auffassung der hier zu betrachtenden sprachlichen Kategorie sehr kennzeichnend ist: „Die Bedeutung des Wortes ist eine bestimmte Abbildung eines Gegenstandes, einer Erscheinung oder eines Verhältnisses im Bewußtsein (bzw. ein seinem Charakter nach analoges psychisches Gebilde, das aus den Abbildungen einzelner Elemente der Wirklichkeit konstruiert ist), die in die Struktur eines Wortes als seine sogenannte innere Seite eingeht, der gegen-über die lautliche Erscheinung des Wortes als materielle Hülle fungiert."**

Dieser Standpunkt erscheint uns, trotz seiner scheinba-ren Uberzeugungskraft, als unhaltbar, da er in sich wider-sprüchlich ist. Wenn man sich auf diesen Standpunkt stellt, so gelangt man notwendig zur Auffassung, daß die Bedeu-tung, d. h. die sinntragende Seite der Sprache, im menschli-chen Bewußtsein, in der Psyche, angesiedelt ist, während die Sprache selbst „wirklich und vollständig in der Rede"*** existiert, die aber, wie A. I. Smirnizki wiederholt und aus-drücklich betont, keine psychische, sondern eine materielle Erscheinung ist. Somit ergibt sich ein Widerspruch: Einer-seits existiert die Sprache in der Rede und ist somit ein materielles Phänomen, andererseits existieren die Bedeu-tungen der sprachlichen Einheiten nicht mehr in der Rede, sondern im menschlichen Bewußtsein und sind daher zu den ideellen Phänomenen zu rechnen.

Dieser Widerspruch läßt sich auf dreierlei Art lösen. Man kann zum ersten zugeben, daß nicht nur die Bedeutung der sprachlichen Einheiten, sondern auch die Sprache in ihrer Ganzheit im menschlichen Bewußtsein, im Gehirn des Menschen existiert und somit z.u den psychischen Er-

*A. И. Смирницкий: Объективность существования языка, Москва 1954, с. 24.

**А . И. Смирницкий: Значение слова. „Вопросы языкознания", 1955, № 2, с. 89. Obwohl hier und andernorts Smirnizki vorrangig von der Bedeutung des Wortes spricht, dürfte man das Gesagte auch auf andere Typen sprachlicher Bedeutungen ausdehnen.

***A. И. Смирницкий: Объективность существования языка, с . 29.

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scheinungen zu rechnen ist. Diese Konzeption (der sogenann-te Psychologismus) war bekanntlich in der Sprachwissen-schaft des 19. und des beginnenden 20. Jh. weit verbreitet, sie wurden von bedeutenden Sprachwissenschaftlern jener Zeit wie A. A. Potebnja, H. Paul, I. A. Baudouin de Cour-tenay, F. de Saussure u. a. vertreten. Auch heutzutage findet diese Ansicht Anhänger.* In der oben zitierten Arbeit hat sich A. I. Smirnizki mit diesem Standpunkt kritisch auseinandergesetzt, und es erübrigt sich, hier seine Argumen-tation zu wiederholen. Wir wollen nur darauf verweisen, daß der materielle Charakter der Sprache — und im weite-ren Sinne gilt dies für jedes Zeichensystem überhaupt — sich aus ihrem Wesen als Mittel der Verständigung ergibt, denn ein solches Mittel muß ja materiell sein, um sinnlich wahrgenommen werden zu können.

Man kann, zum zweiten, die Sprache als zweiseitige Er-scheinung auffassen, als eine Art materiell-ideelles Objekt, dessen lautliche Form (Ausdrucksebene) materiell und dessen Inhalt (Inhaltsebene oder Bedeutung) ideell ist, d. h. in den Bereich des Psychischen gehört. Eine solche Auffassung vom Verhältnis des Materiellen und Ideellen in der Sprache ist unter Sprachwissenschaftlern und Philosophen weit ver-breitet. Wir halten sie aber nicht für richtig. Das Materiel-le existiert ja außerhalb des Menschen, außerhalb seines Be-wußtseins, in der objektiven Wirklichkeit selbst; das Ideel-le aber ist das in der menschlichen Psyche, in unserem Be-wußtsein bestehende Abbild der objektiven Welt . Mit einer derartigen Interpretation des Verhältnisses von Form und Bedeutung in der Sprache läßt sich nicht erklären, wie eigent-lich das Materielle und das Ideelle in der Sprache verbun-den ist, wie die in der materiellen Welt (in der Rede) be-heimatete lautliche Form als „Hülle" des ideellen „Begriffs" oder „psychischen Gebildes" fungieren kann, dessen Exi-stenzbereich das menschliche Bewußtsein ist.

Selbstverständlich darf die Gegenüberstellung von Mate-riellem und Ideellem in letzter Instanz auch nicht verab-solutiert werden, denn auch das Ideelle hat sein materiel-les Substrat im Gehirn, der höchstorganisierten Form der lebenden Materie. Doch dies löst den Widerspruch nicht, der,

*Vgl . z. B. N. Chomsky: Language and Mind. New York 1968, wo die Sprache als psychisches Phänomen behandelt und die Sprach-wissenschaft zu einem Teilbereich der Psychologie erklärt wird.

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wie wir zeigten, darin besteht, daß die lautliche Form der Sprache bei dieser Betrachtungsweise in die Rede, die sprachliche Bedeutung aber ins Gehirn des Menschen ver-wiesen wird, so daß Form und Bedeutung der Sprache gleich-sam zu einem getrennten Dasein verurteilt sind.

Das veranlaßt uns, nach einem dritten Weg aus diesem Widerspruch zu suchen. Wenn Form und Bedeutung der Sprache getrennt bestehen, so können sie doch auch nicht ein einheitliches Objekt bilden? Folgt daraus nicht etwa, daß die Sprache als materielles Gebilde eben nur bloße Form ist, während die zur psychischen Sphäre gehörenden Bedeutun-gen überhaupt nicht als Bestandteil (oder eine der Seiten) der Sprache angesehen werden dürfen? Im Bahmen der psycholo-gischen (bzw. logischen) Bedeutungskonzeption erscheint eine solche Schlußfolgerung wohl einzig konsequent: Negiert man den wesentlich psychischen Charakter der Sprache unter gleichzeitiger Annahme eines solchen psychischen Charakters für die Bedeutung, so folgt daraus mit logisch zwingender Notwendigkeit, daß die Bedeutung nicht zur Sprache gehört, sondern außerhalb der Sprache ein selbständiges Dasein führt. Zu diesem Schluß gelangen tatsächlich einige Auto-ren, die die Bedeutung als psychische bzw. gedankliche Kategorie behandelt wissen wollen itnd durchaus konsequent daraus schließen, daß das Zeichen überhaupt eine einseitige (rein formale) und nicht etwa eine zweiseitige Einheit ist und daß die Bedeutung nicht in die Struktur des Zeichens eingeht, sondern außerhalb liegt.

Diesen Standpunkt können wir jedoch nicht teilen. Das Zeichen (das sprachliche Zeichen nicht ausgenommen) ist ebendeshalb Zeichen, weil es eine Bedeutung besitzt, sobald man dem Zeichen die Bedeutung entzieht, hört es auf, Zei-chen zu sein. Die Behauptung, die Bedeutung liege „außer-halb" des Zeichens und sei nicht Teil seiner Struktur, ist gleichbedeutend mit der Annahme, daß ein Zeichen auch ohne Bedeutung Zeichen bleibt. Aber ein Zeichen ohne Bedeutung ist ein sich selbst widersprechender Begriff, kurzum ein Absurdum. Das Vorhandensein einer Bedeutung ist es, was das Zeichen vom Nicht-Zeichen unterscheidet, es ist dies das maßgebende Unterscheidungsmerkmal des Begriffes „Zeichen". Wie kann man behaupten, das ent-scheidende Unterscheidungsmerkmal eines Begriffes liege außerhalb dieses Begriffes selbst, sei etwas ihm Wesens-fremdes?

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Wenn man von der Sprache (als einem besonderen Zei-chensystem) spricht, so ist zu betonen, daß schon die Ent-wicklungsgeschichte der Sprachwissenschaft die völlige Un-haltbarkeit der Versuche bewiesen hat, die Bedeutung aus der Sprache zu „vertreiben", ihr einen Platz außerhalb der Sprache zuzuweisen. Die linguistischen Strömungen, die den Versuch unternahmen, eine Theorie der Sprache ohne den Bedeutungsbegriff aufzubauen — wie etwa die orthodo-xeste unter den Spielarten des amerikanischen Deskriptivis-mus, die Schule von Yale —, haben praktisch ein völliges Fiasko erlitten und sind untergegangen. Dies liegt nicht nur daran, daß die Ausschaltung der Bedeutung aus dem Bereich der Sprache die Problematik der Sprachwissenschaft um vieles ärmer macht, sondern es zeigte sich auch, daß man die sprachliche F o r m nicht erforschen kann, wenn man die von ihr ausgedrückten Bedeutungen nicht berücksichtigt — setzt doch der Begriff der Form notwendigerweise den Be-griff der Bedeutung voraus, ohne die ja die Form keine Form mehr ist. (Mit anderen Worten: Die Ausdrucksebene besteht als solche nur, insofern auch die Inhaltsebene be-steht, genauso wie das Bestehen der Inhaltsebene ohne das Bestehen der Ausdrucksebene undenkbar ist; beide Begriffe stehen einander gegenüber und implizieren sich gleichzeitig.) Heutzutage gibt es eigentlich keine ernst zu nehmende sprachwissenschaftliche Richtung, die von der Vorausset-zung ausgeht, daß die Bedeutungen außerhalb der Sprache liegen. Buchstäblich alle wichtigeren gegenwärtigen lingui-stischen Schulen behandeln die Bedeutung als integrieren-den Bestandteil des Sprachsystems, der genauso zu diesem System gehört wie die lautliche Form. Was wiederum Richtungen anbetrifft, wie die frühere Yale-Schule des amerikanischen Deskriptivismus, so haben sie einen nicht gering zu achtenden Beitrag zur linguistischen Wissenschaft geleistet, wenn auch nicht durch ihren Verzicht auf die Untersuchung der sprachlichen Bedeutungen, sondern viel-mehr t r o t z dieses Verzichts. Eine rein „formale" Analyse der Sprache ist nämlich unmöglich, und dies wurde in der linguistischen Fachliteratur wiederholt festgestellt. Die ausdrücklich angekündigte Weigerung, bei der Analyse des sprachlichen Materials die Bedeutungen zu berücksichtigen, führte dazu, daß die Bedeutungen gleichsam „durch die Hintertür" doch wieder zurückgeholt wurden, d. h. bei der Analyse des sprachlichen Materials unausgesprochen,

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implizit oder verborgen mit anwesend waren und mit be-rücksichtigt wurden. Es liegt aber im Interesse der Sprach-wissenschaft, daß diese Berufung auf die Bedeutung nicht verschleiert wird, sondern offen und ausdrücklich erfolgt, denn nur so ist die erforderliche Präzision und Strenge der sprachwissenschaftlichen Untersuchung gewährleistet.

Deshalb können wir uns nur A. I. Smirnizki anschließen, der kategorisch erklärt: „Es erscheint uns geboten, klar und unzweideutig zu erklären, daß die Bedeutungen der Wörter und sonstigen Einheiten zur Sprache gehören und genauso ihr Bestandteil sind wie die realen lautlichen Gestalten ihrer Einheiten."* Daraus folgt aber, daß die Bedeutungen der Spracheinheiten wie auch ihre „realen lautlichen Ge-stalten" nicht im Bewußtsein, nicht in der menschlichen Psyche existieren, sondern in der Rede, in den real be-stehenden Redeerzeugnissen (lautlichen oder schriftlichen Texten). Es ist nur zu bedauern, daß selbst ein so scharfsin-niger Forscher wie A. I. Smirnizki den Einfluß der hier herrschenden Tradition nicht zu überwinden vermochte und unmittelbar nach den obenangeführten Worten fortfährt: „Die Sprache ... e x i s t i e r t mit ihrer bedeutungstra-genden Seite unmittelbar im Bewußtsein." (Hervorhebung des" Verf.)

Man kommt also notwendigerweise zum Schluß, daß die Erklärung der Wortbedeutung zu einer psychischen Realität Widersprüche erzeugt, aus denen es keinen befriedigenden Ausweg gibt. Daraus ergibt sich, daß die Behandlung der sprachlichen Bedeutung als einer „psychischen", „logischen" oder „gedanklichen" Gegebenheit im Grundansatz falsch ist. D i e B e d e u t u n g e n d e r s p r a c h l i c h e n E i n h e i t e n e x i s t i e r e n n i c h t i m m e n s c h -l i c h e n B e w u ß t s e i n , s o n d e r n i n d i e s e n E i n h e i t e n s e l b s t , d . h . n i c h t i m G e h i r n d e s M e n s c h e n , s o n d e r n i n d e r B e d e .

Es gibt noch eine weitere Erwägung, die uns zur Abkehr von der logisch-psychologischen Auffassung der Bedeutung veranlaßt. Die Forscher nämlich, die die Bedeutung in der Sprache als eine Art „psychisches" oder „gedankliches" Gebilde betrachten, sind an der Aufgabe gescheitert, die Natur dieses „Gebildes" zu erfassen und es einer bestimmten

*A. M. CMUpHUlfKUÜ: OÖieKTHBHOCTI) Cym ,eCTBOBaHHH H3bIKa> c . 24.

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Kategorie gedanklicher Phänomene zuzuordnen. Es ist bekannt, daß die traditionelle Psychologie schon seit langem mit drei Typen gedanklicher Gestalten oder „psychischer Gebilde" operiert — den Wahrnehmungen, den Vorstellun-gen und den Begriffen. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß die Wahrnehmung nicht als Wortbedeutung in Frage kommt, handelt es sich doch bei der Wahrnehmung um die konkrete Abbildung eines Objekts im Bewußtsein, das unmittelbar von den Sinnesorganen des Menschen wahrgenommen wird, während in der Rede im Gegenteil sehr häufig Objekte behandelt werden, die sich außerhalb des Gesichtsfeldes der Gesprächspartner befinden (wenn ich etwa sage: „Iwanow ist gestern nach Leningrad abgereist", so wird weder von mir noch von meinem Zuhörer die Person Iwanow oder die Stadt Leningrad oder die Tatsache der Abreise unmittelbar wahrgenommen). Daraus zog man die Schlußfolgerung, daß als Bedeutung der Wörter und anderer sprachlicher Einhei-ten nicht die Wahrnehmungen, sondern die Vorstellungen angesehen werden müssen, die bekanntlich im Bewußtsein des Menschen bestehen können, auch wenn die entsprechen-den Objekte nicht durch die Sinnesorgane wahrgenommen werden und außerhalb der Reichweite der menschlichen Sinne liegen. Dieser Standpunkt, der die Bedeutungen in der Sprache mit den Vorstellungen gleichsetzte, herrschte be-kanntlich in der Sprachwissenschaft im Verlauf des ganzen 19. Jahrhunderts, gegenwärtig ist seine Unhaltbarkeit of-fensichtlich. Erstens ist die Wortbedeutung stets eine Verallgemeinerung, während die Vorstellungen stets ein-malig und konkret sind, da sie eben von früheren Wahr-nehmungen in unserem Bewußtsein hinterlassene Spuren darstellen. Wir können uns zum Beispiel die Bedeutungen solcher Wörter wie Baum oder Frucht nicht unmittelbar vorstellen, was wir uns vorstellen können, ist, sagen wir, eine Birke oder eine Eiche oder eine Kiefer, ein stehender Baum oder ein gefällter Baum, ein hoher Baum oder ein kleiner Baum, jedenfalls „nicht der Baum als solcher". Ebenso vorstellbar sind ein Apfel, eine Birne, eine Pflaume, eine Kirsche usw., und zwar ein konkreter (z-, B. roter oder gelber) Apfel , eine konkrete Birne usw., nicht aber „die Frucht als solche". Noch weniger läßt sich der Begriff der „Vorstellung" mit der Bedeutung abstrakter Wörter verein-baren wie etwa Ursache, Zeit oder Verhältnis, denn wir können uns diese abstrakten Bedeutungen nicht „vorstel-

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len", wir können uns keinerlei Bilder ins Bewußtsein rufen, die sich mit den Bedeutungen dieser Wörter verbinden ließen. Um so mehr gilt das für Präpositionen, Konjunktio-nen, Partikel und sonstige Hilfselemente der Sprache und in noch höherem Maße für die Bedeutungen grammatischer Formen, etwa der Kasusendungen des Substantivs oder Modalformen des Verbs. In bezug auf diese Einheiten der Sprache von „Vorstellungen" zu sprechen, wäre nur möglich, wenn man diesem Ausdruck selbst einen äußerst unbestimm-ten und verschwommenen Inhalt unterlegt, wodurch er jeden wissenschaftlichen Wert verlieren würde.

Es ist aber darüber hinaus experimentell nachgewiesen worden, daß die im Bewußtsein des Menschen durch eine bestimmte sprachliche Einheit ausgelösten Vorstellungen häufig nichts mit der eigentlichen Bedeutung dieser Einheit zu tun haben. So ließ bei einer Versuchsperson z. B. das Wort Religion die Vorstellungen von einem Neger auftau-chen, ein anderer assoziierte das Wort Zerberus mit der Vorstellung von einer beleibten Frau usw. Das ist durchaus natürlich, denn die Vorstellungen, die im Bewußtsein des Menschen auftauchen, sind stets einmalig und individuell, und sie bieten keine Gewähr dafür, daß der Sprechende und der Hörende mit demselben Wort die gleiche Bedeutung assoziieren, was aber gerade die notwendige Voraussetzung für die erfolgreiche Ausübung des sprachlichen Kommunika-tionsaktes ist.

In der modernen linguistischen Literatur verbindet man die Bedeutung am häufigsten mit dem Begriff. Wenn man den Bahmen der Auffassung der Bedeutung als einer ge-danklichen Kategorie nicht sprengen will , scheint diese Konzeption die vernünftigste zu sein: Die Bedeutung des Wortes besitzt, wie oben festgestellt, einen verallgemeinern-den Charakter, der Begriff aber wird gerade als „verallge-meinertes Abbi ld" definiert, als eine Verallgemeinerung der Eigenschaften und Merkmale, die den realen Gegenständen anhaften. Aber die Interpretation der Bedeutung des Wortes (wie jeder anderen sprachlichen Einheit auch) als „Begriff" stößt ebenfalls auf ernsthafte Schwierigkeiten. Die Natur des Begriffes ist uns noch weniger bekannt als die der Wahr-nehmung und der Vorstellung. Kann man die Existenz der beiden letzteren durch einfache „Introspektion" oder Selbst-beobachtung feststellen, so läßt sich der „Begriff" weder durch Selbstbeobachtung noch auf experimentellem Wege

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als selbständige Substanz erfassen. Das einzige, was wir jedenfalls mit Sicherheit über den „Begriff" aussagen kön-nen, ist, claß er in unserem Bewußtsein nur als Wort , als „gedankliches Abbi ld" des Wortes vorhanden ist, und nichts mehr. Wenn wir nun die Bedeutung des Wortes als „Begriff" definieren und somit diese Phänomene miteinander identifi-zieren, so tauschen wir einfach einen Fachausdruck gegen einen anderen aus, ohne im Verständnis dos Wesens dieser beiden Phänomene auch nur einen Schritt vorangekommen zu sein, wobei wir sie noch dazu ihrer Eigenart berauben und zu einer Einheit verschmelzen lassen. Wir geraten hier offenbar in einen Circulus vitiosus: Die Bedeutung des Wortes definieren wir als „Begriff", den „Begriff" aber können wir nicht anders definieren als durch das Wort, indem wir sagen, der „Begriff" sei das, was die Bedeutung des Wortes ausmacht. Andere Versuche, den „Begriff" zu definieren, ohne zur Wortbedeutung Zuflucht zu nehmen, etwa seine Definition als „verallgemeinertes Abbi ld" oder „verallgemeinerte Widerspiegelung", sind entweder zu un-bestimmt und verschwommen, oder aber sie leiden an inne-rer Widersprüchlichkeit (das „Abbi ld" ist immer einmalig und konkret, während die Verallgemeinerung stets eine Abstraktion, die Loslösung vom Einmaligen und Konkreten voraussetzt). Es muß folglich zugegeben werden, daß die Definition der Bedeutung mittels des „Begriffs" keinerlei po-sitiven Beitrag zur Erfassung der Natur der sprachlichen Bedeutungen zu leisten vermag, es sei denn, sie betont den abstrakten, „übersinnlichen" Charakter dieser letzteren ge-genüber den sinnlichen Abbildungen, d. h. den Wahrneh-mungen und Vorstellungen.

Das Dargelegte darf aber nicht so verstanden werden, als negierten wir jede Beziehung zwischen sprachlicher Be-deutung und Begriff. Die Bedeutung ist in der Sprache zweifellos aufs engste mit der gedanklichen Kategorie des Begriffes verbunden, wie auch die Sprache überhaupt aufs engste mit dem Denken, dem Bewußtsein des Menschen ver-bunden ist. Aber die Sprache ist nicht dasselbe wie das Den-ken, und sie existiert nicht im Bereich des Denkens (ob-wohl wir mittels der Sprache denken); genauso ist die Be-deutung des Wortes und anderer sprachlicher Einheiten nicht mit dem Begriff identisch (obwohl Begriffe im Be-wußtsein des Menschen nur dank seiner Kenntnis einer Sprache bestehen können, deren Einheiten bestimmte Bedeu-

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tungen besitzen). Es ist ein nutzloses Unterfangen, die Sprache durch das Denken und die Bedeutungen der sprach-lichen Einheiten durch den Begriff erklären zu wollen. Eher verhält es sich umgekehrt: Wir gelangen zur Einsicht in die Natur des Denkens und u. a. auch in die Natur des Begriffs nur, nachdem wir die Natur der Sprache und der sprachlichen Bedeutung erfaßt haben, ohne diese letzteren zunächst durch gedankliche Kategorien erklären zu wollen, denn das würde uns in einen fehlerhaften Kreislauf hinein-führen.

§ 13. Bevor wir zur Darlegung unserer Auffassung der sprachlichen Bedeutung schreiten, fassen wir noch einmal die grundlegenden Ausgangssätze zusammen:

1. Die Sprache ist ein Zeichensystem (oder semiotisches System) besonderer Art, das Komplizierteste und Universell-ste von allen in der menschlichen Gesellschaft existierenden Zeichensystemen. Die Hauptfunktion der Sprache, wie auch jedes anderen Zeichensystems, die für ihren Charakter und ihre Natur maßgebend ist, ist die Funktion der Verständi-gung („Kommunikation") .

2. Die Sprache hat ihre Existenz in der Rede, in den Redeerzeugnissen (Texten), die im Prozeß der Redekommu-nikation geschaffen werden. Die Rede ist, wie bereits ver-merkt, nicht auf die Sprache allein reduzierbar; jedoch ist die Sprache die wichtigste und grundlegende Komponente eines jeden Redeerzeugnisses, sie ist das „Material", aus dem dieses aufgebaut wird.

3. Die Einheiten der Sprache sind wie die eines jeden anderen Zeichensystems zweiseitige Gebilde: Man unter-scheidet in ihnen die Ausdrucksebene oder die lautliche (bzw. in der schriftlichen Rede die graphische)* Form und die Inhaltsebene oder Bedeutung. Beide Seiten der Sprache sind miteinander verbunden und durcheinander bedingt, sie setzen einander voraus, denn es gibt keine Form ohne Bedeutung und keine Bedeutung, die nicht durch irgendeine Form zum Ausdruck gebracht wird.

*Soweit die schriftliche Rode ein Abbild und eine Fixierung der mündlichen Rede ist, besitzt auch sie einen lautlichen Aspekt: Die graphischen Symbole bezeichnen nicht unmittelbar die Bedeutungen als solche, sondern sind gleichsam ein sekundäres Zeichensystem, das auf die Sprachlaute bezogen ist, die nun ihrerseits die eigentlichen Bedeutungsträger sind.

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4. Daraus folgt, daß die Bedeutungen der sprachlichen Einheiten wie auch ihre formale (lautliche oder graphische) Seite in der Rede, in den Redeerzeugnissen (Texten) exi-stieren.

Die Behauptung, daß die Bedeutungen der Einheiten der Sprache in der Rede, in den Redeerzeugnissen existieren, mag zunächst befremden. Bei der direkten Beobachtung der unmittelbaren Wahrnehmung von Redeerzeugnissen ist uns doch nur die lautliche Form der sprachlichen Einheiten gegeben, ein Strom von Lauten (in der schriftlichen Rede — die graphische Form, d. h. eine Kette handschriftlicher oder gedruckter Zeichen). Gerade die formale, äußere Seite der sprachlichen Zeichen ist es, die von unseren Sinnesorganen wahrgenommen wird; die Bedeutungen aber werden von uns unmittelbar nicht wahrgenommen, sie sind uns in unseren Empfindungen nicht gegeben, weder in den akustischen bei der Aufnahme mündlicher Rede noch in den visuellen, wenn wir es mit der schriftlichen Form der Rede zu tun haben. Daher entsteht der Eindruck, als ob außerhalb des Menschen in der materiellen Welt nur die äußere, lautliche Form der Sprache existiert, während die sprachlichen Bedeutungen nur in uns, in unserem Bewußtsein bestehen. Wenn ich zum Beispiel eine Bede in einer mir unbekannten Sprache höre, so empfinde ich mit meinen Sinnesorganen genau dieselbe Lautfolge wie einer, der diese Sprache beherrscht; aber ich verstehe diese Rede nicht, da ich nicht weiß, welche Bedeu-tungen ihre Laute ausdrücken, während ein Kenner dieser Sprache die Lautfolge ohne weiteres mit bestimmten Bedeu-tungen assoziiert. Ist das nicht ein Beweis dafür, daß die Bedeutungen der sprachlichen Einheiten dennoch nicht in der Rede, sondern im Bewußtsein, in der Psyche des die Sprache beherrschenden Menschen existieren?

Wenn wir aber die Bedeutung als irgendeine Substanz verstehen wollen (oder, grob gesagt, als einen „Gegenstand"), so müssen wir selbstverständlich zugeben, daß eine solche Substanz in der Rede nicht zu finden ist. Die Bedeutung ist nun einmal keine Substanz, sondern eine Beziehung. Darin liegt der Schlüssel zum Verständnis der Bedeutung in der Sprache und im weiteren Sinne in jedem Zeichen-system.

Um zu begreifen, was die Bedeutung eigentlich ist, muß man sich vor allem an die Natur des Zeichens erinnern. Jedes Zeichen ist nur deshalb ein Zeichen, weil es etwas

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b e z e i c h n e t , weil e s i n e i n e r B e z i e h u n g zu einem außerhalb dieses Zeichens selbst liegenden Etwas steht. Darin eben ist die Natur des Zeichens beschlossen: Ohne diese Beziehung ist das Zeichen kein Zeichen mehr, denn jedes Zeichen ist e i n Z e i c h e n f ü r e t w a s , d. h. ein materielles Gebilde (z. B. ein Lichtsignal, eine auf dem Papier abgebildete Figur oder ein Redelaut) er-wirbt erst dann die Eigenschaft eines Zeichens, wenn es sich auf etwas anderes, außerhalb seiner selbst Liegendes bezieht (vor allem auf das „Bezeichnete", d. h. auf ein Objekt der realen Wirklichkeit) . D i e s e B e z i e h u n g d e s Z e i c h e n s a u f e t w a s a u ß e r h a l b s e i -n e r s e l b s t L i e g e n d e s i s t e b e n d i e B e -d e u t u n g d e s Z e i c h e n s . U m ein Zeichen z u verstehen, muß man es folglich auf das Objekt beziehen können, dessen Zeichen es ist. Die Kenntnis der Bedeutung einer Einheit der Sprache ist folglich dasselbe wie die Kenntnis, worauf sich diese Einheit (das Signal, die Figur, die Lautfolge usw.) b e z i e h t , d. h. was sie bezeichnet.

Dies wird verständlich, wenn wir uns überlegen, wie wir die Bedeutungen von sprachlichen Einheiten, nament-lich von Wörtern, erfahren. Die Bedeutung eines neuen Wortes wird einem Erwachsenen, der die Sprache bereits beherrscht, gewöhnlich durch die Definition erschlossen (z. B. „Absinth ist ein mit Wermut angesetzter Trink-branntwein"). Hier wird die Bedeutung eines uns unbekann-ten Zeichens durch die Bedeutungen bereits bekannter Zeichen erschlossen. Dieses Verfahren zur Erschließung der Bedeutung eines Wortes (und jedes anderen Zeichens) ist nur anwendbar, wenn uns bereits die Bedeutungen einer genügend großen Anzahl von anderen Wörtern (bzw. Zei-chen) bekannt sind, mit deren Hilfe wir die Definition eines neuen, uns unbekannten Wortes formulieren können. Es handelt sich hier also um ein sekundäres, mittelbares Ver-fahren zur Aneignung der Wortbedeutung. Wie erfolgt aber die Aneignung der Wortbedeutungen ohne Vermittlung anderer Wörter, wenn etwa der Mensch eine Sprache erst-malig erlernt? Dies ist nur möglich, indem man das Wort , oder genauer, seine Lautgestalt, auf irgendein Objekt, einen Gegenstand der umgebenden Wirklichkeit b e z i e h t , der in der jeweiligen Situation vorhanden ist. Das Kind eignet sich z. B. die Bedeutung des Wortes „Tisch" dadurch an, daß es den Lautkomplex [ti j ] in solchen Äußerungen zu

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hören bekommt, wie Geh weg vom Tisch!, Komm an den Tisch!, Leg das Buch auf den Tisch! Setz dich an den Tisch! usw., die alle in einer Situation gebraucht werden, die durch das Vorhandensein eines bestimmten Möbelstückes gekenn-zeichnet ist. Allmählich entsteht im Bewußtsein des Kindes eine Beziehung zwischen dem Lautkomplex [tij] und dem entsprechenden Einrichtungsgegenstand — zunächst mit dem einen konkreten Tisch, der in seinem Zimmer steht, danach aber auch mit allen anderen gleichartigen Möbel-stücken. So erfährt das Kind, worauf sich der Lautkomplex [tijl b e z i e h t , welchen Gegenstand oder welche Klasse (Menge) von Gegenständen dieser Lautkomplex bezeichnet, oder, anders ausgedrückt, so erfährt es die B e d e u t u n g des deutschen Wortes Tisch.

Aus dem Gesagten ergibt sich, daß im Bewußtsein des Menschen, in seinem Gehirn nicht die B e d e u t u n g der Wörter und anderer sprachlicher Einheiten an sich entsteht und besteht, sondern die K e n n t n i s d i e s e r B e d e u t u n g . Die Bedeutungen der Spracheinheiten existieren in diesen selbst und äußern sich bei deren realem Gebrauch in der Rede, in der Redesituation; im Bewußt-sein des Menschen existiert nur die Kenntnis der sprachli-chen Bedeutungen ebenso wie die Kenntnis der lautli-chen Formen der Sprache. Ebendeshalb bleiben die Bedeu-tungen, die in der Rede in einer mir unverständlichen Spra-che ausgedrückt werden, für mich unzugänglich: Ich kenne sie nicht, d. h. ich weiß nicht, worauf sich die Einheiten dieser Sprache b e z i e h e n , während ein Mensch, der die-se Sprache kennt, bei der Aufnahme einer Lautfolge in dieser Sprache bestimmte Abschnitte dieses Redeflusses auf bestimmte Gegenstände, Erscheinungen und Situationen der objektiven Wirklichkeit b e z i e h t .

Dabei ist die menschliche Sprache so eingerichtet, daß die Gegenstände, Erscheinungen und Situationen, die durch die sprachlichen Einheiten bezeichnet werden, nicht un-bedingt im Gesichtsfeld des Sprechenden und des Hörenden im Augenblick der erfolgenden Kommunikation anwesend sein müssen.* Wenn ich sage Müller ist gestern nach Dresden

*Ch. Hockett bezeichnet diese Eigenschaft der menschlichen Sprache als „displacement" und betont, daß sie bei keinem der tieri-schen Signalsysteme, mit vielleicht einziger Ausnahme der „Bienen-sprache", vorkommt (Siehe Ch. Hockett: A Course in Modern Lingui-stics. N. Y. 1958, p. 579).

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abgereist, s o b e z i e h e n s i c h die diese Äußerung bildenden sprachlichen Einheiten wie auch die ganze Äuße-rung auf Gegenstände und Ereignisse, die irn gegebenen Augenblick nicht unmittelbar wahrgenommen werden und außerhalb der Reichweite der Sinnesorgane der Kommunika-tionspartner liegen. Trotzdem bleibt diese Äußerung jedem verständlich, der des Deutschen mächtig ist, denn er weiß, worauf sich die Äußerung und die einzelnen Einheiten in ihr b e z i e h e n , was sie b e z e i c h n e n . Wenn wir noch einen Schritt in dieser Richtung weitergehen, gelangen wir zu Äußerungen, in denen Situationen beschrieben werden, die nicht vorhanden sind und nie real vorhanden waren, d. h. frei erfundene Situationen wie etwa Herr Grünlich schrieb einen Brief an Toni Buddenbrook', Hamlet, der Prinz von Dänemark, rächte den Tod seines Vaters an seinem Onkel u. dgl. m. Aus derartigen Aussagen ist zu einem großen Teil die schöne Literatur („fiction") aufgebaut. Ein weiterer Schritt führt uns schließlich zu Äußerungen, die auf Situa-tionen hinweisen, die nicht nur nicht existent sind und nie existierten, sondern auch nie e x i s t i e r e n können — daraus entspringen Märchen, Mythen, religiöse Legenden u. ä.

Aber in allen solchen Phantasien besteht, wenn auch in verzerrter Form, eine Beziehung zur realen Wirklichkeit, denn jede Äußerung dieser Art ist, wie A. I. Smirnizki schreibt, aus „einzelnen Elementen der Wirklichkeit" kon-struiert, ihr phantastischer Charakter ergibt sich nur aus der wirklichkeitswidrigen K o m b i n a t i o n dieser real vor-handenen Elemente. Erinnern wir uns in diesem Zusam-menhang an das in § 4 (Kapitel 1) Gesagte: Die menschliche Sprache ist so angelegt, daß mit ihrer Hilfe b e l i e b i g e Situationen beschrieben werden können — nicht nur bereits bekannte, sondern auch neue, früher nie vorgekommene, und damit auch frei erfundene, nichtexistente und zusam-menphantasierte.

Man darf also die B e d e u t u n g e n der sprachlichen Einheiten nicht mit unserer K e n n t n i s dieser Bedeu-tungen verwechseln. A. I. Smirnizki betonte mit Recht, unsere Sprachkenntnis sei „nur ein A b d r u c k , ein A b b i l d der Sprache im Bewußtsein der Sprachbenutzer, der Sprachträger... Es ist zu unterscheiden zwischen der wahren objektiven Existenz der Sprache in der Rede und der Existenz ihres Abbildes im Bewußtsein, d. h. der Kennt-

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nis dieser Sprache."* Das Gesagte gilt unseres Erachtens nicht nur für die lautliche Form der Sprache, wie A. I. Smir-nizki annahm, sondern auch für ihre bedeutungstragende Seite, d. h. für die sprachlichen Bedeutungen. Ihre reale Existenz führen sie in der Rede, wo die Einheiten der Sprache (wie jedes andere Zeichen) immer auf etwas b e -z o g e n sind, etwas b e z e i c h n e n . Wenn wir die jeweilige Sprache beherrschen, so existiert in unserem Bewußtsein nur ein Abbild dieser real vorhandenen Bedeu-tungen der sprachlichen Einheiten, genauso wie im. Bewußt-sein ein Abbi ld der lautlichen (oder graphischen) Form dieser Einheiten vorhanden ist.**

Wir halten die Auffassung der sprachlichen Bedeutung nicht als „Substanz" oder „Gegenstand", sondern als be-stimmte B e z i e h u n g für die einzig annehmbare, wenn wir auf dem Boden der Theorie des z w e i s e i t i g e n Charakters des sprachlichen (und auch nichtsprachlichen) Zeichens bleiben wollen. Wenn man die Bedeutung als „Substanz" und nicht als Beziehung auffaßt, ergeben sich dagegen ernsthafte Gründe dafür, die Berechtigung der Aufnahme der Bedeutung in die eigentliche Zeichenstruktur in Frage zu stellen und folglich auch die Konzeption vom zweiseitigen Charakter des Zeichens anzuzweifeln. Sehr bezeichnend dafür ist folgender Gedankengang: „Das Zei-chen ist wirklich deshalb Zeichen, weil es eine Bedeutung besitzt. Daraus folgt aber keineswegs, daß das Zeichen eine Kombination, ein Ganzes ist, das aus zwei Elementen be-steht. Folgt denn etwa daraus, daß z. B. ein Gartenbesitzer ein Mensch ist, der einen Garten besitzt, daß der Garten-besitzer ein zweiseitiges Wesen darstellt, nämlich Mensch + Garten? Oder ist, um ein anderes ähnliches Beispiel zu nehmen, aus der Definition des Lehrers als Mensch, der

*A. И. Смирницкий: Объективность существования языка, с. 23. Die Existenz der Sprache, einschließlich ihrer Bedeutungen, im Bewußtsein des Menschen kann man mit А. I. Smirnizki für ihre nur „unvollständige Existenz" halten (ebenda, S. 32), d. h. für die potentielle Existenzform der Sprache.

**Nebenbei bemerkt, wird auch die lautliche Seite der Rede von einem Menschen, der der jeweiligen Sprache mächtig ist, anders empfunden als von einem, der die Sprache nicht kennt. Dem ersteren erscheint der Lautstrom in diskrete Einheiten — Phoneme — zerlegt, während für den anderen er ein undifferenziertes und ungegliedertes Lautkon tinuum ist. Siehe D.B. Fry: Speech reception and perception. „New Horizons in Linguistics", ed. by J. Lyons, Ldn., 1970.

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einen Schüler hat, der Schluß zu ziehen, der Lehrer sei ein zweiseitiges Wesen, das sich aus den beiden Elementen Mensch und Schüler zusammensetzt? Gartenbesitzer, Lehrer usw. sein, das sind beziehungsmäßige Kennzeichnungen einer Person, die ihr unter der Bedingung zugeeignet werden, daß sie einen Garten besitzt bzw. Schüler hat usw. Ohne die Beziehung zu einem anderen Gegenstand (Garten, Schüler usw.) kann diese Person weder Gartenbesitzer noch Lehrer usw. sein. Das bedeutet aber keineswegs, daß wir bei der Bezeichnung eines bestimmten Menschen als Gartenbesitzer diesen Namen auf die Summe von zwei Gegenständen be-ziehen: Mensch und Garten. Gartenbesitzer ist der Mensch selbst (unter der Bedingung, daß er einen Garten besitzt), aber nicht der Mensch und der Garten. Genauso steht es mit dem Zeichen und seiner Bedeutung. Zeichen sein ist eine beziehungsmäßige Eigenschaft eines Gegenstandes unter der Bedingung, daß dieser eine Bedeutung besitzt. Ohne diese Bezogenheit auf die Bedeutung gibt es keine Zeichen. Aber das Zeichen ist der Gegenstand selbst und nicht der Gegen-stand und seine Bedeutung. Die Erkenntnis, daß das Zeichen nur dank seiner Bedeutung Zeichen sein kann, ist somit gar nicht gleichwertig mit der Behauptung, das Zeichen bestehe aus zwei Elementen: Form und Inhalt."*

Wenn wir davon ausgehen, daß die Bedeutung eine gewisse Substanz oder ein „Gegenstand" ist (wie der „Gar-ten"), so erscheint diese Argumentation stichhaltig. Sie wird aber hinfällig, sobald wir uns auf den von uns vertretenen Standpunkt stellen, wonach die Bedeutung kein Gegenstand, sondern eine bestimmte B e z i e h u n g ist. Selbstverständ-lich ist der „Gartenbesitzer" nicht „Mensch und Garten" zu-gleich, aber er ist auch nicht ein „Mensch" schlechthin, son-dern ein „Mensch und seine B e z i e h u n g z u m G a r -t e n (Besitz)". Das Zeichen ist ebendeshalb ein zweiartiges Wesen, weil es nicht einfach ein materieller Gegenstand ist, sondern „ein materieller Gegenstand p l u s d e s s e n B e z i e h u n g z u e t w a s , was außerhalb seiner selbst liegt". Diese Beziehung des Zeichens auf etwas außer-halb des Zeichens selbst Liegendes (um was für ein Etwas es sich hier handelt, soll nachstehend geklärt werden) —

*A. А. Ветров: Семиотика и её основные проблемы, с. 47—48. In der Arbeit werden die Ansichten des polnischen Wissenschaftlers L. Zawadowski dargelegt, denen sich der Verfasser der zitierten Arbeit anschließt.

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das ist seine Bedeutung. Deshalb ist es unseres Erachtens falsch, von der „Beziehung des Zeichens zur Bedeutung" zu sprechen, denn die Bedeutung selbst ist die B e z i e -h u n g des Zeichens zu etwas, was an sich nicht die Be-deutung des Zeichens ist, aber durch seine Existenz dem Zeichen Bedeutung verleiht und es somit erst aus einem bloßen materiellen Gegenstand eigentlich zum Zeichen macht.

§ 14. Nachdem wir die Bedeutung des Zeichens (ein-schließlich des sprachlichen Zeichens, also des Wortes) als dessen B e z i e h u n g (Bezogenheit) auf etwas außerhalb des Zeichens selbst Liegendes definiert haben, müssen wir nun den nächsten Schritt tun, um festzustellen, w o r a u f e i g e n t l i c h das Zeichen bezogen ist, und damit bestimmen, welche Beziehung bzw. welche Beziehun-gen zwischen dem Zeichen und eben diesem Etwas die Bedeu-tung (bzw. Bedeutungen) des Zeichens ausmachen. In die-sem Zusammenhang ist zu bemerken, daß das Beziehungs-system, in das das Zeichen eingeordnet ist, vielseitig ist. Jedes Zeichen ist sozusagen integrierendes Element in

"einem ganzen Netz komplexer und vielfältiger Beziehungen. In der heutigen Semiotik spricht man v o n d r e i maß-geblichen Typen von Beziehungen, die das Zeichen eingeht, und somit von drei Grundtypen der Bedeutungen:

1. Zunächst ist es die Beziehung zwischen dem Zeichen und dem Gegenstand, der durch dieses Zeichen bezeichnet wird. So bezieht sich das Wort Tisch auf einen bestimmten Einrichtungsgegenstand, das Wort Hund auf ein Tier einer bestimmten Art usw. Selbstverständlich ist das durch ein Zeichen Bezeichnete durchaus nicht immer ein „Gegenstand" im direkten Sinne dieses Wortes, d. h. eine Sache oder ein Lebewesen. Ein Zeichen kann sich auch auf Handlungen bzw. Vorgänge beziehen (gehen, sprechen u. dgl.) oder auf Eigen-schaften {groß, lang usw.), oder auf abstrakte Begriffe (Ursache, Verbindung, Gesetz u. a. m.) , aber auch auf ganze Situationen, komplexe Gesamtheiten von Gegenstän-den, Erscheinungen und Verhältnissen der realen Wirk-lichkeit. Die Gegenstände, Vorgänge, Eigenschaften und Erscheinungen der realen Wirklichkeit, die durch die Zeichen bezeichnet werden, nennt man Referenten der Zeichen, die Beziehungen zwischen den Zeichen und deren Referenten

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heißen referentielle Bedeutungen* der Zeichen (engl, re-ferential meaning).

Hier ist aber ein wesentlicher Vorbehalt erforderlich. Referent des Zeichens ist in der Regel nicht ein einzelner, individueller, für sich bestehender Gegenstand, Vorgang usw., sondern eine Menge, eine ganze Klasse gleichartiger Gegenstände, Vorgänge, Erscheinungen usw. Referent des Wortes Tisch ist folglich nicht irgendein Tisch als Einzel-gegenstand, sondern die gesamte Menge der Gegenstände, deren Merkmale ungeachtet der bestehenden Unterschiede ihre Zusammenfassung zur Gesamtklasse der „Tische" ermöglichen. Referent des Wortes gehen ist nicht irgendeine einmalige, individuelle, konkrete Handlung, sondern die Menge aller (im Prinzip unendlich vieler) Handlungen, die in der Klasse des „Gehens" zusammengefaßt werden kön-nen. Es gibt allerdings auch Zeichen, deren Referenten ein-malige Einzelgrößen sind (z. B. „London"), jedoch ist ihr Anteil an der Gesamtheit der Zeichen relativ gering, und in den Zeichensystemen spielen sie keine so maßgebliche Rol le wie die Zeichen, deren Referenten ganze Mengen oder Klassen von Gegenständen, Erscheinungen usw. sind.

Im konkreten Redeakt kann aber ein Zeichen, dem als Referent eine ganze Klasse von Gegenständen zugeordnet ist, auch einen durchaus konkreten Einzelgegenstand be-zeichnen. Wenn ich etwa sage: Komm an den Tisch, so meine ich einen bestimmten Tisch, der zu der gegebenen Rede-situation gehört. In solchen Fällen, wenn das Zeichen in einer konkreten Redesituation einen konkreten Einzelge-genstand oder eine konkrete Einzelerscheinung bezeichnet, nennt man das Bezeichnete das Denotat des Zeichens. Die Begriffe „Referent" und „Denotat" sind streng auseinander-zuhalten: Zeichen mit verschiedenen Referenten können in einer bestimmten Situation auf das gleiche Denotat bezogen sein, da ein und derselbe Gegenstand auf Grund der Vielfalt seiner Merkmale gleichzeitig zu mehreren Klassen gehören kann, indem er sich gleichsam im Schnittpunkt dieser Mengen befindet. Im Satz: Dieser junge Mann ist mein Bekannter, er ist Student der Moskauer Universität, beziehen sich die Zeichen junger Mann, Bekannter, Student, die

* Weitere in der wissenschaftlichen Literatur gebräuchliche Aus-drücke sind „denotative", „begriffliche" oder „gegenständlich-logische" Bedeutung.

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jeweils verschiedene Referenten haben, auf ein und dasselbe Denotat. Weiter werden wir darauf eingehen, welche ver-schiedene Rollen die Begriffe „Denotat" und „Referent" in der Ubersetzung spielen.

2. Die referentielle Bedeutung des Zeichens ist zwar ein sehr wichtiges Merkmal dieses Zeichens, aber in ihr erschöpfen sich nicht alle jene Beziehungen, die ein Zei-chen eingeht. Der zweite Typ dieser Beziehungen sind die Beziehungen zwischen dem Zeichen und dem Menschen, der dieses Zeichen benutzt. Im Falle der Sprache geht es dabei um die Beziehungen zwischen den sprachlichen Zeichen und den Teilnehmern des Redevorgangs, dem Sprechenden bzw. Schreibenden und dem Hörenden bzw. Lesenden. Menschen als Benutzer von Zeichen — namentlich auch als Sprachzei-chenbenutzer — sind den Zeichen gegenüber alles andere als gleichgültig, sie unterstellen ihnen ihr eigenes subjek-tives Verhalten und übertragen es so auch auf die von den Zeichen bezeichneten Referenten. Die deutschen Wörter Kopf und Haupt, schlafen und pennen, rauben, stehlen und klauen bezeichnen jeweils gleiche Referenten und haben somit gleiche referentielle Bedeutungen. Sie unterscheiden sich aber untereinander durch die subjektiven Beziehun-gen, die zwischen diesen sprachlichen Zeichen und den sie benutzenden Menschen bestehen und die mittels der Zeichen auf die von ihnen bezeichneten Referenten selbst übertra-gen werden. Diese subjektiven Beziehungen (emotioneller, expressiver, stilistischer Natur usw.) werden als pragma-tische Beziehungen bezeichnet. Dementsprechend nennen wir diesen zweiten Bedeutungstyp die pragmatische Bedeu-tung des Zeichens.*

Es geht hier nicht um ein Verhältnis zwischen dem Zei-chen und einem einzelnen Individuum (dem Menschen als „Absender" bzw. „Empfänger" der sprachlichen Mitteilung), sondern um ein Verhältnis zwischen den Zeichen und der ganzen Gemeinschaft der Menschen, die diese Zeichen benut-zen, im Falle der Sprache also um die Beziehungen zwischen

*Andere Ausdrücke, die zur Bezeichnung dieses Bedeutungstyps verwendet werden, sind „konnotative Bedeutung", „emotive Bedeutung" (E. Nida: Toward a Science of Translating. Leiden, 1964), „soziale Bedeutung" (Ch. Fries: The Structure of English. N. Y. 1952), „sti-listische" oder „emotionelle Färbung". Dem Ausdruck „pragmatisch", der auch nicht einwandfrei ist, geben wir jedoch den Vorzug, da er in unserer Auffassung alle anderen hier angeführten Bezeichnungen als Gattungsbezeichnung umspannt.

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den Zeichen der jeweiligen Sprache und der Gemeinschaft der Sprachträger als Ganzes. Innerhalb einer solchen Sprach-gemeinschaft sind immerhin individuelle und gruppenbe-dingte Abweichungen möglich, die sich in der unterschied-lichen Reaktion der Sprachbenutzer auf die jeweiligen Sprachzeichen äußern. Im vorrevolutionären Rußland haben z. B. die Wörter самодержавие (Selbstherrschaft), верно-подданный (Untertan), городовой (Schutzmann) trotz der Identität ihrer referentiellen Bedeutung für alle Angehöri-gen der russischen Sprachgemeinschaft, bei Anhängern und Gegnern des Zarenregimes eine verschiedene (ja entgegenge-setzte) Bewertungsreaktion ausgelöst. In der Regel sind jedoch die pragmatischen Bedeutungen der sprachlichen Einheiten und somit auch der Wörter für das ganze Kollektiv der Sprachträger gleich (insofern es sich um die Gemeinsprache des Volkes und nicht um Klassen- oder Gruppendialekte bzw. Jargons handelt). (Ausführlicher werden die Abarten der pragmatischen Bedeutungen in Kapitel 3 behandelt.)

3. Schließlich ist noch zu berücksichtigen, daß jedes Zeichen, auch das sprachliche, nicht isoliert besteht, son-dern als Bestandteil eines bestimmten Zeichensystems. Dementsprechend befindet sich ein jedes Zeichen in kom-plizierten und vielfältigen Beziehungen zu anderen Zeichen desselben Zeichensystems (im Falle der sprachlichen Zei-chen ist es das System der jeweiligen Sprache). So hat das deutsche Wort „Tisch" bestimmte Beziehungen zu Wörtern wie Möbel, Einrichtung, Stuhl, Sessel usw., andere Beziehun-gen verbinden es mit Wörtern wie hölzern, rund, decken, stehen u. dgl. , wieder andere mit solchen wie Tischdecke, auftischen, Tischler u. a. m. Noch anders sind die Beziehun-gen von Tisch zu Fisch, Wisch oder Tick, Tip usw. usf. Die Beziehungen zwischen dem jeweiligen Zeichen und an-deren Zeichen desselben Zeichensystems nennt man intra-linguistische* Beziehungen, und dementsprechend verwenden wir auch den Begriff der intralinguistischen Bedeutungen der sprachlichen Zeichen**.

Jedes sprachliche (und auch nichtsprachliche) Zeichen steht somit in bestimmten Beziehungen zu den Bezeichneten

*Für nichtsprachliche Zeichensystemo eignet sich der Ausdruck „intrasemiotische Bedeutung".

**Andere Bezeichnungen: „linguistische Bedeutung" (E. Nida: Toward a science of Translating), „Valenz" (F. de Saussure: Cours de la linguistique generale. Paris 1931).

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oder Referenten, zu den Menschen oder Sprachbenutzern und zu anderen, demselben sprachlichen (oder im weiteren Sinne semiotischen) System angehörenden Zeichen. Daher setzt sich der semantische Inhalt des Zeichens aus drei Komponenten zusammen: der referentiellen, der pragma-tischen und der intralinguistischen (im weiteren Sinne intrasemiotischen) Bedeutung. In der Wissenschaft von den Zeichensystemen — der Semiotik — entsprechen diesen drei Bedeutungstypen ihre drei Hauptabschnitte: die S e m a n -t i k , clie die referentielle Bedeutung der Zeichen untersucht, die P r a g m a t i k, die sich mit der pragmatischen Be-deutung befaßt, und die S y n t a k t i k , die für die intra-linguistischen (intrasemiotischen) Bedeutungen zuständig ist.*

Selbstverständlich sind diese drei Bedeutungstypen un-lösbar verbunden, da sie alle zugleich Komponenten der semantischen Struktur derselben Einheit (desselben Zei-chens) sind. Die pragmatische Bedeutung des Zeichens ist unmittelbar mit seiner referentiellen Bedeutung verbunden: Die Beziehungen, die sich zwischen dem Zeichen und dem Kollektiv der Zeichenbenutzer herausbilden, werden auch auf den Referenten dieses Zeichens übertragen, und umge-kehrt, bestimmen die Eigenschaften des Referenten selbst weitgehend die pragmatischen Bedeutungen mit, die das Sprachkollektiv dem dazugehörigen Zeichen beilegt. Die intralinguistische und die referentielle Bedeutung des sprachlichen Zeichens sind gleichfalls aufs engste miteinan-der verbunden: Die Beziehungen zwischen den Zeichen wer-den in hohem Maße durch die Zusammenhänge und Beziehun-gen geprägt, die in der realen Wirklichkeit zwischen den Referenten dieser Zeichen bestehen. Umgekehrt ist die im jeweiligen Sprachkollektiv akzeptierte Klassifikation der Referenten weitgehend vom System der dem Kollektiv zur Verfügung stehenden Zeichen abhängig.** Dennoch besteht eine relative Unabhängigkeit dieser drei Bedeutungs-typen voneinander, und das ist Grund genug für ihre Unter-scheidung und gesonderte Behandlung.

Vor allem erhebt sich die Frage, ob alle Zeichen in ihrer semantischen Struktur unbedingt alle diese drei Bedeutungs-

*Ch. Morris: Foundations of the Theorie of Signs. Chicago 1938, II 3.

** Darauf beruht u. a. die sogenannte Sapier-Whorf-Hypothese.

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typen enthalten müssen? Die Antwort darauf muß wohl eher negativ ausfallen. Als Regel kann gelten, das ein Zeichen alle drei Bedeutungstypen besitzt, es gibt aber auch Zeichen, bei denen die Bedeutungstypen unvollständig vertreten sind. So gibt es im System einer jeden Sprache Zeichen, die keinerlei referentielle Bedeutung besitzen, keine Gegenstände, Erscheinungen oder Situationen der objektiven Wirklichkeit bezeichnen und nur eine ausge-sprochen intralinguistische Bedeutung haben. Hierher gehö-ren verschiedene Hilfswörter und formal-grammatische Elemente (z. B. die Flexionen in Sprachen wie Russisch oder Latein, wo sie lediglich Ausdrucksmittel für die syn-taktischen Verbindungen der Wörter im Satz sind, die Parti-kel to im Englischen oder zu im Deutschen als Infinitivmerkmal u. ä.). Offenbar besitzt aber jedes Zeichen eine intralingui-stische Bedeutung, da es notwendigerweise in ein Zeichen-system eingeordnet sein muß, mit dem es bestimmte Be-ziehungen verbinden. Ob alle Zeichen ohne Ausnahme eine pragmatische Bedeutung besitzen, ist umstritten. Wenn man auch die neutrale („nullwertige") Beziehung des Sprach-trägerkollektivs zum Zeichen ebenfalls zu den pragmatischen Bedeutungen rechnet, so ist die obige Frage positiv zu beant-worten. Berücksichtigt man dagegen nur „markierte" (also ausgesprochen positive bzw. ausgesprochen negative) Bezie-hungen, so ist die Frage zu verneinen. In der Beihe Haupt — Kopf — Birne lassen sich bei dieser Betrachtungsweise nur für das erste und das dritte Glied pragmatische Bedeutungen feststellen (eine positive Beziehung bei Haupt und eine nega-tive bei Birne). Das zweite Glied (Kopf), das emotionell neutral ist, wird als Wort ohne jede pragmatische Bedeutung charakterisiert und besitzt demnach nur eine ausschließlich referentielle (und natürlich auch eine intralinguistische) Bedeutung. Dieses Problem ist zwar theoretisch nicht un-interessant, hat aber für unsere Untersuchung bestenfalls nur akademischen Wert . Ob wir nun von einer „neutralen" („nullwertigen") pragmatischen Bedeutung sprechen oder vom „Fehlen" jeglicher pragmatischen Bedeutung — das Wesen der Sache bleibt davon unberührt (genauso, wie es im Grunde gleichgültig ist, ob wir bei Wörtern wie стол im Russischen eine „Null-Endung" feststellen oder einen „bedoutungstragenden Endungsmangel").

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2. Die sprachlichen Bedeutungen und die Übersetzung

§ 15. Von viel größerer, ja von erstrangiger Bedeutung für die Ubersetzungstheorie ist eine andere Frage, und zwar, ob alle Bedeutungstypen, die im Original enthalten sind, auch bei der Ubersetzung erhalten bleiben? Anders läßt sich die Frage auch so formulieren: Ist es die Aufgabe des Ubersetzers, nur die referentiellen Bedeutungen wiederzu-geben, die im ausgangssprachlichen Text ausgedrückt sind, oder muß er auch die anderen Bedeutungstypen über-tragen, d. h. die pragmatischen und die intralinguistischen?

Diese Frage ist sehr kompliziert, sie läßt sich nicht ohne weiteres eindeutig beantworten und bedarf einer eingehenden Untersuchung. Das ganze nächste Kapitel ist eigentlich der detaillierten Analyse des Problems gewidmet, wie verschie-dene Typen sprachlicher Bedeutungen bei der Ubersetzung wiedergegeben werden. Jetzt umreißen wir diese Problema-tik nur in großen Zügen, ausgehend von der im 1. Kapitel entwickelten Auffassung der Ubersetzung. In § 3 dieses Kapi -tels definierten wir die Übersetzung als Prozeß der Transfor-mierung eines Redeerzeugnisses in einer Sprache in ein Redeerzeugnis einer anderen Sprache u n t e r B e i b e -h a l t u n g d e r u J i v e r ä n d e r t e n B e d e u t u n g . Wir machten dabei den Vorbehalt, daß erstens der Begriff „Bedeutung" möglichst weit zu fassen ist, und daß darunter nicht nur die referentiellen Bedeutungen der sprachlichen Einheiten, sondern auch alle anderen Beziehungen dieser Einheiten verstanden werden müssen, und daß zweitens von der Erhaltung der unveränderten Bedeutung nur relativ gesprochen werden kann, im Sinne höchstmöglicher Vol l -ständigkeit bei der Wiedergabe der Bedeutungen. Daraus folgt erstens, daß die Aufgabe des Ubersetzers die mög-lichst vollständige Wiedergabe aller Typen der sprachlichen Bedeutung ist, und zweitens, daß bei der Übersetzung Bedeu-tungsverluste unvermeidlich sind — die im AS-Text ent-haltenen Bedeutungen bleiben bei der Ubersetzung nicht vollständig erhalten und sind nur partiell im übersetzten Text wiedergegeben.

Der „Erhaltungs"grad der Bedeutungen bei der Überset-zung ist verschieden, er variiert je nach dem Bedeutungs-typ. Am vollständigsten lassen sich bei der Ubersetzung die

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referentiellen Bedeutungen erhalten (sie besitzen die höchste „Ubersetzbarkeit"). Die Ursache liegt auf der Hand: Wie in Kap. 1, § 4 gezeigt wurde, ist in den referentiellen Be-deutungen der sprachlichen Einheiten die gesamte praktische Erfahrung des Sprachträgerkollektivs verkörpert; da aber die reale Wirklichkeit, in der verschiedene Sprachkollekti-ve leben, viel mehr Übereinstimmendes als Auseinander-gehendes enthält, so gibt es auch bei den referentiellen Bedeutungen verschiedener Sprachen viel mehr Uberein-stimmendes als Auseinandergehendes. Was aber die Fälle anbetrifft, wo Gegenstände oder Situationen aus dem Erfah-rungsschatz des AS-Trägerkollektivs im Erfahrungsschatz des ZS-Trägerkollektivs einfach nicht vorhanden sind, so werden sie durch die schon geschilderte Fähigkeit der Spra-che bewältigt, beliebige Gegenstände, Begriffe und Situa-tionen zu beschreiben (wenn auch nicht immer knapp und „wirtschaftlich" genug). Dieser Eigenschaft der Sprache ver-dankt die Menschheit die Befähigung zur unbeschränkten Erkenntnis ihrer Umwelt, zum unendlichen Fortschritt der Vernunft. Dadurch werden bei der Ubersetzung die referen-tiellen Bedeutungen der sprachlichen Einheiten maximal erhalten und wiedergegeben (wenn auch die konkreten M i t -t e 1 zur Äußerung dieser Bedeutungen sich von Sprache zu Sprache sehr wesentlich unterscheiden können).

In geringerem Maße als die referentiellen lassen sich bei der Übersetzung die pragmatischen Bedeutungen wieder-geben. Wenn nämlich die zu beschreibenden Gegenstände, Begriffe und Situationen für die Träger verschiedener Sprachen in den allermeisten Fällen identisch sind, so sind die H a l t u n g e n verschiedener Menschengemeinschaf-ten ihnen gegenüber, die Beziehungen zu ihnen häufig ver-schieden, und das bedingt die Verschiedenheit der pragmati-schen Bedeutungen der entsprechenden Zeichen in verschie-denen Sprachen. Deswegen ist die „Erhaltbarkeit" der prag-matischen Bedeutungen im Übersetzungsprozeß meist gerin-ger als die der referentiellen Bedeutungen. Beispiele dafür werden in Kapitel 3 gegeben.

Die intralinguistischen Bedeutungen schließlich lassen sich schon auf Grund ihrer Eigenart bei der Ubersetzung nur minimal wiedergeben. Meistens gehen sie völlig verlo-ren, was auch verständlich ist, denn bei der Übersetzung wird die eine Sprache durch eine andere ersetzt, aber jede Sprache ist für sich ein System eigener Art, dessen Elemente

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untereinander Beziehungen eingehen, die für das betreffende System spezifisch sind. Bei der Übersetzung verschwinden somit im Normalfall die intralinguistischen Bedeutungen der AS-Einheiten, und an ihre Stelle treten die intralingui-stischen Bedeutungen, die den ZS-Einheiten eigen sind. Die Forderung nach vollständiger Wiedergabe auch der intralinguistischen Bedeutungen des AS-Textes bei der Ubersetzung ist irreal, sie zu erfüllen ist unmöglich.

Daraus ergibt sich scheinbar, daß bei der Ubersetzung vom AS-Text vor allem die referentiellen Bedeutungen erhalten bleiben, in geringerem Maße die pragmatischen, während von den intralinguistischen nichts (oder nur sehr wenig) übrigbleibt. Spricht man von einer „Rangfolge der Wiedergabe der Bedeutungen" (s. Kap. 1, § 3), so ist es die Aufgabe des Ubersetzers, vor allem die referentiellen Bedeu-tungen wiederzugeben, dann die pragmatischen und auf die Wiedergabe der intralinguistischen zu verzichten (weil dies ja grundsätzlich unmöglich sei). Diese Fragestellung ist aber viel zu einseitig, denn sie läßt einen anderen wichtigen Faktor unberücksichtigt, der die „Rangfolge" der Wieder-gabe der Bedeutungen bestimmt, nämlich den Charakter des zu übersetzenden Textes. Die von uns nachgewiesenen Typen der sprachlichen Bedeutungen spielen nämlich eine sehr ungleiche Rolle in Texten verschiedener Gattungen. In der wissenschaftlichen und technischen Literatur dominieren die referentiellen Bedeutungen (die wichtigste Information, die in diesen Texten enthalten ist, tragen gerade die referen-tiellen Bedeutungen der den Text bildenden Spracheinhei-ten). In der schönen Literatur dagegen, ganz besonders in der lyrischen Dichtung, sind meistens nicht die referentiellen, sondern die pragmatischen Bedeutungen im Text tonange-bend und wesentlich. Daraus ergibt sich wiederum, daß die eben geschilderte Rangfolge hier nicht gilt, und daß der Ubersetzer literarischer und insbesondere lyrischer Texte häufig auf die Wiedergabe der referentiellen Bedeutungen verzichten muß, um die für solche Texte weitaus wertvollere Information erhalten zu können, die in ihren pragmatischen (emotionellen usw.) Bedeutungen eingeschlossen ist. In eini-gen Fällen (meistens auch bei der Übersetzung dichterischer Texte) kann die wesentlichste Information sogar gerade in den intralinguistischen Bedeutungen der Spracheinheiten des Textes konzentriert sein, so daß der Ubersetzer gezwun-gen ist, um ihrer Wiedergabe willen die Bedeutungen ande-

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rer Typen, vor allem die referentiellen Bedeutungen, zu op-fern. Beispiele dafür enthält das nächste Kapitel. Wir kom-men somit zu dem Schluß, daß es grundsätzlich unmöglich ist, ein allgemeingültiges Schema der „Rangfolge der Wie -dergabe der Bedeutungen" zu entwerfen, das für Texte aller Typen und Gattungen passen würde. Der Ubersetzer hat in jedem Einzelfall zu entscheiden, welche Bedeutungen bevorzugt zu behandeln sind und welche geopfert werden können, um den Verlust der für den Text wesentlichsten Information minimal zu halten.

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DRITTES KAPITEL DIE SEMANTISCHEN ENTSPRECHUNGEN BEI DER ÜBERSETZUNG

1. Die Wiedergabe der referentiellen Bedeutungen

§ 16. Das Grundproblem, mit dem sich der Ubersetzer bei der Wiedergabe der im Ausgangstext enthaltenen referen-tiellen Bedeutungen auseinanderzusetzen hat, ist die Nicht-übereinstimmung des Bedeutungsumfangs der sprachlichen Einheiten der Ausgangssprache und der Zielsprache, Es gibt keine zwei Sprachen, bei denen die bedeutungstragenden Ein-heiten — Morpheme, Wörter, stehende Wortverbindungen — volle Ubereinstimmung in ihrem referentiellen Bedeutungs-umfang aufweisen. Die zum Ausdruck kommenden Bedeu-tungen (die „Begriffe") stimmen zwar weitgehend überein, aber die Art und Weise ihrer Äußerung — die Gruppierung, Gliederung und Zusammenfassung, ihre Vereinigung inner-halb einer formalen Einheit (oder innerhalb einer Gruppe von Einheiten) — geht in den einzelnen Sprachen mehr oder weniger deutlich auseinander. Das läßt sich sehr anschaulich am Beispiel verschiedener Sprachen demonstrieren. Träger von referentiellen Bedeutungen sind zwar nicht nur Wörter, aber es ist doch wohl das Zweckmäßigste, gerade das Wort als Vergleichseinheit bei der Gegenüberstellung der seman-tischen Einheiten verschiedener Sprachen zu benutzen.,1

Deshalb werden wir im weiteren eben mit Wörtern operieren. Dabei ist nicht zu vergessen, daß die von uns festgestellten Typen der Diskrepanz zwischen den semantischen Systemen verschiedener Sprachen nicht nur im Bereich des Wort -schatzes gelten, sondern auch anderen Arten von sprachli-chen Einheiten eigen sind (z. B. grammatischen Morphe-men; grammatische Entsprechungen werden speziell in A b -schnitt 4 dieses Kapitels behandelt).

Alle Typen der semantischen Entsprechungen zwischen

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den lexikalischen Einheiten verschiedener Sprachen iassen sich auf folgende drei Grundtypen reduzieren: 1) vollstän-dige Übereinstimmung; 2) teilweise Ubereinstimmung; 3) fehlende Ubereinstimmung. Wir wollen diese drei Fälle näher betrachten, wobei wir berücksichtigen müssen, daß die beiden letzteren (teilweise und fehlende Übereinstim-mung) wegen ihrer Schwierigkeit für die Theorie und Praxis der Ubersetzung von besonderem Interesse sind.

§ 17. Fälle vollständiger Übereinstimmung lexikalischer Einheiten verschiedener Sprachen im vollen Umfang ihrer referentiellen Bedeutungen sind verhältnismäßig selten. Meistens ist das bei monosemen (eindeutigen) Wörtern der Fall, die in beiden Sprachen jeweils nur eine Bedeutung besitzen. Der Anteil solcher Wörter am gesamten Vokabular der Sprache ist bekanntlich relativ gering. Hierher gehören vor allem Wörter folgender lexikalischer Gruppen:

1. Eigennamen und geographische Benennungen, die zum Wortbestand beider Sprachen gehören, z. В. Гомер — Homer; Москва — Moskau; Польша — Polen u. dgl.

/ 2 . Wissenschaftliche und technische Fachwörter, z . B. логарифм — Logarithmus; шестигранник — Hexaeder; водород — Wasserstoff; свинец — Blei; млекопитающее — Säugetier; крестоцветные — Kreuzblütler; протон — Pro-ton; экватор — Äquator; вольтметр — Voltmeter usw.

3. Einige andere Gruppen von Wörtern, die den beiden vorher genannten semantisch nahestehen, z. B. die Namen der Monate und Wochentage: январь — Januar; понедельник —Montag u. a. m. Verwand t damit ist eine so eigenartige Wort-kategorie wie die Zahlwörter: тысяча — Tausend; миллион — Million usw.

Es wäre aber falsch anzunehmen, daß alle zu diesen Grup-pen gehörenden Wörter jeweils Paare von vollständigen Ent-sprechungen darstellen. Es kommt nicht selten vor, daß auch innerhalb dieser semantischen Wortkategorien die Ent-sprechungen nicht eindeutig sind. So ist für Fachtermini häufig eine Vieldeutigkeit kennzeichnend, weswegen ihnen in der anderen Sprache nicht ein einziges Wort entspricht, sondern mehrere. Der englische Fachausdruck power besitzt in der Physik mehrere Bedeutungen (und somit auch deutsche Entsprechungen), und zwar: Kraft, Leistung, Energie-, in der Mathematik bedeutet er außerdem Potenz. Besonders stark

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ausgeprägt ist die Polysemie bei technischen Fachwörtern, so entsprechen dem russischen Wort камера im Deutschen die Wörter Kammer, Zelle, Kamera, Gehäuse, Schlauch, Box u. a., dem russischen втулка entsprechen Hülse, Nabe, Muffe, Futter, Brille, Spund, Buchse u. dgl. m. Die Bezeich-nungen VOD im jeweiligen Land unbekannten oder seltenen Tieren sind meistens eindeutig und besitzen somit in anderen Sprachen vollständige Entsprechungen, wie etwa дико-браз — Stachelschwein, фламинго — Flamingo u. ä. Die Namen allgemein bekannter und weitverbreiteter Tiere sind dagegen nicht nur zoologische Artenbezeichnungen, sondern auch Bestandteile des Alltagsvokabulars und entwickeln somit auch vielfältige Bedeutungen. So hat das englische Wort tiger neben der Bedeutung Tiger auch andere Bedeu-tungen (und deutschsprachige Entsprechungen) wie brutaler Mensch, gefährlicher Gegner, Händelsucher, Rowdy u. dgl.

Bei den Zahlwörtern wird die Eindeutigkeit der deutsch-russischen Entsprechungen dadurch verhindert, daß im Russischen eine Zahl durch jeweils zwei oder mehr Wörter bezeichnet werden kann: два — двое — двойка-, три — трое — тройка-, десять — десяток — десятка u. ä.

Der Eindeutigkeit und Begelmäßigkeit der terminologi-schen Äquivalente steht auch das Vorhandensein synonymer Termini in einer Sprache entgegen. Den deutschen mathema-tischen Fachwörtern Binom, Polynom entsprechen im Bus-sischen sowohl бином, полином als auch двучлен, многочлен (die untereinander jeweils keinerlei referentielle Bedeutungs-unterschiede aufweisen). *

Es kommt sehr selten vor, daß in zwei Sprachen die einander äquivalenten Wörter sich im ganzen Umfang ihrer referentiellen Bedeutungen decken, auch wenn es sich um polyseme Wörter handelt. So besitzen z. B. sowohl das rus-sische лев als auch das deutsche Löwe gleicherweise die beiden Bedeutungen: 1) große Raubkatze; 2) Mensch, der im Mit-telpunkt gesellschaftlicher Aufmerksamkeit steht (z. B. Salonlöwe — светский лев).

Solche vollen Ubereinstimmungen bereiten dem Uber-setzer keinerlei Schwierigkeiten. Ihre Wiedergabe ist kon-textunabhängig, so daß dem Ubersetzer allein die Kenntnis des jeweiligen Äquivalents völ l ig genügt.

*Uber nichteindeutige Entsprechungen bei der Wiedergabe von Eigennamen siehe Kap. 4, § 42.

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§ 18. Der häufigste Fall bei der Gegenüberstellung von lexikalischen Einheiten in zwei Sprachen ist die partielle Übereinstimmung, bei der einem AS-Wort nicht ein, sondern mehrere semantische Äquivalente in der Zielsprache ent-sprechen. Die weitaus überwiegende Mehrheit aller Wörter einer jeden Sprache ist durch Vieldeutigkeit gekennzeichnet, wobei das Bedeutungssystem eines Wortes sich fast nie vol l -ständig mit dem seines Äquivalents in der anderen Sprache decktTlDabei treten verschiedene Fälle auf. So ist manchmal der Kffeis der Bedeutungen des Wortes in der Ausgangssprache breiter als bei seiner Entsprechung in der Zielsprache (oder umgekehrt). Das ausgangssprachliche (bzw. zielsprachliche) Wort besitzt vin diesem Falle alle Bedeutungen, die seinem Äquivalent in der Partnersprache eigen sind, hat aber dar-über hinaus auch noch weitere Bedeutungen, für deren Wie-dergabe andere Wörter benötigt werden. Das russische Wort характер und das deutsche Charakter haben z. B. folgende gemeinsame Bedeutungen: 1) Gesamtheit der psychischen Besonderheiten des Menschen; 2) fester Wil le , Beharrlich-keit in der Verfolgung des Ziels (vgl. Он человек без харак-тера— er hat keinen Charakter); 3) Beschaffenheit, Eigen-art eines Objekts. Das deutsche Charakter besitzt aber außerdem noch folgende Bedeutungen, die dem russischen Partnerwort fehlen und durch andere russische Wörter wie-dergegeben werden müssen: 4) Rang, Dienstgrad (veraltet); 5) Type, Original, eigenartige Person; 6) -Schriftzeichen. Diesen Fall der unvollständigen Äquivalenz von Wörtern zweier Sprachen kann man als Inklusion (Einschluß) bezeich-nen und durch folgende Zeichnung darstellen:

Hier ist A der Bedeutungsumfang des einen Wortes und B — der Bedeutungsumfang des anderen. Die schraf-fierte Fläche bezeichnet den Deckungsbereich der Bedeutun-gen beider Wörter.-

Häufiger jedoch ist der Fall, bei dem beide Wörter —

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das AS-Wort und das ZS-Wort — sowohl übereinstimmende als auch auseinandergehende Bedeutungen aufweisen. Das russische Wort зять deckt sich z. B. mit dem deutschen Schwager in seiner Bedeutung Ehemann der Schwester, aber nicht in seiner Bedeutung Ehemann der Tochter, wofür im Deutschen die Bezeichnung Schwiegersohn gilt. Das deutsche Wort Schwager hat wiederum auch die Bedeutun-gen Bruder des Ehemanns und Bruder der Ehefrau, die im Russischen nicht durch зять, sondern durch деверь bzw. шурин wiedergegeben werden.

Ein weiteres Beispiel ist das Wortpaar дом — Haus. Hier besteht Ubereinstimmung bei den Bedeutungen „Ge-bäude" „Heim", „Dynastie". Jedoch bezeichnet im Russi-schen дом auch Begriffe, für die im Deutschen andere Be-zeichnungen gelten, z. B. in Verbindungen wie родильный дом—Entbindungsheim, дом престарелых—Altersheim u. dgl. m.

Dem deutschen Wort Haus sind seinerseits Bedeutungen eigen, die das russische дом nicht hat, etwa als Bezeichnung des Parlaments (Hohes Haus), eines Theatersaals (das Haus ist ausverkauft), eines Menschen (altes Haus) u. ä.

Die Zahl solcher Beispiele ließe sich beliebig vermehren. Diese Art der Beziehungen zwischen, den Wörtern von

zwei Sprachen, die, wie wir feststellten,., die häufigste ist, kann man als Überschneidung bezeichnen und durch folgende Zeichnung veranschaulichen:

А В

§ 19. V on anderer Beschaffenheit und theoretisch wohl interessanter; sind die Fälle der partiellen Äquivalenz, die durch eine Erscheinung bedingt sind, die man als Undif-ferenziertheit der Wortbedeutung in einer der beiden Spra-chen im Vergleich zur anderen bezeichnen kann./Einem Wort in der einen Sprache, das einen umfassenderen („undiffe-renzierten") Begriff ausdrückt und somit eine weitgespannte Klasse von Denotaten bezeichnet, können in der anderen

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Sprache zwei oder mehr Wörter entsprechen, von denen je-des einen engeren, gegenüber dem der Partnersprache stärker differenzierten Begriff benennt und sich somit auf einen begrenzteren Kreis von Denotaten bezieht.

So gibt es im Bussischen das Wort рука, dem im Deut-schen die beiden Wörter Arm und Hand entsprechen, von denen jedes eben nur einen Teil der oberen Gliedmaßen des Menschen bezeichnet. Genauso verhält es sich mit russisch нога und deutsch Bein bzw. Fuß. Dem einzigen russischen палец in der Bedeutung eines menschlichen Körperteils entsprechen im Deutschen drei: Finger, Daumen und Zeh. Man kann für dasselbe Verhältnis noch zahlreiche weitere Beispiele anführen, so etwa:

столовая

заря

бритва

{

Speisezimmer Speisegaststätte Mensa Kantine Morgenrot Abendrot Rasierapparat Rasiermesser

In anderen Fällen erweisen sich die deutschen Wörter gegenüber den russischen als semantisch undifferenziert, z. В . :

очаг плита Herd

Kirsche*

Erdbeere

heiraten

{ •{ { {

waschen /

вишня черешня земляника клубника жениться выйти замуж мыть

1. стирать .. ( синий blau < . ., t голубой

*In diesem Falle wird der lexikalische Redeutungsunterschied auch noch von einem grammatischen begleitet. Die russischen Wörter вишня, черешня, земляника, клубника bezeichnen in der Einzahl nicht nur einzelne Beeren, sondern sind zugleich Sammelnamen oder Gattungsbezeichnungen. Im Deutschen bezeichnet die Einzahl aber

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Es sei ausdrücklich betont, daß es hier nicht um die Vieldeutigkeit von Wörtern geht. Es wäre falsch zu behaup-ten, daß die russischen Wörter рука und нога jeweils zwei verschiedene Bedeutungen hätten, und daß das deutsche Kirsche ein polysemes Wort sei. In den behandelten Fällen haben die betreffenden Wörter jeweils nur eine Bedeutung (daneben können freilich auch noch weitere Bedeutungen bestehen, die wir hier aber nicht behandeln; so hat z. B. das russische Wort рука auch noch die Bedeutungen Hand-schrift, Einfluß usw.), doch der Umfang dieser einen Bedeu-tung ist an sich größer als der der Bedeutungen der anders-sprachigen Äquivalente. Dadurch unterscheidet sich diese Erscheinung grundsätzlich von dem Falle, wo v e r -s c h i e d e n e n B e d e u t u n g e n ein und desselben Wortes i n der einen Sprache v e r s c h i e d e n e W ö r -t e r in der anderen Sprache entsprechen. Mit diesem letzte-ren Falle haben wir es z. B. zu tun, wenn dem deutschen Wort Opfer in der Bedeutung „Mensch, der etwas erdulden mußte" das englische victim, aber in den Bedeutungen „Verzicht" und „Gabe" sacrifice entspricht. (Dieser Fall ist mit dem oben behandelten Fall der Inklusion identisch.)

Es ist natürlich nicht zu leugnen, daß eine strenge Ab -grenzung von Vieldeutigkeit und Undifferenziertheit durch-aus nicht immer ohne weiteres möglich ist. So ist es nicht einfach zu klären, welche Beziehungen zwischen dem deut-schen Verb schwimmen und seinen englischen Entsprechun-gen swim, sail und float bestehen. Man kann annehmen, daß das Wort schwimmen im Deutschen drei verschiedene Be-deutungen hat (was zum Teil auch im „Wörterbuch der deut-schen Gegenwartssprache" ausgewiesen ist), und zwar: 1) sich aus eigener Kraft im Wasser fortbewegen (von Lebe-wesen); 2) sich mittels technischer Vorrichtungen im Was-ser fortbewegen (von Fahrzeugen u. dgl.); 3) von einer Flüs-sigkeit getragen werden. Bei einer solchen Betrachtungs-weise erweisen sich die drei englischen Wörter als Äqui-valente für eine jeweils a n d e r e Bedeutung des deutschen Wortes. Es ist aber auch eine andere Betrachtungsweise möglich, und zwar für schwimmen eine e i n z i g e Bedeu-

immor nur oins einzelne Frucht, als Sammelbezeichnung kann dagegen nur die Mehrzahl verwendet werden. Vgl . : вишня поспела — Die Kirschen sind reif; клубника со взбитыми сливками — Erdbeeren mit Schlagsahne,

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tung anzusetzen, nämlich „sich in einer Flüssigkeit befin-den, ohne in ihr unterzugehen". In diesem Falle sind wir berechtigt, das deutsche Wort als gegenüber seinen engli-schen Äquivalenten semantisch undifferenziert zu behandeln. Von den englischen Verben enthält wiederum jedes je ein semantisches Merkmal, das im Inhalt des deutschen Äqui-valents fehlt.*

Im ganzen aber lassen sich die Begriffe der Polysemie und der semantischen Undifferenziertheit, ungeachtet derar-tiger Übergangsfälle, deutlich genug unterscheiden.**

§ 20. Bei der Untersuchung der Beziehungen zwischen den semantischen Strukturen der Zeichen verschiedener Sprachen können auch kompliziertere Fälle der bedeutungs-mäßigen Undifferenziertheit vorkommen als die eben behan-delten. Betrachten wir z. B. die Beziehungen zwischen den deutschen Wörtern Käse und Quark und ihren englischen Äquivalenten cheese bzw. cottage cheese.*** Auf den ersten Blick sind die englischen Wörter (wenn man davon absieht, daß cheese in der Umgangssprache auch noch andere Bedeu-tungen hat) vollständige semantische Äquivalente der ent-sprechenden deutschen. In der Tat besteht hier aber ein viel komplizierteres Verhältnis: im Englischen ist cottage cheese eine der Unterarten von cheese, was im Deutschen nicht der Fall ist. Auf Deutsch kann man z. B. sagen: Das ist nicht Käse, sondern Quark, Es hat weder Käse noch Quark gegeben, während im Englischen Aussagen wie It is not cheese but cottage cheese, neither cheese nor cottage cheese unmöglich sind. Somit erscheint das englische Wort cheese im ganzen gegenüber den, deutschen Wörtern Käse und Quark als undif-ferenziert, obwohl es im Englischen eine besondere zusam-mengesetzte Bezeichnung (eben cottage cheese) gibt, die die genaue semantische Entsprechung des deutschen Quark ist.

Es lassen sich auch andere Beispiele dieser Art nennen. Im Russischenfgelten die Wörter железо und чугун als Bezeichnungen für zwei verschiedene Metalle (wir meinen

*Vgl. К. П. Комиссаров: Слово о переводе, с. 92. **Beispiele aus anderen Sprachen siehe L. Bloomfield: „Langua-

ge", N. Y . , 1933, pp. 278—279. ***Vgl. R. Jakobson: On Linguistic Aspects of Translation, „On

Translation", ed. by R. Brower, Cambridge, Mass., 1959, p. 233.

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hier selbstverständlich die allgemeine Umgangssprache und nicht etwa die Fachsprache des Hüttenwesens), daher sind Ausdrucksweisen möglich wie производство железа и чу-гуна. Das deutsche Wort Eisen aber ist eine undifferenzierte Bezeichnung für beide im Russischen sprachlich getrennte Begriffe. Daran ändert auch das Vorhandensein des Wortes Roheisen nichts, dessen referentielle Bedeutung sich vol l -kommen mit der von чугун deckt, denn es ist lediglich eine Unterart des Oberbegriffes Eisen, so daß man auf Deutsch auch nicht Sätze bilden kann wie Die Produktion von Eisen und Roheisen ist gestiegen. Ähnlich geartet sind die Bezie-hungen zwischen den deutschen Wörtern Stuhl und Sessel und den englischen chair und armchair: das englische armchair ist ein Unterart von chair (im Webster-Lexikon wird arm-chair auch dementsprechend definiert: „a chair with supports at the sides for one's arms or elbows"). Man kann auf Deutsch unbedenklich sagen: Das ist kein Stuhl, sondern ein Sessel, wogegen der englische Satz „This is not a chair but an arm-chair" absurd klingt (vgl. auch das Beispiel in § 40 dieses Kapitels). Ungefähr dasselbe sehen wir beim Vergleich der russischen Wörter сад und огород mit ihren deutschen Äqui -valenten Garten und Gemüsegarten (bzw. Küchengarten) — das letzte Wort verhält sich zu Garten wie ein unter-geordneter Begriff zum übergeordneten. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei дыня, арбуз — Melone, Wasserme-lone.

Ein etwas anderer Fall von semantischer Undifferen-ziertheit liegt vor, wenn zwei Wörter in verschiedenen Sprachen sich in ihrer referentiellen Bedeutung zwar decken, aber in einer von diesen beiden Sprachen darüber hinaus ein besonderes Wort zur Bezeichnung einer Abart des ge-meinsamen Begriffes existiert, was in der anderen nicht der Fall ist. Die Wörter Tisch und table (englisch) decken sich völl ig in ihrer Grundbedeutung, aber für eine beson-dere Tischart (nämlich für den Schreib- oder Bürotisch) hat das Englische das Spezialwort desk, während sich das Deutsche eben mit Zusammensetzungen mit dem Grund-wort -tisch behelfen muß. Dem deutschen Verb entführen entspricht im Englischen allgemein kidnap, wenn es aber um die Entführung oder den Raub einer Frau geht, verwen-det man das spezialisierte Wort abduct.*

*Neuerdings verwendet die Presse das Wort abduct auch bei politischen Entführungen.

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§ 21. Aus der hier festgestellten semantischen Undif-ferenziertheit der Zeichen einer Sprache im Vergleich zu denen einer anderen darf aber keineswegs gefolgert werden, daß diese Sprache außerstande sei, einen gegebenen Begriff zu bezeichnen, und somit „weniger entwickelt" ist als die andere Sprache, die für den in Frage kommenden Begriff ein eigenes Zeichen besitzt. Wie wir in den vorangehenden Erörterungen wiederholt ^festgestellt haben, ist j e d e Sprache grundsätzlich fähig, einen b e l i e b i g e n Be-griff zu bezeichnen. Worum es geht, ist lediglich die A r t u n d W e i s e dieser Bezeichnung. Daraus, daß das russische Wort рука bedeutungsmäßig weniger differen-ziert ist als die deutschen Arm und Hand, darf man nicht schließen, daß sich mit den Mitteln der rassischen Sprache der Unterschied zwischen dem befingerten Greiforgan des Menschen und dem übrigen Teil der oberen Gliedmaßen nicht ausdrücken läßt. Genauso falsch wäre es anzunehmen, daß die semantische Undifferenziertheit des deutschen Wortes Kirsche gegenüber den russischen Bezeichnungen вишня und черешня den Trägern dieser Sprache die Unter-scheidung zwischen beiden Obstarten unmöglich macht. Hier geht es um etwas anderes, nämlich darum, daß die eine Sprache es dem Sprechenden möglich macht, den Unterschied zwischen bestimmten Begriffen unausgedrückt zu lassen, während die andere Sprache den Benutzer dazu zwingt, diesen Unterschied unbedingt zum Ausdruck zu bringen. Wenn es im Russischen notwendig wird, einen bestimmten Teil der oberen Gliedmaßen unverwechselbar näher zu bezeichnen, dann bedient man sich solcher Spezial-wörter wie кисть, плечо, предплечье. Das Vorhandensein des semantisch undifferenzierten Wortes рука enthebt den russischen Sprecher aber der Notwendigkeit, in jedem ein-zelnen Falle eine Unterscheidung zwischen Arm und Hand machen zu müssen, während die deutsche, englische oder französische Sprache den Sprecher in jedem Falle zur Unter-scheidung von Arm und Hand nötigt. Genauso läßt sich im Bedarfsfalle mit den Mitteln der deutschen (oder engli-schen) Sprache der Unterschied ausdrücken zwischen вишня (Sauerkirsche, sour cherry) und черешня (Süßkirsche, sweet cherry) oder zwischen den Farbbezeichnungen синий (tief-blau, dark blue) und голубой (hellblau, light blue *).

*Die im Russischen möglichen Zusammensetzungen тёмцо-голу-

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(Wie auch aus den in § 19 angeführten Beispielen ersicht-lich ist, werden bei der Differenzierung von Begriffen, für die es keine Spezialwörter gibt, vorwiegend attributive Verbindungen oder Zusammensetzungen benutzt.) Wo aber eine derartige Differenzierung nicht unumgänglich ist, stellt die deutsche (bzw. englische) Sprache dem Benutzer semantisch unspezifizierte Wörter wie Kirsche (cherry), blau (blue) zur Verfügung, während im Russischen der Begriff für jeden Fall spezifiziert werden muß, da die entsprechen-den Allgemeinbezeichnungen fehlen. In seiner bereits erwähnten Arbeit stellt R. Jakobson mit gutem Grund fest: ... die Sprachen unterscheiden sich vor allem darin, was sie ausdrücken müssen, und nicht darin, was sie aus-drücken können" (siehe Fußnote zu S. 88).

Schwierigkeiten für die Übersetzung ergeben sich, ähn-lich wie im Falle der Vieldeutigkeit, aus dieser Erscheinung dadurch, daß bei der Wiedergabe eines semantisch undiffe-renzierten AS-Wortes eine Wahl unter den möglichen ZS-Äquivalenten getroffen werden muß. Soll man das rus-sische рука ins Deutsche oder Englische übersetzen, so muß in jedem Einzelfalle entschieden werden zwischen Arm und Hand bzw. arm und hand. Bei der Ubersetzung des deut-schen Wortes Uhr ins Englische ist eine Entscheidung zwi-schen watch und clock notwendig u. dgl. m. Meistens ist die richtige Entscheidung auf Grund der kontextuellen Information möglich, d. h. unter Berücksichtigung des engeren oder weiteren Kontextes (über die Rolle des Kon-texts siehe den Abschnitt „Kontext und Situation in der Übersetzung"). Der russische Satz Он держал в руках книгу verlangt bei der Ubersetzung das deutsche Wort Hand, der Satz Она держала в руках ребёнка — das Wort Arm, was ohne weiteres einleuchtet. Man muß aber sagen, daß auch Kontexte vorkommen, die keine Anhaltspunkte für die eindeutige Wahl der Äquivalente enthalten, wie z. B. der russische Satz Он был ранен в руку den man sowohl mit Er wurde am Arm verwundet als auch mit Er wurde an der Hand verwundet übersetzen kann. Wenn sich auch im weite-ren Kontext keine sicheren Anhaltspunkte für die Wahl finden lassen, so ist es für die Entscheidung notwendig, über die Grenzen des sprachlichen Kontexts hinauszugehen

бой, светло-синий u. dgl. erzeugen allerdings zusätzliche Schwierig-keiten bei der Übersetzung ins Deutsche oder Englische.

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und in der realen Situation oder Umgebung nach der diffe-renzierenden Information zu suchen (weiteres darüber siehe im selben Abschnitt). Um eine Stelle in Puschkins Gedicht-roman „Eugen Onegin" richtig zu übersetzen, in der es um женские ножки geht, muß man den Geschmack, die Sitten und moralischen Maßstäbe jener Epoche kennen. Es konnte nur von Füßen, und in keinem Fall von Beinen die Rede sein, denn letzteres wäre nach den damaligen Anstandsbe-griffen höchst ungebührlich; man muß auch wissen, daß Puschkin auf dem Rande der entsprechenden Manuskript-seite eben Füße und nicht Beine gezeichnet hat.

Bisher sprachen wir ausschließlich über die referentiel-len Bedeutungen unter bewußter Außerachtlassung der den sprachlichen Zeichen gleichfalls eigenen pragmatischen Bedeutungen. Selbst wenn in der Zielsprache ein referentiell vollständig äquivalentes Wort vorhanden ist, so kann es durchaus nicht immer tatsächlich in der Ubersetzung ver-wendet werden, weil manchmal bestimmte (mitunter recht wesentliche) Unterschiede in den pragmatischen Bedeutun-gen der AS- und ZS-Wörter bestehen. So gibt es z. B. im Englischen das Wort timepiece, das genau dieselbe Bedeutung hat, wie das deutsche Uhr und gleichermaßen eine Armband-uhr, eine Taschenuhr, eine Standuhr oder eine Turmuhr bezeichnen kann und somit die Bedeutungen von clock und watch in sich vereinigt. Aber dieses Wort gehört im Englischen zum gehobenen Spezialbereich der Sprache und ist daher in der Umgangssprache und in der schöngeistigen Literatur nicht üblich. Daher kann man den Satz Er blickte auf die Uhr auch nicht mit He looked at the timepiece über-setzen, sondern man muß nach Anhaltspunkten suchen, die eine richtige Wahl zwischen watch und clock ermöglichen.

Ähnliches gilt für russische Wörter wie кисть und ступня, die sich in ihrem referentiellen Bedeutungsum-fang mit Hand und Fuß decken. Wegen ihrer speziellen stilistischen Eigenschaften können sie aber nur entweder in ausgesprochen fachbezogenen Texten (z. B. anatomischen Inhalts) oder in besonderen Situationen (etwa beim Anpro-bieren von Schuhen oder Handschuhen) als Äquivalente der entsprechenden deutschen Wörter verwendet werden (vgl. Ботинок не лезет — у меня слишком широкая ступня).

Die Wiedergabe der pragmatischen Bedeutungen in der Übersetzung wird im zweiten Abschnitt dieses Kapitels näher behandelt.

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§ 22. Bisher betrachteten wir nur die Beziehungen zwi-schen einzelnen isolierten Worteinheiten der Partnerspra-chen. Schon bei dieser Betrachtungsweise ergibt sich, wie wir feststellen konnten, ein recht kompliziertes Bild. Es wird aber noch viel komplizierter, wenn wir für den Ver-gleich nicht einzelne Wörter, sondern ganze Gruppen sinn-verwandter Wörter heranziehen (die in der Sprachwissen-schaft häufig als „semantische" oder „lexikalische Felder" bezeichnet werden). Die Wörter existieren bekanntlich im Sprachsystem nicht als isolierte Einheiten, sondern als Bestandteil bestimmter semantischer Gruppierungen von geringerem oder größerem Umfang, innerhalb derer die Bedeutung des einzelnen Wortes weitgehend durch dessen Platz in der Gruppe, durch das Verhältnis zur Semantik anderer Wörter der gleichen Gruppe (des „lexikalischen Feldes") mitbestimmt wird. Darin äußert sich u. a. die Wechselbeziehung und gegenseitige Bedingtheit der referentiellen und der intralinguistischen Bedeutun-gen des Wortes, von denen oben die Rede war (siehe §/14).

Beim Vergleich zweier Sprachen ist die vergleichende Betrachtung solcher „lexikalischer Felder" von großem Interesse, wobei Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen semantisch einander nahestehenden „lexikalischen Feldern" dieser Sprachen ermittelt werden können. Versuche einer solchen vergleichenden Analyse des Wortbestandes verschiedener Sprachen sind bereits vorgenommen worden. So wurden z. B. in der sprachwissenschaftlichen Literatur wiederholt die lexikalischen Felder der Farbadjek-tive in verschiedenen Sprachen untersucht.

Wir haben bereits erwähnt, daß in der deutschen Spra-che ein einziges undifferenziertes Adjektiv blau besteht, während in der russischen der entsprechende Spektralbe-reich in zwei gesonderte Farben aufgeteilt wird: синий und голубой. Im Physikunterricht ( P h y s i k und nicht etwa Russisch!) sagt der Lehrer den Schülern in der rus-sischsprachigen Schule, daß das Spektrum sieben Grund-farben hat: красный, оранжевый, жёлтый, зелёный, голу-бой, синий, фиолетовый. In der englischsprachigen Schule ist aber nicht von sieben, sondern von sechs Farben die Rede: red, orange, yellow, green, blue, purple (in einigen Lehrbüchern steht statt purple die Bezeichnung violet). Für die Farbbezeichnung purple gibt es im Russischen keine

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direkte Entsprechung. Im „Oxford Dictionnary" wird pur-ple mit den Worten „mixture of red and blue in various proportions" beschrieben; es ist somit semantisch undiffe-renziert und überspannt die Bedeutungen mehrerer russi-scher Wörter (пурпуровый, фиолетовый, багровый). Auch im Vergleich zum Deutschen ergibt sich ein ähnliches Verhältnis, das allerdings in einer anderen Richtung ver-schoben ist, da man im Deutschen wie im Russischen gleich-falls von sieben Regenbogenfarben spricht, die sich aber im kurzwelligen Spektralbereich in ihren Grenzen nicht mit den russischen decken; man vergleiche: зелёный — голубой — синий — фиолетовый und Grün — Blau — In-digo — Violett. Hier liegt das russische голубой an der Nahtstelle von Grün und Blau, das deutsche Indigo wiederum an der Nahtstelle von синий und фиоле-товый.

Wenn wir noch weitere Sprachen in die Betrachtung einbeziehen, so sehen wir, daß jede von ihnen ihr eigenes System von Farbbezeichnungen besitzt, das sich deutlich von den uns in unserer Muttersprache geläufigen unter-scheidet. So bezeichnet z. B. in der bretonischen Sprache das Wort glas den Bereich des Spektrums, der im Deutschen und Englischen durch zwei (Grün, Blau; green, blue), im Russischen sogar durch drei Wörter (зелёный, голубой, синий) abgedeckt wird. * Es gibt sogar Sprachen, die ledig-lich zwei undifferenzierte Farbbezeichnungen besitzen — die eine für den langwelligen Teil des Spektrums (gleich-zeitig für unser Rot, Orange und Gelb) und die andere für den kurzwelligen Teil (unser Grün, Blau, Indigo, Violett). Es wäre absurd, daraus zu folgern, daß die Träger dieser Sprachen „farbenblind" sind und die betreffenden Farben nicht zu unterscheiden vermögen. Das ist, wie wir schon betonten, nicht der Fall, da man in jeder Sprache durch geeignete Attributivfügungen eine beliebige Farbnuance wiedergeben kann (z. B. dunkelrot, gelbgrün, blauschwarz usw.). Was hier entscheidend ist, das ist die Fähigkeit dieser Sprachen, Färb unterschiede u n b e z e i c h n e t z u l a s -s e n , die i n anderen Sprachen u n b e d i n g t ausgedrückt werden müssen. Interessant ist folgende Tatsache: Als die englischen Botaniker für Zwecke der wissenschaftlichen Be-schreibung semantisch undifferenzierte Bezeichnungen für

*Vgl. G. Vendryes: „La langue", Paris, 1921.

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die beiden Hauptteiie des Spektrums — den roten (ein-schließlich gelb und orange) und den blauen (von grün bis violett) — benötigten, mußten sie die künstlichen Fach-ausdrücke xanthic und cvanic schaffen, da die eng-lische Gemeinsprache keine Mittel zur undifferenzierten Bezeichnung jedes dieser beiden Spektralbereiche be-sitzt. *

So interessant dieses Problem auch ist, wir können uns nicht länger bei ihm aufhalten, um so mehr, als es in der einschlägigen Literatur eingehend genug behandelt wurde. Wir wollen uns der vergleichenden Betrachtung einer ande-ren semantischen Gruppierung zuwenden, und zwar den Bezeichnungen für die Teile des 24-Stunden-Zyklus in ver-schiedenen Sprachen.

Der Englischlernende erfährt bereits in den ersten Unter-richtsstunden, daß dem deutschen Morgen das englische morning entspricht, dem deutschen Tag — day, Abend — evening und Nacht — night, woraus sich zunächst folgende Gleichungen ergeben:

morning = Morgen day = Tag

evening = Abend night = Nacht

Je weiter man aber im Sprachstudium vorankommt, desto mehr muß man sich davon überzeugen, daß diese „Gleichun-gen" ein äußerst vereinfachtes Bild entwerfen, während der eigentliche Sachverhalt wesentlich verwickelter ist. Immer häufiger stößt der Lernende bei seiner Lektüre auf solche Verwendungen der Wörter morning und night, die keines-wegs mit Morgen bzw. Nacht übersetzt werden können, so z. B. :

They were not summoned to Hitler's presence until 1.15 a. m. .. . And he saw at once, as he entered the Fuehrer's study in the early-morning hour, that.. . (W. L. Shirer, The Rise and Fall of the Third

Reich.) Rawdon left her and went home rapidly. It was

nine o'clock at night. (W. Thackeray, Vanity Fair.)

* H. A. Gleason: An Introduction to Deskriptive Linguistics. N. Y „ 1958, p. 5.

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So kann sich der Englischlernende schnell davon über-zeugen, daß die obigen Entsprechungen nur sehr annähernde sind. In Wirklichkeit „gliedert" das lexikalische System des Englischen denselben Abschnitt der objektiven Wirklich-keit eben anders als das des Deutschen. Der 24-Stunden-Zyklus zerfällt im Englischen eigentlich in drei Teile: morning (von Mitternacht bis Mittag), afternoon (von 12 bis 18 Uhr, also etwa bis Sonnenuntergang) und evening (von Sonnenuntergang bis Mitternacht, wonach wieder morning eintritt). Die Wörter day und night beziehen sich aber auf eine andere, unabhängig von dieser ersteren beste-hende Einteilung in zwei Hälften — eine helle (day) und eine dunkle (night).

Im Russischen gilt ein anderes System. Zunächst hat es eine allgemeinsprachliche Bezeichnung für die insge-samt 24 Stunden lange Tag- und Nachtzeitspanne, nämlich сутки. (Im Deutschen gibt es ein Wort mit dieser Bedeu-tung nur in der Fachsprache der Seefahrt: das Etmal.) Die 24 Stunden werden in vier Teile eingeteilt: утро — von Sonnenaufgang bis etwa 10 oder 11 Uhr; день — im Anschluß daran bis Sonnenuntergang; вечер — von Sonnen-untergang bis kurz vor Mitternacht; ночь — die Zeit zwischen вечер und утро, die Zeit der Nachtruhe. Das Wort день wird außerdem neben сутки, ähnlich wie im Deutschen und Englischen, metonymisch als Bezeichnung für 24 Stunden verwendet.

Vergleichen wir damit die deutsche Tageseinteilung, so sehen wir wieder ein anderes Prinzip. Die Bedeutungen von Morgen, Tag, Abend und Nacht decken sich im allge-meinen mit denen der entsprechenden russischen Wörter. Darüber hinaus besitzt das Deutsche noch die Wörter Vormittag und Nachmittag, von denen das zweite zum Teil mit englisch afternoon übereinstimmt, aber nicht unmit-telbar mit Morgen und Nacht in Beziehung gebracht werden kann, sondern zusammen mit Vormittag die Zweiteilung des Abschnitts Tag angibt.

Anstelle der oben angeführten Gleichungen ergibt sich somit folgendes Netz von zwischensprachlichen Bedeu-tungsverhältnissen innerhalb der behandelten Wort-gruppe (zur besseren Anschaulichkeit sind auch die rus-sischen Wörter mit in die Darstellung einbezogen wor-den):

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Englisch Deulsch Russisch

§ 23. Der Nachweis derartiger „Netze" oder Systeme von wechselseitigen Beziehungen analoger lexikalisch-se-mantischer Gruppierungen in verschiedenen Sprachen ist eine recht interessante und für die Theorie und Praxis der Ubersetzung wichtige Aufgabe. Ein solches Vergleichs-verfahren, wie wir es eben an Hand der Tageszeitbenen-nungen benutzt haben, läßt sich zum Teil auch in Form einer vergleichenden Analyse der in zweisprachigen W ö r -terbüchern enthaltenen Lexik ausführen, z. B. durch Gegen-überstellung der Angaben eines deutsch-russischen und eines russisch-deutschen Wörterbuches. Das geschieht fol -gendermaßen. Nehmen wir an, uns interessiert der Ver-gleich der russischen und der deutschen Bezeichnungen für Trinkgefäße. Wenn wir vom russischen Wort стакан aus-gehen, so erhalten wir im Wörterbuch das deutsche Äqui -valent Glas. Nehmen wir nun dieses deutsche Wort zum Ausgangspunkt, so finden wir im deutsch-russischen W ö r -terbuch neben стакан auch Entsprechungen wie рюмка, бокал u. a. Schon auf dieser Stufe können wir deutlich den semantischen Inhaltsunterschied zwischen russisch стакан und deutsch Glas sehen: für das russische Wort ist die haupt-sächliche F o r m des Gefäßes maßgebend (zylindrisch oder jedenfalls zylinderähnlich), während im Deutschen Glas sich von anderen Gefäßen durch das M a t e r i a l unterscheidet.

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Deshalb kann man das russische бумажный (пластмассо-вый) стаканчик ins Deutsche eben nicht mit Glas, sondern nur mit Becher (Papier-, Kunststoffbecher) übersetzen.

Die verschiedenen russischen Entsprechungen für Glas unterscheiden sich voneinander durch die Form (Vorhanden-sein oder Fehlen eines Fußes, Verhältnis von Höhe und Breite u. dgl. m.).

Wenn wir einen Schritt weitergehen und die deutschen Entsprechungen für бокал im Wörterbuch nachschlagen, so erhalten wir wiederum einen ganzen Fächer von sinnver-wandten, aber deutlich semantisch unterscheidbaren Wör -tern, und zwar u. a. Weinglas, Sektglas, Römer, Kelch, Pokal. Die ersten beiden sind durch das Unterscheidungs-merkmal „Bestimmung" gekennzeichnet, d. h. sie unter-scheiden sich dadurch, für welches Getränk sie jeweils bestimmt sind, wobei die Tradition für verschiedene Geträn-ke eben Gläser verschiedener Form vorschreibt. Der Römer ist ein Glas von ganz besonderer, im russischen Sprachge-biet praktisch unbekannter Form (breiter, gewundener Fuß), Kelch bezeichnet ebenfalls ein Trinkglas besonderer Form mit Fuß und Stiel und gehört außerdem eher der geho-benen Sprache an (vgl. russisch чара, чаша), dabei wird meist an wertvolleres Material (z. B. Kristall) gedacht. Ein Pokal beschreibt das „Wörterbuch der deutschen Ge-genwartssprache" als „großes, prunkvolles kelchartiges Trink-glas aus Edelmetall oder Glas mit einem Fuß (und Deckel), das bei Sportwettkämpfen häufig als Siegerpreis gestiftet wird". Die russische Entsprechung dafür ist in den meisten Fällen кубок, manchmal auch бокал.

Für кубок findet sich im Deutschen neben Pokal auch Becher, welches wiederum unter seinen Äquivalenten Wör -ter wie кружка und чаша aufweist, von denen wir dann zu Krug und Schale kommen usw. usf.

Wir werden diese Prozedur nun nicht weiterführen und wollen uns auf die Feststellung beschränken, daß wir es hier mit zwei korrelierenden Wortgruppen zu tun haben, deren Elemente sowohl innerhalb einer jeden der beiden Partnersprachen als auch zwischensprachlich durch ein kompliziertes Netz von semantischen Beziehungen ver-knüpft siud, das das oben dargestellte an Vielfalt weit über-trifft. Denn außer den eben untersuchten Wörtern gibt es ja in beiden Sprachen noch zahlreiche andere (z. В. фужер, стопка usw. im Bussischen, Schwenker, Tulpe, Tasse usw.

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im Deutschen). In beiden Sprachen beruht die jeweilige Benennung des Gegenstandes auf verschiedenen, logisch uneinheitlichen Merkmalen wie Größe, Form, Material, Bestimmung u. dgl., wobei die Grenzen zwischen „benach-barten" Gegenstandsgruppen oder -typen in jeder Sprache verschieden gezogen werden.

Selbstverständlich stützt sich eine solche Analyse, will sie wirklich erschöpfend sein, nicht nur auf zweisprachige, sondern auch auf einsprachige erklärende Wörterbücher, denn nur in ihnen wird der semantische Inhalt und Unter-schied dieser Wörter vollständig erschlossen. (Dabei möch-ten wir daran erinnern, daß es uns hier vorrangig um die referentielle Bedeutung geht, während die pragmatische Bedeutung, u. a. die stilistische Färbung, absichtlich unbe-rücksichtigt bleibt. Dies ist aber nur teilweise möglich, da z. B. Gegenstände aus wertvollem Material ja an sich höher geschätzt werden als ähnliche Erzeugnisse aus all-täglichen Werkstoffen, und diese höhere Wertschätzung klingt unvermeidlich bei jeder Nennung des betreffenden Wortes mit . ) Zur erschöpfenden Erschließung der Semantik der Wörter bedarf es aber einer eingehenden Untersu-chung ihrer Bedeutung im realen sprachlichen Kontext (z. B. in Texten der schönen Literatur).

Unseres Erachtens kann eine derartige vergleichende Analyse der thematisch gruppierten Lexik von zwei Spra-chen nicht nur Übersetzern, für die sie unentbehrlich ist, sondern allen Sprachlernenden nützlich sein.* Diese Unter-suchungen zeigen anschaulich, daß die lexikalischen Ein-heiten von zwei Sprachen nur selten in ihrer referentiellen Bedeutung vollständig übereinstimmen, meistens ist diese Ubereinstimmung nur eine partielle, da sie nur in ihrer G e s a m t h e i t den gleichen Bedeutungsumfang abzu-decken imstande sind wie ihre anderssprachlichen Äquiva-lente.

*Als selbständige Übung empfehlen wir dem Leser eine verglei-chende Untersuchung des deutschen und russischen (bzw. englischen usw.) Wortschatzes unter Verwendung von zunächst zweisprachigen und danach auch einsprachigen Wörterbüchern an Hand bestimmter semantischer Gruppen, wie z. B. die deutschen Wörter Stärke, Macht, Kraft, Leistung und die russischen Parallelen сила, мощь, мощность, энергия (bzw. englisch strength, power, might, force, energy). Man kann sich dazu auch eine andere Gruppe von Substantiven, Adjektiven oder Verben wählen.

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§ 24. Der dritte Fall des wechselseitigen Verhältnisses der Lexik v<?n zwei Sprachen ist das völlige Fehlen eines Äquivalents jfür eine bestimmte Einheit der Ausgangsspra-che im Wortschatz der Zielsprache. In derartigen Fällen spricht man von äquivalentloser Lexik. Unter äquivalent-loser Lexik versteht man somit lexikalische Einheiten (Wörter und stehende Wortverbindungen) einer Sprache, die weder volle noc.li partielle Äquivalente in einer anderen Sprache besitzen. Dazu gehören folgende Gruppen von Wörtern:

1. Eigennamen, geographische Namen, Bezeichnungen von Institutionen und Organisationen, Namen von Zeitun-gen, Schiffen u. dgl. , die im Lexikon der Partnersprache keine ständige Entsprechung besitzen. So begegnen wir in der „Prawda" vom 13. September 1973 den russischen Familiennamen Белоусов, Карпиков, Камозин, Пушно-ва, Цыкунов, Зубенко, Ольштынский, Данченко, Сухо-дольский usw. sowie den Ortsnamen Бахмач, Алексеевка, Лисовичи, Урусобино, Гаврилово-Посад и. а. Es ver-steht sich, daß die deutsche Sprache keine Äquivalente für diese Wörter besitzt, anders als etwa im Falle solcher Fa-miliennamen wie Пушкин, Достоевский oder solcher geo-graphischer Bezeichnungen wie Москва, Киев, Крым и. ä., denen im deutschen Wortschatz längst stabile Äquivalente zugeordnet sind: Puschkin, Dostojewski, Moskau, Kiew, Krim. In Dieter Nolls Roman „Die Abenteuer des Werner Holt" stoßen wir auf Namen wie Wolzow, Zemizki, Zickel, Maaß, Gottesknecht und Ortsnamen wie Enden, Moers, Babenfelsen, die keinerlei Entsprechungen im russischen Lexikon haben im Gegensatz zu den Namen Goethe, Hum-boldt, Einstein oder den Orts- und Flußbezeichnungen Leipzig, Rostock, Elbe, Spree, die im Russischen feste Äquivalente besitzen (Гёте, Гумбольдт, Эйнштейн, Лейп-циг, Росток, Эльба, Шпрее). Eigentlich läßt sich keine deutliche Grenze ziehen zwischen äquivalentlosen Eigen-namen und solchen, die in der Partnersprache ständige Entsprechungen besitzen: Ein Eigenname, der ursprünglich keine Entsprechung gehabt hat, kann eine solche Entspre-chung zugeordnet bekommen, nachdem er wiederholt in der Presse oder Literatur aufgetreten ist. Dabei läßt sich nicht immer ohne weiteres feststellen, zu welchem Zeitpunkt ein nur okkasionelles Äquivalent sich in ein usuelles, also stän-diges, verwandelt. Im allgemeinen kann jedenfalls gelten,

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daß zur äquiva!entlosen Lexik Eigennamen gehören, die den Trägern der Partnersprache w e n i g e r b e k a n n t sind (wobei auch dieses einschränkende Merkmal natür-lich nur relativ ist).

2. Sogenannte Realien, d. h. Wörter für Gegenstände, Begriffe und Situationen, die in der praktischen Erfahrung der Träger einer anderen Sprache einfach nicht vorhanden sind.[Dazu gehören u. a. Wörter, die verschiedene Gegen-stände der materiellen und geistigen Kultur bezeichnen, welche nur dem jeweiligen Sprachvolk eigen sind: z. B. Nationalgerichte (deutsch Eisbein, Ivaßler, Halbgefrorenes, Weißbier; russisch щи, борщ, квас, калач; englisch muf-fin, haggis, toffee, butter-scotch); Trachten (russisch сара-фан, душегрейка, кокошник, лапти; deutsch Lodenman-tel, Dirndl, Krachlederne); Tänze (russisch трепак, гопак; deutsch Schuhplattler, Rheinländer; englisch pop-goes-the-weasel); Volksdichtungsformen (russisch частушки, deutsch Knittelvers, englisch limericks) u. dgl. m. Hierher gehören auch Wörter und Wortverbindungen, die nur dem jeweiligen Lande eigene politische und gesellschaftliche Institutionen bezeichnen (vgl. russisch агитпункт, крас-ный уголок, дружинник, трудовая вахта; deutsch Jugend-weihe, Messe der Meister von Morgen, Nationales Aufbau-werk; englisch primaries, caucus, lobbyist usw.), Einrich-tungen für den Handel und kulturelle Dienstleistungen (russisch дом культуры, чайная, изба-читальня; deutsch Reformhaus, Rummelplatz; englisch-amerikanisch drugsto-re, grill-room, drive-in) u. dgl. m.

Auch hier ist es nicht so einfach zu entscheiden, wie lange ein Wort noch zu den äquivalentlosen Realien zu rechnen ist, denn ein okkasionelles Übersetzungsäquivalent (näheres siehe weiter, S. 109) kann sich zu einer stabilen Wör-terbuch mäßigen Entsprechung entwickeln. So entstanden in der russischen Sprache die Wörter Народная палата für Volkskammer, Бундестаг für Bundestag, курфюрст für Kurfürst u. dgl. , im Deutschen Lordsiegelbewahrer für Lord Privy Seal, Slrumpfbandorden für the Garter u. a. m. Nachdem solche Entlehnungen bzw. Lehnübersetzungen vollzogen worden sind, dürfen die AS-Wörter gegenüber der Zielsprache nicht mehr als äquivalentlos gelten. Dabei ist, wie bei den Eigennamen, der Zeitpunkt des Ubergangs einer okkasionellen Entsprechung in eine usuelle häufig nicht mit Bestimmtheit auszumachen.

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г Г ЗЛ-Lexikalische Einheiten, die man als zufällige Fehl-

stellen bezeichnen kann. Wir verstehen dabei die Wort-schatzeinheiten in einer Sprache, für die aus irgendeinem Grund (der nicht immer begreiflich ist) in der Lexik der anderen Sprache ständige Entsprechungen (in Form von Wörtern oder Wortverbindungen) einfach fehlen. So wurde bereits oben festgestellt, daß das russische Wort суткиг

im Deutschen (und Englischen) keine Entsprechung hat,; so daß es entweder umschreibend oder durch eine bestimmte Stundenzahl wiederzugeben ist. Z.B. Я приеду через сутки (через двое су ток) — Ich bin in vierundzwanzig (achtund-vierzig) Stunden zurück, oder, wenn die ununterbrochene Tätigkeit betont werden muß — durch die Verbindung Tag und Nacht: Они работали четверо суток — Sie haben vier Tage und vier Nächte gearbeitet. So besitzt das Deutsche ebenfalls keine lexikalischen Äquivalente für die russischen Wörter кипяток, погорелец. Im Russischen wiederum finden sich keine Entsprechungen für resigniert, Sterbezimmer usw.

Manchmal läßt sich das Fehlen von Äquivalenten für derartige Wörter durch kulturhistorische oder soziale Ursa-chen erklären. Das Vorhandensein des Wortes погорелец im Russischen ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, daß im alten Rußland Brände und die durch sie verursachte Verelendung von Bauernfamilien ein häufiges Ereignis wa-ren, während in den Gegenden Europas, wo selbst auf dem Dorfe die Häuser meistens aus Stein oder Ziegeln gebaut sind, das viel seltener vorkam und deshalb keiner eigenen Bezeich-nung bedurfte. In den meisten Fällen ist keine „rationelle" Erklärung dafür zu finden, daß in der einen Sprache ein Wort mit einer bestimmten Bedeutung fehlt, während es in einer anderen Sprache vorhanden ist. Wir müssen uns hier, wie überhaupt bei der Beschreibung von Sprachunter-schieden, eben mit einem Verweis auf die „nationale Eigen-art" des jeweiligen Sprachbaus begnügen, wenn wir die Gründe für das Vorhandensein bzw. Fehlen der jeweiligen Worteinheit in einer uns interessierenden Sprache nicht ermitteln können.

§ 2 . \ Die Bezeichnung „äquivalentlose Lexik" verwen-den wir, das sei hier besonders betont, ausschließlich in dem Falle, wo eine lexikalische Einheit der einen Sprache keine Entsprechung im L e x i k o n der anderen Sprache

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hat. Es wäre aber falsch, diese Bezeichnung im Sinne der „Unübersetzbarkeit" des jeweiligen Wortes zu verstehen. Es wurde bereits mehrmals festgestellt, daß jede Sprache im Prinzip einen beliebigen Begriff auszudrücken vermag. Das Fehlen einer speziellen Bezeichnung für irgendeinen Begriff im Wortbestand einer Sprache in Form eines Wortes oder einer stehenden Wortverbindung bedeutet keinesfalls, daß es unmöglich ist, diesen Begriff mit den Mitteln dieser Sprache zum Ausdruck zu bringen. Obwohl das entsprechende Zeichen im System der S p r a c h e fehlt, kann der betreffende'^Inhalt in der R e d e in einem konkreten Text durch verschiedene Mittel ausgedrückt werden.<Die Übersetzung der Lexik, die in der Zielsprache keine Entsprechungen hat, ist natürlich mit bestimmten Schwierigkeiten verbunden, doch sind diese Schwierigkeiten durchaus nicht unüberwindlich. Aus der Praxis der Übersetzung sind folgende Verfahren zur Wieder-gabe äquivalentloser Lexik bekannt:

1. Transliteration und Transkription. Ausführlicher soll dieses Verfahren weiter unten behandelt werden (siehe Kap. 4). Hier sei nur festgestellt, daß bei der Transliteration das Schriftbild (die Buchstabenfolge) des AS-Wortes mit den Mitteln der Zielsprache wiedergegeben wird, dagegen bei der Transkription die lautliche Form. Diese Mittel wer-den für die Wiedergabe fremdsprachiger Eigennamen, geo-graphischer Bezeichnungen und der Benennungen von Gesell-schaften, Firmen, Schiffen, Hotels, Zeitungen, Zeitschriften usw. verwendet. In einem einzigen Beitrag in der Wochen-zeitung „Sa rubeshom" vom 31. 3.— 6. 4. 1978 fanden wir folgende Transkriptionen * westdeutscher Zeitungs- und Firmennamen: „Штерн", „Шпигель", „Вельт", „Маннесман", „Краусс-Маффей". Dasselbe Mittel findet auch bei der Wie -dergabe von Realien weitgehend Verwendung; besonders verbreitet ist es in der sozialpolitischen Literatur und in der Publizistik — sowohl in Ubersetzungen als auch in Originaltexten, die das Leben im Ausland behandeln (z. B. in Zeitungsnachrichten). So finden wir in der sowjetischen Presse in letzter Zeit die Transkriptionen deutscher oder englischer Wörter und Wortverbindungen, die in der russi-schen Lexik bisher keine Äquivalente hatten, z. В. бундес-таг,, министериалъ-директор, ноу-хау, паблик-рилейшнз.

* Genau genommen, sind es keine „reinen" Transkriptionen, son-dern gemischte Wiedergaben, die zugleich Transkription und Transli-teration sind.

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In der deutschsprachigen politischen Literatur treffen wir die Transliteration von Realien aus der russischen Sprache an wie Kolchos, Subbotnik, Duma u. dgl.

Dieses Verfahren wird häufig in zweisprachigen Wörter-büchern angewandt, wenn es um die Wiedergabe von äqui-valentloser Lexik geht; so finden sich z. B. im „Russisch-deutschen Wörterbuch" (herausgegeben von E. J. Leping, N. P. Strachowa, K. Leyn und R. Eckert) als Äquivalente für die russischen Wörter борщ, квас, калач, окрошка, самовар die Transkriptionen Borschtsch, Kwaß, Kaiatsch, Okroschka, Samowar, die meist von Erläuterungen, d. h. beschreibenden Übersetzungen begleitet sind (vgl. S. 106).

Bei der Wiedergabe von literarischen Kunstwerken kommt dieses Verfahren seltener vor. Als Beispiel können wir die Ubersetzungen eines Satzes aus Gorkis „Kindheit" ins Engli-sche anführen, in dem die Bezeichnungen von spezifischen Kleidungsstücken der alten russischen Volkstracht vorkom-men:

В сундуках у него лежало множество диковинных нарядов: штофные юбки, атласные душегреи, шелковые сарафаны, тканые серебром, кики и кокошники, шитые жемчугами... (гл. X I )

His trunks were füll of many extraordinary costumes: brocaded skirts, satin vests, cloth-of-gold sarafani, kiki and kokoshniki, ornamented with pearls... (tr. by M. Wet-tlin) In einer Anmerkung werden die transkribierten russi-

schen Wörter folgenderweise erläutert: „sarafani — long, sleeveless dresses; kiki andj kokoshniki — headdresses". Somit verbindet sich hier die Transkription mit der beschrei-benden Ubersetzung, die weiter unten zu behandeln ist.

Es gab eine Zeit, da die Tendenz zur weitestgehenden Verwendung der Transkription und Transliteration in der Ubersetzung stark verbreitet war, was zuweilen zu unver-tretbaren Übertreibungen führte. Der sowjetische Überset-zer und Literaturwissenschaftler I. A. Kaschkin kritisierte diese mißbräuchliche Verwendung der Transkription in den Dickens-Ubersetzungen der dreißiger Jahre mit folgenden ironischen Bemerkungen: „Здоровая тенденция разумного приближения к фонетической точности написания здесь переходит в свою противоположность.. . атерны и прочие скривенеры; къюриты и прочие реверенд-мистеръц сэндуичи и прочие тоусты; начинательные приказы и прочие риты

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(writs) и термины (в смысле сессий); спекуляции и прочие крибиджы. Причем читателю, не заглянувшему в коммен-тарий, приходится догадываться, что спекуляция — это карточная игра, так же как и глик и поп-Джон... К обще-известным напиткам: джину, грогу, пуншу, элю навязы-ваются еще холендс, клерет, порт, тоди, хок, стаут, ни-гес..., скиддем, бишоп, джулеп, флип, снэпдрегон, уоселъ... Точно так же к издавна известным кэбам, фаэтонам, кабриолетам, шарабанам пристраиваются гиги, шезы, комодоры, брумы, беруши, тильбюри, кларенсы, догкарты, стенхопы, хенсомы и прочие шендриданы.11 *

Gegenwärtig wird die Transliteration und Transkrip-tion bei der Übersetzung literarischer Werke viel weniger verwendet als früher. Dies ist durchaus begründet, ist doch die Wiedergabe des Laut- oder Schriftbildes einer fremd-sprachlichen Worteinheit ungeeignet, die Bedeutung dieser Einheit zu erschließen, so daß der Leser, der der Ausgangs-sprache. nicht mächtig ist, sie ohne zusätzliche Erläuterun-gen nicht zu verstehen vermag. Daher darf dieses Verfahren bei der Wiedergabe fremdsprachlicher Realien nur in be-scheidenem Maße angewandt werden.

2. Lehnübersetzung. Dieses Verfahren besteht in der Wie -dergabe äquivalentloser Lexik der Ausgangssprache mittels Substitution ihrer Bestandteile (der Morpheme des Wortes oder der Wörter in einer Wortverbindung) durch deren direkte zielsprachliche Äquiva lente /Das linguistische Wesen dieses Verfahrens wird im Kapitel 4 behandelt. Hier wollen wir nur einige Beispiele für Lehnübersetzungen äquivalentloser Einheiten aus dem Deutschen und Englischen ins Russi-sche sowie aus dem Russischen in diese Sprachen? nennen: Volkskammer — Народная палата, Nationale § Volksar-mee — Национальная народная армия, Berufsverbot — запрет на профессию; grand jury — большое жюри, back-bencher —'заднескамеечник; brain-drain — утечка мозгов; колхоз (коллективное хозяйство) — Kollektivwirtschaft; рай-исполком — Rayonexekutivkomitee; дом культуры — Hou-se of Culture; кандидат наук — Candidate of Science usw.

Ähnlich der Transkription und Transliteration erschließt auch die Lehnübersetzung dem Leser, der die Ausgangsspra-che nicht beherrscht, die Bedeutung der übersetzten Einheit

*И. А . Кашкин: Ложный принцип и неприемлемые результаты. „Иностранные языки в школе", М., 1952, № 2, с. 33. Vgl . ebenso. II. Галь: Слово жпвое и мертвое, М. , „Книга", 1972, с. 51.

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nur liöchst ungenügend. Das kommt daher, daß die zusam-mengesetzten Wörter oder stehenden Wortverbindungen, die am häufigsten durch Lehnübersetzungen wiedergegeben werden, meist eine Bedeutung besitzen, die sich nicht unmit-telbar aus der Summe der Bedeutungen der Teilelemente ergibt. Bei der Lehnübersetzung wird jedoch nur die Bedeu-tung der Elemente vermittelt, so daß die Gesamtbedeutung des Komplexes dem ZS-Leser verborgen bleibt. Народный суд ist in der Sowjetunion die Bezeichnung für das unmit-telbar von der Bevölkerung gewählte Gericht der ersten Instanz, was freilich der Ubersetzung „Volksgericht" nicht unmittelbar entnommen werden kann. Genauso wäre die russische Wortverbindung запреты на профессию an sich unverständlich, wenn man nicht über die antidemokratische Praxis der Berufsverbote in der Bundesrepublik Deutsch-land informiert wäre.

3. Beschreibende („erläuternde") Übersetzung. Dieses Verfahren der Wiedergabe äquivalentloser Lexik besteht darin, daß die Bedeutung der ausgangssprachlichen Einheit mittels ausgedehnter Wortgruppen dargestellt wird, die die wesentlichen Merkmale des durch die zu übersetzende lexikalische Einheit bezeichneten Begriffes erschließen und somit einer Begriffsdefinition gleichkommen. J3ier einige Beispiele dafür, wie englische äquivalentlose Lexik nach dieser Methode ins Russische übersetzt wird: landslide побе-да на выборах с большим перевесом голосов; brinkmanship искусство держать мир на грани войны; whistle-stop speech агитационное выступление кандидата во время остановки поезда; coroner следователь, производящий дознание в слу-чае насильственной или скоропостижной смерти; f loo-rer сильный удар, сшибающий с ног oder übertragen озада-чивающий вопрос, трудная задача. Aus dem Deutschen ins Russische übersetzt man nach dieser Methode z. B. folgende Einheiten: Senkrechtstarter человек, сделавший быструю карьеру; Stadtstreicher человек, занимающийся бродяжни-чеством в городе; человек без определенных занятий и места жительства.

Auch russische äquivalentlose Wörter werden so ins Deutsche oder Englische übersetzt, z. В. щи Kohlsuppe, cabbage soup; дружинник Milizhelfer, public order volun-teer u. dgl.

Es liegt auf der Hand, daß die umschreibende Uberset-zung zwar die Bedeutung der äquivalentlosen ausgangs-

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sprachlichen Lexik tatsächlich mit den Mitteln der Zielspra-che erschließt, aber den wesentlichen Nachteil besitzt, sehr schwerfällig und „unwirtschaftlich" zu sein. Das ist zwar das übliche Verfahren bei der Wiedergabe von äquivalent-losen Wörtern in zweisprachigen Wörterbüchern, aber in praktischen Ubersetzungen, vor allem literarischer Texte, ist seine Anwendung nicht immer möglich, ebenso wie es bei der Transkription und Transliteration der Fall ist. Häufig muß der Ubersetzer beide Verfahren (die Transkrip-tion/Transliteration und die umschreibende Ubersetzung) zugleich anwenden, wobei die Umschreibung gewöhnlich als Fußnote, wie im obigen Beispiel aus M. Gorkis „Kind-heit", oder im Kommentar gebracht wird. Dadurch wird es möglich, die Kürze und Sparsamkeit der Transkription (oder Lehnübersetzung) mit der semantischen Erschließung der zu übersetzenden Einheit zu verbinden, die durch die um-schreibende Ubersetzung erreicht wird. Wenn der Übersetzer die Bedeutung der betreffenden Einheit einmal erläutert hat, kann er im weiteren die Transkription oder Lehnüber-setzung verwenden, deren Bedeutung dem Leser nunmehr bekannt ist.

4 ц'"Die annähernde Übersetzung (Ubersetzung mittels eines „Analogons") besteht darin, daß für die AS-Einheit, die keine exakte Entsprechung in der Zielsprache besitzt, eine bedeutungsmäßig ihr am nächsten stehende ZS-Einheit gefunden wird . /Ein Beispiel dafür ist im oben angeführten Gorki-Zitat enthalten, wo das russische душегрея annähernd mit englisch ,vest' übersetzt ist. Das englische Wort ,vest' (etwa mit derselben Bedeutung wie deutsch ,Weste') gibt nur annähernd die Bedeutung des russischen душегрея wie-der, das eine ärmellose warme Frauenjacke bezeichnet. Für Zwecke der Ubersetzung erweist sich jedoch diese unvollstän-dige, nur annähernde Entsprechung als durchaus geeignet. Derartige annähernde Äquivalente lexikalischer Einheiten kann man als „Analoga" bezeichnen. „Analoga" finden weit-gehend Verwendung in britischen Periodika oder gesellschaft-lich-politischen Texten als Bezeichnungen für Erscheinun-gen, die für die sowjetische Wirklichkeit typisch sind (für sogenannte „Sowjetismen"), z. В. горсовет Municipal Coun-cil; председатель горсовета Mayor; техникум junior College; путевка voucher u. dgl. Dasselbe geschieht bei der Uber-setzung aus dem Russischen ins Deutsche: местком Gewerk-schaftsleitung, здание горсовета Rathaus, техникум Fach-

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schule. Obwohl diese Äquivalente den Inhalt der AS-Wörter nur annähernd wiedergeben, rechtfertigt das Fehlen exakter Äquivalente im Englischen und Deutschen ihre Verwen-dung, da sie eine gewisse Vorstellung vom Charakter des bezeichneten Objekts oder Phänomens vermitteln. Das glei-che Verfahren wird selbstverständlich auch bei der Uber-setzung aus dem Englischen oder Deutschen ins Russische angewandt, z. B. drugstore аптека, muffin сдоба, Reform-haus диетический магазин usw.

Beim Gebrauch von „Analoga" in der Übersetzung ist zu beachten, daß sie die Bedeutung des Ausgangswortes nur angenähert wiedergeben, so daß eine zum Teil inkorrekte Vorstellung von der bezeichneten Sache oder Erscheinung entstehen kann. Die übliche Ubersetzung des amerikanischen drugstore mit аптека gibt keine richtige Vorstellung von den eigentlichen Funktionen dieser Einrichtung. In russi-schen Apotheken (аптека) gibt es nur Arzneimittel oder höchstens noch Kosmetika zu kaufen, während im amerika-nischen drugstore auch diverse Artikel des täglichen Bedarfs erhältlich sind, ferner Zeitungen und Zeitschriften, aber auch Kaffee und Eis, und darüber hinaus fungieren die drug-stores auch noch als eine Art Imbißstube. Wenn also in der russischen Synchronisation eines amerikanischen Filmes eine Person sagt В аптеках ужасно кормят (wörtlich „Das Essen in den Apotheken ist fürchterlich" für amerikanisch „Food is awful in drugstores"), so ist der russischsprachige Zuschauer verwundert. Hier wäre ein anderes „Analogon" angebracht, nämlich закусочная (Imbißstube). Ähnlich verhält es sich mit deutsch-russischen Wortpaaren wie Re-formhaus — диетический магазин oder Schaffner — про-водник.

Angesichts derartiger Fehlerquellen erläutern erfahrene Ubersetzer die von ihnen verwendeten „Analoga" im K o m -mentar zur Übersetzung. So ist es zum Beispiel üblich, den russischen Adelstitel князь' (Fürst) ins Englische mit prince zu übersetzen. Aber dieses^englische Wort hat eine Bedeu-tung, die sich eher mit dem russischen принц (Prinz) deckt. Wenn ein englischer Leser in der Übersetzung von Dostojew-skis Roman „Der Idiot" auf князь Мышкин (Fürst Mysch-kin) stößt, könnte er ihn für einen Prinzen halten, was die gesamte Situation in ein falsches Licht rücken würde. Daher handelte der Ubersetzer J. M. Katzer durchaus richtig, als er in den Kommentar zu seiner Ubersetzung dieses Romans

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eine Erläuterimg aufnahm, aus der der eigentliche Sinn des Titels KHH3B im vorrevolutionären Rußland hervorging.

5CTransformationsübersetziing. In einigen Fällen wird bei der Wiedergabe äquivalentloser Lexik eine Umstellung der syntaktischen Satzkonstruktion erforderlich bzw. eine lexikalische Substitution mit völliger Veränderung der aus-gangssprachlichen Wortbedeutung, oder beides zugleich, d. h . , eine lexikalisch-grammatische Übersetzungstransformation (siehe Kap. 5). Eine solche Übersetzung wird als Transforma-tionsübersetzung bezeichnet. Das englische Wort glimpse, für das es kein äquivalentes deutsches Substantiv gibt, wird häufig in Verbindungen wie to have (to catch) a glimpse of (something or somebody) gebraucht. Dies berechtigt zur Wiedergabe dieses Substantivs durch ein Verb und somit zur syntaktischen Umstrukturierung des Satzes, z. B. : I could catch glimpses of him in the windows of the sitting-room (A. C. Doyle, The Adventures of Sherlock Holmes) kann übersetzt werden als Ich sah seine Gestalt ein paarmal im Wohnzimmerfenster. Bei der Übersetzung des englischen Wortes exposure, das im Deutschen (wie im Russischen) keine direkte Entsprechung hat, läßt sich häufig eine lexika-lische Substitution anbringen. Der Satz He diecl of exposure wäre zu übersetzen als Er starb an Erkältung, Er ist an einem Sonnenstich gestorben, Er ist im Schnee erfroren usw. Die richtige Wahl unter diesen Alternativvarianten setzt die Kenntnis des weiteren Kontextes bzw. der extralinguisti-schen Situation voraus, wovon nachstehend noch die Rede sein soll.

Wir sehen somit, daß das Fehlen direkter Äquivalente für bestimmte Gruppen lexikalischer Einheiten der einen Sprache im Wortschatz der anderen keinesfalls mit einer „Unübersetzbarkeit" dieser Einheiten in diese andere Spra-che gleichzusetzen ist. Dem Ubersetzer stehen verschiedene Mittel zur Verfügung, um die Bedeutung der ausgangssprach-lichen Einheit in der R e d e , im konkreten Text wiederzu-geben. Bei der Verwendung eines der drei erstgenannten Mit-tel (Transkription, Lehnübersetzung und umschreibende Ubersetzung) entsteht das, was man als okkasionelles Über-setzimgsäquivalent bezeichnen kann, nämlich ein Wort oder eine Wortverbindung, die (noch) nicht in das Lexikon der Zielsprache eingegangen ist und in der Rede als „poten-tielle" lexikalische Einheit verwendet wird. Wie bereits festgestellt, verwandelt sich ein solches okkasionelles Äqui-

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schule. Obwohl diese Äquivalente den Inhalt der AS-Wörter nur annähernd wiedergeben, rechtfertigt das Fehlen exakter Äquivalente im Englischen und Deutschen ihre Verwen-dung, da sie eine gewisse Vorstellung vom Charakter des bezeichneten Objekts oder Phänomens vermitteln. Das glei-che Verfahren wird selbstverständlich auch bei der Uber-setzung aus dem Englischen oder Deutschen ins Russische angewandt, z. B. drugstore аптека, muffin сдоба, Reform-haus диетический магазин usw.

Beim Gebrauch von „Analoga" in der Übersetzung ist zu beachten, daß sie die Bedeutung des Ausgangswortes nur angenähert wiedergeben, so daß eine zum Teil inkorrekte Vorstellung von der bezeichneten Sache oder Erscheinung entstehen kann. Die übliche Ubersetzung des amerikanischen drugstore mit аптека gibt keine richtige Vorstellung von den eigentlichen Funktionen dieser Einrichtung. In russi-schen Apotheken (аптека) gibt es nur Arzneimittel oder höchstens noch Kosmetika zu kaufen, während im amerika-nischen drugstore auch diverse Artikel des täglichen Bedarfs erhältlich sind, ferner Zeitungen und Zeitschriften, aber auch Kaffee und Eis, und darüber hinaus fungieren die drug-stores auch noch als eine Art Imbißstube. Wenn also in der russischen Synchronisation eines amerikanischen Filmes eine Person sagt В аптеках ужасно кормят (wörtlich „Das Essen in den Apotheken ist fürchterlich" für amerikanisch „Food is awful in drugstores"), so ist der russischsprachige Zuschauer verwundert. Hier wäre ein anderes „Analogon" angebracht, nämlich закусочная (Imbißstube). Ähnlich verhält es sich mit deutsch-russischen Wortpaaren wie Re-formhaus — диетический магазин oder Schaffner — про-водник.

Angesichts derartiger Fehlerquellen erläutern erfahrene Ubersetzer die von ihnen verwendeten „Analoga" im K o m -mentar zur Übersetzung. So ist es zum Beispiel üblich, den russischen Adelstitel князь' (Fürst) ins Englische mit prince zu übersetzen. Aber dieses^englische Wort hat eine Bedeu-tung, die sich eher mit dem russischen принц (Prinz) deckt. Wenn ein englischer Leser in der Ubersetzung von Dostojew-skis Roman „Der Idiot" auf князь Мишкин (Fürst Mysch-kin) stößt, könnte er ihn für einen Prinzen halten, was die gesamte Situation in ein falsches Licht rücken würde. Daher handelte der Ubersetzer J. M. Katzer durchaus richtig, als er in den Kommentar zu seiner Ubersetzung dieses Romans

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eine Erläuterimg aufnahm, aus der der eigentliche Sinn des Titels киязь im vorrevolutionären Rußland hervorging.

5Cjransformationsübersetzung. In einigen Fällen wird bei der Wiedergabe äquivalentloser Lexik eine Umstellung der syntaktischen Satzkonstruktion erforderlich bzw. eine lexikalische Substitution mit völliger Veränderung der aus-gangssprachlichen Wortbedeutung, oder beides zugleich, d. h. • eine lexikalisch-grammatische Übersetzimgstransformation (siehe Kap. 5). Eine solche Übersetzung wird als Transforma-tionsübersetzimg bezeichnet. Das englische Wort glimpse, für das es kein äquivalentes deutsches Substantiv gibt, wird häufig in Verbindungen wie to have (to catch) a glimpse of (something or somebody) gebraucht. Dies berechtigt zur Wiedergabe dieses Substantivs durch ein Verb und somit zur syntaktischen Umstrukturierung des Satzes, z. В . : I could catch glimpses of him in the windows of the sitting-room (А. C. Doyle, The Adventures of Sherlock Holmes) kann übersetzt werden als Ich sah seine Gestalt ein paarmal im Wohnzimmerfenster. Bei der Übersetzung des englischen Wortes exposure, das im Deutschen (wie im Russischen) keine direkte Entsprechung hat, läßt sich häufig eine lexika-lische Substitution anbringen. Der Satz He died of exposure wäre zu übersetzen als Er starb an Erkältung, Er ist an einem Sonnenstich gestorben, Er ist im Schnee erfroren usw. Die richtige Wahl unter diesen Alternativvarianten setzt die Kenntnis des weiteren Kontextes bzw. der extralinguisti-schen Situation voraus, wovon nachstehend noch die Rede sein soll.

Wir sehen somit, daß das Fehlen direkter Äquivalente für bestimmte Gruppen lexikalischer Einheiten der einen Sprache im Wortschatz der anderen keinesfalls mit einer „Unübersetzbarkeit" dieser Einheiten in diese andere Spra-che gleichzusetzen ist. Dem Ubersetzer stehen verschiedene Mittel zur Verfügung, um die Bedeutung der ausgangsspracli-lichen Einheit in der R e d e , im konkreten Text wiederzu-geben. Bei der Verwendung eines der drei erstgenannten Mit-tel (Transkription, Lehnübersetzung und umschreibende Übersetzung) entsteht das, was man als okkasionelles Über-setzmigsäquivalent bezeichnen kann, nämlich ein Wort oder eine Wortverbindung, die (noch) nicht in das Lexikon der Zielsprache eingegangen ist lind in der Rede als „poten-tielle" lexikalische Einheit verwendet wird. Wie bereits festgestellt, verwandelt sich ein solches okkasionelles Äqui-

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valent häufig in ein usuelles, also stehendes, ständig ver-wendetes. Dies bedeutet, daß die betreffende lexikalische Einheit in den Wortschatz der Zielsprache eingeht (und letzt-lich auch in die Wörterbücher dieser Sprache aufgenommen wird). In diesem Fall verliert die ausgangssprachliche Ein-heit den Charakter der Äquivalentlosigkeit. Es läßt sich selbstverständlich gar nicht immer mit Bestimmtheit fest-stellen, ob eine gegebene Okkasionalbildung bereits in den ZS-Wortschatz eingegangen und somit usuell geworden ist, da der eigentliche Zeitpunkt des Uberganges einer lexikali-schen Einheit (eines „Neologismus") aus der R e d e in d i e S p r a c h e meistens nicht exakt nachweisbar ist. So gibt es z. B. keine zuverlässigen Kriterien dafür, ob Bil-dungen wie трайбализм oder заднескамеечник (für tribalism und backbencher) als usuelle Äquivalente der betreffenden englischen Wörter gelten können, da es unklar ist, ob diese Wörter in den Wortschatz der russischen Sprache eingegan-gen sind. Genauso besteht keine Klarheit in der Frage, ob die englische Wortverbindung cabbage soup ein stehendes und somit usuelles Äquivalent für russisch щи ist oder ob es sich um eine freie Wortverbindung handelt, also um ein Faktum der Rede und nicht der Sprache (des Wortschatzes). Für die Praxis der Ubersetzung spielen diese Fragen allerdings eine untergeordnete Rol le .

Leser, die sich näher für das Problem der Wiedergabe äquivalentloser Lexik interessieren, finden eingehendere Behandlungen dieser Fragen in einschlägigen Veröffentli-chungen.

§ 26. Bisher ging es um die Wiedergabe der referentiellen Bedeutung eines Wortes (bzw. einer Wortverbindung), bei der es sich (nach § 14, Kapitel 2) um die Bezogenheit des Wor-tes auf einen R e f e r e n t e n , d . h . auf eine K l a s s e qualitativ (in bestimmter Hinsicht) gleichartiger Gegen-stände, Prozesse, Sachverhalte usw. handelt. Am gleichen Ort wurde aber festgstellt, daß in der R e e, im konkreten Text die Zeichen meistens nicht die gesamte Klasse (den Referenten) bezeichnen, sondern nur einen Einzelvertreter dieser Klasse, einen konkreten Gegenstand (Prozeß, Sachver-halt usw.), den wir das D e n o t a t nannten. Die Uberset-zung hat nicht mit der Sprache zu tun, wie wir bereits wieder-holt betonten, sondern mit der Rede, mit konkreten Redeer-

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Zeugnissen (Texten). Daher werden bei der Ubersetzung die Entsprechungen zwischen den Zeichen der Partnersprachen häufig nicht auf der Ebene der Referenten, sondern a u f d e r E b e n e d e r D e n o t a t e hergestellt. Die AS-Einheit und ihr okkasionelles Äquivalent in der Ziel-sprache können somit in ihrer referentiellen Bedeutung aus-einandergehen und sich zugleich in den von ihnen bezeichne-ten Denotaten decken.

Nehmen wir an, wir haben folgenden Satz aus dem Deut-schen ins Englische zu übersetzen: Die vietnamesische Gewerk-schaf tsdelegation, die in Berlin weilte, ist gestern in ihre Hei-mat abgereist. Die englischen Äquivalente des deutschen Wor -tes „Heimat" sind u. a. homeland, motherland, mother coun-try. Alle diese Wörter decken sich zwar mit der referentiellen Bedeutung des deutschen Wortes Heimat, unterscheiden sich von diesem aber durch ihre pragmatische Bedeutung — sie sind alle emotionell gefärbt, während das deutsche Heimat in Wortfügungen wie in die Heimat fahren u. dgl. emotio-nell neutral ist. Man könnte zwar den Ausdruck to leave for home nach Hause fahren verwenden, aber es ist zu bedenken, daß der Ubersetzer eigentlich keinen zwingenden Grund hat, in diesem Falle die lexische Bedeutung des deutschen Wor -tes Heimat zu bewahren, was z. B. notwendig wäre, wenn das Wort hier als Gattungsbezeichnung gebraucht, cl. h. auf den Referenten insgesamt bezogen wäre (z. B. Man muß seine Heimat lieben). In unserem Falle kommt es aber darauf an, wohin eigentlich die vietnamesische Delegation abge-reist ist. Die Heimat der Vietnamesen ist selbstverständ-lich Vietnam, Denotat des Wortes Heimat ist somit i n d i e s e m F a l l e das Land Vietnam. Daher dürfen wir in die Heimat abgereist mit left for Vietnam (oder auch: for Hanoi) übersetzen. Die Äquivalenz der Ubersetzung er-gibt sich in unserem Beispiel aus der Identität der im AS-Text und im ZS-Text bezeichneten D e n o t a t e , ungeach-tet dessen, daß die referentiellen Bedeutungen der Wörter Heimat und Vietnam (oder Hanoi, Sozialistische Republik Vietnam usw.) verschieden sind.

Zur Veranschaulichung des Gesagten seien folgende Bei-spiele aus der russischen Übersetzung von J. Salingers Erzäh-lung „The catcher in the Rye" angeführt:

That isn't too far from this crumby place... (Ch. 1) Это не очень далеко отсюда, от этого треклятого

санатория...

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All he did was lift the Atlantic Monthly off his lap and try to chuck it on the bed, next to me. (Gh. 2)

Просто оп взял журнал с колен и хотел кинуть его на кровать, где я сидел. Im ersten Falle wird das allgemeine Wort place mit сана-

торий übersetzt, der konkreten Bezeichnung des Ortes, wo sich im geschilderten Moment die Ich-Person der Erzählung befindet. (Diese Konkretisierung wird selbstverständlich auf Grund der im weiteren Kontext enthaltenen Information vorgenommen.) Im zweiten Falle geschieht eine umgekehrte Substitution: Anstelle des konkreten Zeitschriftentitels •verwendet der Übersetzer die allgemeine Gattungsbezeich-nung журнал (ein Rückgriff auf den Kontext ist hier nicht nötig, da mit dem englischen Wort monthly ja nichts anderes als eine monatlich erscheinende Zeitschrift bezeichnet wird). In beiden Fällen besteht keine Übereinstimmung der lexikali-schen Bedeutungen der AS-Einheiten und ihrer Übersetzungs-äquivalente — das AS-Wort hat einen referentiellen Bedeu-tungsumfang, der entweder viel weiter (1. Beispiel) oder we-sentlich enger (2. Beispiel) ist als der des jeweiligen Wort-äquivalents im Text der Übersetzung.

Die Äquivalenz ergibt sich hier aus der d e n o t a t i -v e n I d e n t i t ä t der einander zugeordneten AS- und ZS-Einheiten, die ein und denselben Gegenstand bezeich-nen. Hier noch ein gleichgeartetes Beispiel aus einer russisch-englischen Übersetzung:

Скворец, скосив на нее круглый, живой глаз... , стучит деревяшкой о тонкое дно клетки... (М. Горький, Детство. Гл. VII )

The bird would cock its round eye at her... , knock its wooden leg against the floor of the cage...

Auch hier decken sich russisch скворец und englisch bird nicht im Umfang ihrer referentiellen Bedeutungen; die Äqui-valenz wird auf der Ebene der Denotate hei'gestellt, da beide Wörter — der Gattungsname und die Artbezeichnung — auf dasselbe Lebewesen bezogen sind.

Auf der denotativen Identität der bezeichneten Objekte beruhen die Ubersetzungsverfahren der Konkretisierung und Generalisierung, die ausführlich in Kapitel 5 behandelt wer-den. (Vgl. auch die Beispiele in § 33 dieses Kapitels.)

Diskrepanzen in der referentiellen Bedeutung von Wör-tern und Wortverbindungen der Ausgangssprache und der

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Zielsprache sind folglich an und für sich kein Hindernis für die Herstellung von Beziehungen der Übersetzungs-äquivalenz zwischen ihnen. Maßgeblich ist dabei die Identität des von ihnen benannten Denotats, woraus sich in der B e d e die Möglichkeit ergibt, Wörter als Äquivalente zu benutzen, die ungleiche referentielle Bedeutungen besitzen (wie wir aus den Beispielen ersehen, handelt es sich dabei zumeist um Wörter, die zueinander im Verhältnis von „Teil und Ganzem" stehen, d. h. durch ein logisches Subordinationsverhältnis verbunden sind). *

2. Die Wiedergabe der pragmatischen Bedeutungen

§ 27. Oben (siehe § 14, 2 des vorigen Kapitels) definierten wir die pragmatische Bedeutung tals Beziehung zwischen dem Zeichen und dem Menschen (oder richtiger: dem Menschenkol-lektiv), der dieses Zeichen benutzt. Es wurde festgestellt, daß die Menschen, die im Prozeß der sprachlichen Kommunika-tion Sprachzeichen verwenden, diesen Zeichen gegenüber nicht gleichgültig sincl; sie reagieren verschieden auf die jeweiligen Spracheinheiten und somit auch auf die durch sie bezeichne-ten Referenten und Denotate. 'Diese subjektive Haltung der Menschen (der Sprachgemeinschaften) gegenüber den Einheiten der Sprache und durch ihre Vermittlung auch gegenüber den von ihnen bezeichneten Gegenständen und Begriffen selbst wird häufig dem jeweiligen Zeichen angehef-tet, geht als ständige Komponente in seine semantische Struk-tur ein und wird somit dazu, was wir die pragmatische Bedeu-tung des sprachlichen Zeichens nennen.

Wir müssen von vornherein betonen, daß der Begriff der Pragmatik in der Sprachwissenschaft (und im weiteren Sinne — in der Semiotik) nicht allein auf die pragmatischen B e d e u t u n g e n der sprachlichen (und allgemein semio-tischen) Zeichen beschränkt bleibt. Es ist dies ein viel weiter gespannter Begriff: Er umfaßt alles, was mit dem verschiede-nen Verständnisgrad für die jeweilige Spracheinheit oder ein Redeprodukt bei den Teilnehmern des Kommunikations-aktes verbunden ist sowie mit Unterschieden in der Auf-

*Zur denotativen Identität von Spracheinheiten in den Über-setzungen vgl. O. Kade: Konimunikationswissenschaftliche Probleme der Translation. „Fremdsprachen" Sonderheft II, Leipzig 1968, S. 11.

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fassung dieser Einheiten und Produkte in Abhängigkeit voii den sprachlichen und nichtsprachlichen (extralinguistischen) Erfahrungen der an der Kommunikation beteiligten Perso-nen. In diesem Sinne reicht die „Pragmatik" weit über den Rahmen der eigentlichen pragmatischen Bedeutungen der Zeichen und über den Rahmej)/ der gesamten mikrolingui-stischen Problematik hinaus. Sie löst sich in der Untersu-chung der extralinguistischen Redefaktoren auf, wie z. B. Gegenstand, Situation und Teilnehmer des Redeaktes (siehe oben §§ 7—8, Kapitel 1). Von pragmatischen B e -d e u t u n g e n kann nur die Rede sein, wenn das Ver-halten der Mitglieder der Sprachgemeinschaft zu den sprach-lichen Zeichen, wie bereits festgestellt, zu einem Teil der semantischen Struktur des Zeichens selbst wird, dem Zei-chen ständig anhaftet und im Wörterbuch als sogenannte „stilistische Kennzeichnung" festgehalten werden kann. Die Pflanzennamen Labkraut, Grindkraut und Kölle lösen bei einem Stadt- oder Dorfbewohner, bei einem Botaniker oder einem Laien verschiedene Assoziationen aus, werden von ihnen also verschieden (und auch verschieden gut) ver-standen. Die Wortverbindungen der Heilige Geist und Aus-geburt der Hölle wirken auf Gläubige und Atheisten ver-schieden usw. Aber das unterschiedliche Verhalten verschie-dener Teilnehmer des Redeaktes zu dem jeweiligen Zeichen ist in diesen Fällen kein integrierendes Element des seman-tischen Systems dieser Zeichen und kann daher auch nicht als deren pragmatische Bedeutung gelten. Da aber beim Vergleich von Einheiten verschiedener Sprachen derartige Unterschiede im Verhalten gegenüber referentiell identi-schen Zeichen viel häufiger auftreten als innerhalb derselben Sprach- oder Volksgemeinschaft, kann sich auch die Theorie und Praxis der Ubersetzung nicht über sie hinwegsetzen.

Mit einem qualitativ anders gelegenen Fall haben wir es bei Wortschatzeinheiten wie z. B. Visage, pennen, Fraß u. a. m. zu tun. Hier ist das besondere Verhalten der Ange-hörigen der Sprachgemeinschaft gegenüber diesen Zeichen in deren semantische Struktur als ihr ständiger Bestandteil eingegangen (in unseren Beispielen ist dies die Bedeutung der Derbheit, eine ausgesprochen negative subjektive Beurtei-lung). In derartigen Fällen sprechen wir eben von bestimm-ten pragmatischen Bedeutungen der sprachlichen Einhei-ten, u. a. von ihrer emotionellen Färbung.

In diesem Abschnitt behandeln wir die Wiedergabe prag-

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matischer Bedeutungen sprachlicher Einheiten beim Uber-setzen. Wie im vorhergehenden Abschnitt tun wir es an Hand lexikalischer Einheiten (d. h. Wörter), obwohl pragmatische Bedeutungen strenggenommen nicht nur lexikalischen Ein-heiten eigen sind. Bestimmte grammatische Formen kön-nen auch eine aasgeprägte pragmatische Bedeutung besit-zen, so besaß z. B. in der englischen Sprache (jedenfalls im X I X Jh.) die Form der 2. Person Singular thou knowest die ausgesprochen pragmatische Bedeutung (stilistische Charak-terisierung) des „Dichterischen", „Erhabenen". Die syntak-tische Konstruktion „Nominativus Absolutus" ist im heu-tigen Englisch ebenfalls pragmatisch (stilistisch) gekenn-zeichnet als „schriftsprachlich" oder „offiziell". Im allgemei-nen ist aber die ausdrückliche pragmatische „Markiertheit" mehr für lexikalische Einheiten typisch, da die emotionelle und stilistische Färbung der grammatischen Formen in der weitaus überwiegenden Mehrheit der Fälle neutral ist.

§ 28. Leider ist die linguistische Theorie der pragmati-schen Bedeutungen viel schwächer entwickelt als die Theo-rie der referentiellen Bedeutungen. Es steht jedoch fest, daß das System der in der Sprache zum Ausdruck kom-menden referentiellen Bedeutungen recht komplex ist und daß diese Bedeutungen qualitativ uneinheitlich sind. Ohne Anspruch auf Endgültigkeit zu erheben, halten wir es für möglich, ein Klassifikationsschema der pragmatischen Bedeutungstypen vorzuschlagen, das u. E. sowohl auf die russische als auch auf die englische und viele andere Sprachen anwendbar ist:

1. Stilistische Charakteristik des Wortes. Neben den Wörtern, die in allen Textgattungen und Redetypen ge-bräuchlich (d. h. stilistisch „neutral") sind, gibt es Wörter und Wortverbindungen, deren Gebrauch auf einzelne Gat-tungen und Typen beschränkt ist. Diese Fixierung der Wör -ter auf bestimmte Redegattungen wird zu ihrem ständigen Merkmal und somit zu einem Bestandteil ihrer pragmati-schen Bedeutung. Eben in diesem Sinne verwenden wir den Ausdruck „stilistische Charakteristik des Wortes".

Im allgemeinen erscheint es zweckmäßig, zwei Grund-typen der Rede z u unterscheiden: d i e u m g a n g s -s p r a c h l i c h e und d i e s c h r i f t s p r a c h l i -c h e. Innerhalb dieser letzteren lassen sich folgende Haupt-

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gattungen ausgliedern: 1) die schöngeistige Literatur (Bel-letristik); 2) die amtlich-wissenschaftliche Textgattung; 3) die publizistische Textgattung.* Jede dieser Gattungen zerfällt wiederum in UntergalLungen. So umfaßt die schön-geistige Literatur Prosa, Dramatik und Lyrik; die amtlich-wissenschaftliche Textgattung amtlich-geschäftliche, jour-nalistisch-informatorische, dokumentarisch-juristische und wissenschaftlich-technische Texte; die Publizistik umfaßt gesellschaftspolitische Literatur, Zeitungs- und Zeitschrif-tenpublizistik (im engeren Sinne) und Rednersprache. Nicht allen hier genannten Redegattungen ist allerdings die Ver-wendung besonderer, für die jeweilige Gattung typischer lexikalischer Einheiten eigen. So gibt es z. B. keine spezifi-sche lexikalische Schicht, deren Benutzung ausschließlich oder auch nur vornehmlich auf die schöngeistige Literatur beschränkt wäre. Es ist geradezu ein Unterscheidungsmerk-mal dieser Gattung (mit Ausnahme der Lyrik, die ihren spe-zifischen Wortschatz besitzt), daß sie weitestgehend von lexikalischen Mitteln Gebrauch macht, die den verschieden-sten Stilschichten angehören. Einen eigenen spezifischen Wortschatz hat auch die Sprache der Publizistik nicht.

Davon ausgehend, kann man in Sprachen wie Russisch, Englisch oder Deutsch folgende Arten cler stilistischen Cha-rakterisierung von Wörtern feststellen:

1) Neutral: Wörter, die in allen Typen und Gattungen der Rede gebräuchlich sind, d. h. „stilistisch unmarkierte" Wörter. Hierher gehört die Mehrzahl der Wörter, die den Kern des Wortschatzes einer jeden Sprache bilden.

2) Umgangssprachlich: Wörter, die in „inoffiziellen" Situationen in der mündlichen Rede gebräuchlich sind, in der schriftlichen aber in der Regel ** nicht vorkommen (z. В. : russisch электричка, раздевалка, влипнуть, шлёп-нуться;, тренькать, чудной u. dgl.; englisch bobby, booze, dough Geld, buck Dollar, movie, buddy, to filch; deutsch kriegen, durch sein, klauen).

*Dieser Klassifikation folgt и. а. A. W. Fjodorow (Vgl. A.B. Фё-доров: Основы общей теории перевода. Гл. 6). Eine etwas abweichende (stärker detaillierte) Klassifikation gibt I. R. Galperin in der Mono-graphie „Stylistics", Moscow, „Higher School Publishing House", 1977, Part. VI .

**Eine Ausnahme ist die Verwendung des umgangssprachlichen Wortschatzes in der Sprache der schöngeistigen Literatur (vor allem in der Personenrede) und in der Publizistik.

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3) Schriftsprachlich: Wörter, die nur in schriftlicher Rede aller Gattungen vorkommen und in der Umgangssprache unüblich sind, aber in „offizieller" Situation auch in der mündlichen Rede gebraucht werden können (z. B. russisch досягаемость, вышеупомянутый, шествовать, благосостоя-ние u. dgl. , englisch inebriety, conflagration, pecuniary, to commence, thereby usw., deutsch Eheschließung, hiermit, inaugurieren).

4) Dichterisch: Wörter, die vorwiegend in der Sprache der Dichtung (zuweilen auch in „feierlicher" Prosa) verwen-det werden (z. B. russisch отчизна, глашатай, очи, уста; englisch oft, morrow, steed; deutsch Hain, Lenz, frohlocken, hold u. ä.).

5) Terminologisch: Wörter, die ausschließlich oder vor-wiegend in der amtlich-wissenschaftlichen Textgattung verwendet werden. Hierher gehört die gesamte wissenschaft-liche und technische Terminologie, auch die Termini und Spezialausdrücke aus dem Bereich von Staat und Recht (Jurisprudenz), Wirtschaft, Finanzen und Militärwesen sowie aus dem gesellschaftlich-politischen Leben sind dazu zu rechnen. Die sogenannten „Kanzleiwörter" gehören offen-bar zur selben Kategorie *.

2. Das Register des Wortes **. Wenn wir vom „Register" sprechen, zu dem das Wort gehört, so meinen wir damit bestimmte Kommunikationsbedingungen oder Situationen, die die Auswahl des jeweiligen sprachlichen Mittels, u. a. der lexikalischen Einheit, maßgeblich beeinflussen. Diese Situation ist vor allem gekennzeichnet durch die Zusam-mensetzung der Teilnehmer des Kommunikationsprozesses: Bestimmte Wörter (und allgemein Spracheinheiten) können nur gebraucht werden im Gespräch mit guten Bekannten, Verwandten u. dgl., während andere lexikalische (und überhaupt sprachliche) Einheiten vorwiegend im Gespräch mit weniger vertrauten Personen, dienstlich oder sozial Höherstehenden u. ä. verwendet werden. Ferner wird das

*Eine Charakterisierung des Wortschatzes des Englischen unter dem Aspekt seiner stilistischen Differenziertheit gibt I. R. Galperin a. a. 0 . , Part II.

**Der Terminus „Register" wird in der gleichen oder einer ähnlichen Bedeutung in den Arbeiten der Linguisten der sogenannten Londoner Schule verwendet, z. B. in der bereits erwähnten Arbeit von J. C. Catford: „A Linguistic Theory of Translation".

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„Register" ebenfalls durch die Bedingungen bestimmt, unter denen der sprachliche Kommunikationsprozeß vor sich geht: Selbst mit guten Freunden und Verwandten ist es nicht üblich, bei offiziellen Anlässen, z. B. im Büro, auf einer Versammlung usw., die gleiche Bedeweise zu benutzen, wie etwa in häuslicher Umgebimg. Insgesamt kann man in der Sprache folgende fünf Register feststellen*:

1) das familiäre; 2) das ungezwungene; 3) das neutrale; 4) das formelle; 5) das gehobene. So gehören die russischen Wörter оболтус, паршивец, трескать oder das deutsche quatschen u. dgl. zum familiären Register; авоська, подка-чать, подвыпивший und Gerede, Pleite machen — zum unge-zwungenen; прибыть, отчислить, очередной, бракосочета-ние und beanstanden, relegieren, Begutachtung zum formel-len; стезя, вкусить, лицезреть und Gemahlin, Gewand, verscheiden zum gehobenen. Es kommt häufig vor, daß die Sprache mehrere Wörter mit gleicher referentieller Bedeu-tung besitzt, die zu verschiedenen Registern gehören, vgl. russisch дрыхнуть (familiär) — спать (ungezwungen und neutral) — отдыхать (formell) — почивать (gehoben). Die überwiegende Mehrheit der Wörter gehört zum neutralen Register, sie können in jedem Rederegister vom familiären bis zum gehobenen verwendet werden, ähnlich wie stilistisch neutrale Wörter in jedem Typ oder jeder Gattung der Rede gebräuchlich sind.

3. Die emotionelle Färbung des Wortes. In jeder Sprache gibt es Wörter und Ausdrücke, deren semantische Struktur eine emotionelle Komponente beinhaltet,1 'nämlich die emotio-nelle Haltung des Sprechenden zum angesprochenen Gegen-stand oder Begriff, d. h. eine negative oder positive Wer-tung der durch das Wort bezeichneten Gegenstände, Er-scheinungen, Handlungen oder Eigenschaften. In diesem Sinne spricht^man von emotioneller Färbung des Wortes, die negativ oder positiv sein kann. Die Wörter, die keinen wer-tenden Faktor enthalten (sie bilden die Mehrheit des Wort-bestandes einer Sprache) gelten als „emotionell neutral". Somit lassen sich die lexikalischen Einheiten grundsätzlich in drei Gruppen einordnen: die emotionell negative, die emotionell neutrale und die emotionell positive. Die russi-schen Wörter лизоблюд, подпевала, шкурник, говорильня,

*Siehe M. Joos: The Five Clocks. „International Journal of Ame-rican Linguistics", N 28, 1962, p. V.

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отребье, волынить gehören beispielsweise zu der Gruppe der emotionell negativ gefärbten Wörter. Emotionell nega-tive Wörter werden im Russischen häufig durch Ableitung gebildet, durch Anfügen eines abwertenden Suffixes an ein emotionell neutrales Wort (z. В. городишко, избёнка, человечишко u. ä.). Wörter mit emotionell positiver Färbung lassen sich in der russischen Sprache ebenfalls recht frei von neutralen Wörtern durch Anfügung von sogenannten Kose-Suffixen ableiten (z. В. братец, сестричка, дружочек, пёсик и. а. т . ) . Für den gleichen Referenten können emotio-nell gefärbte und neutrale Bezeichnungen nebeneinander bestehen, vgl. russisch мятеж (negativ) — восстание (neu-tral), шпион (negativ) — разведчик (neutral) u. ä. Ein gleichartiges Beispiel aus der englischen Sprache bringt J. W. Arnold in ihrer „Лексикология современного англий-ского языка": Oh, you're not a spy. Germans are spies. Bri-tish are agents.*

Es versteht sich, daß die hier umrissene Klassifikation der Lexik auf Grund der stilistischen Charakteristik, des Regi-sters und der emotionellen Färbung weitgehend schematisch ist und die ganze Kompliziertheit und Vielfalt der durch die pragmatischen Bedeutungen bedingten Verhältnisse der Wörter nicht wiederzugeben vermag. Die hier ausgewählten Kriterien für die Klassifizierung der Wörter nach ihren prag-matischen Bedeutungen schließen einander strenggenommen nicht aus: Zwischen der stilistischen Charakteristik, dem Register und der emotionellen Färbung bestehen so enge Wechselbeziehungen, daß es in einigen Fällen schwerfällt, eine bestimmte Charakteristik eines Wortes oder Ausdruckes einem von diesen pragmatischen Bedeutungstypen zuzuord-nen. So gehören die Wörter des umgangssprachlichen Rede-stils zugleich dem familiären oder ungezwungenen Register an, die schriftsprachliche Lexik dem formellen Register, die dichterische Lexik dem gehobenen. Ebenso besteht ein enger Zusammenhang zwischen der stilistischen Charakte-ristik oder dem Register der Lexik und ihrer emotionellen Färbung: Die Wörter mit emotionell negativer Färbung gehö-ren in ihrer großen Mehrheit zum familiären Register, emo-tionell positiv gefärbte Wörter zum gehobenen Register und zur dichterischen Lexik usw.

*И. В. Арнольд: Лексикология современного английского язы-ка, М,—Л., „Просвещение", 1966, с. 271,

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Andererseits muß man im Auge haben, daß zuweilen ein und dasselbe Wort verschiedene stilistische oder registermä-ßige Merkmale und stilistische Färbungen besitzt. So wird, z. B. das russische Wort конь einerseits als dichterisches Aus-drucksmittel, andererseits aber als Fachwort der Kavallerie oder des Reitsports verwendet; гласить gehört sowohl zum gehobenen Register als auch zum formellen (параграф тре-тий гласит...). Im Deutschen ist dem Worte Weib sowohl eine abwertende als auch eine gehobene dichterische prag-matische Bedeutung eigen. Im Russischen können Wörter mit abwertenden Suffixen und entsprechender emotionell negativer Bedeutung in bestimmter Umgebung auch den genau entgegengesetzten Charakter haben, indem sie näm-lich zu Kosewörtern werden und damit eine emotionell posi-tive Färbung annehmen. Das alles zeigt, wie komplex die tatsächlichen Beziehungen zwischen verschiedenen Arten von pragmatischen Bedeutungen und verschiedenen Klassen der Lexik sind, die im Wortschatz auf Grund dieser Bedeu-tungen festgestellt werden.

Neben den behandelten drei Grundarten der pragmati-schen Bedeutungen, die in den sprachlichen Zeichen zum Ausdruck kommen (stilistische Charakteristik, Register und emotionelle Färbung), gibt es noch eine vierte Art von Be-deutungen, die u. E. ebenfalls zu den pragmatischen zu rechnen ist. Es handelt sich um das sogenannte „kommuni-kative Gewicht" der Sprachelemente in der Satzstruktur, bedingt durch den verschiedenen Grad der Informiertheit des Sprechers und vor aljem des Zuhörers über die im Satz enthaltenen Nachrichten. Bekanntlich unterscheidet man in einem in der Rede verwendeten Satz gewöhnlich einer-seits Elemente, die dem Zuhörer (Leser) bereits bekannte Informationen enthalten und vom Sprecher (Schreiber) beim Aufbau der Mitteilung als das G e g e b e n e vorausge-setzt werden, und andererseits Elemente, die eine n e u e, dem Zuhörer noch unbekannte Information enthalten, die erstmalig mitgeteilt wird und somit für die jeweilige Aussage semantisch am wichtigsten ist. So -ist im Satz Hans macht die Arbeit bei normaler Satzintonation Hans das „Gege-bene", da der Sprecher voraussetzt, daß der Zuhörer weiß, von wem die Rede ist. Das „Neue" ist in diesem Satz ...macht die Arbeit. Bei invertierter Wortfolge (und wiederum norma-ler, nichtemphatischer Intonation) verändert sich das „kom-munikative Gewicht" der Satzelemente in sein Gegenteil.

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Im Satz Die Arbeit macht Hans ist das „Gegebene" Die A rbeit macht..., das „Neue" aber diesmal II ans, denn es wird ja voraus-gesetzt, daß der Zuhörer zwar weiß, daß jemand die Arbeit macht, nicht aber, wer es ist. (Diesen Satz kann man als Antwort auf die ausdrückliche oder auch nur angenommene Frage „Wer macht die Arbeit?" betrachten.) Da die geschil-derte Situation an sich in beiden Fällen dieselbe ist, darf man die hier nachgewiesenen Bedeutungen des „Gegebenen" und des „Neuen" keinesfalls als referentielle einstufen. U. E. sind sie zu den pragmatischen Bedeutungen zu zählen, da sie ausschließlich durch die Haltung der Teilnehmer des Kommunikationsaktes zur im Satz dargestellten Situation bestimmt sind.

Die Literatur zur Frage der kommunikativen Gliederung ist sehr umfangreich, daher erübrigt es sich, hier ausführ-lich auf dieses Problem einzugehen. Da das „kommunikative Gewicht" der Satzelemente und folglich die „kommunikative Gliederung"* des Satzes in jedem Falle von Faktoren des Kontextes und der Redesituation bestimmt werden und somit notwendiger Bestandteil eines jeden Bedeaktes sind, müssen sie auch bei der Übersetzung berücksichtigt werden. Die richtige Wiedergabe der „kommunikativen Gliederung" des Satzes ist eine unentbehrliche Vorbedingung der Äquivalenz der Übersetzung, unabhängig von der Art ihrer Ausführung (schriftlich oder mündlich) und der Gattung des zu über-setzenden Materials. Es besteht jedoch ein grundsätzlicher Unterschied zwischen diesem Typ der pragmatischen Bedeu-tung und allen anderen, die wir bisher behandelt haben, er ist nämlich in seiner Substanz s y n t a x b e z o g e n , d. h. er charakterisiert nicht einzelne Zeichen der Sprache, son-dern ganze A u s s a g e n , indem er den Charakter der Be-ziehungen zwischen den Komponenten der Aussage kennzeich-net. Freilich beschränken sich, wie bereits festgestellt wurde, auch solche Typen der pragmatischen Bedeutungen wie sti-listische Charakteristik, Register und emotionelle Färbung nicht ausschließlich auf lexikalische Ausdrucksmittel. Sie können auch durch grammatische Mittel zum Ausdruck ge-bracht werden. So sind im Englischen syntaktische Kon-struktionen wie elliptische Sätze (vom Typ Want to go with

*Wcitore Bezeichnungen desselben Begriffes sind „aktuelle Gliede-rung", „logisch-grammatische Gliederung", „funktionelle Satzperspek-tive",

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us?), die „apo-koinou"-Konstruktion (z. B. There's a man wants to see you), asyndetische Bedingungssätze (etwa I see him, 1*11 talk to him) u. dgl. m. genauso eindeutige Merk-male des familiären und ungezwungenen Registers wie bestimmte Wortkategorien. Häufig haftet die pragmatische Markierung (entsprechend dem Stil, dem Register oder der emotionellen Färbung) nicht einzelnen lexikalischen Einheiten oder grammatischen Mitteln an, sondern ganzen Aussagen. Ein Beispiel dafür sind die nachstehenden englischen Sätze, die in ihrer referentiellen Bedeutung zusammenfallen, aber zu verschiedenen Rederegistern gehören:

Please, come in. (formell); Come in. (neutral); Come in, will you? (ungezwungen); Get the hell in here! (familiär, emotionell negativ

gefärbt).

Den größten Anteil am Ausdruck der stilistischen Cha-rakteristik, der Register Zugehörigkeit und der emotionellen Färbung des Texts hat aber, wie schon bemerkt, die Lexik. Was das „kommunikative Gewicht" der Satzglieder anbetrifft, so wird es fast ausschließlich grammatisch ausgedrückt, vor allem mit syntaktischen, seltener mit morphologischen Mit-teln. Deshalb betrachten wir die Frage nach der Wiedergabe der „kommunikativen Gliederung" des Satzes weiter in Kapitel 5, im Abschnitt, der sich mit der syntaktischen Umstrukturierung des Satzes bei der Ubersetzung befaßt.

§ 29. Wenn wir uns nun mit der Rolle der pragmatischen Bedeutungen im Ubersetzungsprozeß befassen, so ist zu-nächst festzustellen, daß Unterschiede im Bereich dieser Bedeutungen bei der Zuordnung von lexikalischen Einheiten verschiedener Sprachen' noch viel häufiger vorkommen als im Bereich der referentiellen Bedeutungen. Durchaus normal ist die Situation, wo lexikalische Einheiten in zwei verschie-denen Sprachen sich zwar in ihrer referentiellen Bedeutung vollkommen decken, aber in den pragmatischen Bedeutun-gen (stilistische Charakteristik, Register oder emotionelle Färbung) stark auseinandergehen. Einige Beispiele dafür wurden u. a. in § 21 angeführt (an Hand der Beziehungen zwischen russ. палец — engl, digit; russ. кисть — engl, hand usw.). Die Zahl derartiger Beispiele ließe sich ficht

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vermehren. Der Wortschatz der englischen und der deutschen Sprache besitzt keine stilistisch gleichwertigen Äquivalente für russische Poetismen wie очи, уста, злато, град usw.*, obwohl es natürlich im Englischen wie im Deutschen Wörter mit derselben referentiellen Bedeutung gibt (eyes, mouth, gold, city; Augen, Mund, Gold, Stadt). Im Wortschatz der englischen Sprache gibt es umgangssprachliche Synonyme für das Wort cinema: movies (ungezwungen) und flicks (familiär), die deutsche Sprache hat neben Kino auch noch die pragmatisch deutlich markierten Wörter Kintopp und Flohkiste (umgangssprachlich und familiär-negativ) sowie Filmtheater (formell). Im Russischen hat das Wort кино keine umgangssprachlichen Synonyme, die den englischen und deutschen äquivalent wären, dafür aber das zum formel-len Register gehörende Wort кинотеатр, das nur im Deut-schen, aber nicht im Englischen eine pragmatische Entspre-chung hat. Im Russischen und im Deutschen gibt es auch keine Entsprechungen für die englischen umgangssprachli-chen Bezeichnungen von amerikanischen und britischen Geld-einheiten: bück Dollar, bob Shilling, quid Pfund. Dasselbe gilt sinngemäß für Wörter wie Groschen (10 Pfennig) oder пятачок (5 Kopeken) im Deutschen und Bussischen.

" Wie im Falle der referentiellen Bedeutungen treten die Unterschiede in den pragmatischen Bedeutungen von Wort-schatzeinlieiten verschiedener Sprachen besonders deutlich hervor, wenn nicht isolierte Wortpaare, sondern ganze Wort-gruppierungen oder „Synonymreihen" miteinander vergli-chen werden. Nehmen wir z. B. folgende Synonymreihe: враг — противник — неприятель — недруг. Alle diese Wörter, mit Ausnahme des letzten, besitzen zwei referen-tielle Bedeutungen: 1) „ein Mensch, der sich jemandem oder einer Sache gegenüber feindlich verhält", 2) „Truppen der gegnerischen Seite"; das Wort недруг hat nur die erste der beiden Bedeutungen, und das Wort противник bedeutet darüber hinaus noch „Partner in einem sportlichen Wett-kampf". Was die pragmatischen Bedeutungen anbetrifft, so sind sie bei allen diesen Wörtern verschieden: враг ist ein stilistisch, registermäßig und emotionell neutrales Wort (solche „rundum neutralen" und daher am häufigsten gebräuch-lichen Mitglieder einer Synonymgruppe werden auch als

* Diese Wörter gehören genaugenommen eher zum Lexikon der russischen Dichtung des 19. Jh. als zu dem der modernen Dichtung.

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„Dominanten" bezeichnet); противник ist ebenfalls ein neutrales Wort , in der Bedeutung „Truppen der gegnerischen Seite" ist es außerdem ein militärischer Fachausdruck (in der Sprache von Dienstvorschriften, Befehlen u. dgl. kann nur противник nicht aber враг oder неприятель verwendet werden); неприятель gebraucht man vorwiegend in der lite-rarischen Schriftsprache, недруг ist ein dichterisches Wort des gehobenen Registers.

Der vorgestellten Gruppe von Wörtern entspricht im Englischen die Synonymreihe enemy, adversary, opponent, foe. In ihren referentiellen Bedeutungen stehen sie den oben-angeführten russischen® Wörtern nahe. Sie haben alle außer opponent die Bedeutungen: 1) „ein Mensch, der sich jeman-dem oder einer Sache gegenüber feindlich verhält"; 2) „Trup-pen der gegnerischen Seite"; opponent hat außer der ersten der beiden Bedeutungen auch noch die Bedeutung „Partner in einem sportlichen Wettkampf", und adversary hat alle drei Bedeutungen. In ihren pragmatischen Bedeutungen gehen diese Wörter jedoch auseinander, wobei die Unter-schiede hier nicht immer den Verhältnissen entsprechen, die wir innerhalb cler angeführten russischen Gruppe feststel-len. So ist enemy nicht nur neutrale „Dominante" der eigenen Synonymreihe, sondern auch militärisches Fach-wort, es wird also wie russisch противник in offiziellen mili-tärischen Dokumenten verwendet, adversary ist ein schrift-sprachliches Wort , ähnlich wie opponent (in der mündli-chen Rede können sie nur im offiziellen Register auftreten, für das insgesamt die weitgehende Verwendung schrift-sprachlicher Lexik kennzeichnend ist). Foe ist schließlich ein dichterisches Wort und gehört zum gehobenen Register. Es kann aber auch in Zeitungsüberschriften verwendet werden (wo es seiner Kürze wegen dem längeren enemy vorgezogen wird). Der Ausdruck friend and foe wiederum gehört zum neutralen Stil.

Vergleichen wir nun beide Synonymreihen, die russische und die englische, wobei wir folgende Bezeichnungen benut-zen: 1, 2, 3 bezeichnen die referentiellen Bedeutungen „ein Mensch, der sich ... feindlich verhält", „Truppen der gegne-rischen Seite" bzw. „Partner' im sportlichen Wettkampf" ; neutr. — neutral; sehr. — schriftsprachlich; term. — ter-minologisch; dicht. — dichterisch; R. — referentielle Bedeu-tung; P. — pragmatische Bedeutung.

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R. P. R. P. враг 1. neutr. enemy 1. neutr.

2. neutr. 2. term. противник 1. neutr. adver-

sary 1. sehr.

2. term. 2. sehr. 3. term. 3. sehr.

неприятель 1. sehr. oppo- 1. sehr. 2. sehr. nent 3. term.

недруг 1. dicht. foe 1. 2.

dicht, dicht.

Es ist unschwer zu erkennen, daß obwohl die russische wie die englische Synonymreihe je vier Wörter * umfaßt, die konkrete Kombination der referentiellen und pragmati-schen Bedeutungen der russischen und der englischen Wörter stets verschieden ist. Im Prinzip läßt sich also jedes der ange-gebenen russischen Wörter durch jedes der englischen über-setzen, jedoch müssen für die richtige Wahl des Äquivalents in jedem einzelnen Fall nicht nur die referentiellen, sondern auch die pragmatischen Bedeutungen der Wörter in Be-tracht gezogen werden, die ihre Verwendung mitbestimmen. Eine ähnliche Vergleichsstudie kann der Leser auch selb-ständig unter Einbeziehung der entsprechenden deutschen Äquivalente Feind — Gegner — Widersacher vornehmen. Er wird ein abweichendes Verteilungsmuster der referen-tiellen und pragmatischen Bedeutungen sowohl gegenüber dem Russischen als auch gegenüber dem Englischen fest-stellen.

Die Inkongruenz der pragmatischen Bedeutungen der AS- und ZS-Wörter hat im Ubersetzungsprozeß häufig den Verlust einiger dieser Bedeutungen zur Folge (man erinnere sich an die Ausführungen über die Unvermeidlichkeit von Verlusten bei der Übersetzung in Kapitel 1. Gewöhnlich äußert sich das in der Wiedergabe von stilistisch und emo-tionell „markierten" Wörtern der Ausgangssprache durch neutrale ZS-Wörter. Hier ein Beispiel:

— А Мишка твой езуит, а Яшка — фармазон! (М. Горький, Детство, гл. II)

But that Mikhail of yours is a hypocrite, and that Yakov an infidel! *Um die Beschreibung zu vereinfachen, blieben in der modernen

Sprache wenig gebräuchliche Wörter wie russisch супостат, englisch antagonist unberücksichtigt.

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Hier repräsentieren die englischen Wörter hypocrite und infidel ungeschmälert die referentiellen Bedeutungen der russischen езуит und фармазон jedoch unter Verzicht auf die registermäßige und emotionelle Charakteristik (familiäres Register, emotionell negative Färbung), die diesen eigen sind. Nicht wiedergegeben wird auch, daß diese Wörter vom Standpunkt der modernen russischen Sprache veraltet wirken (was für das sprachliche Porträt der sie benutzenden Person — Gorkis Großvater — nicht gleich-gültig ist).

Verluste, die durch die Verwendung neutraler Wörter anstelle von pragmatisch markierten auftreten, sind z. T. unvermeidlich (sie lassen sich allerdings durch das soge-nannte Kompensierungsverfahren minimieren, wovon später noch die Rede sein wird). Völ l ig unzulässig dagegen ist das umgekehrte Vorgehen — die Substitution neutraler Lexik durch pragmatisch markierte Wörter, deren stili-stische, registermäßige und emotionelle Charakteristiken nicht neutral sind. So hat z. B. das englische Wort endless dieselbe referentielle Bedeutung wie das deutsche endlos, woraus sich die Versuchung ergibt, dieses letztere in der Übersetzung als Äquivalent zu verwenden. In ihrer emo-tionellen Färbung gehen aber diese beiden Wörter eindeutig auseinander. Das deutsche Wort endlos gibt entweder die räumliche Ausdehnung an („endlose Wälder", „der endlose Raum"), oder es hat eine abwertende emotionelle Färbung („das endlose Gerede", „ein endloses Hin und Her"). Das englische endless aber ist emotionell neutral, darum darf bei der Wiedergabe der Wortgruppe „the endless resolutions received by the National Peace Committee"* das Wort endless keinesfalls mit endlos übersetzt werden: das würde ein völl ig falsches Bild von den politischen Sympathien des Autors vermitteln, ihm eine negative Haltung gegenüber der Friedensbewegung unterstellen. In diesem Falle sind offenbar die deutschen Wörter zahllos oder unendlich viel zu verwenden.

Folgendes Beispiel zeigt einen derartigen Fehler, der der Übersetzerin von Gorkis „Kindheit", M. Wettlin, unter-laufen ist:

*Das Beispiel entnahm der Verfasser dem Buch Т. Р. Левицкая, А . M. Фитерман: „Теория и практика перевода с английского языка на русский". М. Изд-во лит. на иностр. яз., 1963, с. 92—93.

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Берите гусиного сала, чистейшего, столовую лож-ку, чайную сулемы, три капли веских ртути (гл. V) .

„ . . . take a tablespoon of goose fat — the very purest — a teaspoon of bichloride of mercury, and three drops of mercury.. ."

Die referentielle Bedeutung von engl, bichloride of mercury ist dieselbe wie die des russischen сулема; aber сулема ist stilistisch neutral, während bichloride of mercury ein wissenschaftlicher Fachausdruck ist, der sich im Munde einer ungebildeten Frau — der Großmutter Gorkis — recht merkwürdig ausnimmt. Hier wäre eher das weniger wissen-schaftliche ,sublimate' angebracht, und auch ,mercury' — ebenfalls ein schriftsprachliches Wort — könnte wohl durch ,quicksilver, ersetzt werden. Die Verwendung von pragma-tisch „markierter" Lexik anstelle der neutralen ist nur als Mittel der sogenannten К o m p e n s i e r u n g gestattet, die bei der Wiedergabe von pragmatischen Bedeutungen in der Ubersetzung eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Die pragmatischen Bedeutungen unterscheiden sich näm-lich von den referentiellen qualitativ noch in einer Hin-sicht: Die letzteren gehören eindeutig zu der jeweiligen lexikalischen Einheit, während die pragmatischen Bedeu-tungen, obwohl sie von Fall zu Fall in den lexikalischen Einheiten a u s g e d r ü c k t s i n d , eigentlich weniger diese Einheiten selbst, als den T e x t i n s g e s a m t charakterisieren, dessen Elemente die Einheiten sind. Be-deutungen wie „stilistische Charakteristik", „Register" und „emotionelle Färbung" sind nicht isolierten Wörtern und Ausdrücken im Text eigen, sondern kennzeichnen den Text als Ganzes, das gesamte Redeprodukt. Deshalb können sie in der Struktur des ZS-Textes mit anderen Mitteln und an anderen Stellen ausgedrückt sein als im AS-Text. (Vgl. dazu auch § 4, 3 Kapitel 1.) Eben darin besteht das Wesen des hier behandelten Verfahrens der Kompensation.

Dieses Prinzip sei an nachstehendem Beispiel veran-schaulicht:

It cost him damn near four thousand bucks. He's got a lot of dough, now (J. Salinger, The Catcher in the

Rye, I) Выложил за неё чуть ли не четыре тысячи. Денег

у него теперь куча.

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Der englische Text und seine russische Übersetzung sind beide als umgangssprachlich und dem familiären Register zugehörig markiert. Die konkreten Exponenten dieser Charakteristiken fallen aber im AS-Text und im ZS-Text nicht zusammen: Die stilistische und registermäßige Cha-rakteristik des englischen Textes kommt in den Wörtern damn, bucks, dough zum Ausdruck, während sie im Uber-setzungstext nicht in den referentiellen Äquivalenten dieser englischen Wörter enthalten ist, sondern, ganz woanders, in den Wörtern выложил, куча. Es kommt folglich nicht darauf an, bei der Übersetzung die pragmatischen Bedeu-tungen isolierter Elemente des Ausgangstextes wiederzugeben (was häufig einfach nicht erreichbar ist), sondern auf die Wahrung der allgemeinen stilistischen, registermäßigen und emotionellen Charakteristik des j e w e i l i g e n T e x -t e s a l s e i n e s G a n z e n . Dies bestätigt einmal mehr die in Kapitel 1 ausgesprochene Feststellung, wonach der Ubersetzer es nicht mit vereinzelten sprachlichen Ein-heiten zu tun hat, sondern mit konkreten Redeprodukten, und daß es ihm nicht um die Äquivalenz von konkreten lexikalischen (oder grammatischen) Einheiten geht, die von dem Gesamtkontext losgelöst sind, sondern um die Ä q u i v a l e n z z w i s c h e n d e m G e s a m t -t e x t i n d e r Z i e l s p r a c h e u n d d e m G e -s a m t t e x t i n d e r A u s g a n g s s p r a c h e , die beide als einheitliches Ganzes behandelt werden.

Ausführlicher wird das Verfahren der Kompensierung beim Ubersetzen in Kapitel 5 dargelegt.

Ein anderes Verfahren zur Wiedergabe pragmatischer Bedeutungen in den Fällen, wo die AS-Lexik keine direkten pragmatischen ZS-Entsprechungen besitzt, ist (wie im Falle der referentiellen Bedeutungen) die u m s c h r e i b e n d e Ü b e r s e t z u n g . Diese beruht darauf, daß es in jeder Sprache Wörter gibt, deren lexikalische Bedeutung die positive oder negative emotionelle Einstellung des Spre-chenden zu Objekten und Erscheinungen ausdrückt. Man kann sagen, daß derartige Wörter nur eine pragmatische (emotionell-bewertende) und gar keine referentielle Bedeu-tung besitzen. Hierher gehören englische Wörter wie darling, dear u. a., die eine emotionell^positive Bewertung ausdrük-ken, und clamned, bloody u. dgl. für den Ausdruck einer emotionell negativen Haltung gegenüber einer Sache oder Person. Das sehen wir z. B. in folgendem Satz aus der

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bereits zitierten Erzählung J. Salingers: „ . . . you could hear his goddam footsteps coming right towards the room" (Ch. 6). Das Attribut goddam bezeichnet hier nicht etwa Eigenschaften oder Merkmale, die dem Denotat von foot-steps real eigen sind, sondern es manifestiert die negative Haltung des Sprechers gegenüber der Person, der diese footsteps gehören. (In der russischen Ubersetzung heißt es „...Было слышно, как он, мерзавец, подходит к нашей комнате.1'' Die in Frage kommende emotionelle Färbung wird hier von einem anderen Wort getragen, nämlich vom Substantiv мерзавец.)

Das Vorhandensein derartiger Wörter in der englischen Sprache ermöglicht die umschreibende Wiedergabe emotio-neller Bedeutungen, die den Wörtern der russischen Sprache durch sogenannte Kosesuffixe und abwertende Suffixe verliehen werden (in der russischen grammatischen Tradi-tion^heißen sie „Suffixe der subjektiven Bewertung"):

Л ю б о в ь А н д р е е в н а : .. . Шкафик мой род-ной... Столик мой. (Aj. Чехов. Вишнёвый сад, I)

My darling old cupboard! My dear little table! (Plays, by A. Chekhov, N.. Y . J 1935.) Selbstverständlich darf man sich dieser Methode nicht

gedankenlos bedienen; so ist es z. B. kaum zu rechtfertigen, wenn in der gleichen Tschechow-Ubersetzung мужичок mit little peasant wiedergegeben ist. Dieser Gebrauch von little zur Wiedergabe der emotionellen Färbung von russi-schen Wörtern mit „Kosesuffixen" ist übrigens schon zur Tradition geworden, aber trotzdem klingen little father und little mother (als Äquivalente der in der russischen Umgangssprache des 18. und 19. Jh. geläufigen Anreden батюшка und матушка) für den nicht Russisch sprechen-den Engländer komisch. Umschreibende Ubersetzungen lassen sich auch zur Wiedergabe anderer pragmatischer Bedeutungen verwenden. So kann die Registercbarakteristik des russischen Verbs дрыхнуть im Englischen mit Hilfe des Ausdrucks to sleep like a log wiedergegeben werden. Die Ergänzung des neutralen Wortes to sleep durch die Wendung like a log transponiert die ganze Wortverbindung ins familiäre Register.

§ 30. Mit dem hier behandelten Problem der Wiedergabe pragmatischer Bedeutung aufs engste verbunden ist die

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Frage nach der Wiedergabe metaphorischer Bedeutungen der WTörter beim Ubersetzen. Bekanntlich entstehen diese Be-deutungen häufig infolge metaphorischer Übertragung der Be-zeichnung eines Gegenstandes auf einen anderen, die auf der emotionell-bewertenden Charakteristik dieses Wortes beruht. Ausgangspunkt einer solchen Übertragung sind häufig emo-tionell gefärbte Vergleichswendungen, etwa wie russisch хитер как лиса (schlau wie ein Fuchs); упрям как осел (stur wie ein Esel); труслив как заяц (feige wie ein Hase). Die Grundlage für derartige Bedewendungen ist die allen Völkern gemeinsame Ausstattung von Tieren (und leblosen Gegenständen) mit menschlichen Zügen und Eigenschaften, die nachher gleichsam auf den Menschen zurückübertragen werden.

Man muß aber beachten, daß nicht alle Völker denselben Tieren die gleichen Eigenschaften zuschreiben; dementspre-chend kann auch die „innere Form" solcher Vergleiche in verschiedenen Sprachen verschieden sein.

Den oben angeführten russischen (und deutschen) Ver-gleichen entsprechen im Englischen in ihrer „inneren Form" analoge Fügungen: sly as a fox, stupid as an ass, timid as а hare (rabbit). Das russische упрям как осел übersetzt man aber mit obstinate as a mule, da für den Engländer eben das Maultier (das im Bußland kaum bekannt ist) als Inbe-griff des Störrigkeit gilt. Vgl . auch пьян как сапожник — drunk as a fiddler (as a lord) — besoffen wie ein Schwein; спать как убитый — to sleep like a rock (a log) — schlafen wie ein Bär (wie ein Sack); слепой как крот — blind as a bat (as a beetle); ясно как божий день — klar wie dicke Tinte usw. Wie schon aus diesen Beispielen er-sichtlich ist, gibt es u. U. in einer der Partnersprachen über-haupt keinen vergleichenden Ausdruck, während er in der anderen Sprache vorhanden ist. So gibt es im Englischen die stehenden Vergleichswendungen busy as a bee (beaver), bold as brass, dead as a doornail. Im Russischen werden die entsprechenden Adjektive занятой, наглый, мёртвый in keinen Vergleichswendungen gebraucht, im Deutschen gibt es eine derartige Wendung nur für „frech" aber auch diese ist formell und stilistisch von der englischen weit ent-fernt (frech wie Oskar).

In solchen Fällen entstehen Schwierigkeiten beim Uber-setzen, besonders wenn das Merkmal, das dem Vergleich

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zugrunde liegt, in der heutigen Sprache nicht mehr als ak-tuell empfunden wird (und die Motivierung des Vergleichs folg-lich verlorengegangen ist). Wir können hier an die bekannte Stelle im „Christmas song" von Ch. Dickens erinnern:

Old Marley was as dead as a doornail. Mind! I don't mean to say that I know, of my own knowledge, what there is particularly dead ab out a doornail. I might have been inclined, myself, to regard a coffin-nail as the deadest piece of ironmongery in the trade.

In der russischen Übersetzung von T. Oserskaja heißt es: Старик Марли был мёртв, как гвоздь в притолоке (wört-lich: ... war tot wie ein Nagel im Türpfosten). So eine Re-densart gibt es aber im Russischen nicht, so daß der Leser völlig im unklaren bleibt. Der Verlust ist hier unvermeid-lich.

Die nächste Phase der Metaphorisierung der Wortbedeu-tung ist die Verwendung der zweiten Komponente der Ver-gleichswendung (des Substantivs) außerhalb dieser Rede-wendung als Bezeichnung für Personen und Gegenstände, die eine Ähnlichkeit mit diesem Bezugsobjekt aufweisen. So nennt man einen schlauen Menschen Fuchs, einen dummen Ochse, einen schnellen Windhund usw. Auf Grund der emo-tionell-bewertenden Bedeutung des Wortes erfolgt hier eine Verschiebung seiner referentiellen Bedeutung; die Be-zeichnung wird auf einen anderen Gegenstand übertragen, und das Wort erhält eine metaphorische Bedeutung.

Diese metaphorischen Bedeutungen sind aber ebenfalls nicht in allen Sprachen gleich. Das englische Wort rat be-zeichnet einen Feigling, das russische крыса (und das deut-sche Ratte) werden jedoch nicht metaphorisch gebraucht. Das russische Wort жук bezeichnet einen unehrlichen Men-schen, einen Gauner, das deutsche Käfer ein nettes junges Mädchen. Гусь ist im Russischen der Ausdruck für einen ulizuverlässigen, auf seinen Vorteil bedachten Mann, im Deutschen aber ist die Gans eine dumme Frau. Im Engli-schen haben beetle und goose überhaupt keine metaphori-schen Bedeutungen. Das Wort паук wird im Russischen auf AiimI Irr, Blutsauger angewandt, im Deutschen und Eng-lischen liahen Spinne und spider diese Bedeutung nicht. In anderen Sprachen können dieselben Wörter auch andere uirl;iplioiisclui Bedeutungen haben. So ist für einen Usbeken die Spinne der Inbegriff der Schlauheit, entsprechend ihrer

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Rolle im usbekischen Märchengut. Im Russischen bezeichnet man mit свинья einen schmutzigen, unordentlichen Men-schen (oder es wird als Scheltwort mit allgemeiner negativer Bewertung gebraucht), das chinesische Wort für Schwein aber bezeichnet einen verderbten, wollüstigen Menschen.* Alle diese Momente müssen unbedingt bei der Übersetzung berücksichtigt werden.

§ 31. Zur pragmatischen Bedeutung des Wortes gehört auch das, was man als seine Ivonnotation bezeichnet. Unter Konnotation versteht man die zusätzlichen Assoziationen, die ein Wort im Bewußtsein des Sprachträgers auslöst. Die Konnotation dürfte wohl nicht eigentlich als Kompo-nente der semantischen Struktur des Wortes angesehen wer-den (d. h. als Bestandteil seiner Bedeutung); dennoch ist ihre Rolle in der emotionell gefärbten Rede, besonders in der lyrischen Poesie, u. U. recht bedeutend.

Wörter mit derselben referentiellen Bedeutung haben häu-fig in verschiedenen Sprachen ungleiche Konnotationen, sie lösen bei Angehörigen verschiedener Sprachgemeinschaften unterschiedliche Assoziationen aus (oder auch gar keine). So erweckt das Wort черёмуха beim Russen Gedanken an den Frühling, die Natur usw., während das englische bird cherry mit derselben referentiellen Bedeutung für den Engländer oder Amerikaner lediglich der Name eines wenig bekannten Strauches ist und keinerlei Emotionen erweckt. Auch das deutsche Wort Faulbaum regt eher negative Gefühle an (fau-liger Geruch der Binde und Geschmack der Beeren). Für den Russen sind dagegen остролист und омела nichts als exotische botanische Fachbezeichnungen, für den Engländer aber sind ihre Äquivalente holly und mistletoe Weihnachts-symbole, da zu Weihnachten die Wohnung mit Zweigen die-ser Pflanzen geschmückt wird (so wie Tannenbaum und ёлка im Deutschen und im Russischen die Weihnachtszeit bzw. das Neujahrsfest symbolisieren). Für den russischen Leser ist daher folgende Allusion in Dickens' „Weilmachts-lied" völlig unverständlich:

*Vgl. С. Д. Кацнелъсон: Содержание слова, зпачение и обозна-чение. М,— Л. , Наука, 1965, с. 73.

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„If I could work my will" , said Scrooge indignantly, „every idiot who goes about witb ,Merry Christmas' on bis lips should be boiled witb bis own pudding, and buried witb a stake of holly through his heart!"

Zu der russischen Übersetzung „я бы такого олуха . . сварил бы живьём вместе с начинкой для святочного пудин-га, а в могилу ему вогнал кол из остролиста" müßte in einer Fußnote ein Kommentar gegeben werden, aus dem ersicht-lich wäre, daß остролист (die Stechpalme) in England ein Weihnachtssymbol ist. Es sei auch auf das Wort святочный hingewiesen, das als Erläuterung eingefügt wurde, da nicht jeder russische Leser die englische Sitte kennt, zu Weihnach-ten. einen Pudding zu machen.

Die Konnotation besitzt aber nicht immer einen emotio-nell-bildhaften Charakter. Häufig äußert sie sich in der „Zurechnung" ein und desselben Begriffes zu verschiedenen Klassen von Erscheinungen infolge der ungleichen Funktion, die diesen Begriffen im Leben verschiedener Völker zu-kommt. Für den Russen sind отруби (Kleie) ein Vieh-futter, für den Engländer ist „bran" ein Frühstücksgericht.

Das Problem der Konnotationen führt uns an die Frage nach dem pragmatischen Aspekt der Übersetzung im wei-teren Sinne heran, zu „deren" Betrachtung wir nunmehr übergehen.

3. Der pragmatische Aspekt der Übersetzung

§ 32. Vorstehend (s. § 27) wurde festgestellt, daß der Begriff der Pragmatik nicht ausschließlich auf die pragma-tischen Bedeutungen der sprachlichen Einheiten reduziert werden kann. Dieser Begriff ist viel weiter gespannt und umfaßt alle Fragen, die sich aus dem ungleichen Verständ-nis von Zeichen und Mitteilungen durch die Teilnehmer des Kommunikationsprozesses und durch die ungleiche Behand-lung ihrer Inhalte in Abhängigkeit von cler linguistischen und extralinguistischen Erfahrung der Kommunikationsteilneh-mer ergeben. In §§ 7—8 wurde betont, daß die extralingui-stische Erfahrung (die man manchmal auch als background knowledge „Hintergrundwissen" bezeichnet) der Kommunika-tionsteilnehmer maßgebend ihre Auffassung der Sprach-

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und Redeeinheiten mitprägt, wofür dort konkrete Beispiele angeführt wurden. In diesem Abschnitt wird nun die Frage erörtert, wie sich diese Faktoren auf den Übersetzungsprozeß und auf die Auswahl der Übersetzungsäquivalente für die vorliegenden AS-Einheiten auswirken.

Wie im genannten Abschnitt des 1. Kapitels nachgewie-sen wurde, ist es eine durchaus normale Situation, wenn die extralinguistischen Informationen, über die die AS-Träger und die ZS-Träger verfügen, nicht identisch sind. Das „Hin-tergrundwissen" der Menschen, die jeweils eine dieser beiden Sprachen sprechen, ist somit verschieden. Daher ist vieles, was den AS-Trägern begreiflich und selbstverständlich ist, für die ZS-Träger nur schwer verständlich oder gänzlich unbegreiflich (und umgekehrt). Der Übersetzer kann offen-bar nicht umhin, diesem Umstand in seiner Tätigkeit Rech-nung zu. tragen: selbst die „exakteste" Ubersetzung taugt nichts, wenn sie denjenigen, für die sie bestimmt ist, unver-ständlich bleibt. Deshalb ist die Berücksichtigung des prag-matischen Aspekts eine notwendige Voraussetzung für die Gewährleistung der vollen Adäquatheit der Übersetzung.

Dabei ist zu beachten, daß nicht alle Arten von Überset-zungsmaterial in gleichem Maße die Berücksichtigung der pragmatischen Faktoren verlangen. Der Ubersetzungstheo-retiker A. Neubert* teilt alle Arten von Übersetzungsmaterial in vier Gruppen ein, und zwar je nachdem, welche Rolle für sie pragmatische Momente spielen: 1) Wissenschaftliche Li-teratur, die in gleichem Maße sowohl auf die AS-Gemein-schaft als auch auf die ZS-Gemeinschaft orientiert ist; der Verständnisgrad ist dabei bei Sprechern verschiedener Spra-chen grundsätzlich der gleiche, da die Texte allgemein für Fachleute des jeweiligen Wissensgebietes bestimmt sind; 2) Material der lokalen Presse und andere Textarten, die für den „inneren Verbraucher" bestimmt sind; das Verständ-nis ihres Inhalts ist für den fremdsprachigen Leser nicht immer leicht, aber praktisch werden solche Texte äußerst selten in andere Sprachen übersetzt, so daß das Problem der Berücksichtigung des pragmatischen Faktors meistens gar nicht erst auftritt; 3) schöngeistige Literatur, die vor allem für Muttersprachler bestimmt ist; sie wird aber häufig in fremde Sprachen übersetzt und bereitet daher dem Übersetzer

*Vgl. A . Neubert: Pragmatische Aspekte der Übersetzung. Beihefte zur Zeitschrift „Fremdsprachen", II , Leipzig 1968, S. 30—31.

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in pragmatischer Hinsicht besondere Schwierigkeiten; 4) Material außenpolitischer Propaganda und Warenwerbung für den Export; bei der Übersetzung solcher Texte spielt die Beachtung des pragmatischen Faktors eine entscheidende Rolle.

§ 33. Wenn wir von den konkreten Arten des Übersetzungs-materials absehen, müssen wir feststellen, daß die Berücksich-tigung des pragmatischen Aspekts am wichtigsten ist für die Wiedergabe derjenigen Klassen der Lexik, die meist als äquivalentlos gelten (s. § 24), nämlich der Eigennamen, der geographischen Benennungen und der Bezeichnungen verschiedener Realien aus Kultur und Alltag. So muß beim Ubersetzen von geographischen Namen, wie z. B. der ame-rikanischen Benennungen Massachusetts, Oklahoma, Vir-ginia, der kanadischen Alberta, Manitoba oder der briti-schen Middlesex, Surrey u. dgl. , grundsätzlich die Bezeich-nung der Verwaltungseinheit hinzugefügt werden: Staat Massachusetts usw., Provinz Alberta, Grafschaft Middlesex*, da der fremdsprachige Leser meistens nicht weiß, worauf sich diese Namen eigentlich beziehen. Somit wird die In-formation, die im Ausgangstext implizit enthalten ist (da sie dem AS-Träger als Bestandteil seines „Hintergrundwis-sens" bekannt ist), im übersetzten Text explizit zum Aus-druck gebracht.

Vgl . auch folgende Ubersetzung aus dem Russischen ins Englische:

Более доходной статьей, чем ветошничество, было воровство дров и тёса в лесных складах на берегу Оки и на Песках. (М. Горький, Детство, гл. X I I I )

But I found that the profits from junk dealing were less than from stealing boards from the lumberyards on the bank of the Oka River or on the Sands.

Jeder russische Leser weiß sicher, daß Oka ein Flußname ist; jedoch kann diese Information nicht auch beim englisch-sprachigen Leser als bekannt vorausgesetzt werden, deshalb wurde in der Übersetzung das Wort river hinzugefügt.

Z u s ä t z e , die Informationen enthalten, welche den AS-Trägern bekannt, den ZS-Trägern aber unbekannt sind,

*Vgl, А. Д, Швейцер: Перевод и лингвистика, с. 245.

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bilden ein weitverbreitetes Ubersetzungsmittel, dessen Auf-gabe es ist, ein möglichst vollständiges Verstehen der Uber-setzung durch die zielsprachlichen Empfänger zu gewährlei-sten. Ein interessantes und aufschlußreiches Beispiel dieser Art bringt W. N. Komissarow in seiner Arbeit „Слово о переводе", S. 150:

It was Friday and soon they'd go out and get drunk. (J. Brain, Room at the Top)

Была пятница, день получки, вскоре эти люди вый-дут па улицу и напьются, (пер. Т. Кудрявцевой и и Т. Озерской) Die in der Ubersetzung eingefügten Wörter sind dadurch

notwendig geworden, daß der russischsprachige Leser nor-malerweise nicht weiß, was jedem Engländer bekannt ist: der Lohn wird in England wöchentlich am Freitag (vor dem „weekend") ausgezahlt.

Nachstehend bringen wir zwei weitere Beispiele solcher pragmatisch bedingter Ergänzungen:

... for dessert you got Brown Betty, which nobody ate... (J. Salinger, The Catcher in the Rye, Ch. 5)

... на сладкое —„рыжую Бетти", пудинг с патокой, только его никто не ел...

Г а е в : Я человек восьмидесятых годов. (А. Че-хов, Вишневый сад) I 'm a good Liberal, a man of the eighties. Im ersten Beispiel erschließt die Ergänzung die Bedeu-

tung der dem russischen Leser unverständlichen Bezeichnung рыжая Бетти, im zweiten dient sie zur Charakterisierung Gajews, des Vertreters einer Epoche, in der ein schwärme-rischer Liberalismus prosperierte, der sich friedlich mit der brutalen politischen Beaktion abfand (diese Konnotation war dem russischen Zuschauer zu Tschechows Zeiten ge-läufig).

In anderen Fällen äußert sich die Rücksichtnahme auf pragmatische Faktoren dagegen in der W e g l a s s u n g von Wörtern in der Übersetzung, z. В . :

... There were pills and medicine all over the place, and everything smelled like Vicks' Nose Drops. (J. Sa-linger, The Catcher in the Rye, Ch. 2)

Везде стояли какие-то пузырьки, пилюли, все пах-ло каплями от насморка.

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Hier ist in der Ubersetzung die Firmenbezeichnung Vick 's weggelassen, da sie dem russischen Leser nichts sagt. Ob-wohl das zu einem geringen Informationsverlust führt, kann es ohne weiteres in Kauf genommen werden, da diese In-formation unwesentlich ist.

Noch häufiger als Ergänzungen und Weglassungen kom-men in der Praxis der Übersetzung S u b s t i t u t i o n e n vor, um dem die Zielsprache beherrschenden Leser eine Information zu vermitteln, die im Original nicht direkt ausgedrückt, dem AS-Leser aber verständlich ist. Als Bei-spiel nehmen wir einen Auszug aus dem Buch des amerika-nischen Historikers und Journalisten W. Shirer „The Rise and Fall of the Third Reich":

... The jubilant Prime Minister faced a large crowd that pressed into Downing Street. After listening to shouts of ,Good old Neville ' . . . , Chamberlain spoke a few words from a second-storey window in Number 10. (Cb. 12)

Jeder Engländer weiß sehr gut, was für eine Einrichtung sich im Haus Nr. 10 in der Londoner Downing Street befin-det. Dem deutschen oder russischen Leser kann dies aber unbekannt sein, deshalb muß es auch in der Ubersetzung heißen; Chamberlain sprach einige Worte aus dem Fenster im zweiten Stock seiner Residenz.

Eine ähnliche Substitution haben APN-Übersetzer vor-genommen, als sie den Satz Он ушел в армию 22 июня 1941 года wie folgt übersetzten: On the day when Germany at-tacked Russia, he joined the army*. Das jedem Menschen in der Sowjetunion bekannte Datum kann dem englisch-sprachigen Leser unbekannt sein und erfordert daher eine Erschließung in der Übersetzung, denn es wird hier ja be-sonderer Nachdruck darauf gelegt, daß die in Frage kom-mende Person schon am ersten Tag des Krieges in die Armee eintrat.

Oft besitzen solche Substitutionen den Charakter der G e n e r a l i s i e r u n g . Dabei wird ein Wort mit kon-kreter Bedeutung durch ein anderes mit allgemeinerer Be-

*Das Beispiel stammt aus der Dissertation von L. A. Tschernja-cliowskaja: „Перестройка речевой структуры для передачи компо-нентов смыслового членения высказывания при переводе с русско-го языка на английский (М., 1971), in der weitgehend Material von APN-Übersetzungen ausgewertet wird.

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deutung substituiert, das dafür aber einem Träger der Ziel -sprache besser verständlich ist:

Сядем на вокзале обедать и она требует самое доро-гое и на чай лакеям дает по рублю (А. Чехов, Виш-невый сад, I)

We sit down to dinner at a station and she orders, insists on the most expensive things and gives the waiters double tips. (tr. by S. Young)

Der englische oder amerikanische Leser braucht nicht zu wissen, wie hoch der Realwert des russischen Rubels zu je-ner Zeit war, deshalb wird in der Ubersetzung anstelle eines konkreten Betrags unmittelbar die Großzügigkeit der von der Ranewskaja gezahlten Trinkgelder angesprochen. (In einer anderen Übersetzung desselben Dramas heißt es: „gives the waiters a florin each", was durchaus akzeptabel ist, da es sich ja um einen Auslandsaufenthalt der Ranew-skaja handelt.)

Hier einige Beispiele der Generalisierung bei der Uber-setzung aus dem Englischen ins Russische:

... a ,swept' yard that was never swept — where johnson grass and rabbit-tobacco grew in abundance. (H. Lee, To Kill a Mockingbird, I)

„чистый" двор, который никогда не подметался и весь зарос сорной травой (пер. Н. Галь и Р. Облон-ской)

The temperature was an easy ninety, he said, (ib., 18) Жара невыносимая, сказал он.

Im ersten Beispiel stehen Namen von Unkrautpflanzen, die den Einwohnern der Südstaaten geläufig sind, wo die Handlung der Erzählung spielt. Dem russischen Leser sind aber die Pflanzen „Johnsongras" und „Kaninchentabak" schwerlich bekannt, deshalb bedienen sich hier die Überset-zer der Generalisierung, zumal es ja nicht darauf ankommt, von welchen Pflanzen der Hof überwuchert war, sondern ledig-lich darauf, daß hier Unkraut wucherte, da sich niemand um den Hof kümmerte. In einem anderen Kontext (z. B. in einer botanischen Fachschrift) wäre eine solche Genera-lisierung unzulässig und unnötig.

Im zweiten Beispiel bedeutet ninety „neunzig Grad Fah-renheit", jedoch ist die Fahrenheitskala bei uns wenig be-kannt, Eine Umrechnung in Grad Celsius wäre hier fehl am

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Platz, da in den USA, wo die Handlung der Erzählung spielt, dieses System ungebräuchlich ist. Die Ubersetzer griffen auch hier zur Generalisierung, da es in diesem Kontext nicht auf die exakte Temperaturangabe ankommt, sondern eben auf die große Hitze.

Die Generalisierung äußert sich häufig in der Substitu-tion eines Eigennamens (z. B. einer Firmenbezeichnung) durch den Gattungsnamen des jeweiligen Objekts, z. B.

I could see my mother going in Spauldings's ... (J. Sa-linger, The Catcher in the Rye, 7)

Я представил себе, как мама пошла в спортивный магазин ...

I lit a cigarette and got all dressed and then I packed these two Gladstones I have, (ib., 7)

Я закурил, оделся, потом сложил оба свои чемодана. Вы, матушка, в Печёры, к Асафу-схимнику сходи-

те... (М. Горький, Детство, V) Y o u ' d better go to Asaf-the-Becluse at the abbey,

my good woman.

Häufig muß man in der Übersetzung aus pragmatischen Gründen bildhafte, übertragene und metaphorische Aus-drücke durch direkte, nicht bildhafte substituieren. So wurde der deutsche Titel der Memoiren des früherenöster-reichischen Kanzlers Schuschnigg „Ein Requiem in Rot-Weiß-Rot" ins Englische als „Austrian Requiem" übersetzt, da dem englischen oder amerikanischen Leser das metapho-rische Rot-Weiß-Rot (die österreichischen Nationalfarben) unverständlich wäre.

Außer der Generalisierung verlangt die Berücksichtigung des pragmatischen Faktors beim Übersetzen zuweilen die Anwendung des genau entgegengesetzten Mittels, nämlich der K o n k r e t i s i e r u n g , d . h . der Substituierung eines Wortes von allgemeiner Bedeutung durch ein oder mehrere Wörter von engerer, konkreterer Bedeutung, die das Wesen der betreffenden Erscheinung erschließt. Unter-suchen wir folgendes Beispiel:

The British people are still profoundly divided on the issue of joining Europe. (Aus einer Tageszeitung)

Dem fremdsprachigen Leser kann unverständlich bleiben, in welchem *Sinne hier das Wort Europe gebraucht ist. Für den Einwohner Großbritanniens aber, der mit der politischen

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Situation in seinem Lande vor 1973 vertraut ist, bedarf der Ausdruck „ jo in ing Europe" keiner weiteren Erläuterung. Mit Rücksicht darauf ist dieser Satz folgendermaßen zu übersetzen:

In der britischen Bevölkerung bestehen bis heute tief-gehende Meinungsverschiedenheiten über den Beitritt des Landes zur Europäischen Gemeinschaft.

Und schließlich muß der Übersetzer eventuell einen Kommentar geben, um bestimmte Erscheinungen, Realien usw. zu erläutern, die dem AS-Leser vertraut, dem ZS-Leser aber fremd oder unbekannt sind. So fragt z. B. in Tschechows Stück „Der Kirschgarten" Jepichodow seinen Gesprächspartner: „Вы читали Бокля?" In der englischen Ubersetzung ist diese Stelle in einer Fußnote mit folgender Anmerkung versehen: „Buckle 's ,History of Civilisation* is better known in Russia than here. To have read it is а sort of cachet of populär erudition.. ." Vgl . auch das Beispiel aus Dickens in § 31.

Wie aus den hier angeführten Beispielen hervorgeht, ver-langt die Berücksichtigung pragmatischer Faktoren vom Ubersetzer gründliche Kenntnis der Gegenstände und Situa-tionen, die im Ausgangstext behandelt werden, d. h. um-fangreiches extralinguistisches Wissen.

Andererseits setzt die Anwendung der aufgeführten Ubersetzungsverfahren beim Ubersetzer „Maßgefühl" voraus, da die mißbräuchliche Benutzung verschiedener Substitu-tionen in der Ubersetzung eine inhaltliche und stilistische Entstellung des Originals zur Folge haben kann. Der Uber-setzer muß dem Leser die ihm unverständlichen oder un-bekannten Erscheinungen und Begriffe n a h e b r i n g e n , aber er darf sie keinesfalls durch solche e r s e t z e n , die dem ZS-Leser bekannt und vertraut sind. Im entgegenge-setzten Fall kann die Übersetzung zu einer beabsichtigten oder unbeabsichtigten Entstellung des Originals werden, indem die darin geschilderten Situationen in eine den ZS-Lesern gewohnte Umgebung übertragen werden, was man in der Geschichte der russischen Übersetzung im 18. und 19. Jh., „склонение на русский лад" nannte.

In diesen Fehler verfiel häufig der bekannte Übersetzer Mitte des 19. Jh. Irinarch Wwedenski, der in seinen Dickens-und Thackeray-Übersetzungen englische Realien durch rus-sische ersetzte (in seinen Ubersetzungen wimmelt es von

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Russizismen wie извозчик, приказчик, бекеша, писарь, ямщик u. ä.*). In diesem Falle haben wir es mit dem direk-ten Gegensatz des Mißbrauchs der Transkriptionsübersetzung zu tun, wovon in § 25 die Rede war. Es handelt sich um das entgegengesetzte Extrem, das man in der Übersetzung ebenfalls meiden soll, da die Verständlichkeit der Überset-zung nicht um den Preis der Vulgarisierimg angestrebt wer-den darf. In den gleichen Fehler verfielen auch die zahlrei-chen Ubersetzer des „Слово о полку Игореве" ins moderne Russisch, die es in ihrem Streben nach Verständlichkeit für den heutigen Leser auf jede erdenkliche Weise „moderni-sierten", wobei „jeder Übersetzer in seine Fassung eben die-jenigen Elemente aufnahm, die die Grundlage der zu seiner Zeit aktuellen Ästhetik bildeten", so daß „jede neue Über-setzung ... eine neue Entstellung des Originals war, bedingt durch den Geschmack der sozialen Schicht, an die sich der Übersetzer wandte"**.

Ein aufschlußreiches Beispiel einer solchen durch prag-matische Orientierung bedingten „Modernisierung" des Tex-tes bringen E. Nida und Gh. Taber in ihrer „Theorie und Praxis der Übersetzung"***. Hier handelt es sich um eine Übersetzung der Bibel in modernes Englisch, in deren Text der Übersetzer pragmatisch bedingte Abweichungen vom Original einfließen läßt, in der Absicht, den Bibeltext dem zeitgenössischen Leser näherzubringen:

Alte Übersetzung

... a woman ... who had an evil spirit in her that had kept her sick for eigh-teen years. (Luke, 13 : 11)

Then Satan went into Judas. (Luke, 22 : 3)

Neue Übersetzung

... a woman who for eighteen years had been ill from some psychological cause.

Then a diabolical plan came into the mind of Ju-das.

Man muß wissen, daß für die heutigen Übersetzer die Bibel nicht eine Sammlung alter Mythen ist, sondern vor

*Siehe К. Чуковский: Высокое искусство. М., Искусство, 1964, с. 119.

**Ebenda, S. 260. ***Е. Nida arid Ch. Taber: The Theory and Practice of Transla-

tion. Leiden 1969 p. 134.

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allem ein Instrument zur ideologischen Beeinflussung der Gläubigen. Deshalb nehmen sie häufig Sinnentstellungen in Kauf, um dem biblischen Text, wie dies aus den ange-führten Beispielen hervorgeht, ein zeitgemäßeres Aussehen zu verleihen. Vom Standpunkt der Ubersetzungstheorie haben wir es hier mit einem Fall zu tun, wo der Pragmatik gegenüber der Semantik der Vorzug gegeben wird. Der Be-griff der Adäquatheit der Ubersetzung, d. h. die Forderung nach Äquivalenz des ZS-Textes und des AS-Textes, setzt jedoch voraus, daß sowohl den pragmatischen als auch den semantischen Faktoren gleichermaßen Rechnung getragen wird; die letzteren dürfen normalerweise nicht zugunsten der ersteren geopfert werden. Das Maximum des dem Ubersetzer in diesem Falle Erlaubten ist ein geringer Verlust an In-formationssubstanz, die für den betreffenden Kontext un-wesentlich ist, wie vorstehend an Beispielen dargestellt wurde (vgl. u. a. das Verfahren der sogenannten Generali-sierung, das meistens unbedeutende inhaltliche „Opfer" nach sicli zieht).

4. Die Wiedergabe der intralinguistischen Bedeutungen

§ 34. Unter intralinguistischer Bedeutung verstehen wir gemäß der in § 14, Kapitel 2 angeführten Definition das Verhältnis des jeweiligen sprachlichen Zeichens zu anderen Zeichen desselben sprachlichen Systems. Diese zwischen den Einheiten der Sprache selbst bestehenden Beziehungen sind vielfältig und verschiedenartig. Dazu gehören die Beziehun-gen der lautlichen Ähnlichkeit der Wörter (Endreim, Stab-reim, Assonanz u. ä.), die Beziehungen der Ähnlichkeit der Morphemstruktur der Wörter („Wortfamilien"), die Bezie-hungen der semantischen Ähnlichkeit (Zugehörigkeit der Wörter zu einer gemeinsamen Synonymreihe oder zu einem lexikalisch-semantischen Feld) oder Gegensätzlichkeit (An-tonymie), Beziehungen der Vereinbarkeit der Wörter im Satz („Valenz" oder „Kollokabil ität" der Wörter) u. dgl. m. (Alle diese Beziehungen bestehen ebenfalls nicht nur zwi-schen Wörtern, sondern auch zwischen beliebigen sprachli-chen Einheiten, Morphemen, Wortverbindungen, Sätzen usw. Wir werden uns jedoch in diesem Abschnitt der An-schaulichkeit wegen auf Beispiele der Beziehungen zwischen

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Wörtern beschränken, wie dies auch in den Abschnitten über die Wiedergabe der referentiellen und der pragmati-schen Bedeutungen bei der Ubersetzung geschah.)

Oben (§ 15) wurde festgestellt, daß sich im Ubersetzungs-prozeß die intralinguistischen Bedeutungen am wenigsten in der anderen Sprache wiedergeben lassen. Sie bleiben in der Mehrzahl der Fälle bei der Übersetzung überhaupt nicht erhalten, da jede Sprache ihr eigenes, äußerst spezifisches System intralinguistischer Bedeutungen der sie bildenden Einheiten besitzt. Dennoch ist in bestimmten Fällen in einem konkreten Kontext gerade die intralinguistische Be-deutung der betreffenden sprachlichen Einheiten von ent-scheidendem Wert, so daß ihre Wiedergabe bei der Uberset-zung unumgänglich notwendig wird. Mitunter verlangt die Wiedergabe der intralinguistischen Bedeutungen sprachli-cher Einheiten selbst einen Verzicht auf die referentiellen Bedeutungen, obwohl eigentlich eher das Gegenteil das Normale ist.

So versteht sich z. B. von selbst, daß die Wiedergabe der intralinguistischen Bedeutungen der AS-Einheiten (und manchmal auch ihrer phonetischen oder graphischen Gestalt) immer notwendig ist, wenn diese E i n h e i t e n s e l b s t G e g e n s t a n d d e r A u s s a g e w e r d e n , d . h . wenn im Ausgangstext nicht von Gegenständen, Erschei-nungen und Begriffen der objektiven Wirklichkeit die Rede ist, die durch sprachliche Mittel bezeichnet werden, sondern von diesen sprachlichen Mitteln selbst. Das ist zunächst der Fall, wenn eine konkrete Sprache zum Ge-genstand der wissenschaftlichen Beschreibung wird; dann ist die Ubersetzung, strenggenommen, unmöglich und unnötig. Der englische Satz The Past Tense of some verbs is formed by changing the root vowel, i. e. write — wrote läßt sich nur so ins Deutsche oder ins Russische übersetzen, daß dabei die Wortformen write — wrote unübersetzt bleiben, sonst verliert die Aussage ihren Sinn. Man muß aber wissen, daß sprachliche Einheiten (und namentlich Wörter) nicht nur in wissenschaftlichen Texten, z. B. in Grammatikbüchern, zum Gegenstand der Aussage werden können, sondern auch in Texten anderer Gattungen, einschließlich der schöngei-stigen Literatur. In diesem Falle gewinnt das Problem der Wiedergabe der intralinguistischen Bedeutungen dieser Einheiten bei der Übersetzung ein besonderes praktisches und theoretisches Interesse.

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Ein sehr charakteristisches Beispiel dafür führt J. Rez-ker in seinem Buch „Theorie der Übersetzung und Überset-zungspraxis" an*. Es geht um die russische Übersetzung eines Schauspiels von J. Galsworthy, in dem es sich um die Fäl-schung eines Bankschecks handelt. Hier dieser Auszug:

J a m e s : Give me the cheque-book. What ' s this ninety?

W a l t e r : But look here, father, it 's nine I drew a cheque for. (J. Galsworthy. Justice, I)

Д ж е й м с : Дай мне чековую книжку. Что это за восемьдесят фунтов?

У о л т е р : Но послушай, отец, я выписал чек на восемь фунтов. (Дж. Голсуорси. Собр. соч., т. 14, с. 217)

Es stellt sich heraus, daß der Bankangestellte den Scheck gefälscht hat, indem er dem englischen W o r t nine die beiden Buchstaben - ty hinzugefügt und sich am Differenz-betrag bereichert hat. Die ganze Situation beruht hier auf dem Verhältnis der Wörter nine und ninety. Aber das russische Wort девять läßt sich nicht ohne auffällige Basur in девяносто umändern; deshalb mußte der Ubersetzer die Zahl neun durch acht und somit das Wort девять durch восемь ersetzen, damit aus девяносто восемьдесят wird, worauf das beschriebene Fälschungsverfahren paßt. Eine Überset-zung ins Deutsche würde keine Veränderung der Summe er-forderlich machen (neun — neunzig), die Ubersetzung ins Französische hingegen würde eine noch stärkere Reduzierung der Summe verlangen, da nur das Zahlwort cinq durch blo-ßen Zusatz von fünf Buchstaben in cinquante verwandelt werden kann. Dieses Beispiel ist dadurch aufschlußreich, daß es sehr eindringlich die Notwendigkeit aufzeigt, in be-stimmten Fällen die referentielle Bedeutung des Wortes zu opfern (und noch dazu an Hand eines Zahlwortes, das in der Partnersprache stets ein volles und ständiges Äqui-valent besitzt), um seine intralinguistische Bedeutung, seine Beziehung zu anderen Wörtern der Sprache wiederzuge-ben — in diesem Falle sind die beiden Zahlwörter durch ein Ableitungsverhältnis, d. h. durch ihr gemeinsames Wurzelmorphem, verbunden.

* Я. И. Рецкер: Теория перевода и переводческая практика. М.,'„Международные отношения", 1974, с. 53.

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Andererseits bestätigt dieses Beispiel wiederum, wie wichtig e s ist, den C h a r a k t e r d e s z u ü b e r -s e t z e n d e n T e x t e s bei der Wahl des Übersetzungs-äquivalents zu berücksichtigen. In einem literarischen Text erweist sich der durch die Substitution von nine durch восемь und ninety durch восемьдесят verursachte Informa-tionsverlust als unwesentlich, da es nicht auf den konkreten Geldbetrag ankommt, sondern auf die Tatsache der Scheck-fälschung. Bei der Übersetzung eines wissenschaftlichen oder technischen Textes wäre eine solche Substitution na-türlich unzulässig, weil in derartigen Texten quantitative Angaben von großem Wert sind.

Das nachstehende Beispiel — diesmal aus einem russi-schen literarischen Text — veranschaulicht den Fall, wo die sprachliche Einheit selbst, d. h. ein Wort , als Aussagege-genstand auftritt (hier nicht in schriftlicher, sondern in mündlicher Form)*:

— Ты откуда пришла? — спросил я её. — Сверху, из Нижнего, да не пришла, а приехала.

По воде-то не ходят, шиш. ... — А отчего я шиш?

— Оттого, что шумишь,— сказала она, тоже смеясь. (М. Горький, Детство, I)

„Did you have to walk far to get here?" I asked her. „I didn't walk, I rode. Y o u don't walk on the water,

you f ig ," she answered... „ W h y do you call me a f ig?" „Because you're so big," was her laughing retort.

Die russischen Bewegungsverben verlangen obligato-risch eine Präzisierung der Ausführungsart der Bewegung: прийти (zu Fuß) — п р и е х а т ь (mit einem Fahrzeug zu Lande oder zu Wasser) — приплыть (zu Wasser) — приле-теть (auf dem Luftwege). Das Kind gebraucht irrtümli-cherweise das Verb прийти, so daß die Großmutter berich-tigen muß: не пришла, а приехала. Im Englischen wäre hier das Verb come am Platze, aber im Unterschied zum Bussischen enthält es keinen Hinweis auf die konkrete

*Dieses Beispiel wird (ohne die englische Ubersetzung) in der erwähnten Arbeit von J. Cat ford: „A Linguistic Theory of Transla-tion", p. 97, angeführt.

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Bewegungsart. Deshalb mußte die Übersetzerin M. Wettlin hier das Verb to walk gebrauchen, was aber eine Umgestal-tung der Frage selbst nach sich zieht. Natürlich hat der englische Fragesatz Did you liave to walk far to get liere? eine andere referentielle Bedeutung als der russische Ты откуда пришла?, aber diese „Sinnentstellung" ist hier un-vermeidlich, da im vorliegenden Kontext gerade die lingui-stische Gegenüberstellung der beiden Verben прийти — приехать maßgeblich ist.

Dieses Beispiel veranschaulicht auch einen anderen Aspekt des hier behandelten Problems, nämlich die Wieder-gabe des R e i m s. Im russischen Original wird der scherz-hafte Ton, in dem die Großmutter mit ihrem Enkel spricht, auch durch die Reimung vonzwuiuund шумишь hervorgeho-ben. In der Übersetzung sind die Worte оттого, что шумишь durch because you're so big wiedergegeben, die offensichtlich eine ganz andere referentielle Bedeutung haben, aber dafür die Bewahrung des Reimes ermöglichen, wenn auch in völ -lig abweichender lautlicher Form.

Hier noch ein Beispiel aus derselben Erzählung Gorkis. (Gorki erinnert sich an die Frösche, die ins frisch aus-

gehobene Grab seines Vaters gesprungen sind.)

Я спросил бабушку.— А лягушки не вылезут? — Нет, уж не вылезут,— ответила она. Бог с ними! Ни отец, ни мать не произносили так часто и

родственно имя божие. (I) „Won ' t the frogs get out?" I asked. „No, tliey won't , God bless them," she answered. Neither my mother nor father had ever spokeri the

name of God so frequently and with such familiarity.

Die pragmatische Bedeutung des russischen Ausdrucks бог с ними und des englischen God bles them ist verschieden. Im vorliegenden Kontext ist aber davon die Rede, daß die Großmutter häufig den N a m e n Gottes, also eine bestimm-te sprachliche Einheit, gebrauchte; darum ist die innere Form des Ausdrucks бог с ними hier nicht gleichgültig, was auch für die Wahl des englischen Äquivalents maßgebend ist.

Es ist interessant, daß etwas weiter im gleichen Text der bedeutungsnahe Ausdruck господь с ними ganz anders über-setzt wird:

— Эх, брат, ничего ты ещё не понимаешь! — ска-

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зал он.— Лягушек жалеть не надо, господь с ними! Мать пожалей... „Ah, sonny, it 's not ranch you understand yet!" he said. „ I t ' s not the frogs are to be pitied — the devil with them — it 's your mother."

In diesem Falle werden die Worte von einem einfachen, grobschlächtigen Matrosen gesprochen, in dessen Redeweise „der Name Gottes" gar nicht notwendig erhalten bleiben muß, daher auch die Wahl einer anderen Ubersetzungsva-riante.

Wir erwähnten schon das Problem der Erhaltung des Reims in der Ubersetzung. Es erübrigt sich wohl, auf die große Bedeutung der Reimwiedergabe bei der Übersetzung gereimter Dichtung einzugehen. Aber der Endreim ist nur einer der möglichen und real bestehenden Typen der Ver-bindung von Wörtern auf Grund ihrer lautlichen Ähnlich-keit, die in der Rede als Ausdrucksmittel verwendet werden. Neben dem Endreim gibt es auch andere Arten lautlicher Ähnlichkeit von Wörtern, unter denen besonders die A 1 1 i-t e r a t i o n oder der Stabreim hervortritt, d. h. die Identi-tät der Anlautkonsonanten von nebeneinander stehenden Wör -tern (im weiteren Sinne auch die Identität der Konsonanten einer beliebigen Silbe von nebeneinander stehenden Wör-tern). Für das Englische wie für das Deutsche ist der Stab-reim besonders charakteristisch, und zwar nicht nur für die Dichtung (wo er auf die altgermanische Stabreimdichtung zurückgeht), sondern auch für andere Stilarten, so z. B. für die Sprache der Zeitung und der Publizistik. Das sieht man u. a. an folgendem Beispiel:

Mr Callaghen said it (North Vietnam) was a country of „bicycles, buffaloes and bent backs," and their efforts in reconstruction had to be seen, to be believed („Mor-ning Star", 12.III.73).

Auf dem Stabreim beruhen zahlreiche phraseologische Einheiten der englischen Sprache, z. B. safe and sound, a pig in a poke, fit as a f iddle, dead as a doornail, bold as brass, cold comfort, with might and main usw. Im Deut-schen sind solche Stabreimpaare ebenfalls weit verbreitet (bei Nacht und Nebel, über Stock und Stein, mit Haut und Haaren, durch dick und dünn u. a.). Genauso wie im Eng-lischen wird dem Stabreim im Deutschen publizistische

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Wirkung abgewonnen; man erinnere sich z. B. an den Titel eines Frühwerks von Hans Fallada „Bauern, Bonzen und Bomben", oder an die Pseudonyme Kurt Tucholskys: Peter Panther und Theobald Tiger.

Der russischen Sprache ist dagegen die Alliteration im allgemeinen fremd. Wenn sie aber in der Poesie oder Prosa auftaucht, kommen ihr völl ig andere Funktionen zu als in den gleichen Gattungen im Englischen oder Deutschen. Vgl . folgende Zeilen aus Puschkins „Eugen Onegin":

Какое низкое коварство Полуживого забавлять, Ему подушки поправлять, Печально подносить лекарство...

Die vielfache Wiederholung von Wörtern, die mit p an-lauten, erweckt hier den Eindruck von Eintönigkeit und Langweile, wie es der Stimmung des Helden entspricht. Solch eine Alliteration bemerken wir erst gar nicht, ihr Effekt ist eher im Unterbewußtsein wirksam, im Engli-schen (und Deutschen) wird die Alliteration aber jedesmal als bewußt angewandtes Gestaltungsmittel empfunden.

Der Übersetzer aus dem Englischen sieht sich somit einer schwierigen Aufgabe gegenüber: Einerseits ist es erwünscht, im Text den Effekt zu rekonstruieren, der im Original durch den Stabreim bewirkt wird, andererseits führt der Versuch, die Alliteration in den russischen Text zu übernehmen, meistens nicht zum angestrebten Ziel. Der beste Ausweg ist hier wie in vielen anderen Fällen der Rückgriff auf das Verfahren der Kompensierung, indem der Stabreim durch den Endreim oder durch die Auswahl von entsprechend rhyth-misch strukturierten Wörtern ersetzt wird. Der Titel eines kritischen Essays von 0. Wilde , „Pen, Pencil and Poison", wurde ins Russische mit „Кисть, перо и отрава" übersetzt. Der alliterierende Stabreim des Originals ist hier nicht be-wahrt, aber sein Verlust wird durch den rhythmischen Auf-bau der ganzen Wortgruppe kompensiert (drei betonte Sil-ben, die durch eine steigende Zahl unbetonter Silben ge-trennt sind).*

Diese Ubersetzung ist auf den ersten Blick effektvoller als „Крестьяне, бонзы и бомбы", wie der Titel des erwähnten

*Vgl. Я. И. Рецкер: Следует ли передавать аллитерацию в публицистическом переводе? „Тетради переводчика", вып. 3, М. 1966, с. 73—77.

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Fallada-Romans auf Russisch lautet, wobei keinerlei spe-zielle Ausdrucksmittel zur Anwendung gelangt sind.

In den seltenen Fällen, wo im Russischen alliterierende Titel vorkommen, hat es der deutsche (und englische) Uber-setzer nicht schwer, das in seiner Sprache geläufige Stil-mittel anzuwenden. W. Giljarowskis Erinnerungsbuch „Мо-сква и москвичи" heißt z. В. in der deutschen Übersetzung „Kaschemmen, Klubs und Künstlerklausen".

Eine nicht weniger schwierige, ja wohl noch komplizier-tere Aufgabe entsteht für den Übersetzer bei der Wieder-gabe sogenannter W o r t s p i e l e . Dieses Ausdrucksmit-tel beruht auf Ausnutzung äußerer Ähnlichkeit bedeutungs-mäßig weit auseinanderliegender Wörter; es stützt sich somit ausschließlich auf intralinguistische Beziehungen zwischen Wörtern der jeweiligen Sprache, die im System der Partnersprache meistens fehlen. Es gelingt den Ubersetzern bei weitem nicht immer, diese schwierige Aufgabe zu be-wältigen. Häufig sind sie genötigt, sich in ihrer Ratlosigkeit in eine Fußnote zu retten mit dem entschuldigenden Hin-weis „unübersetzbares Wortspiel". Es gibt aber auch Bei-spiele für die glänzende Lösung dieser äußerst schwierigen Aufgabe. Hier bringen wir eines von ihnen:

After a dreary conversation in our living-room one night about his entailment... I asked Jem what entail-ment was, and Jem described it as a condition of having your tail in a crack... (H. Lee, To Kill a Mockingbird, I, 2)

Однажды вечером они долго и скучно толковали в гостиной про ущемления прав... Я спросила Джима, что такое ущемление, он объяснил — когда тебе при-щемят хвост. . .

Das Wortspiel beruht hier darauf, daß der Junge durch die scheinbare Ähnlichkeit der Morphemstruktur der Wör-ter tail und en-tail-ment (vgl. slave und en-slave-ment) irregeführt wird. Im Russischen erreicht man den gleichen Effekt durch die Zusammenstellung der Wörter у-щем-ление und при-гцем-итъ. Die referentielle Bedeutung von entail-ment (Erbschaft ohne Veräußerungsrecht) deckt sich nicht mit der des russischen Ausdrucks „ущемление прав", aber auf Kosten eines in diesem Kontext irrelevanten Informa-tionsverlustes erreichen die Ubersetzerinnen (N. Gal und R. Oblonskaja) die Äquivalenz bei der Wiedergabe des

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Wortspiels, was in diesem Fall viel wichtiger ist (vorteil-haft ist außerdem, daß auch die pragmatische Bedeutung, d. h. die stilistische Charakteristik des englischen und des russischen Wortes gleich ist: beide sind juristische Fachaus-drucke, so daß sie den Kindern, von denen die Handlung erlebt wird, unverständlich sind).

Eng verwandt mit dem Wortspiel ist auch ein anderes literarisches Ausdrucksmittel, die Verwendung sogenannter „sprechender Namen" in literarischen Werken, wie Дер-жиморда, Скотинин, Молчалин, Пришибеев, Червяков u. dgl. in der russischen Literatur oder Wurm, Heßling u. ä. in der deutschen. Solche Familiennamen enthalten gleich-sam eine Kennzeichnung bestimmter Eigenschaften und Merkmale der betreffenden Person. Deshalb führt der Ver-zicht auf die zumindest annähernde Wiedergabe der Bedeu-tungen dieser Namen (die am häufigsten in humoristischen und satirischen Werken vorkommen) zweifellos zu einem partiellen Verlust der im AS-Text enthaltenen Information. Andererseits ist es unzulässig, die für die Ausgangssprache typischen Familiennamen durch spezifisch zielsprachliche zu ersetzen (der russische Familienname Червяков kann ins Deutsche nicht mit „Wurm", oder ins Englische mit „Worm" übersetzt werden). Die Ubersetzungspraxis zeugt davon, daß auch diese schwierige Aufgabe im Prinzip lösbar ist. In der russischen Ubersetzung der bekannten Satire „Das Par-kinsonsche Gesetz" gibt es folgende Ubersetzungen engli-scher sprechender Namen*: McNab — Мактяп, McNash — Макляп, McPhail (vgl. fail) — Макпромах, McFission — Мактрах, Waverley — Ваш de Наш, Woodworm — Сгрыз-ли usw.; der Name des Öltrusts The Trickle and Dried Up Oil Corporation wird übersetzt als Тек Ойл да Вытек. Sol-che Lösungen verlangen vom Ubersetzer echten Erfinder-geist, ein Verzicht darauf würde aber die Ubersetzung zwei-fellos abwerten.

Andererseits ist auch hier ein gewisses Maßgefühl not-wendig. So kann man der bekannten Übersetzerin N. Gal schwerlich zustimmen, wenn sie empfiehlt, den Namen der bekannten Thackerayschen Romanheldin Becky Sharp ins Russische als Бекки В остр** zu übersetzen. Dabei gehen wir nicht nur von der bereits eingebürgerten Tradition der

*Vgl. Ii. Галь: „Слово живое и мертвое", с. 133—134. **Ebenda, S. 131

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Wiedergabe dieses Namens aus, sondern auch von der nicht unbedeutenden Tatsache, daß in der gesamten Struktur des Romans von Thackeray die sprechenden Namen eine viel geringere Rolle spielen als im oben erwähnten „Parkinson-schen Gesetz", wo ihnen ein viel größeres funktionelles Ge-wicht zukommt.*

Besonders wichtig ist die Wiedergabe intralinguisti-scher Bedeutungen bei der Ubersetzung von Texten, in denen die formellen Besonderheiten überwiegen und die referen-tiellen Inhalte der sprachlichen Einheiten und des gesam-ten Redeprodukts eindeutig in den Hintergrund drängen.

Hierher gehören Textgattungen wie Kalauer, Akrosti-chon, Palindrom, Zungenbrecher u. dgl. Der in Pomjalow-skis „Skizzen aus der Bursa" angeführte russische Satz Я иду с мечем судия ist z. В. ein Palindrom, er kann sowohl vorwärts als auch rückwärts gelesen werden. Man kann ihn nicht durch ein anderssprachliches Palindrom übersetzen, indem man die referentiellen Bedeutungen der ihn bildenden Wörter beibehält, die hier so gut wie irrelevant sind. Man muß irgendeinen anderen zielsprachlichen Satz finden, der eine andere referentielle Bedeutung haben kann, aber die-selbe formelle Eigenschaft besitzt (z. B. englisch „Tis Ivan on a visit" oder deutsch „Die Liebe ist Sieger — rege ist sie bei Leid"). In der Literatur sind übrigens Versuche bekannt, diese sprachliche Erscheinung als poetisches Ausdrucksmit-tel zu benutzen. So ist das Poem W. Chlebnikows „Stepan Rasin" dadurch gekennzeichnet, daß sich alle seine Zeilen vorwärts wie rückwärts lesen lassen.

Der extremste Fall sind schließlich Redeprodukte, die überhaupt keine referentiellen Bedeutungen haben. Die Verwendung solcher „Stammelverse" besitzt eine lange Ge-schichte in der Folklore und Literatur (vgl. z. B. Christian Morgensterns bekanntes Gedicht „Das große Lalula"). Wir beschränken uns hier auf ein einziges Beispiel dieser „Stam-melverse", das in Gorkis Erzählung „Die Kindheit" enthal-ten ist (der Autor erinnert sich dort an ein Gedicht, das er als Kind auswendig lernen mußte):

*Wor,n die sprechenden Namen sich nicht übersetzen lassen, geben die Ubersetzer in Fußnoten die erforderlichen Erläuterungen. In der Ubersetzung des Schauspiels „Braut ohne Mitgift" von A. N. Ostrowski (J. L. Seymour and G. B. Neyes) steht beim Namen MujiauiiiH die Fußnote Prettyman, bei JJoßpomeopcKuü — Benefactor usw.

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„Стихи говорили: Большая дорога, прямая дорога, Простора немало взяла ты у бога. Тебя не ровняли топор и лопата

Мягка ты копыту и пылью богата.

. . .Я возненавидел эти неуловимые строки и стал, со зла, нарочно коверкать их, нелепо подбирая в ряд однозвучные слова; мне очень нравилось, когда закол-дованные стихи лишались всякого смысла...

— Дорога, двурога, творог, недорога, Копыто, попы-то, корыто...

In der englischen Ubersetzung klingt das folgendermaßen: Here is the first verse I had to learn:

A winding road, an endless road, A road past fields and man's abode, No pick or spade the path has laid,

But countless hoofs the bed have made.

.. .I came to hate these illusive lines, and began to distort them for spite, thinking up a whole series of words in alliteration, which gave me the greatest pleasure the less sense they made.. .

A road was sowed and blowed with toad, No pixies, twixies, fixed the mixies...

Die englische Ubersetzung enthält kein einziges Wort (außer dem eigentlichen Schlüsselwort für diesen Auszug — road, дорога), das sich auch nur teilweise in seiner Seman-tik mit einem Worte des Originals deckt. Aber darauf kommt es ja auch gar nicht an: wesentlich sind hier nur die formel-len Merkmale des russischen Texts (Metrik und Beim), die in der Ubersetzung vol l wiedergegeben sind.

Zum Abschluß dieses Abschnitts sei noch einmal betont, daß im Prozeß der Ubersetzung die Wiedergabe intralingui-stischer Bedeutungen im allgemeinen eine untergeordnete Bol le spielt. Nur in speziellen Redegattungen, insbesondere in der Dichtung und seltener in künstlerischer Prosa, erhal-ten die intralinguistischen Bedeutungen ein größeres funk-tionelles Gewicht, so daß bei der Ubersetzung ihre Wieder-gabe notwendig wird. Der Ubersetzer muß aber stets daran denken, daß das Leben komplizierter ist als jedes Schema

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und daß er in seiner Praxis mit der Forderung konfrontiert werden kann, bestimmte formelle Eigenschaften des Ori-ginals selbst bei der Ubersetzung von offiziellen oder wis-senschaftlichen Texten wiedergeben zu müssen. Eine derar-tige Forderung ergab sich u. a. für die russischen Uberset-zer von N. Chomskys „Aspects of the Theory of Syntax". Chomsky verwendet (in bewußter Abweichung von der im Englischen üblichen Orthographie) wiederholt Schreibweisen wie Subject-of the Sentence, Main Verb-of the Predicate u.dgl. , wobei die Verbindungen Subject-of, Main Verb-of von ihm zu eigenartigen Wortzusammensetzungen geprägt werden. (Das wurde notwendig, um den funktionellen Charakter dieser syntaktischen Kategorien zu betonen: das Subjekt ist immer das Subjekt v o n e t w a s , von einem Satz, seine Eigenschaft „Subjekt zu sein" realisiert sich nur durch seine Beziehung zur Struktur, deren Subjekt es ist.) In der russischen Ubersetzung lesen wir: „Субъект-при Предложе-нии", „Главный Глагол-ири Предикате" usw. (vgl. S. 67 ff.) Das ist freilich ein Verstoß gegen die grammatischen Normen der russischen Sprache, nach denen hier nicht die Konstruktion mit der Präposition при, sondern ein Substan-tiv im Genitiv gebraucht werden müßte („субъект предло-жения", „главный глагол предиката" usw.), aber dieser Verstoß ist hier notwendig, um Inhalte wiederzugeben, die im Original durch einen besonderen formellen Kunstgriff ausgedrückt sind.

Dieses Beispiel ist aufschlußreich — es beweist ein wei-teres Mal, daß es in der Übersetzungstheorie keine uner-schütterlichen Regeln für alle Fälle des Lebens gibt. Selbst eine scheinbar so unumstößliche Regel wie die Einhaltung der grammatischen Normen der Zielsprache muß u. U. ver-letzt werden, um eine vollständige Wiedergabe der im Ori-ginaltext enthaltenen Information zu gewährleisten, und das selbst in der wissenschaftlichen Literatur.

5. Die grammatischen Bedeutungen in der Übersetzung

§ 35. Als wir in den vorstehenden Abschnitten von der Wiedergabe der referentiellen, pragmatischen und intralin-guistischen Bedeutungen in der Ubersetzung sprachen, be-nutzten wir als Beispiele lexikalische Einheiten, also Wörter

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und Wortverbindungen. Es wäre aber falsch, den Begriff des sprachlichen Zeichens lediglich auf die lexikalischen Einheiten zu reduzieren. Davor wurde schon an entsprechen-der Stelle gewarnt. Eine zweite Seite des sprachlichen Sy-stems, die nicht weniger wichtig ist als das Lexikon, ist die grammatische Struktur. Die Elemente der grammatischen Struktur — Aff ixe , Wortveränderungsformen und syntak-tische Konstruktionen — gehören ebenfalls zu den sprach-lichen Zeichen und sind genauso wie die lexikalischen Ein-heiten Träger referentieller, pragmatischer und intralingui-stischer Bedeutungen.

In der Sprachwissenschaft ist es üblich, von „lexikali-schen" und von „grammatischen" Bedeutungen zu sprechen. Daraus ergibt sich zuweilen der Eindruck, als ob sich diese zwei Bedeutungstypen voneinander in ihrer eigentlichen Natur, in ihrem Inhalt unterscheiden. In Wirklichkeit ist dem aber nicht so. Wie seinerzeit A. I. Smirnizki* sehr richtig feststellte, unterscheiden sich die lexikalischen und die grammatischen Bedeutungen vor allem durch ihre A u s d r u c k s w e i s e . „Ein überaus wichtiges Kenn-zeichen jeder Sprache", schrieb er, „ist, welche Relationsbe-deutungen in ihr durch konkrete Wörter und welche durch nichtlexikalische Mittel ausgedrückt werden." Daraus erge-ben sich wichtige Schlußfolgerungen für die Übersetzungs-theorie: D i e B e d e u t u n g e n , d i e i n d e r e i n e n S p r a c h e l e x i k a l i s c h s i n d (d. h . d u r c h W o r t e i n h e i t e n a u s g e d r ü c k t w e r d e n), k ö n n e n i n e i n e r a n d e r e n S p r a c h e g r a m -m a t i s c h s e i n ( d . h . d u r c h n i c h t l e x i k a -l i s c h e M i t t e l a u s g e d r ü c k t w e r d e n ) , u n d umgekehrt. (Selbst innerhalb derselben Sprache kann die gleiche Bedeutung sowohl durch lexikalische als auch durch grammatische Mittel ausgedrückt sein.) Daher ergeben sich aus dem Fehlen bestimmter grammatischer (bzw. lexikali-scher) Mittel in einer Sprache keine unüberwindlichen Hin-dernisse für die Übersetzung, was nachstehend an Beispielen gezeigt werden soll.

§ 36. Die objektiven Schwierigkeiten, die sich für den Übersetzer aus den Unterschieden in der grammatischen Struktur der Sprachen ergeben, dürfen allerdings auch nicht

*Vgl . A. II. CMupnui{Kuü: CiiHTaKCHC aHrna i i cKoro H3biKa, c. 46.

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unterschätzt werden. Genauso wie im Bereich des Wort -schatzes, so können wir auch zwischen den grammatischen Systemen von zwei Sprachen nur in seltenen Fällen vol l -ständige Kongruenz feststellen. Obwohl zwischen der rus-sischen und der englischen Sprache eine weitreichende gram-matische Ähnlichkeit besteht, ist diese Übereinstimmung doch nur eine teilweise, und dem Übersetzer (und jedem, der die betreffende Sprache erlernen will) bleiben die wesentlichen Unterschiede zwischen diesen Sprachen im grammatischen Bereich nicht verborgen. Selbst in beiden Sprachen anschei-nend identische Kategorien decken sich nie vollständig in ihrem Bedeutungsumfang, in ihren Funktionen und in der Spannweite des von ihnen erfaßten lexikalischen Materials. So haben z. B. im Bussischen wie im Englischen oder Deut-schen die Substantive zwei Numerusformen, Einzahl und Mehrzahl; aber selbst zwischen diesen scheinbar so ähnli-chen grammatischen Formen besteht keine völlige semanti-sche und funktionelle Übereinstimmung. Es gibt zahlreiche Fälle, wo dem russischen Singular der englische Plural ent-spricht, wie etwa bei овес — oats, лук — onions, картофель — potatoes, окраина — outskirts u.a. m., oder umgekehrt dem russischen Plural der englische Singular, z . B . деньги — money, чернила — ink, новости — news, сведения — in-formation usw. Auch im Sprachenpaar Russisch-Deutsch bestehen ähnliche Verhältnisse, z. В. : корь — Masern, оспа — Pocken und очки — Brille, ножницы — Schere, ворота — Tor. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Änderung der Numerusform bei der Übersetzung:

This party, compelled for a time to stand virtually alone in its struggles... („Daily World" , 30.XII .72)

Наша партия, которая долгое время вела борьбу в одиночку.. .

...Вишню сушили, мочили, мариновали, варенье варили... (А. Чехов, Вишневый сад, I)

. . .They used to dry the cherries and soak 'em and pickle 'em, ancl make jam of 'em.. .

Die syntaktische Verwendungsweise der Numerusformen der Substantive ist in verschiedenen Sprachen ebenfalls nicht ganz die gleiche. So gelten im Russischen andere Re-geln für die Wahl der Numerusform des Substantivs nach Zahlwörtern als im Englischen und Deutschen.

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Diese Inkongruenz der grammatischen Formen verschie-dener Sprachen wird noch deutlicher, wenn es für eine be-stimmte grammatische Form der einen Sprache in der ande-ren überhaupt keine direkte Entsprechung gibt. So hat in der russischen Sprache das Verb zwei Formen, den vollen-deten und den unvollendeten Aspekt, wobei die überwie-gende Mehrheit der Verben beide Formen zugleich besitzt,, so daß beim Gebrauch eines Verbs in der Rede die Vollendung oder Nichtvollendung der Handlung ausgedrückt werden m u ß. Im Englischen und Deutschen fehlt die Gegenüber-stellung des vollendeten und unvollendeten Aspekts im Verbalsystem (das, was in englischen Grammatiken als As-pekt — Aspect — bezeichnet wird, stimmt nur teilweise mit den Aspektformen der russischen Sprache überein)*. Daher kommt beim Gebrauch des englischen und deut-schen Verbs in der Rede der Charakter des Handlungsablaufs im Sinne der Gegenüberstellung von Vollendung und Un-vollendetheit bei weitem nicht immer formell zum Aus-druck. In den meisten Fällen läßt sich allerdings die erfor-derliche Information aus dem engeren oder weiteren Kon-text erschließen, so daß sich bei der Übersetzung aus dem Englischen oder Deutschen ins Russische meistens keine Schwierigkeiten für die Wahl der Aspektformen ergeben. In einem Satz wie Every Saturday he went to the cinema oder Er ging jeden Samstag ins Kino sind die Verben zwei-fellos durch die Form des unvollendeten Aspekts wiederzu-geben: Каждую субботу он ходил в кино. Aber in Sätzen wie When he had finished his work last night, he went to the cinema und Nachdem er gestern abend seine Arbeit beendet hatte, ging er ins Kino müssen dieselben Verbformen durch den vollendeten Aspekt des russischen Verbs wiedergegeben werden: Вчера вечером, окончив работу, он пошел в кино. In diesen Beispielen enthalten die deut-schen und englischen Sätze die Information über den Charak-ter des Ablaufs der Handlung nicht in der Form des Verbs selbst, sondern in den Adverbialien, die das Verb begleiten. Im ersten Beispiel wiesen every Saturday und jeden Samstag auf die Wiederholung der Handlung hin, im zweiten bezeich-net der Nebensatz When he had finished his work last night

*A. И. Смирницкий: Морфология английского языка, с. 323—

325.

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bzw. Nachdem er gestern abend seine Arbeit beendet hatte einen bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit. Eben darum kann in der russischen Übersetzung im ersten Fall nur die Form des unvollendeten Aspekts in Frage kommen, die u. a. eine sich wiederholende, iterative Handlung be-zeichnet (die Verbindung Каждую субботу он пошел в кино ist einfach unmöglich), im zweiten Falle ist dagegen nur der vollendete Aspekt angebracht.

Es kommen aber auch Kontexte vor, die keinen Hinweis auf den Charakter des Handlungsablaufs enthalten. In diesem Falle steht der Russisch-Ubersetzer vor einer schwierigen Aufgabe. Er kann grundsätzlich sowohl die eine als auch die andere Aspektform verwenden, die untereinan-der semantisch nicht gleichwertig sind, denn der Ausgangs-text bietet nicht genügend Information für die eine oder andere Deutung. Als Beispiel dafür soll folgender Satz aus einer Novelle S. Maughams dienen, in dem die Begegnung von zwei Liebenden beschrieben wird:

. . .As is the way with lovers in Seville, they talked for hours under their breath, with the iron gate between them... When he asked Bosalia if she loved him, she answered with a little amorous sigh. (S. Maugham, Mo-ther)

Der zweite Satz dieses Auszugs enthält keinerlei Hin-weis auf den Charakter des Ablaufs der Handlungen, die durch die Verbalformen asked und answered bezeichnet sind. Es bleibt dahingestellt, ob es einmalige oder mehrmalige, wiederholte Handlungen waren. Bei der Ubersetzung ins Russische können wir daher mit gleichem Recht die vollendete Aspektform oder auch die unvollendete gebrauchen. Im ersten Falle erhalten wir folgenden Satz: Когда он спросил Роза-лию , любит ли она его, она лишътомно вздохну ла в ответ; im zweiten Falle dagegen lautet die Ubersetzung: Когда он спрашивал Розалию, любит ли она его, она лишь томно вздыхала в ответ. Somit entsprechen ein und demselben englischen Satz zwei russische, wobei die Bedeutung der bei-den russischen Äquivalente nicht die gleiche ist — im russi-schen Satz kommt nämlich der Charakter des Handlungsab-laufs zum Ausdruck (hier die Einmaligkeit oder Wiederho-lung), der im englischen Satz nicht genauer bestimmt wird.

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Aus dem Dargelegten kann nicht geschlossen werden, daß das Englische etwa unfähig sei, den Unterschied im Cha-rakter des Handlungsablaufs zum Ausdruck zu bringen. Die englische Sprache verfügt dazu über eine ganze Reihe von Ausdrucksmitteln. So kann die Wiederholung, die Ite-ration der Handlung, mit Hilfe des Konjunktionaladverbs whenever ausgedrückt werden (vgl. whenever he asked Rosalia. . . ) , die Einmaligkeit mit Hilfe des Zeitadverbs once usw. Das alles sind aber lexikalische (oder lexikalisch-grammatische) Ausdrucksmittel dieser Bedeutungen. Der Unterschied zwischen grammatisch ausgedrückten Bedeutun-gen und solchen, die lexikalisch ausgedrückt sind, besteht aber u . a . darin, claß die ersteren n i c h t u n a u s g e -d r ü c k t b l e i b e n k ö n n e n , d . h . o b l i g a t o -r i s c h ausgedrückt werden müssen, sobald Wörter einer bestimmten Kategorie auftreten. So kann in der Form des russischen Verbs die Aspektbedeutung nicht unausgedriickt bleiben, in der Form des russischen oder englischen Sub-stantivs muß die Numerusbedeutung zwangsläufig ausge-drückt sein usw. Die lexikalischen Bedeutungen werden dagegen sozusagen fakultativ ausgedrückt, d. h. sie können auch unausgedriickt bleiben, brauchen nicht präzisiert zu werden, da beim Aufbau des Satzes der Sprechende (bzw. Schreibende) stets die Möglichkeit der mehr oder weniger freien Wahl der lexikalischen Elemente (d. h. Wörter) be-sitzt. Das beweist ein weiteres Mal, daß der Unterschied zwischen den Sprachen nicht in ihrer Fähigkeit besteht, be-stimmte Bedeutungen zum Ausdruck zu bringen, sondern in der N o t w e n d i g k e i t , in der einen Sprache Bedeutun-gen auszudrücken, die in der anderen nicht ausgedrückt zu werden brauchen.*

Betrachten wir noch ein Beispiel, das die Rolle der Kate-gorie Geschlecht (Genus) in der russischen und der englischen Sprache und ihre Behandlung in der Ubersetzung veranschau-licht. Die Kategorie des grammatischen Geschlechts wird in der russischen Sprache bekanntlich viel deutlicher aus-gedrückt als in der Englischen: Genusmerkmale besitzen im Bussischen die Substantive (Flexionsendungen), die mit ihnen kongruierenden Wörter (Adjektive, Partizipien, Vergangen-heitsformen des Verbs u. dgl.) und Pronomina. Im Englischen sind deutliche Genusmerkmale nur bei den Personalprono-

*Näheres darüber siehe im vorstehend erwähnten Beitrag R. Jakobsons im Sammelband „On Translation", S. 236.

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mina, Possessivpronomina und Reflexivpronomina der 3. Person Singular vorhanden. Vgl . z. В. :

I once met a Bulgarian artist. She was tall, s.tout and already middle-aged. („Morning Star")

Я как-то познакомился с одной болгарской худож-ницей. Она была высокая, полная и уже немолодая.

Das Geschlecht der Person, die mit dem Wort artist ge-meint ist, wird im Englischen nur durch das Pronomen she bezeichnet, während im äquivalenten russischen Satz das-selbe durch Flexionsmerkmale der Formen von acht Wör-tern zum Ausdruck gebracht wird (diese Endungen sind im Beispiel fett gedruckt). Das Geschlecht der mit I be-zeichneten Person bleibt im Englischen überhaupt ohne jegli-chen sprachlichen Ausdruck, während es im Russischen durch die Form des Prädikatverbs познакомился ausgedrückt ist.

Dieser Umstand hat zur Folge, daß die Geschlechts-bedeutungen im englischen Text zuweilen unausgedrückt bleiben, aber bei der Übersetzung der entsprechenden Sätze ins Russische (oder ins Deutsche) unbedingt spezifiziert werden müssen. Der englische Satz A friend of mine has told me about it kann auf zweifache Weise ins Russische (und Deutsche) übersetzt werden: Об этом мне рассказал один мой знакомый. (Davon erzählte mir ein Bekannter) und Об этом мне рассказала одна моя знакомая. (Davon erzählte mir eine Bekannte.) Wenn das Geschlecht der mit friend bezeichneten Person nicht aus dem weiteren Kontext oder der Situation erschlossen werden kann, bleibt die Wahl des russischen (und deutschen) Äquivalents weitgehend will-kürlich und dem „intuitiven" Ermessen des Übersetzers überlassen. Wie wir sehen, zwingt uns auch hier die gram-matische Struktur der Zielsprache zur ausdrücklichen Wie-dergabe einer solchen semantischen Information in der Über-setzung, die der Text in der Ausgangssprache gar nicht ent-hält. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Wiedergabe vieler anderer Substantive wie teacher — Lehrer, Lehrerin; Student —• Student, Studentin-, writer — Schriftsteller, Schrift-stellerin; cook — Koch, Köchin usw. In allen diesen Fällen kann im englischen Text das Geschlecht der Person meist nur genauer bestimmt werden, wenn ein auf dieses Substan-tiv bezogenes Pronomen der dritten Person Singular auftritt (he — his — him — himself oder she — her — herseif).

Derartige Erscheinungen kommen bei der Ubersetzung

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aus dem Englischen ins Russische oder Deutsche recht häufig vor. Im englischen Text der Erzählung von H. Lee „To Kil l a Mockingbird" wird die Handlung vom Standpunkt eines kleinen Mädchens geschildert. Da aber der ganze Text in der ersten Person geschrieben ist, erfährt das der Leser des Originals erst auf der zwölften Seite, am Ende des ersten Kapitels (wo erstmalig das Wort sister auftritt). Dem rus-sischen Leser aber wird dies bereits in den ersten Zeilen klar, sobald die Yerbalform говорила auftaucht (im sechsten Satz des Textes). Für die allgemeine Auffassung der semantischen Struktur eines künstlerisch gestalteten Textes durch den Leser ist dies selbstverständlich nicht gleichgültig.

Noch größer sind die Schwierigkeiten in den Fällen, wo der Kontext — selbst der weiteste — überhaupt keine Hin-weise auf die Geschlechtsbedeutungen liefert. Als Beispiel dafür können Shakespeares Sonette gelten, die den Litera-turwissenschaftlern und vor allem den Ubersetzern viel Kopfzerbrechen bereiten. Bekanntlich sind die meisten dieser Sonette so aufgebaut, daß nicht ermittelt werden kann, ob sich der Autor an einen Mann oder an eine Frau wendet. Nehmen wir als Beispiel die Sonette 40 und 48.

Take all my loves, my love, yea, take them all; What hast thou then more than thou hadst before? No love, my love, that thou mayst true love call; All mine was thine before thou hadst this more.

Then if for my love thou my love receivest, I cannot blame thee for my love thou usest; But yet be blam'd, if thou thyself deceivest By wilful taste of what thyself refusest.

I do forgive thy robbery, gentle thief, Although thou steal thee all my poverty; And yet, love knows, it is a greater grief To bear love 's wrong than hate's known injury.

Lascivious grace, in whom all ill well shows, Kil l me with spites; yet we must not be foes.

That god forbid, that made me first your slave, I should in thought control your times of pleasure, Or at your hand the account of hours to crave, Being your vassal bound to stay your leisure!

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0, let me suffer, being at your beck, The imprison'd absence of your liberty, And patience, tame to sufferance, bide each check Without accusing you of injury.

Be where you list, your charter is so strong That you yourself may privilege your time To what you will ; to you it doth belong Yourself to pardon of self-doing crime.

I am to wait, though waiting so be hell; Not blame your pleasure, be it ill or well.

Selbst die sorgfältigste Analyse dieser Sonette ergibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, ob sie für einen Mann oder für eine Frau bestimmt sind. (Das ist wohl kein Zufall : Die Sonette Shakespeares haben allgemeinmenschliche, phi-losophische Geltung und sind mit Vorbedacht so abgefaßt, daß sie auf den M e n s c h e n schlechthin bezogen werden können.) Sehen wir uns nun an, wie S. Marschak diese Sonet-te ins Russische übersetzt hat:

Все страсти, все любви мои возьми— От этого приобретешь ты мало. Все, что любовью названо людьми, И без того тебе принадлежало.

Тебе, мой друг, не ставлю я в вину, Что ты владеешь тем, чем я владею. Нет, я в одном тебя лишь упрекну, Что пренебрег любовью ты моею.

Ты нищего лишил его сумы, Но я простил пленительного вора. Любви обиды переносим мы Трудней, чем яд открытого раздора.

О ты, чье зло мне кажется добром, Убей меня, но мне не будь врагом!

Избави бог, меня лишивши воли, Чтоб я посмел твой проверять досуг, Считать часы и спрашивать: доколе? В дела господ не посвящают слуг.

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Зови меня, когда тебе угодно, А до того я буду терпелив. Удел мой — ждать, пока ты не свободна, И сдерживать упрек или порыв.

Ты предаешься делу, иль забаве, — Сама ты госпожа своей судьбе. И, провинившись пред собой, ты вправе Свою вину прощать самой себе.

В часы твоих забот иль наслаяоденья Я жду тебя в тоске, без осужденья.. .

Im russischen Text sehen wir folglich ein ganz anderes Bild: Aus dem ersten Sonett geht hervor, daß der Autor sich hier an einen Mann wendet, im zweiten dagegen ist die Anrede eindeutig an eine Frau gerichtet (die die Genusunterschiede zum Ausdruck bringenden russischen Wortformen sind durch Fettdruck hervorgehoben). Der Grund dafür ist nicht eine Laune des Ubersetzers, sondern das Gebot der grammatischen Struktur der russischen Sprache, das ihn einfach z w i n g t , eine semantische Information zum Ausdruck zu bringen, die im Ausgangstext unausgedrückt bleibt. In diesem Fall ist es dem Übersetzer nicht leicht, seine Entscheidung für das eine oder andere Geschlecht in der Übersetzung zu be-gründen, weil der englische Ausgangstext keinerlei Bezugs-punkte für eine eindeutige Lösung liefert, da die Ge-schlechtsunterschiede keinerlei sprachlichen Ausdruck bekom-men haben. Es ist daher nicht verwunderlich, daß u. U. ein und dasselbe Sonett von verschiedenen Übersetzern verschieden behandelt wird. Vergleichen wir z. B. die erste Strophe des 57. Sonetts im Original und in den Übersetzun-gen von V. Brjussow und S. Marschak:

Being your slave, what should I do but tend Upon the hours and times of your desire? I have no precious time at all to spend, Nor services to do, tili you require.

In der Übersetzung V. Brjussows lauten diese Zeilen so: Твой верный раб, я все минуты дня Тебе, о мой владыка, посвящаю. Когда к себе ты требуешь меня, Я лучшего служения не знаю.

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Hier zeugen die Worte мой владыка davon, daß sicii der Dichter an einen Mann wendet. In der Übersetzung von S. Marschak lesen wir aber:

Для верных слуг нет ничего другого, Как ожидать у двери госпожу. Так, прихотям твоим служить готовый, Я в ожиданье время провожу.

Hier weist das Wort госпожа eindeutig auf eine Frau hin. Es wäre ein aussichtsloses Unterfangen, feststellen zu wol -len, wer von den beiden Dichtern recht hat, Brjussow oder Marschall. Jeder hat auf seine Art recht, und beide haben sie unrecht: Bei Shakespeare bleibt in diesem Sonett die Frage nach dem Geschlecht des geliebten Wesens offen — man weiß einfach nicht, ob es um einen Freund oder um die Geliebte geht. Im russischen Text ist es aber unmöglich, diese Unklarheit zu bewahren, und zwar wegen der Beson-derheiten der grammatischen Struktur der russischen Spra-che, wegen der weiten Verbreitung der obligatorischen Genus-endungen.

Aus dem Dargestellten geht keineswegs hervor, daß die grammatische Struktur des Russischen insgesamt etwa stär-ker differenziert ist und mehr Information enthält als die des Englischen. Es gibt genug umgekehrte Beispiele, wo eiue grammatische Kategorie der englischen Sprache kein direk-tes Äquivalent im Russischen hat und die ihr zugeordnete semantische Information, die im Englischen obligatorisch zum Ausdruck gelangt, im russischen Text unbezeichnet bleiben kann. Im Englischen (wie im Deutschen) ist das Substantiv grundsätzlich von einem Artikel (bzw. einem anderen funktionsgleichen Wort , etwa einem Demonstrativ-oder Possessivpronomen) begleitet, wodurch die Bestimmt-heit oder Unbestimmtheit des Substantivs angegeben wird. Im Russischen fehlt der Artikel, und die Wörter, die auf die Bestimmtheit oder Unbestimmtheit des Substantivs hin-weisen, sind nicht obligatorisch. Auf Russisch sagt man nicht nur Дай мне эту книгу oder Дай мне какую-нибудь книгу, sondern auch einfach Дай мне книгу, ohne sprachlich zu präzisieren, ob es sich um ein bestimmtes Buch handelt oder um ein Buch schlechthin, um ein beliebiges Buch (eben ein um Buch und nicht um ein Heft usw.). Im Deutschen und Englischen ist eine solche Präzisierung bei der Erwähnung eines Substantivs o b l i g a t o -

li* 163

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r i s с Ii: man sagt entweder „Gib mir ein Buch", „Give те a book" oder „Gib mir das Buch", „Give me the book", so daß man den russischen Satz Дай мне книгу nur unter Berücksichtigung des weiteren Kontextes oder der außer-sprachlichen Situation richtig ins Deutsche oder Englische übersetzen kann.

Dem Bussischen fehlt auch die Kategorie der „zeitlichen Bezogenheit" (nach А. I. Smirnizki), die im Englischen in der Gegenüberstellung perfektiver und imperfektiver Tem-pora zum Ausdruck kommt, oder in den „relativen Tempora" des Deutschen. In der Vergangenheitsform des Verbs macht das Russische keinen Unterschied zwischen den Bedeutungen des Past Indefinite und Past Perfect oder des Imperfekts, Perfekts und Plusquamperfekts. Daher ist es in einem rus-sischen Satz nicht immer möglich, eine Grenze zu ziehen zwischen einer vergangenen Handlung, die mit dem beschrie-benen Moment zeitgleich ist, und einer solchen, die dem be-schriebenen Moment vorausgeht, während im englischen und deutschen Satz diese Unterscheidung nicht unausge-drückt bleiben kann. In einem Roman I. S. Turgenews steht der Satz Его отец служил чиновником в Петербурге. Weder aus dem Satz selbst noch aus dem weiteren Kontext läßt sich hier entnehmen, ob es dabei um die gleiche Zeit geht, die im Roman beschrieben wird, oder um eine voran-gegangene Periode. Es bleibt unklar, ob der Vater des Hel-den zum geschilderten Zeitpunkt Beamter in Petersburg war oder es früher, in der Kindheits- oder Jugendzeit des Helden, gewesen war. Im Englischen und Deutschen ist jedoch eine solche Unbestimmtheit einfach unmöglich, da das Verb in einer von zwei Formen stehen muß — entweder im Imperfekt (Sein Vater war Beamter) bzw. Past Indefi-nite (Iiis father was a civil servant) oder im Plusquamper-fekt (Sein Vater war Beamter gewesen) bzw. Past Perfect (Flis father had been a civil servant). Wie in den obigen Bei-spielen steht hier der Ubersetzer vor einer schwierigen Situa-tion, da er nicht über ausreichende Information verfügt, um eine eindeutige Entscheidung über das in diesem Falle angebrachte konkrete Äquivalent zu treffen.

§ 37. Die auf der Inkongruenz der grammatischen Syste-me von Ausgangssprache und Zielsprache beruhenden Schwie-rigkeiten sind allerdings nicht zu übertreiben. Es wurde be-

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reits betont, daß die in der einen Sprache grammatisch aus-gedrückte Information in der anderen lexikalisch ausge-drückt werden kann. Deshalb ist es keineswegs zwingend, den in der Ausgangssprache grammatisch ausgedrückten Inhalt in der Zielsprache ebenfalls mit grammatischen Mit-teln wiederzugeben. Für den Übersetzungsprozeß ist es auch normal und üblich, daß in der Ausgangssprache grammatisch ausgedrückte Bedeutungen in der Zielsprache durch lexi-kalische Mittel zum Ausdruck gebracht werden, und umge-kehrt das im AS-Text lexikalisch Ausgedrückte im ZS-Text, durch grammatische Mittel zum Ausdruck kommt. Diese von der Übersetzungspraxis immer wieder bestätigte Tatsache ist wohl auch der beste Beweis dafür, daß der Unterschied zwischen den grammatischen und den lexika-lischen Bedeutungen nicht in ihrer „Natur" liegt, sondern in ihren A u s d r u c k s w e i s e n , die in verschiedenen Sprachen verschieden sein können.

Auf die vorstehend behandelte Kategorie der „zeitlichen Bezogenheit" bzw. „relativen Zeit" zurückkommend, die im Englischen und Deutschen vorhanden ist, aber im gramma-tischen System der russischen Sprache fehlt, kann man fest-stellen, daß die Wiedergabe der damit verbundenen Bedeu-tungen in der russischen Ubersetzung kaum wesentliche Schwierigkeiten bereitet, da sich in der russischen Sprache die betreffenden Bedeutungen ohne weiteres auf lexikalischem Wege ausdrücken lassen. Derartige Beispiele wurden bereits im 1. Kapitel angeführt; hier wollen wir noch einmal an sie erinnern:

He 'd alwaysbeen so spruce and smart: he was shabby and unwashed and wild-eyed. (S. Maugham. A Casual Affair)

Прежде он был таким щеголем, таким элегантным. А теперь бродил по улицам Сингапура грязный, в лох-мотьях, с одичалым взглядом.

Mr Raymond sat up against the tree-trunk. He had beeil lying on the grass. (H. Lee, To Kill a Mockingbird, Ch. 20)

Мистер Раймонд сел и прислонился к дубу. Раньше он лежал на траве.

Wir sehen, daß liier im Text der Übersetzung Wörter verwendet werden, die keine l e x i k a l i s c h e n Ent-sprechungen im Original haben: прежде, а теперь, раньше.

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Die Aufnahme dieser Wörter in den russischen Text ist aber absolut notwendig; würde man sie beseitigen, so bekäme der russische Text eine absurde Bedeutung. Die Notwendigkeit dieser Wörter im russischen Text beruht darauf, daß sie auf lexikalischem Wege die Information zum Ausdruck bringen, die i m englischen Text g r a m m a t i s c h ausgedrückt ist, und zwar mit Hilfe der Formen der „zeitlichen Bezogen-heit" der Verben (ba)d been — was; sat — had been lying. Das Fehlen grammatischer Formen der „zeitlichen Bezogen-heit" zieht hier die Notwendigkeit lexikalischer Ergänzun-gen nach sich (vgl. den Abschnitt „Ergänzungen" in Kapi-tel 5). Dieses Verfahren zur Wiedergabe der im Englischen durch die Gegenüberstellung der Formen Past Indefinite und Past Perfect ausgedrückten Bedeutungen im russischen Text ist durchaus normal und weit verbreitet. Vgl. folgen-des gleichartige Beispiel aus derselben Kurzgeschichte S. Maughams:

I had been roughing it for some time and I was glad enough to have a rest. (ib.)

Перед тем я некоторое время путешествовал в са-мых примитивных условиях и теперь был рад отдохнуть.

Bei der Übersetzung des folgenden Satzes aber, ... except the imposing stone house in which the Governor had once lived (ebenda), sind keinerlei Ergänzungen erforderlich, da der englische Text bereits selbst das Zeitadverb once ent-hält: ... кроме внушительного каменного дома, где прежде обитал губернатор. Folglich kann nicht nur in verschiede-nen Sprachen, sondern auch innerhalb derselben Sprache (hier im Englischen) ein und dieselbe Bedeutung (in unse-rem Beispiel die Vorzeitigkeit der Handlung) sowohl lexi-kalisch (durch das Adverb once) als auch grammatisch (durch die Form Past Perfect) ausgedrückt sein. Gerade die-ser Umstand — das Vorhandensein verschiedener Ausdrucks-mittel für identische Bedeutungen in der Sprache — ermög-licht die Übersetzung aus einer Sprache in eine andere ungeachtet der bestehenden Inkongruenzen im System der grammatischen Formen und Kategorien dieser beiden Sprachen.

Hier ein weiteres Beispiel für dieselbe Erscheinung. In Ch. Dickens' Roman „Die Pickwickier" kommt bei der Be-schreibung der Verfolgung von Jingle folgender Satz vor: Out came the chaise — in went the horses — 011 sprang ^he

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boys — in got the travellers. In der von E. Lann besorgten russischen Übersetzung ist diese Stelle folgendermaßen wiedergegeben: Карету выкатили, лошадей впрягли, фо-рейторы вскочили на них, путешественники влезли в каре-ту. Zu dieser Übersetzung bemerkt I. A. Kaschkin in seinem bereits zitierten Aufsatz: „Der englische Text ist technolo-gisch richtig wiedergegeben, leider erscheinen dabei die Pferde wie aus Holz, die Vorreiter wie Gliederpuppen, die Kutsche wie ein Spielzeug... Der Ubersetzer ... sieht aber nicht, was hinter dem englischen Satz steht* und was bereits Irinarch Wwedenski empfunden hat. In einer Ausgabe sei-ner Ubersetzung finden wir: „Дружно выкатили карету, мигом впрягли лошадей, бойко вскочили возницы на козлы, и путники поспешно уселись на свои места..." Er spielt ... ... mit den Verbalformen, mit den vier von ihm eingeführten Adverbien дружно, мигом, бойко, поспешно und erzeugt durch die exakte Wiedergabe der Dickensschen Inversion beim Lesen die erforderliche Empfindung der hastigen Span-nung"**.

I. A. Kaschkin hat zweifellos recht, wenn er die Über-legenheit der Ubersetzung I. Wwedenskis gegenüber der von E. Lann betont: Die Inversion bringt hier tatsächlich einen bestimmten semantischen Gehalt zum Ausdruck, sie verleiht der Handlung einen hastigen, stürmischen, überraschenden Charakter.*** Da diese Bedeutung im Russischen nicht durch die Inversion oder ein anderes grammatisches Mittel ausge-drückt werden kann, muß sie auf lexikalischem Wege wie-dergegeben werden, was I. Wwedenski auch tut. Man kann freilich auch andere lexikalische Einheiten für dieselbe Bedeutung finden****, wichtig ist nur, daß sie im russischen Text nicht unausgedrückt bleibt, wie es bei E. Lann gesche-hen ist.

* Hier hat I. A. Kaschkin unrecht, die fragliche Bedeutung steht nicht „hinter dem englischen Satz", sondern wird in diesem Satz durch ein bestimmtes formelles Mittel — die Inversion —- ausgedrückt. Die Ausdrucksweise „steht hinter dem Satz" entspricht hier der Kon-zeption I. A. Kaschkins vom „Blick hinter den Text" und „Durchbruch durch die Wörter".

** I. A. Kaschkin• а. a. 0 . , S. 31. *** Vgl . JI. С. Бархударов, Д. А. Штелинг: Грамматика анг-

лийского языка. Изд. 4-е, М., „Высшая школа", 1973, с. 342. **** Vgl . z. В. В. Н. Комиссаров, Я. И. Рецкер, В. И. Тар-

хов: Пособие по переводу с английского языка на русский. Ч. II. М-, „Высшая школа", 1965, с. 33,

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Aus den angeführten Beispielen ergibt sich eine scheinbar paradoxe Schlußfolgerung. Schwierigkeiten für die Wieder-gabe grammatischer Bedeutungen entstehen meist nicht, wenn eine Kategorie der Ausgangssprache in der Zielsprache fehlt, sondern im Gegenteil, wenn eine Kategorie der Ziel-sprache nicht in der Ausgangssprache vertreten ist (d. h. wenn die Zielsprache an bestimmten grammatischen Formen und Bedeutungen sozusagen „reicher" ist als die Ausgangs-sprache). Dieses Paradoxon ist jedoch nur ein scheinbares: W i r sahen bereits, daß das F e h l e n einer grammatischen Form in der Zielsprache unschwer durch lexikalische Mittel kompensiert werden kann, während das Fehlen einer solchen Form in der Ausgangssprache im Falle der obligatorischen Explizierung der betreffenden Bedeutung in der Zielspra-che zu „unmotivierter" Auswahl einer bestimmten Form in der Ubersetzung zwingt, d. h. eine Vergrößerung des Infor-mationsumfanges (eine stärkere Konkretisierung) des Uber-setzungstextes gegenüber dem Original verlangt. Dies bringt uns wieder auf die bekannte Formel B. Jakobsons zurück: Die Sprachen unterscheiden sich nicht dadurch, was sie aus-drücken k ö n n e n , sondern dadurch, was sie n i c h t u n a u s g e d r ü c k t l a s s e n d ü r f e n .

§ 38. Im Zusammenhang mit diesem Problem muß noch ein wichtiger Punkt geklärt werden: Inwiefern es über-haupt notwendig ist, die grammatischen Bedeutungen bei der Ubersetzung wiederzugeben? Man kann diese Frage auch anders formulieren: Drücken die grammatischen Formen und Kategorien ebenso wie die lexikalischen Einheiten referen-tielle (oder pragmatische) Bedeutungen aus, oder sind diese Bedeutungen rein intralinguistisch, so daß die Verwendung dieser Formen nur durch innersprachliche Verhältnisse her-vorgerufen ist und keinerlei außerhalb der Sprache liegende und durch objektive Faktoren bedingte Erscheinungen wider-spiegelt? Wenn das zutrifft, wie soll man dann unterschei-den, wann die jeweilige grammatische Bedeutung referen-tiell (bzw. pragmatisch) oder ausgesprochen intralingui-stisch und somit für die Übersetzung grundsätzlich irrele-vant ist?

U. E. muß man, um diese Frage zu beantworten, im Prin-zip zwei Fälle der Verwendung grammatischer Formen unter-scheiden, die man als den freien Gebrauch und den gebunde-171

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nen Gebrauch bezeichnen kann. Beim freien Gebrauch wird die jeweilige grammatische Form in der Rede nach Ermes-sen des Sprechenden (oder Schreibenden) verwendet, der somit die f r e i e W a h l unter mehreren möglichen For-men innerhalb einer Kategorie besitzt. In diesen Fällen ist die Auswahl der grammatischen Form nicht durch inner-sprachliche Regeln, sondern durch zwei eventuelle Fakto-ren bedingt:

a ) durch die g e s c h i l d e r t e S i t u a t i o n selbst. Dabei erhält die grammatische Form an sich eine r e f e r e n t i e l l e B e d e u t u n g . S o besteht z . B . in den meisten Sprachen im Bereich der Numeruskategorie die Möglichkeit der freien Wahl der Numerusform Singular oder Plural (vorausgesetzt, daß das betreffende Substantiv beide Numerusformen besitzt), vgl. Er erblickte ein Ha us — Er erblickte Häuser: Я купил книгу — Я купил книги usw. Hier ist die Verwendung der betreffenden Numerusform ausschließlich durch Verschiedenheiten der geschilderten Situationen (ein einzelner Gegenstand oder mehrere Gegen-stände) bedingt, die Numerusform des Substantivs hat so-mit referentielle Bedeutung;

b ) durch p r a g m a t i s c h e F a k t o r e n , d . h . durch die verschiedene Einstellung der Kommunikations-teilnehmer zu den Äußerungen (bei referentieller Bedeutungs-identität der Äußerungen selbst). So hat z. B. im Bussi-schen, Deutschen oder Englischen der Sprechende die freie Wahl zwischen der aktiven und passiven Genusform des Verbs und damit zwischen der aktiven oder passiven Satz-konstruktion, ohne daß die referentielle Bedeutung des Satzes davon betroffen wird: Die Arbeiter erbauten das Haus— Das Haus wurde von den Arbeitern erbaut. Die Wahl der Genusform und dementsprechend der gesamten Satzkon-struktion wird hier durch den pragmatischen Faktor „kom-munikatives Gewicht" der Satzelemente (das „Neue" und das „Gegebene", vgl. § 28) bestimmt. Gleichermaßen steht es in der russischen Sprache wie in einigen anderen dem Sprechenden frei, zwischen der vollständigen (nichtellip-tischen) und der unvollständigen (elliptischen) Satzkon-struktion zu wählen. Man vergleiche z. В. Я буду там в по-ловине девятого — Буду там в половине девятого. Ent-scheidend für die Wahl ist hier der pragmatische Faktor Rederegister (neutral bzw. formell im ersten Falle und un-gezwungen im zweiten). Die Wahl der Form des Pronomens

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der 2. Person in der Anrede ist im Russischen ebenfalls durch die Pragmatik des Registers bedingt: ты gilt für das unge-zwungene und gehobene Register, Вы für das offizielle. Da in allen diesen Fällen die geschilderte Situation die gleiche bleibt, besteht kein Unterschied zwischen den referentiel-len Bedeutungen dieser Äußerungen, und folglich werden hier durch die grammatischen Formen p r a g m a t i s c h e B e d e u t u n g e n unterschieden.

Beim gebundenen Gebrauch der grammatischen Formen wird die Verwendung der jeweiligen Form nicht durch die geschilderte Situation oder die Entscheidung des Sprechen-den, sondern ausschließlich durch innersprachliche Faktoren bestimmt. Dies tritt hauptsächlich in drei Fällen ein:

a ) Das betreffende Lexem besitzt n u r e i n e F o r m im Bereich der jeweiligen Kategorie: So haben die russischen Substantive тушь, борщ nur eine Singular-, aber keine Pluralform, die Substantive чернила, щи besitzen dagegen nur eine Pluralform und keine Singularform, so daß eine freie Wahl der Numerusform hier nicht in Frage kommt;

b) die Wahl der jeweiligen grammatischen Form ist d u r c h d i e s y n t a k t i s c h e S t r u k t u r vor-geschrieben, innerhalb der die Form auftritt. So kann z. B. im Russischen als direktes Objekt zum transitiven Verb (in der affirmativen Konstruktion) nur die Akkusativform ver-wendet werden: Он читает книгу (nicht книга, книге, книгой usw.)*;

c) die Wahl einer grammatischen Form ist bedingt durch das Auftreten bestimmter l e x i k a l i s c h e r Einheiten in ihrer Umgebung. Wenn z. B. ein Satz das Zeitadverb вчера enthält, so kann hier, abgesehen vom stilistisch beding-ten „Präsens historicum", nur eine Vergangenheitsform des Verbs verwendet werden, so daß die Wahl der Form des Prädikatverbs nicht mehr offensteht. (Vgl. Я видел этот фильм вчера, nicht aber Я вижу этот фильм вчера, Я увижу этот фильм вчера.) Genauso determiniert das Vor-handensein des Adverbs часто im Satz die Wahl der Aspekt-

*Da das Verb читать valenzmäßig zweiwertig ist, kann das abhängige Substantiv nicht nur im Akkusativ, sondern auch im Dativ stehen: Он читает отцу книгу. Dies ändert aber nichts am Kern der Frage, da die Wahl beider Kasusformen syntaktisch bedingt bleibt (unmöglich ist О и читает отца книге, Он читает отцом книгой usw.) Syntaktisch bedingt ist auch die adverbiale Bedeutung des Instrumentals: Он читает громким голосом.

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form des Verbs: möglich ist hier nur die Form des unvoll-endeten Aspekts (z. В. Он часто ходилвкино), die Form des vollendeten Aspekts ist hier unmöglich (Sätze wie Он часто сходил в кино, Он часто пошёл в кино sind gram-matisch inkorrekt). Die Wahl der einen und nicht der ande-ren Form ist hier offenbar bedingt durch die Notwendigkeit der Kongruenz zwischen der grammatischen Bedeutung der Form und der lexikalischen Bedeutung des Wortes, von dem die Wahl dieser Form abhängt; eine solche „Kongruenz" ist aber keine absolut unumgängliche Forderung: So drückt in den englischen Konstruktionen many a day, many a man u. dgl. das Wort many durch seine lexikalische Bedeutung den Vielheitsbegriff aus, während die grammatische Form des Substantivs die Bedeutung der Einzahl hat.

Eine eingehendere Erörterung dieser komplizierten Fra-ge würde den Rahmen unserer Untersuchung überschreiten. Offenbar ist in allen Fällen, wo keine freie Wahl der gram-matischen Formen möglich ist, die Bedeutung dieser For-men eine rein i n t r a l i n g u i s t i s c h e , denn sie wird ausschließlich durch die innerhalb des sprachlichen Systems selbst bestehenden Wechselbeziehungen determiniert. Dies stimmt vollkommen mit einem bekannten Satz der Infor-mationstheorie iiberein, wonach bei voller Voraussagbar-keit des Auftretens eines Signals, d. h. beim Fehlen jeglicher Entscheidungsfreiheit, die von diesem Signal vermittelte Information gleich Null ist.*

Es gibt offensichtlich grammatische Kategorien, die immer nur gebunden verwendet werden. Im Russischen und Deutschen sind z. B."Genus, Numerus und Kasus der Adjek-tive stets durch die Regeln der Kongruenz des Adjektivs mit dem von ihm bestimmten Substantiv vorgeschrieben. Häufiger aber tritt ein und dieselbe grammatische Katego-rie in einigen Fällen in freier, in anderen aber in gebundener Verwendung auf. So werden im Russischen wie im Deutschen oder Englischen die"Jjj Numerusformen des Substan-tivs meistens frei verwendet, der Sprechende hat die Mög-lichkeit, eine der beiden Formen — Singular oder Plural —

*Der amerikanische Linguist H. A. Gleason formuliert diese These wie folgt: „Nothing which is required by the structure can signal any meaning" (II. A. Gleason: An introduction to Descriptive Lin-guistics, p. 157). Unter „meaning" versteht hier Gleason offenbar die referentielle Bedeutung, d. h. extralinguistisch motivierte Information.

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auf Grund ihrer referentiellen Bedeutung zu wählen, je nachdem, was die extralinguistischen oder situationsbeding-ten Faktoren verlangen. (Vgl. Я купил книгу. Я купил книги. Мой друг живет в Москве. Мои друзья живутвМоскве* u. dgl.) Die Wahl der Numerusform ist hier Mittel zur Bezeichnung von Unterschieden, die in der dargestellten Situation selbst enthalten sind (ein Gegen-stand oder mehrere). Wenn aber das Substantiv durch ein Zahlwort bestimmt ist, dann ist die Wahl der Numerusform des Substantivs nicht mehr frei, sondern von den formellen Regeln der russischen Syntax vorgeschrieben: Beim Zahlwort один und allen anderen, die auf один ausgehen (двадцать один, сто тридцать один usw.), steht das Substantiv im Nominativ S i n g u l a r : один дом, двадцать один дом, сто тридцать один дом usw.; nach den Zahlwörtern два, три, четыре und allen anderen, die auf diese einfachen Zahlwörter ausgehen, stehen die Substantive im Genitiv Singular: два дома, двадцать два дома, сто тридцать два дома usw., mit allen anderen Zahlwörtern wird das Sub-stantiv im Genitiv P l u r a l gebraucht: пять домов, сто шесть домов, двести сорок восемь домов, две тысячи домов и. dgl. (Wenn das Zahlwort selbst nicht im Nominativ, sondern in einem obliquen Kasus steht oder dem Substantiv ein Adjektivattribut vorangeht, gelten abweichende Begeln, aber das ändert nichts am Wesen der Sache.) In allen diesen Fällen ist die Verwendung der Numerusform (und Kasus-form) des Substantivs gebunden, d. h. sie ist durch formelle Regeln der russischen Grammatik vorgeschrieben und gibt keinerlei extralinguistische Information wieder. Die Form дом bezeichnet in der Konstruktion двадцать один дом kein einzelnes Haus, sondern ebenso eine größere Anzahl von Häusern wie die Form домов im Satz двадцать пять домов. Angesichts des Zahlworts, das durch seine eigene lexikalische Bedeutung bereits eine Information über die Anzahl der Gegenstände vermittelt, ist die Numerusform des Substantivs selbst redundant und daher bar jeder referen-

*Die Numerusformen der mit dem Substantiv kongruierenden Wörter (in unseren Beispielen мой — мои, живет — живут) werden stets gebunden verwendet, d. b. in Abhängigkeit von Form und Nume-rus des Bezugssubstantivs. Die „Kongruenz" ist überhaupt das deutlich-ste Beispiel für die gebundene Verwendung grammatischer Formen.

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tiellen Bedeutung; ilire Bedeutung ist demnaeli rein intra-linguistisch.*

Genauso gebunden ist, wie^bereits festgestellt wurde, die Verwendung der Numerusform^bei denjenigen Substan-tiven, die nur eine Wortform besitzen, d. h. wenn die freie Wahl der N inner usi'orm unmöglich ist, z. B. bei russischen Wörtern wie чернила, щи, ворота, сани, брюки, щипцы u. ä, die nur eine Pluralform besitzen. In diesen Fällen hat die Numerusform des Substantivs keine referentielle Bedeu-tung: чернила ist nicht „pluraler" als тушь, щи nicht mehr als борщ, щипцы bezeichnet genauso einen einzigen Gegen-stand wie пинцет. (Um reale Unterschiede in der Anzahl der Gegenstände auszudrücken, verwendet man in diesem Falle lexikalische Mittel, vgl. : несколько саней, две пары брюк u. ä.) Die Verwendung der Wortformen der Substan-tive richtet sich hier ebenfalls nach den Normen der russi-schen Sprache, nicht aber nach den Unterschieden in der realen Situation selbst — die Numerusform besitzt hier lediglich intralinguistische Bedeutung.

Demnach ist festzustellen, daß bei der Übertragung aus einer Sprache in eine andere grundsätzlich nur die B e d e u -t u n g e n d e r f r e i v e r w e n d b a r e n g r a m -m a t i s c h e n F o r m e n wiedergegeben werden, weil nur im Falle ihrer freien Verwendung diese Formen, wie wir sehen, eine bestimmte referentielle (seltener pragmatische) Bedeutung aufweisen. Was die in gebundener Verwendung auftretenden grammatischen Formen anbetrifft, bleiben die von ihnen ausgedrückten Bedeutungen, die ihrer Natur nach ausschließlich intralinguistisch sind, bei der Ubersetzung unberücksichtigt. Die Fälle einer scheinbaren Wiedergabe derartiger grammatischer Bedeutungen in der Übersetzung beruhen auf reiner Illusion. In Konstruktionen wie Он идет, — er geht decken sich Person- und Numerusform des deutschen Verbs mit der des russischen (3. Person Singular), doch dies kommt nicht von der Notwendigkeit, den „Sinn" des russischen Satzes wiederzugeben, sondern beruht auf den formellen Regeln der deutschen Sprache selbst, in der wie im Russischen das Prädikatverb mit dem Subjekt nach Person und Zahl kongruiert, so daß beim Pronomen der

*Es ist bezeichnend, daß in vielen Sprachen das Vorhandensein von Zahlwörtern mit Vielheitsbedeutung (zwei, drei, vier und mehr) in der Substantivgruppo gerade die Singularform des Substantivs und nicht etwa die Pluralform nach sich zieht.

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3. Person Singular auch das Verb die entsprechende Form annehmen muß.

Wenden wir uns noch einmal der vorstehend erörterten Numeruskategorie des Substantivs zu. Die Numerusformen müssen bei der Ubersetzung aus einer Sprache in die andere wiedergegeben werden, wenn sie frei verwendet sind, wie z. B. in folgenden Sätzen:

Я купил книгу. Я купил книги. Мой друг живет в Москве. Мои друзья живут в Москве.

— Ich kaufte ein Buch. — Ich kaufte Bücher.

Mein Freund lebt in Moskau. Meine Freunde leben in Moskau.

Im Falle der gebundenen Verwendung der Numerusfor-men der Substantive können ihre Bedeutungen, die keine realen Beziehungen der objektiven Wirklichkeit widerspie-geln und durch rein intralinguistische Relationen determi-niert sind, dem Wesen der Sache entsprechend nicht in der Übersetzung wiedergegeben werden (mit Ausnahme der seltenen Fälle, wo die sprachliche Form selbst zum Aussage-gegenstand wird, vgl. § 34). Hier wird die Wahl der Nume-rusform des Substantivs in der Zielsprache nicht mehr von der Numerusform der Ausgangssprache bestimmt, sondern ausschließlich von den intralinguistischen Regeln der Ziel-sprache selbst. Unabhängig davon, in welcher Form das Substantiv nach dem Zahlwort in der russischen Sprache steht (один дом, два дома, пять домов, двадцать один дом), bekommt im deutschen Text das entsprechende Sub-stantiv stets die Pluralform, mit Ausnahme der ein-Verbin-dung, die die Singularform verlangt (ein Flaus, aber zwei Häuser, fünf Häuser, einundzwanzig Häuser usw.), denn so verlangt es die grammatische Norm der deutschen Spra-che. Genauso werden russische Substantive, die nur eine Pluralform besitzen (die sogenannten Pluraliatantum) im Deutschen durch Substantive in derjenigen Numerusform wiedergegeben, die den grammatischen Normen der deut-schen Sprache entspricht, unabhängig von der Numerusform des russischen Ausgangswortes (vgl. die deutschen Ent-sprechungen der obenangeführten russischen Pluraliatantum— Tinte, Kohlsuppe, Tor, Schlitten, Hose, Zange usw.).

Noch ein weiteres Beispiel. Im Englischen können die Tempusformen des Verbs im einfachen Satz und im Haupt-

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Satz des Satzgefüges grundsätzlich frei verwendet werden, d. h. in Übereinstimmung mit ihrer referentiellen Bedeu-tung (Zeit des Handlungsablaufs). Z. В . : He lives in Lon-don — he lived in London; he can play the piano — he could play the piano usw. In derartigen Fällen muß bei der Ubersetzung ins Russische die grammatische Bedeutung der jeweiligen englischen Verbform wiedergegeben werden: Он живет в Лондоне, Он жил в Лондоне, Он умеет играть на рояле, Он умел играть на рояле. In den Objektnebensät-zen ist im Englischen jedoch die Wahl der Tempusform nicht mehr frei: Sobald das Verb im Hauptsatz in der Vergangen-heitsform steht, wird die Wahl der Tempusform der Neben-satzprädikate eindeutig durch die sogenannte Zeitkongruenz (sequence of tenses) vorgeschrieben — das Verb im Neben-satz muß ebenfalls in der Vergangenheitsform stehen. Vgl . : He says he lives in London. Iie says he can play the piano. He said he lived in London. He said he could play the piano.

Dafür steht aber andererseits im Englischen in Neben-sätzen dieser Art die Wahl derjenigen Formen der zeitlichen Bezogenheit (nonperfect — perfect) des Prädikatverbs dem Sprechenden frei, die die Gleichzeitigkeit bzw. Vorzeitig-keit der Handlung des Nebensatzes gegenüber der des Haupt-satzes zum Ausdruck bringen, vgl. Iie said he lived in Lon-don — Iie said he had lived in London. (Hier verhält es sich ähnlich, wie mit dem Gebrauch der relativen Zeit-formen in ähnlichen deutschen Sätzen.)

Da die Verwendung der Vergangenheitsformen in der englischen Sprache in diesen Fällen gebunden ist, von den intralinguistischen Regeln des Englischen bestimmt wird und keinerlei referentielle Bedeutung beinhaltet, ist die Vergangenheitsform des englischen Verbs bei der Überset-zung ins Russische entsprechend den Regeln der russischen Syntax entweder durch die Form der Gegenwart wiederzu-geben, wenn die Gleichzeitigkeit der beiden Handlungen ausgedrückt wird, oder durch die Form der Vergangenheit, wenn die Handlung des Nebensatzes der des Hauptsatzes vorangeht*:

*Die Gegenüberstellung der Tempusformen Gegenwart — Ver-gangenheit ist in der russischen Sprache in diesem Falle der Gegenüber-stellung der englischen Zeitbezogenheitsformen (nonperfect — perfect) äquivalent.

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Он говорит, что живет в Лондоне. Он говорит, что умеет Играть на рояле. Он сказал, что живет в Лондоне. Он сказал, что умеет играть на рояле.

Dagegen: Он сказал, что (когда-то прежде) жил в Лон-доне.

Dabei ist zu beachten, daß die Zeitkongruenz im Engli-schen nicht nur den unmittelbar auf das Prädikatverb des Hauptsatzes bezogenen Nebensatz betrifft, sondern auch weitere darauffolgende Sätze innerhalb desselben Kontexts, selbst wenn es sich dabei um formal „unabhängige" Sätze handelt. Das sehen wir an Hand des folgenden Auszugs:

Mr Marquand said a lot of different proposals had been put forward during the discussion. But he believed that most would agree that some form of government Interven-tion was necessary. („Morning Star", 12.III.67)

Im zweiten Satz, der vom ersten formal unabhängig ist, stehen alle Verben in der Vergangenheitsform, und zwar weil hier diese Form ebenfalls durch die gleiche Begel der Zeitenkongruenz bedingt wird. Das Verb said, das den Objektnebensatz (die indirekte Rede) einleitet, bezieht sich auch auf alle nachfolgenden Sätze, die ebenfalls indirekte Rede sind. Daher haben wir es hier nicht mit einem Fall der freien Verwendung, sondern mit einer gebundenen Ver-wendung der Vergangenheitsformen zu tun. In der russischen Ubersetzung müssen alle Prädikatverben des zweiten Satzes gemäß den Regeln der russischen Syntax in der Form der G e g e n w a r t und nicht in der Form der Vergangen-heit stehen (wie dies bei unerfahrenen Übersetzern manchmal vorkommt):

Г-н Марканд заявил, что во время дискуссии было выдвинуто много различных предложений. Однако он полагает, что почти все согласятся с тем, что вмеша-тельство правительства в той или иной форме является необходимым.

Die Verwendung der Vergangenheitsform было выдвинуто beruht auf der im englischen Text auftretenden perfect-Form had been, die die Vorzeitigkeit ausdrückt; alle übri*-gen Verbformen (полагает, согласятся, является) gehören zur Gegenwart oder Zukunft, d. h. zur „Nichtvergangen-

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lieit"*, nicht aber zu den Vergangenheitsformen wie im Engli-schen, weil deren Verwendung hier durch die Zeitenkon-gruenz-Regel bedingt und somit gebunden ist.

Folglich kann für die Frage der Wiedergabe der gramma-tischen Bedeutungen in der Ubersetzung keine Universal-lösung vorgeschlagen werden: Man muß den Charakter der Verwendung der jeweiligen Form, ihre funktionelle Leistung in jedem einzelnen Falle ermitteln und davon ausgehend eine ihr angemessene Entsprechung in der Zielsprache finden oder sie völl ig unübersetzt lassen (falls ihre Bedeutung eine ausschließlich intralinguistische ist).

§ 39. Wir schließen diesen Abschnitt mit der Erörterung eines weiteren wichtigen Problems ab, nämlich der Frage nach der Wiedergabe der s y n t a k t i s c h e n B e d e u -t u n g e n in der Ubersetzung. Diese Frage knüpft an die Grundprobleme der allgemeinen Theorie der Syntax an, ihre Lösung ist daher nicht nur für die Übersetzungstheorie, son-dern auch für die Sprachwissenschaft im allgemeinen von Interesse, vor allem unter dem Gesichtspunkt des „ewigen" Problems der Wechselbeziehungen zwischen grammatischen (syntaktischen) und logisch-semantischen Kategorien.

Weite Verbreitung fand in der modernen grammatischen Theorie der Standpunkt, wonach im Satz zwei Typen der syntaktischen Struktur zu unterscheiden sind: die Ober-flächenstruktur (surface structure) und die Tiefenstruktur (deep structure). Eine besonders wichtige Rolle gewann diese Konzeption in der generativen Grammatik, vor allem in den Arbeiten N. Chomskys** und seiner Nachfolger. Chomsky selbst definiert die Tiefenstruktur des Satzes als die Struktur, die die semantische Interpretation des Satzes determiniert, während durch die Oberflächenstruktur die phonetische

*Ober die Behandlung der Gegenwarts- und Zukunftsformen als einheitliche Kategorie der „Nichtvergangenheit" siehe Л. С. Барху-даров: „Русско-английские языковые параллели", очерк третий, „Глагол", „Русский язык за рубежом", 1973, № 2, с. 55.

**Vgl. N. Chomsky: Aspects of the Theory of Syntax. Cambridge, Mass., 1965. Eine abweichende Konzeption der Tiefenstruktur (in seiner Terminologie „semantische Struktur") entwickelt W. Chafe: Meaning and Structure of the Language. Chicago, 1970. Die Literatur über Oberflächen- und Tiefenstruktur im allgemeinen ist sehr umfang-reich.

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Interpretation desselben Satzes determiniert wird. Mit anderen Worten ist die Tiefenstruktur des Satzes vor allem die Gesamtheit der in ihm ausgedrückten semantischen oder sinnmäßigen („logischen") Beziehungen, seine Oberflächen-struktur dagegen die konkrete Form, die der Satz in der Re-de, im Kommunikationsprozeß erhält. Dabei kann, und dies ist besonders wichtig (und hat prinzipielle Bedeutung für die Übersetzung), e i n u n d d i e s e l b e T i e f e n-s t r u k t u r i n v e r s c h i e d e n e n O b e r f l ä -c h e n s t r u k t u r e n r e a l i s i e r t w e r d e n (und umgekehrt können sich unter derselben Oberflächenstruktur verschiedene Tiefenstrukturen verbergen). In den Konstruk-tionen: der Student bestand die Prüfung; die Prüfung wurde vom Studenten bestanden; das Bestehen der Prüfung durch den Studenten', der Student, der die Prüfung bestand-, die Prüfung, die vom Studenten bestanden wurde; die vom Studen-ten bestandene Prüfung usw. ist die Oberflächenstruktur ver-schieden, während ihre Tiefenstruktur die gleiche ist im Sinne der Repräsentation identischer logisch-semantischer Beziehungen: „Agens—Handlung—Handlungsobjekt".

An Hand dieses Beispiels gelangt man unschwer zur Schlußfolgerung, daß der Charakter der syntaktischen Bezie-hungen in der Oberflächenstruktur und in der Tiefenstruktur grundsätzlich verschieden ist. In der Oberflächensyntax unterscheidet man Verbindungstypen wie Subordination, Koordination und prädikative Verbindung; bei detaillier-terer Betrachtung lassen sich diese Verbindungstypen wei-ter konkretisieren, so unterscheidet man bei der Subordina-tion die Unterarten Beaktion, Kongruenz und formal unspe-zifizierte Verknüpfung, bei der Koordination wiederum die konjunktioneile und die asyndetische usw. Das maßgeben-de Kriterium für den Nachweis eines bestimmten Typs oder einer Unterart der syntaktischen Verbindung in der Ober-flächenstruktur ist vor allem die formelle Manifestierungs-weise der jeweiligen Verbindung.

Die syntaktischen Tiefenbeziehungen hingegen sind nicht durch ihre Äußerungsformen gekennzeichnet, sondern durch ihre Semantik, durch ihre inhaltlichen Charakteristika. Es ist anzunehmen, daß diese Beziehungen in allen Sprachen identisch sind, wenngleich ihre formelle Manifestierung in der Oberflächenstruktur des Satzes von Sprache zu Sprache verschieden ist. Zu den syntaktischen Tiefenbeziehungen gehören u. E. die Beziehungen „Agens—Handlung" (der

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Student liest); „Handlung—Handlungsobjekt" (der Student liest ein Buch)-, „Handlung—Handlungsadressat" (der Student gab das Buch dem Bruder)-, „determinative" Beziehung im weitesten Sinne des Wortes, d. h. Verbindung der „Substanz" und ihres Merkmals (der Student ist klug, der kluge Student, laut sprechen, lautes Gespräch usw.) u. dgl. m. Innerhalb dieser Iiaupttypen der syntaktischen Tiefenbeziehungen kann man ebenfalls bestimmte Untertypen ausgliedern, z. B. innerhalb der „determinativen" Beziehung die tempo-rale, die lokale, die kausal-konsekutive usw.

Wir möchten noch einmal daran erinnern, das derselbe Typ syntaktischer Tiefenbeziehungen sich in verschiedenen Oberflächenstrukturen manifestieren kann. Die englischen Sätze John gave Mary a book, A book was given Mary by John und Mary was given a book by John besitzen eine ver-schiedene Oberflächenstruktur, aber die in ihnen ausgedrück-ten syntaktischen Tiefenbeziehungen sind die gleichen: „Handlung—Agens—Handlungsobjekt—Handlungsadressat". Genauso haben die russischen Sätze Студент, сдавший экзамен, ушёл und Студент, который сдал экзамен, ушёл eine gleiche Tiefenstruktur bei unterschiedlicher Oberflä-chenstruktur. Dasselbe gilt auch für die folgenden deutschen Sätze: Daß er sich verspätete, hat mich empört und Seine Ver-spätung hat mich empört (diese Erscheinung ist in der tradi-tionellen Grammatik als „syntaktische Synonymie" bekannt).

Aus der angegebenen Definition der syntaktischen Tiefen-beziehungen geht hervor, daß in ihnen r e f e r e n t i e l l e Bedeutungen zum Ausdruck gelangen; sie spiegeln die Zu-sammenhänge wider, die in der geschilderten Situation objek-tiv vorhanden sind. Daraus folgt, daß im Ubersetzungspro-zeß die syntaktischen Tiefenbeziehungen unverändert blei-ben müssen. Was die Oberflächenstruktur des Satzes anbe-trifft, so haben wir gesehen, daß selbst innerhalb einer Spra-che die Tiefenstruktur in mehreren verschiedenen („syno-nymischen") Oberflächenstrukturen ausgedrückt werden kann. Umsomehr gilt das für verschiedene Sprachen, bei denen die Oberflächenstruktur von Sätzen mit gleicher Tie-fenstruktur häufig recht verschieden ist. Daraus folgt, daß es keinerlei Notwendigkeit (und häufig auch keine Möglich-keit) gibt, die Oberflächenstruktur des Satzes bei der Über-setzung unverändert zu erhalten. \

Diese These möchten wir zunächst an einem einzigen Beispiel veranschaulichen:

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He had never had his Uncle Swithin's taste in pre-cious stones, and the abandonment by Irene when she left his house in 1889 of all (he glittering things he had given her had disgusted bim with this form of invest-ment. (J. Galsworthy, In Chancery, I I , X I ) Он никогда не страдал пристрастием своего дяди Суи-зина к драгоценным камням, и когда Ирен в 1889 году, нокинув его, оставила все безделушки, которые он ей подарил, это навсегда отбило у него охоту к такого рода помещению денег, (пер. М. Богословской)

Wie wir sehen, wird die englische Nominalgruppe the abandonment by Irene of all the glittering things im Rus-sischen durch einen Nebensatz wiedergegeben: Ирен оставила все безделушки; der Nebensatz when she left his house wird hingegen durch die Gerundivgruppe покинув его übersetzt. (Auch der Attributivnebensatz he had given her ließe sich durch die Partizipialgruppe подаренные им übersetzen, ohne daß dadurch der Übersetzungsäquivalenz Abbruch getan wäre.) Wenn ungeachtet all dieser syntaktisch-mor-phologischen Transformationen die Bedeutung des englischen und des russischen Satzes trotzdem identisch bleibt (und die Übersetzung folglich dem Original vollkommen äquivalent ist), so ist dies nur möglich, weil die in ihnen zum Ausdruck gelangenden syntaktischen Tiefenbeziehungen („Handlung— Agens—Handlungsobjekt" usw.) die gleichen bleiben. Mit anderen Worten, im Ubersetzungsprozeß wird nur die Ober-flächenstruktur des Satzes von Veränderungen betroffen, die Tiefenstruktur aber bleibt unverändert. Diese Erscheinung ist kein Einzelfall, daß muß besonders betont werden. Wie wir noch sehen werden, besitzen solche „oberflächen-syntaktische Transformationen" in der Übersetzung den Charakter einer echten Gesetzmäßigkeit.

Aus dem Gesagten folgt nicht etwa, daß die Oberflä-chenstruktur überhaupt keine für die Ubersetzung wesent-liche Information in sich trägt. Verschiedene Oberflächen-manifestationen ein und derselben Tiefenstruktur, die sich in ihrer referentiellen Bedeutung nicht unterscheiden, ver-halten sich in vielen Fällen verschieden in bezug auf die in ihnen ausgedrückten pragmatischen Bedeutungen — die stilistische Charakteristik (die passive Satzkonstruktion z. B. ist im schriftsprachlichen Stil stärker verbreitet als im umgangssprachlichen), das Register (elliptische Konstruk-

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tionen sind für das familiäre und ungezwungene Register typischer als für das neutrale und besonders das formelle) — oder in bezug auf die „kommunikative Gliederung", was für die Übersetzung besonders relevant ist und nachstehend noch behandelt werden soll.

Eingehender wird die Umgestaltung der Oberflächenstruk-tur des Satzes beim Übersetzen in Kapitel 5 erörtert, das den sogenannten Ubersetzungstransformationen gewidmet ist.

8. Der Kontext und die Situation in der Übersetzung

§ 40. In der bisherigen Darlegung verwiesen wir wieder-holt auf den Begriff des Kontextes. Wir stellten fest, daß die Wahl des jeweiligen Äquivalents weitgehend vom Kon-text bestimmt ist, in dem die betreffende sprachliche Ein-heit gebraucht wird, in diesem Abschnitt soll eine Defini-tion des Kontextes gegeben und der Versuch unternommen werden, die maßgeblichen Kontexttypen festzustellen, die für die Charakterisierung des Übersetzungsprozesses von Belang sind.

Unter K o n t e x t versteht man gewöhnlich d i e s p r a c h l i c h e U m g e b u n g , i n d e r d i e j e w e i -l i g e l i n g u i s t i s c h e E i n h e i t v e r w e n d e t w i r d . Der Kontext eines Wortes ist somit die Gesamtheit der Wörter, grammatischen Formen und Konstruktionen, in deren Umgebung das betreffende Wort auftritt. Es sei hier noch einmal betont, daß das Wort bei weitem nicht die einzige sprachliche Einheit ist: Andere Einheiten der Sprache (und der Rede) wie Phoneme, Morpheme, Wortgruppen und Sätze treten ebenfalls nicht isoliert auf, sondern in einer bestimmten sprachlichen Umgebung, so daß man Grund genug hat, vom Kontext des Phonems, vom Kontext des Morphems, vom Kontext der Wortgruppe und selbst vom Kontext des Satzes zu sprechen (im letzten Falle handelt es sich um die Gesamtheit der anderen Sätze, in deren Umge-bung der betreffende Satz auftritt). Der einfacheren Darle-gung wegen werden wir im weiteren (wie es bisher bei der Erörterung anderer Fragen geschah) nur mit Beispielen auf der Wortebene operieren.

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Der allgemeine Begriff „Kontext" umspannt den engeren Kontext („Mikrokontext") und den weiteren Kontext („Makro-kontext"). Unter engerem Kontext ist der S a t z k o n -t e x t zu verstehen, d. h. die linguistischen Einheiten, die die Umgebung der betreffenden Einheit innerhalb des Sat-zes bilden. Unter dem weiteren Kontext versteht man die sprachliche Umgebung der betreffenden Einheit außerhalb des Satzrahmens: den T e x t k o n t e x t , d . h . die Gesamt-heit der die betreffende Einheit umgebenden sprachlichen Einheiten, die außerhalb des sie umfassenden Satzes liegen, also in den a n g r e n z e n d e n Sätzen^ Die Grenzen des weiteren Kontextes lassen sich nicht mit Genauigkeit angeben, es kann der Kontext einer Gruppe von Sätzen sein, der Kontext eines Absatzes, eines Kapitels oder auch eines literarischen Werkes (einer Kurzgeschichte oder eines R o -mans), das als Ganzes betrachtet wird.

Der engere Kontext umfaßt seinerseits den syntaktischen Kontext und den lexikalischen Kontext. (In bezug auf das Phonem oder Morphem kann man auch einen phonologischen und morphologischen Kontext feststellen, aber diese Arten des Kontextes sollen hier nicht behandelt werden.) Der syntaktische Kontext ist diejenige syntaktische Kon-struktion, in der das betreffende Wort , die Wortgruppe oder der (unselbständige) Satz auftritt. Der lexikalische Kon-text ist die Gesamtheit der konkreten lexikalischen Ein-heiten (Wörter und stehende Wortverbindungen), in deren Umgebung die betreffende Einheit erscheint.

Eine maßgebliche Rolle spielt der Kontext bei der A u f -h e b u n g d e r V i e l d e u t i g k e i t der linguisti-schen Einheiten. Abgesehen von Fällen der beabsichtigten oder zufälligen (unbeabsichtigten) Mehrdeutigkeit, dient der Kontext als Mittel, das bei einer vieldeutigen Einheit alle Bedeutungen bis auf eine „aufhebt". Somit verleiht der Kontext der sprachlichen Einheit die erforderliche Ein-deutigkeit und ermöglicht dadurch die Wahl eines einzigen unter mehreren potentiellen Äquivalenten der betreffenden Einheit in der Zielsprache. Selbstverständlich erschöpft sich die Rolle des Kontexts nicht allein in der Aufhebung der Vieldeutigkeit der Wörter und anderer sprachlichen Ein-heiten, jedoch ist dies die wichtigste seiner Funktionen.

Bei der Übersetzung genügt u. U. zur Aufhebung der Viel-deutigkeit und begründeten Wahl des Äquivalents die Berücksichtigung des s y n t a k t i s c h e n Kontextes

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einer Einheit und speziell eines Wortes. Das Verb burn kann z. B. ins Deutsche mit brennen und mit verbrennen übersetzt werden, die Wahl des Äquivalents beruht ausschließ-lich auf dem syntaktischen Kontext, in dem das englische Wort auftritt. In einer intransitiven Konstruktion (ohne direktes Objekt) übersetzt man burn mit brennen, in einer transitiven Konstruktion (mit direktem Objekt oder in der Passivform) übersetzt man das gleiche Wort mit verbrennen. Vgl.: The candle burns — Die Kerze brennt; dagegen: He burned the papers — Er verbrannte die Papiere. Im Englischen ist dieser Fall weit verbreitet, vgl. auch sink — sinken (intrans.), versenken (trans.); drive — fahren (intrans.), treiben, führen (trans.) usw.

Häufiger wird jedoch die Wahl des Äquivalents allein auf Grund des l e x i k a l i s c h e n Kontextes einer Einheit entschieden, deren Eindeutigkeit dabei an Hand einer bestimmten lexikalischen Umgebung hergestellt wird. Das englische look bedeutet in Verbindung mit dem Adjek-tiv angry — Blick, mit dem Adjektiv European dagegen Aussehen (z. B. The town has a European look). Das engli-sche way bedeutet in Verbindung mit der Gruppe to the town soviel wie Weg, aber mit der Gruppe of doing it ent-spricht es den deutschen Wörtern Art, Verfahren — usw. Man kann eine praktisch unbegrenzte Anzahl derartiger Beispiele anführen. Die Rolle des engeren lexikalischen Kontextes bei der Auswahl des Ubersetzungsäquivanlents läßt sich anschaulich an folgenden englischen Sätzen darstel-len, die das vieldeutige Wort attitude enthalten:

He has a friendly attitude towards all. Er verhält sich allen gegenüber freundlich. There is no sign of any change in the attitudes of the two sides. In den Positionen beider Seiten ist keine Änderung fest-zustellen. He stood there in a threateing attitude. Er stand in drohender Haltung da. He is known for his progressive attitudes. Er ist für seine progressive Einstellung bekannt.

Die Zahl derartiger Beispiele ließe sich unschwer ver-mehren.

Manchmal genügt aber der engere Kontext nicht, um die Bedeutung des Ausgangswortes zu präzisieren und ein ein-

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deutiges Übersetzungsäquivalent zu finden. In solchen Fällen muß man sich auf die Anhaltspunkte stützen, die der weite-re Kontext bietet. Als Beispiel können wir hier folgenden Satz aus der Erzählung von J. Salinger „The Catcher in the Rye" anführen:

Then I got this book I was reading and sat down in my chair. (Ch. 3)

Dem englischen chair entspricht im Deutschen sowohl Stuhl als auch Sessel. Dieser Satz aber liefert dem Uberset-zer keinerlei Anhaltspunkte für die Wahl des deutschen Äqui-valents, so daß ein Rückgriff auf den weiteren Kontext notwendig wird.

Zwei Sätze weiter lesen wir im gleichen Absatz:

The arms were in sad shape, because everybody was al-ways sitting on them, but they were pretty comfortable chairs.

Die Erwähnung von arms ist der Schlüssel zur richtigen Übersetzung: Dann nahm, ich das Buch, das ich las, und setzte mich in einen Sessel.

In diesem Beispiel (wie auch in anderen angeführten Beispielen) geht es um die Bestimmung und Wiedergabe der referentiellen Bedeutungen der sprachlichen Einheiten. Wenn es aber auf die Wiedergabe pragmatischer Bedeutun-gen ankommt, gehört die entscheidende Rol le bei ihrer Feststellung und bei der Wahl der Wiedergabemittel gerade dem weiteren Kontext. Dies gilt nicht nur für die stilisti-sche Charakteristik, das Register und die emotionelle Fär-bung des Textes, sondern in noch stärkerem Maße auch für die „kommunikative Gliederung" des Satzes, die entschei-dend von Faktoren des weiteren Kontexts mitgeprägt wird (z. B. durch die Erwähnung eines Elements des betreffenden Satzes in vorangehenden Sätzen). Es sei noch einmal daran erinnert, daß das Objekt der Ubersetzung nicht isolierte Spracheinheiten sind, sondern d e r T e x t a l s G a n -z e s in seiner Eigenschaft als einheitliches Redeprodukt. Deshalb darf die Rolle des weiteren Kontextes bei der Uber-setzung keinesfalls unterschätzt werden.

§ 41. Es kommt aber auch vor, daß selbst der weiteste Kontext keinen Hinweis darauf enthält, in welcher von

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ihren Bedeutungen eine polyseme Einheit im betreffenden Falle verwendet und welches Äquivalent in der Ubersetzung zu gebrauchen ist. In solchen Fällen muß die erforderliche Information außerhalb des sprachlichen Kontextes durch Befragung der extralinguistischen Situation* ermittelt wer-den. Unter „Situation" versteht man erstens die Verkehrs-situation, d. h. die Umstände, unter denen der Kommunika-tionsakt stattfindet; zweitens den Mitteilungsgegenstand, d. h. die Gesamtheit der Umstände oder Tatsachen, die im Text dargestellt werden; und drittens die Kommunikations-teilnehmer, d. h. den Sprechenden (Schreibenden) und den Hörenden (Lesenden).

Von der Rolle dieser drei extralinguistischen Faktoren für das Verstehen des Redeprodukts durch die Teilnehmer des Kommunikationsprozesses war bereits die Rede (siehe § 7, Kapitel 1). Hier sei aber besonders betont, daß die Berücksichtigung dieser Faktoren häufig die notwendige Voraussetzung für die richtige Wahl des Äquivalents der jeweiligen ausgangssprachlichen Einheit in der Zielsprache ist. Ein aufschlußreiches Beispiel dafür gibt J. I. Rezker in seinem Buch „Теория перевода и переводческая прак-тика" (S. 32).

In einem Zeitungsartikel wurde der Parlamentsabgeord-nete S. Silverman als „the oldest abolitionist in the House of Commons" charakterisiert. Das englische Wort abolitio-nist hat zwei Bedeutungen: 1. Verfechter der Aufhebung, Abschaffung (eines Gesetzes u. dgl.); 2. Abolitionist, Anhän-ger des Abolitionismus (der Abschaffung der Sklaverei in den USA im 19. Jh.). Die zweite Bedeutung (Anhänger der Negerbefreiung) scheidet hier offensichtlich aus. Auf Grund der ersten Bedeutung wird S. Silverman folglich als Ver-fechter der Abschaffung von irgend etwas charakterisiert, als Gegner eines Gesetzes oder einer Institution. Offen bleibt die Frage, w e l c h e n Gesetzes oder w e l c h e r Insti-tution. Da der Text keinerlei Hinweise darauf enthält, ist eine richtige Ubersetzung nur auf Grund der Kenntnis

*Manchmal spricht man in solchen Fällen vom „außersprachlichen (extralinguistischen) Kontext" (nach J. Firth). Wir ziehen es vor, den Ausdruck „Kontext" nur als Bezeichnung der s p r a c h l i c h e n Umgebung einer linguistischen Einheit zu benutzen, und behalten uns für die extralinguistischen Faktoren den Ausdruck „Situation" vor,

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des politischen G e s c h e h e n s in Großbritannien im Jahre 1963 (zur Zeit, als dieser Artikel geschrieben wurde) möglich. Damals wurde im Parlament und in der Öffent-lichkeit lebhaft über die Abschaffung der Todesstrafe dis-kutiert. Folglich ist hier abolitionist als „Verfechter der Abschaffung der Todesstrafe" oder „Gegner der Todesstrafe" zu übersetzen. Wenn im Artikel von den Vereinigten Staaten in den 20er und frühen 30er Jahren unseres Jahr-hunderts die Rede wäre, dann müßte abolitionist als „Prohibitionsgegner" übersetzt werden. Dieses Beispiel ist ein überzeugendes Argument für die Bedeutsamkeit der extralinguistischen Faktoren bei der Ubersetzung, worauf wir schon früher aufmerksam machten (vgl. das Beispiel joining Europe in § 33). N® Im Ubersetzungsprozeß ist somit die „Aufhebung" der Vieldeutigkeit sprachlicher Einheiten und die Auswahl des Ubersetzungsäquivalents durch mehrere Faktoren bedingt: den engeren Kontext , den weiteren Kontext und die extra-linguistische Situation. Ohne Berücksichtigung aller dieser Faktoren und ihrer Wechselwirkung ist das Verstehen eines Redeprodukts und damit auch seine Ubersetzung unmög-lich. Deshalb müssen, wie bereits festgestellt, folgende Dis-ziplinen als linguistisches Fundament der Ubersetzungs-theorie dienen: erstens die Textlinguistik und zweitens die makrolinguistische Beschreibung der Sprache unter Berück-sichtigung des Funktionierens des Sprachsystems in seiner Wechselwirkung mit den extralinguistischen Phänomenen, die den Gegenstand, die Struktur und die Existenzbedin-gungen des Redeprodukts als Ubersetzungsobjekt determi-nieren. . ^

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VIERTES KAPITEL DAS PROBLEM DER ÜBERSETZUNGSEINHEITEN

§ 42. In Kapitel 1 definierten wir die Übersetzung als Prozeß der Umwandlung eines Redeprodukts (eines Texts) in einer Sprache in ein Redeprodukt in einer anderen Spra-che unter unveränderter Bewahrung des Inhalts. Das bedeu-tet, daß bei der Übersetzung ein Austausch der Einheiten der Ausdrucksebene, d. h. der Spracheinheiten, erfolgt, die Inhaltsebene aber, d. h. die im Text enthaltene Informa-tion, unverändert (genauer: relativ unverändert) bleibt. Daraus ergibt sich für den praktischen Übersetzer beim Übersetzen und für den Ubersetzungstheoretiker beim Mo-dellieren dieses Prozesses die überaus wichtige Aufgabe, die m i n i m a l e z u ü b e r s e t z e n d e E i n h e i t i_m Ausgangstext festzustellen, die man gewöhnlich als Übersetzungseinheit (unit of translation) bezeichnet.*

Das Problem der Übersetzungseinheit ist eines der schwie-rigsten in der Ubersetzungstheorie überhaupt; es gibt dazu die verschiedensten Ansichten, einschließlich der Ablehnung der Möglichkeit des Bestehens einer solchen Einheit. Es ist auch nicht klar, an welche Kriterien man sich bei der Bestimmung der Ubersetzungseinheit halten soll und wovon man ausgehen muß — von den Einheiten der Zielsprache oder von den Einheiten der Ausgangssprache, von den Ele-

*S. Roganowa nennt diese Einheit „Translem", siehe 3. E. Розано-ва: Перевод с русского языка на немецкий. М., „Высшая школа" 1971. Der Ausdruck „Übersetzungseinheit" ist jedoch nicht wörtlich zu nehmen; es wäre vielleicht richtiger, von einer „Einheit der Über-setzungsäquivalenz" (der AS-Einheit, die ein Äquivalent im Uberset-zungstext erhält) zu sprechen.

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menten der sprachlichen Form (Struktur) oder von den Elementen des Inhalts („Sinneinheiten") usw. Eine Uber-sicht über die verschiedenen Ansichten zu dieser Frage ist in der bereits erwähnten Arbeit von W. N. Komissarow* zu finden; hier wollen wir uns jedoch auf die Darlegung un-seres eigenen Standpunkts beschränken.

Unter Übersetzungseinheit verstehen wir eine Einheit im Ausgangstext, für die eine Entsprechung im Übersetzungs-text gefunden werden kann, deren Bestandteile aber keine eigenen Entsprechungen im Ubersetzungstext besitzen. Mit anderen Worten: Die Übersetzungseinheit ist die k l e i n s t e (minimale) sprachliche Einheit im AS-Text, | die eine Entsprechung im ZS-Text hat; wie wir weiter sehen werden, kann diese Einheit eine komplexe Struktur aufweisen, d. h. aus noch kleineren Einheiten der Ausgangssprache bestehen. Diese Teile aber sind, jeder für sich genommen, „unübersetzbar", im Text der Übersetzung läßt sich keine Entsprechung für sie nachweisen, selbst wenn sie innerhalb der Ausgangssprache ihre eigene, relativ selbständige Bedeu-tung besitzen.

In der Sprachwissenschaft ist es üblich, das Morphem als kleinste bedeutungstragende Einheit zu betrachten. So ist es auch, wenngleich aus der weiteren Darlegung eindeu-tig hervorgeht, daß das Morphem äußerst selten als Über-setzungseinheit auftritt. Das liegt erstens daran, daß in sehr vielen Fällen nicht das Morphem, sondern die sprachliche Einheit einer höheren Ebene — das Wort , die Wortgruppe oder selbst der Satz — Träger einer einheit-lichen, nicht zerlegbaren Bedeutung ist; zweitens kommt es häufig vor, daß selbst im Falle der semantischen Zerleg-barkeit dieser höheren sprachlichen Einheiten (des Wortes, der Wortgruppe, des Satzes), wenn ihre Bestandteile (ein-schließlich der Morpheme) eine relativ selbständige Be-deutung haben, in der Zielsprache ihnen eine ungegliederte Einheit entspricht, innerhalb welcher keine Entsprechungen mehr für die betreffenden Bestandteile der Einheit des AS-Textes nachgewiesen werden können. In derartigen Fäl-len ist es wiederum nicht das Morphem, das als Ubersetzungs-einheit fungiert (und häufig nicht einmal das Wort oder die Wortgruppe), sondern die „höhere" ZS-Einheit als Ganzes.

*B. H. Комиссаров: Слово о переводе, с, 185—190,

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Strenggenommen kann die Einheit einer beliebigen spachliche» Ebene Übersetzungseinheit sein. Deshalb ist zunächst zu klären, welche Ebenen der sprachlichen Einhei-ten sich überhaupt in der Struktur der Sprache feststellen lassen.

In der modernen Sprachwissenschaft unterscheidet man gewöhnlich folgende Ebenen der sprachlichen Hierarchie:

— die Ebene der Phoneme (bzw. der Grapheme in der ge-schriebenen Sprache);

— die Ebene der Morpheme; — die Ebene der Wörter; — die Ebene der Wortgruppen; — die Ebene der Sätze; — die Ebene des Texts*. Je nachdem, zu welcher Ebene die jeweilige Überset-

zungseinheit (d. h. die minimale AS-Einheit, für die eine Entsprechung im ZS-Text nachgewiesen werden kann) ge-hört, unterscheiden wir die verschiedenen Übersetzungsebe-nen: Übersetzung** auf der Ebene der Phoneme (Grapheme), auf der Ebene der Morpheme, auf der Ebene der Wörter, auf der Ebene der Wortgruppen, auf der Ebene der Sätze und auf der Ebene des Textes. Betrachten wir nun diese Fälle der Übersetzung auf verschiedenen Ebenen der sprach-lichen Hierarchie etwas näher.

§ 43. Die Übersetzung auf der Ebene der Phoneme (Gra-pheme). Das Phonem (dem in der Schrift das Graphem oder das Buchstabensymbol entspricht) ist bekanntlich nicht Träger einer selbständigen Bedeutung, es spielt aber in der Sprache eine bedeutungsunterscheidende Rolle. In der Ubersetzungspraxis kommt es trotzdem vor, daß eben die Phoneme (bzw. Grapheme) als Ubersetzungseinheit auftre-ten, d. h. die ausgangssprachlichen Phoneme werden durch ihnen artikulatorisch und akustisch nahestehende Phoneme

*Die Zuordnung des Textes zu den Einheiten der Sprache ist umstritten. Die Übersetzung hat es aber, wie wir wissen, nicht mit der Sprache als System, sondern mit der Rede, mit konkreten Re-deprodukten oder Texten zu tun. Deshalb erscheint für die Uberset-zungstheorie die Festlegung der Ebene des Textes gerechtfertigt und zweckmäßig.

**Richtiger wäre es hier nicht von der Übersetzung, sondern von „Übersetzungsäquivalenten" zu sprechen.

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der Zielsprache repräsentiert (sinngemäß gilt dasselbe auch für die Grapheme der Ausgangssprache, die durch ähnliche Laute symbolisierende zielsprachliche Grapheme ersetzt werden). Um den englischen Namen Heath [hi :8 ] in der russischen Sprache wiederzugeben, muß für jedes Phonem des englischen Wortes ein artikulatorisch am nächsten stehendes Phonem der russischen Sprache gefunden werden: für [h] setzt man das russische Phonem [x'l , für [i:] den Vokal [и] und für den Reibelaut [0] den Verschlußlaut [t]. Somit wird der englische Name Heath im russischen als Xum wiedergegeben. Für jedes Phonem der englischen Sprache ist eine Entsprechung im Phonembestand der rus-sischen Sprache gefunden worden, so daß als Ubersetzungs-einheit hier das Phonem fungiert. Die verschiedenen Schrift-systeme des Englischen und des Russischen machen diese Übersetzung zugleich zu einer Übersetzung von Graphemen, allerdings mit der Einschränkung, daß hier im Englischen nicht nur Einzelbuchstaben, sondern auch für einen einheit-lichen Laut stehende Buchstabengruppen als Ubersetzungs-einheiten auftreten (nämlich ea für [i:] und th für [9]). Bei der Übersetzung aus dem Englischen oder Französi-schen ins Deutsche erfolgt nur eine Übertragung von Phone-men (Eindeutschung der Aussprache) ohne Einbeziehung der Graphemebene. \

Eine Übersetzung, bei der die Entsprechungen zwischen den Einheiten der Ausgangssprache und der Zielsprache auf der Ebene der Phoneme hergestellt werden, nennt man Übersetzungstranskription (oder praktische Transkription bzw. lautbezogene Umschrift).

Wenn die Entsprechungen auf der Ebene der Grapheme hergestellt werden, d. h. bei unterschiedlichen Schriftsyste-men nicht das Lautbild, sondern das Schriftbild des ausgangs-sprachlichen Wortes wiedergegeben wird, dann haben wir es mit der Übersetzungstransliteration* (oder buchstaben-bezogener Umschrift) zu tun. Wenn wir den englischen Namen Lincoln im Russischen mit Линкольн wiedergeben, so ersetzen wir die englischen Grapheme durch russische, wir transliterieren dieses Wort (in der Übersetzungstrans-

*Der Zusatz „Übersetzungs-" vor den Bezeichnungen „Transkrip-tion" und „Transliteration" ist notwendig, um diese Verfahren von den gleichnamigen Methoden der sprachwissenschaftlichen Unter-suchung zu unterscheiden.

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kription müßte dieses Wort wie Линкен geschrieben werden, da das englische Wort wie [lüjkan] lautet. Die russische Schreibung Панксв für den Berliner Stadtteil Pankow [pa-i)ko:] ist auch eine Transliteration.

In der Praxis werden Transkription und Transliteration kaum streng abgegrenzt, meistens kommt es zu einer Vermen-gung beider Verfahren. Die übliche russische Schreibung des englischen Namen Newton wie Ньютон ist eine Mischung aus Transkription und Transliteration: die konsequente Transkription wäre Нъютен, und die konsequente Transli-teration Невтон (so wurde dieser Name auch in der russischen Sprache des 18. Jh. wiedergegeben). Einen ähnlichen Fall haben wir in der russischen Schreibung Шпрее für Spree (der Anfangskonsonant ist transkribiert, der Endvokal t ransfer ier t ) .

Die Ubersetzung auf Phonemebene (bzw. Graphemebene) unterscheidet sich grundsätzlich von allen anderen Arten der Übersetzung dadurch, daß die Phoneme (bzw. Grapheme), wie bereits nachgewiesen, an und für sich keine Träger von irgendwelchen Bedeutungen' sind. Deshalb kann diese Art der Übersetzung selbstverständlich nur in sehr engen Gren-zen zur Anwendung kommen. Mehr oder weniger regelmäßig wird sie nur bei der Wiedergabe von Personennamen und geographischen Benennungen verwendet, z. B. deutsch Goethe — russisch Гёте, englisch Churchill — russisch Чер-чиль, deutsch Treptow — russisch Tpenmoe, russisch Набе-режные Челны — deutsch Nabereshnyje Tschelny u. dgl. Aber auch hier gibt es Ausnahmen. Den deutschen Namen Ludwig, Otto und den englischen Wil l iam, James entspre-chen normalerweise im Russischen die Transkriptionen Людвиг, Ommo, Вильям (Уильям), Джеймс. Wenn es sich aber um Namen von Königen oder Kaisern handelt, heißt es Людовик, Оттон, Вильгельм, Яков (Людовик XIV, Оттон I, Вильгельм Завоеватель, Яков Стюарт — für Ludwig X I V . , Otto I., Wi l l iam the Conqueror, James Stuart). Die englischen Namen Abraham, Isaac, Moses übersetzt man ins Russische als Абрахам, Айзек, Мозес\ wenn es sich um biblische Gestalten handelt, heißt es im Russischen aber Авраам, Исаак, Моисей. Der große deutsche Dichter des 19. Jahrhunderts Heinrich Heine heißt auf Russisch Генрих Гейне, obwohl ein Zeitgenosse von uns des gleichen Namens Хайнрих Хайне heißen müßte. Somit wird selbst im Bereich der Eigennamen die Transkription und

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Transliteration mit bestimmten Beschränkungen ange-wandt .

Ein anderer Fall der Anwendung desselben Übersetzungs-verfahrens ist die Wiedergabe verschiedener politischer nnd kultureller Realien, z. B. shop Steward — шопстюард, of f ice — оффис, Speaker (im Unterhaus) — спикер oder Ministerialdirektor — министериалъ-директор, Song — зоне, Badusan — бадузан u. a. (Näheres siehe im Abschnitt über die Wiedergabe der sogenannten äquivalentlosen Lexik . )

In Fällen wie Speaker— спикер , dancing — дансинг, lady — леди, Kanzler — канцлер, Bundeswehr — бундес-вер besteht jedenfalls Anlaß genug für Zweifel , ob es sich hier tatsächlich um Übersetzungen auf der Ebene von Pho -nemen handelt. Da die Wörter спикер, дансинг, леди, канц-лер, бундесвер bereits in den Wortbestand der russi-schen Sprache eingegangen sind (d. h. als usuelle Äquiva -lente der betreffenden englischen und deutschen Wörter fungieren), erfolgt hier v o m Ü b e r s e t z e r a u s g e s e h e n die Wahl des Äquivalents auf der Ebene der Wörter : der Übersetzer sucht aus dem russischen Wortschatz Äquivalente für die Einheiten des AS-Textes aus, unbesorgt darum, ob sie die Aussprache (oder Schreibung) des ausgangs-sprachlichen Wortes wiedergeben oder nicht. Nur wenn der Übersetzer genötigt ist, s e l b s t ein „okkasionelles Uber-setzungsäquivalent" zu schaffen und die Transkription an-zuwenden, wenn er für jedes Phonem des AS-Wortes ein zielsprachliches Äquivalent f inden muß, wird das Phonem zur Übersetzungseinheit f ü r i h n . E s ist aber z u beach-ten, daß es erstens zwischen „usuellen" und „okkasionellen" (also zwischen sprachbezogenen und redebezogenen) Äqui -valenten keine deutliche Grenze gibt, und daß wir zweitens den „Übersetzungsprozeß" ausschließlich linguistisch inter-pretieren (vgl. § 1), nämlich als zwischensprachliche Umwandlung oder Transformation eines AS-Textes in einen ZS-Text , unabhängig von der psycholinguistischen Seite dieses Prozesses, d. h. von der eigentlichen Tätigkeit des Übersetzers selbst. Deshalb sieht die l i n g u i s t i s c h e U b e r s e t z u n g s t h e o r i e in Fällen wie Speaker — спикер, Kanzler — канцлер direkte Beziehungen zwischen den Einheiten der Ausgangssprache und denen der Z ie l -sprache auf der Ebene von Phonemen vor , da jedem Phonem der Ausgangsform ein Phonem der Übersetzung zugeordnet

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werden kann, was auf Grund unserer Definition der Über-setzungseinheit hier eben das Phonem als eine solche Ein-heit erscheinen läßt. Daß dabei für den Ubersetzer die Äquivalenz faktisch auf der Ebene der Wörter hergestellt wird, ändert nichts am Wesen dieser Beziehung. Dasselbe gilt für gleichartige Fälle auf anderen Ebenen der sprach-lichen Hierarchie wie backbenclier задпескамеечник, Freie Deutsche Jugend Свободная Немецкая Молодежь, die wir als Übersetzung auf der Ebene von Morphemen bzw. Wörtern auffassen, wenngleich für den Ubersetzer, wenn er fertige Äquivalente verwendet, im ersten Falle das Wort die Übersetzungseinheit ist und im zweiten die Wort -gruppe. Es ist für den Übersetzer allerdings nicht gleich-gültig, w i e er die Einheiten des Ausgangstextes über-setzt — auf Grund der ihm zur Verfügung stehenden fertigen sprachlichen Äquivalente oder durch neue ad-hoc-Bild ungen für jeden konkreten Fall; für die nachfolgende Beurteilung des Charakters der Übersetzungsäquivalenz ist das jedoch unwesentlich.

§ 44. Die Übersetzung auf der [Ebene der Morpheme. In einigen Fällen ist es das Morphem, das als Überset-zungseinheit fungiert: jedem Morphem des AS-Wortes entspricht dabei ein bestimmtes Morphem im äquivalenten ZS-Wort. Solche morphembezogene Entsprechungen lassen sich z. B. für das Wortpaar deutsch Tische — russisch столы feststellen, wo dem Stamm des Ausgangsworte Tisch der Stamm des Übersetzungswortes стол und dem Pluralmorphem -e das Morphem -ы entspricht (das russische -ы ist allerdings zugleich Plural- und Kasusflexion, was für das deutsche -e nur zum Teil gilt, aber das Prinzip der morphemweisen Entsprechung bleibt davon im Grunde unberührt). Die gleiche morphembezogene Äquivalenz sehen wir bei der Übersetzung des englischen Wortes backben-clier ins Deutsche (Hinterbänkler) und ins Russische (задпе-скамеечник):

back- -bench- -er Hinter- -bänk- -1er задне- -скамееч- -ник

Derartige Fälle kann man als Ubersetzung auf der Ebene der Morpheme betrachten. Eine solche Übersetzung kommt

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noch viel seltener vor, als die Übersetzung auf der Ebene der Phoneme oder Grapheme: die morphologische Struktur semantisch äquivalenter Wörter stimmt] meistens in ver-schiedenen Sprachen nicht überein, besonders was die gram-matischen Morpheme (der Wortveränderung und W o r t -bildung) betrifft, deren Bestand in verschiedenen Sprachen recht unterschiedlich ist.

§ 45. Die Übersetzung auf der Ebene der Wörter. Am häufigsten fungiert das Wort als Übersetzungseinheit. Hier bringen wir einige Beispiele der Übersetzung auf der W o r t -ebene aus dem Bussischen und Englischen ins Deutsche:

Он пришел назад He came back Er kam zurück

Мой брат живёт в Москве Му brother lives in Moscow Mein Bruder lebt in Moskau

Кто сказал вам это? W h o told you that? Wer sagte Ihnen das?

In diesen Beispielen und anderen gleichartigen Fällen bestehen Entsprechungen auf der Ebene der Wörter. Als Übersetzungseinheiten treten hier eindeutig Wörter auf, während Morpheme (oder gar Phoneme) im allgemeinen nicht mehr mit irgendwelchen Äquivalenten zu identifi-zieren sind (vgl. z. B. russisch при-шёл — deutsch kam; englisch back — deutsch zu-rück).

Wenn wir von Übersetzungseinheiten sprechen, meinen wir damit Einheiten der Ausgangssprache. Deshalb be-trachten wir es auch als eine Übersetzung auf der Ebene der Wörter, wenn einem Wort der Ausgangssprache mehrere Wörter (oder eine Wortgruppe) der Zielsprache entsprechen. Vgl . z. B.

. . .Jane and her mother were sort of snubbing her. (J. Salinger, The Catcher in the Rye, 11.)

...Jane und ihre Mutter behandeln sie irgendwie von oben herab.

. . .Джейн и её мать относятся к ней свысока.

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Dem englischen Verb snub entsprechen im deutschen and im russischen Text ganze Wortgruppen: von oben herab behandeln und относиться свысока. Trotzdem behandeln wir diesen Fall als Übersetzung auf der Ebene der Wörter, da die kleinste Einheit der Ausgangssprache, für die im ZS-Text eine Entsprechung gefunden werden kann, liier das Wort ist. In solchen Fällen (die nicht häufig vorkommen) kann man die Bezeichnung ehenedifferente Entsprechung verwenden, da die AS-Einheit im ZS-Text durch eine Einheit wiedergegeben wird, die zu einer anderen (meist höheren, aber unter Umständen auch tieferen) Ebene gehört. Wenn aber die Übersetzungseinheit der Ausgangssprache und ihr ZS-Äquivalent auf der gleichen Ebene der sprach-lichen Hierarchie liegen, kann man dies als ebenegleiche Entsprechung bezeichnen (z. B. einem AS-Morphem ent-spricht ein ZS-Morpliem, einem AS-Wort ein ZS-Wort usw.).

Die Ubersetzung auf der Ebene der Wörter (die „Wort-für-Wort-Übersetzung") kommt viel häufiger vor als die phonem- oder morphembezogene Übersetzung, aber auch sie ist in ihrem Anwendungsbereich beschränkt. Meistens erhält bei der Übersetzung eines Satzes nur ein Teil der Wörter „wörtliche" Äquivalente, die übrigen Wörter erhal-ten solche Äquivalente nicht, so daß dieser Teil des Satzes auf einer höheren Ebene — auf der Ebene der Wortgrup-pen — übersetzt werden muß. Nur in wenigen Fällen wird der ganze Satz auf der Ebene der Wörter übersetzt, meist sind das äußerst einfache und elementar aufgebaute Sätze wie die oben angeführten. Ein seltenes Beispiel der wört-lichen Übersetzung eines Satzes mit relativ komplizierter Struktur bringen T. R. Lewizkaja und А. M. Fiterman in ihrer Arbeit „Теория и практика перевода с англий-ского языка на русский" (S. 17):

The Soviet proposal is an endeavour to create an atmosphere wliich will lead to further negotiations between the former allies and between the two German Governments.

Советское предложение является попыткой создать атмосферу, которая приведёт к дальнейшим перего-ворам между бывшими союзниками и между обоими германскими правительствами.

Auch hier fehlen im russischen Text in Übereinstimmung mit der grammatischen Struktur dieser Sprache die Äquiva-

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iente für die englischen Artikel; Hilfswörter aber wie die Infinitivpartikel to und das Hilfsverb will werden im russischen Text nicht durch Wörter, sondern durch Mor-pheme (durch die Formen des Infinitivs und des Futurums) wiedergegeben. Bei der Übersetzung von Sätzen mit eini-germaßen komplizierter Struktur machen verschiedene gram-matische und lexikalische Faktoren die Übersetzung auf der Ebene der Wörter meist unmöglich und beschränken somit ihre Anwendung auf ein Minimum.

§ 46. Die Ubersetzung auf der Ebene der Wortgruppen. Das anschaulichste Beispiel für diese Art ist die Überset-zung idiomatischer oder stehender (phraseologischer) Rede-wendungen. Ihre Bedeutung deckt sich bekanntlich nicht mit der Summe der Bedeutungen ihrer Komponenten, also der sie bildenden Wörter, so daß die wörtliche Uberset-zung solcher Wortgruppen meistens unmöglich ist und die Wortgruppe als Ganzes die Eigenschaft einer Ubersetzungs-einheit erhält. Vgl. z. B. deutsch Feuer fangen — russisch загореться; englisch first night — deutsch Erstaufführung, englisch to come to the wrong shop — deutsch an die falsche Adresse geraten-, englisch to spill the beans — deutsch aus der Schule plaudern u. dgl. m. Die wortwörtliche Über-setzung derartiger Bedewendungen ist nur erlaubt, wenn ihre „innere Form" in beiden Partnersprachen aus irgend-einem Grunde gleich ist (vgl. deutsch da liegt der Hund begraben — russisch вот где собака зарыта).

Es wäre aber falsch anzunehmen, daß nur stehende oder phraseologische Verbindungen als Übersetzungseinheit auftreten können. Häufig kommt diese Rolle auch freien Wortverbindungen zu, deren Bedeutung in der Ausgangs-sprache sich restlos aus der Summe der Bedeutungen ihrer Wortglieder ableiten läßt. Vgl. z. B. englisch to come late —deutsch sich verspäten, englisch book parcel — deutsch Drucksache, englisch to get dressed — deutsch sich an-ziehen. Obwohl in diesen Beispielen jedes englische Wort innerhalb der betreffenden Wortgruppe seine lexikalische Grundbedeutung behält, fungiert als Übersetzungseinheit bei der Übertragung ins Deutsche doch die Wortgruppe als Ganzes. Das sehen wir auch an folgenden Beispielen aus der russischen Übersetzung der Erzählung von J. Sa-linger „The Catcher in the Rye".

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I improved her game immensely, though. (11) Но я её здорово натренировал. The one with the glasses made me give hack to her. (15) Та, что в очках, отняла чек у меня. Не always shaved himself twice, to look gorgeous. (4) Он всегда бреется по второму разу, красоту наводит. „He's got this superior attitude all the time", Ackley said. (3) — Он всегда задирает нос— говорит Экли.

In diesen Beispielen fungieren die (fettgedruckten) englischen Wortgruppen als Übersetzungseinheiten, da die zu ihnen gehörenden Wörter, außer den strukturell not-wendigen Pronomen im ersten und zweiten Satz, keine wie immer gearteten Entsprechungen im russischen Text erhalten; die Äquivalenz wird unmittelbar auf der Ebene der Wortgruppe hergestellt.

Die Übersetzung auf der Ebene der Wortgruppen ist in der Praxis weit verbreitet. Wie wir bereits bemerkten, kommt am häufigsten die Art der Übersetzung vor, bei der einige Wörter des Ausgangssatzes wörtlich wiederge-geben werden, so daß dieser Teil des Satzes auf der Ebene der Wörter, der übrige aber auf der Ebene der Wortgruppen übersetzt wird. Das sieht man z. B. an nachstehendem Übersetzungsfall (das Beispiel ist der obengenannten Arbeit von T. R. Lewizkaja und A. M. Fiterman entnommen).

The terrestrial globe is a member of the solar system.

Земной шар входит в солнечную систему.

Der Erdball ist ein Teil des Sonnensystems.

Bei der Übersetzung des englischen Satzes ins Bussi-sche werden folgende Entsprechungen hergestellt: terrest-rial — земной, globe — шар, solar — солнечную system — систему (als Übersetzungseinheiten treten dabei Wörter auf). Die Gruppe is a member wird als geschlossene Einheit auf der Ebene der Wortgruppen behandelt. Bei der Über-setzung ins Deutsche verhält es sich umgekehrt: terrestrial globe und solar system werden als Wortgruppen übersetzt, dagegen is a member Wort für Wort als ist ein Teil.

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§ 47. Die Übersetzung auf der Ebene der Sätze. Es gibt Fälle, da selbst die Wortgruppen nicht mehr als Uber-setzungseinheiten in Frage kommen und die Übersetzungs-äquivalenz erst auf der Ebene des gesamten Satzes her-gestellt werden kann. Das wiederum ist häufig der Fall, wenn die zu übersetzenden Sätze in ihrer Bedeutung idio-matisch sind, d. h. wenn die Bedeutung des Satzes sich nicht mit der Summe der zu ihm gehörenden Wörter und Wortgruppen deckt. Solche Sätze sind u. a. Sprichwörter*, z. B:

Viele Köche verderben den Brei. У семи нянек дитя без глазу. Birds of а feather f lock together. Рыбак рыбака видит издалека. Every dark cloud has a silver lining. Glück im Unglück.

Aus diesen Beispielen geht hervor, daß hier der Satz als Ganzes die eigentliche Übersetzungseinheit ist. Die Bedeutung des ZS-Satzes stimmt mit der des AS-Satzes überein, innerhalb dieser Sätze können jedoch keine Ent-sprechungen zwischen den Wörtern und Wortgruppen festgestellt werden. Auf gleiche Weise übersetzt man mei-stens auch andere Typen von ständigen „Klischees" oder „Formeln": verschiedene Aufschriften, Hinweise, Straßen-schilder, Höflichkeitsfloskeln u. a., z. В. :

Wet paint — Frisch gestrichen Keep off the grass — По газонам не ходить. Many happy returns of the day — Herzliche Glück-wünsche zum Geburtstag. There's a good boy — Вот умница. (Вот паинька.) Ziehen. Drücken — К себе. От себя.

Nachstehend einige weitere Beispiele der Übersetzung auf Satzebene aus der schon früher in diesem Zusammenhang zitierten Erzählung J. Salingers:

* Vgl. и. a. die Kapitel über die Übersetzung von Sprichwörtern bei 10. M. Катцер, А. В. Купит „Письменный перевод с русского языка на английский", М., „Высшая школа", 1964, с. 103—109; 3. Е. Роганова: „Перевод с русского языка на немецкий", М. , „Выс-шая школа", 1971, с. 61—63.

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I have to admit it. (3) Тут ничего не скажешь. (Da ist nichts einzuwenden.) Don ' t even mention them to me. (1) Терпеть не могу. (Die kann ich nicht riechen.) . . .But outside of that I don ' t care much. (5) . . .Но в общем это ерунда. ( . . .Aber sonst geht mich das nichts an.)

Wir müssen beachten, daß die englischen Ausgangssätze nichts besonders Idiomatisches enthalten — ihre Bedeutung entspricht vol lkommen der Summe der Bedeutungen der sie bildenden Wörter; trotzdem wird die Ubersetzung hier auf der Ebene des Satzes vollzogen, der hier als geschlos-sene unteilbare Ubersetzungseinheit behandelt wird.

§ 48. Die Übersetzung auf der Ebene des Textes. Es treten schließlich auch Fälle auf, wo selbst die Sätze nicht mehr als Übersetzungseinheiten dienen können und diese Rolle vom gesamten Text als geschlossenes Ganzes über-nommen wird. Die Übersetzungseinheit ist dann die Gesamt-heit der innerhalb eines Redeabschnitts zusammengefaßten selbständigen Sätze. Bei Prosaübersetzungen dürfte dies eine seltene Ausnahme sein, aber in einer so eigenartigen Übersetzungsgattung wie der d i c h t e r i s c h e n ist dies durchaus normal. Als Beispiel im Bereich der eng-lisch-russischen Übersetzung möge uns hier das 49. Sonett von Shakespeare und seine russische Ubersetzung von S. Marschak dienen.

Against that time, if ever that time come, When I shall see thee frown on my defects, When as thy love hath cast his utmost sum, Call 'd to that audit by advis 'd respects; Against that time when thou shalt strangely pass And scarcely greet me with that sun, thine eye, When love, converted from the thing it was, Shall reasons find of settled gravity — Against that time do I ensconce me here Within the knowledge of mine own desert, And this my hand against myself uprear, To guard the lawful reasons on thy part:

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To leave poor me thou hast the strength of laws, Since wliy to love I can allege no cause.

В тот чёрный день (пусть он минует нас!), Когда увидишь все мои пороки, Когда терпенья истощишь запас И мне объявишь приговор жестокий, Когда со мной сойдясь в толпе людской, Меня едва подаришь взглядом ясным, И я увижу холод и покой В твоём лице, по-прежнему прекрасном, В тот день поможет горю моему Сознание, что я тебя не стою, И руку я в присяге подниму, Всё оправдав своей неправотою.

Меня оставить вправе ты, мой друг, А у меня для счастья нет заслуг.

Zwischen dem Ausgangstext und dem Text der Über-setzung können hier weder auf der Wortebene (bis auf wenige Ausnahmen: defects — пороки, band — руку, lea-ve — оставить) noch auf der Ebene der Wortgruppen oder Sätze Entsprechungen nachgewiesen werden, da kein einziger Satz des russischen Textes, isoliert betrachtet, außerhalb dieses Kontextes als bedeutungsmäßiges Äquiva-lent eines Satzes des englischen Textes gelten kann. Über-setzungseinheit ist hier der zu übersetzende Text als Gan-zes: Obwohl es keine Entsprechungen zwischen den ein-zelnen Bestandteilen gibt, kann das russische Gedicht als ein Äquivalent des englischen angesehen werden, da beide im wesentlichen dieselbe bedeutungsmäßige und. ästhetische Information vermitteln.*

Ein ähnliches Verhältnis zwischen Ausgangstext und Zieltext sehen wir auch in der russischen Ubersetzung des Rilkeschen Gedichtes „Der Lesende" von B. Pasternak (hier beschränken wir uns aus Baumgründen auf die Dar-stellung der ersten zehn Zeilen):

*Wir verzichten hier bewußt auf wertmäßige Urteile über die Qualität der Ubersetzung und ihre Nähe zum Original.

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DER LESENDE

Ich las schon lang. Seit dieser Nachmittag, mit Regen rauschend, an den Fenstern lag. Vom Winde draußen hörte ich nichts mehr: mein Buch war schwer. Ich sah ihm in die Blätter wie in Mienen, die dunkel werden von Nachdenklichkeit, und um mein Lesen staute sich die Zeit .— Auf einmal sind die Seiten überschienen, und statt der bangen Wortverworrenheit steht: Abend, Abend ... überall auf ihnen.

ЗА КНИГОЙ Я зачитался. Я читал давно. С тех пор как дождь пошёл хлестать в окно. Весь с головою в чтение уйдя, Не слышал я дождя. Я вглядывался в строки как в морщины Задумчивости, и часы подряд Стояло время или шло назад. Как вдруг я вижу, краскою карминной в них набрано: закат, закат, закат.

Wir sehen, daß im Grunde genommen Einheiten einer beliebigen sprachlichen Ebene — v o m Phonem bis hin zum Text — zur Ubersetzungseinheit werden können. Es muß betont werden, daß im Zuge der Übersetzung eines Textes die Übersetzungseinheiten meist ständig variieren — bald ist es ein Wort , bald eine Wortgruppe, bald ein ganzer Satz usw. Eine der Grundschwierigkeiten der Ubersetzung besteht gerade in der Fähigkeit, in jedem konkreten Falle die geeignetste Übersetzungseinheit zu finden, die auf einer beliebigen Ebene der sprachlichen Hierarchie liegen kann.

§ 49. Der Begriff der „Übersetzungsebene" kann unseres Erachtens mit den in der Übersetzungstheorie weit ver-breiteten Begriffen der „äquivalenten" (bzw. „adäquaten"), „buchstäblichen" und „freien" Übersetzung in Beziehung gesetzt werden. Genaugenommen lassen sich die Begriffe

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der Ubersetzungsäquivalenz („Adäquatheit") sowie der Buch-stäblichkeit und der Freiheit der Ubersetzung nicht aus-schließlich auf das Problem der Auswahl der optimalen Übersetzungseinheit reduzieren; die richtige Wahl dieser Einheit auf der jeweils erforderlichen Ebene der sprach-lichen Hierarchie hat jedoch eine entscheidende Bedeutung für die qualitative Bewertung der Übersetzung.

a) Eine Ubersetzung, die auf einer Ebene erfolgt, die n o t w e n d i g u n d a u s r e i c h e n d ist, u m den Inhalt unverändert unter Einhaltung der ZS-Normen wieder-zugeben, ist eine äquivalente Übersetzung. Alle bisher angeführten Beispiele von Ubersetzungen auf verschiedenen Ebenen der Sprache waren Beispiele äquivalenter Uber-setzung — die Ubersetzungseinheit war jeweils auf der Ebene gewählt worden, die notwendig und ausreichend war, um die im Originaltext enthaltene Information vol l -ständig wiederzugeben (bis auf die grundsätzlich unver-meidlichen Verluste, die wir an entsprechender Stelle behandelt haben), und zwar unter strikter Bespektierung aller grammatischen, lexikalischen und stilistisch-pragma-tischen Normen der Zielsprache.

b) Eine Ubersetzung, die auf einer t i e f e r e n Ebene erfolgt als auf derjenigen, die für die unveränderte Wieder-gabe des Inhalts unter Einhaltung der ZS-Normen benötigt wird, ist eine buchstäbliche Ubersetzung. Wenn wir im englischen Satz The terrestrial globe is member of the solar system, The terrestrial globe als die irdische Kugel über-setzt hätten, so wäre dies eine buchstäbliche Übersetzung, da für die richtige Wiedergabe des Inhalts dieser Wort -gruppe in Übereinstimmung mit den Normen der deutschen Sprache die Ubersetzung auf der nächsthöheren Ebene, nämlich auf der Ebene der Wortgruppe erforderlich ist (the terrestrial globe — der Erdball). Genauso wäre es eine buchstäbliche Ubersetzung, wenn wir den englischen Satz (die Warnung) wet paint mit feuchte Farbe übersetzen würden, denn dann wäre die Übersetzungsebene gleichfalls zu tief gegriffen. Die adäquate Ubersetzung verlangt eine Äquivalenz auf der Ebene der Sätze: wet paint — Vorsicht, frisch gestrichen.

B u c h s t ä b l i c h e Ü b e r s e t z u n g , darauf sei nachdrücklich verwiesen, i s t u n z u l ä s s i g , weil dabei, wie aus ihrer Definition folgt, entweder die im AS-Text enthaltene Information entstellt wird oder die

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Normen der Zielsprache verletzt werden oder beides zu-gleich geschieht. Deshalb sind Fälle der buchstäblichen Übersetzung, soweit sie in der Praxis vorkommen, als Verfehlungen des Übersetzers zu werten (wie „typisch" und weitverbreitet dieser Fehler auch sein mag). Dafür sollen nachstehend einige Beispiele aus englisch-russischen und deutsch-russischen Ubersetzungen angeführt werden.

Не может быть ничего опаснее, чем нарушение „деликатного баланса сил", на котором держится мир в Европе. (Правда, 27. 11. 1972. Zitat aus der engli-schen Zeitung „Daily telegraph")

Der englische Ausdruck a delicate balance ist hier mit деликатный баланс übersetzt. Die Ubersetzung erfolgte auf der Ebene der Wörter, während hier eine Uberset-zung auf der Ebene der Wortgruppe erforderlich ist: неустойчивое равновесие entspricht inhaltlich der engli-schen Redewendung.

Ein ähnlicher auf Buchstäblichkeit beruhender Fehler ist die weitverbreitete Ubersetzung des englischen cold-blooded murder als хладнокровное убийство. Dies ist eine morphembezogene Ubersetzung: cold — хладно-, -b lood — кров- -ed — -H-; für die richtige Wiedergabe der Bedeu-tung dieses Wortes muß es als Ganzes übersetzt werden: зверское убийство, also auf d e r E b e n e der Wörter und nicht der der Morpheme.

Im früher zitierten Aufsatz „Ложный принцип и не-приемлемые результаты" führt J. А. Kaschkin zahlreiche Beispiele buchstäblicher Übertragungen an, die die in den 30er Jahren unter der Federführung von E. Lann ausge-führten russischen Dickens-Ubersetzungen aufweisen. Das englische sweet pea ist inj diesen Ubersetzungen mit сладкий горошек wiedergegeben,— eine typische Buchstäb-lichkeit. Eine idiomatische Wortverbindung, deren Be-deutung nicht gleich der Summe ihrer Bestandteile ist, wird hier auf der Ebene der Wörter übersetzt. Richtig muß es heißen: душистый горошек, d. h. die Wortgruppe als Ganzes ist hier als Ubersetzungseinheit zu behandeln. Ein weiteres Beispiel dieser Art ist die Wortgruppe a re-gulär ass, die von den Übersetzern mit регулярный осёл wiedergegeben wird, weil sie auch hier auf der Ebene der Wörter bleiben, obwohl eine äquivalente Ubersetzung auf

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der Ebene der Wortgruppen möglich ist: круглый дурак.* Folgende Beispiele belegen die gleichen Erscheinungen an Hand einer Übersetzung von H. Bolls Erzählung „Ende einer Dienstfahrt" (russische Übertragung von N. Man und S. Fridland).

. . .wo er nach kurzem Suchen das ihm empfohlene beste Haus am Platz, das Gasthaus zu den Duhr-Ter-rassen entdeckte.

...и после недолгих поисков обнаружил лучший дом на площади, рекомендованную ему гостиницу „Дурские террасы".

Richtig müßte es heißen: лучшую гостиницу города denn die Wortgruppe ist hier gemäß ihrer Bedeutung als Einheit zu behandeln.

...er bekam auch ... einen Kaffee, von dein er spä-ter sagte, der „habe sich gewaschen" gehabt.

...и чашку кофе, о котором он позднее отозвался „светленький, как-будто его помыли".

Die idiomatische Bedeutung des Ausdrucks „hat sich gewaschen" (ist nicht zu unterschätzen) ist von den Uber-setzern übersehen worden, weshalb sie diese Gruppe nicht als Ganzes, sondern eben Wort für Wort , d. h. buchstäblich übersetzten. Die dadurch entstehende Unsinnigkeit wird durch den Zusatz светленький nur scheinbar beseitigt.

Die Folge dieses Ubersetzungsfehlers ist eine vol lkomme-ne Verkehrimg der Aussageabsicht des Autors (ein beson-ders starker und daher anerkennenswerter Kaffee verwandelt sich in ein dünnes, schales Getränk!).

c ) Eine Übersetzung, die auf einer h ö h e r e n E b e -n e erfolgt, als auf derjenigen, die für die unveränderte Wiedergabe des Inhalts unter Einhaltung der ZS-Normen benötigt wird, ist eine freie Übersetzung. Hier einige Bei-spiele dafür aus R. Bait-Kowalewas russischer Übersetzung von J. Salingers Erzählung „The Catcher in the Rye" :

Some things are hard to remember. (6) Бывает, что нипочём не можешь вспомнить, как

всё было.

*Weitere Beispiele buchstäblicher Ubersetzungen in russischen Ausgaben englischsprachiger Werke enthält die erwähnte Arbeit von H. Галь: „Слово живое и мертвое", S. 32—33.

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1 was too depressed to care whether I had good view or not. (9)

Когда настроение скверное, не всё ли равно, что там за окошком.

I 'm not kidding, some of these very stupid girls can really knock you out on a dance floor. (10)

Знаете, иногда она — дура, а танцует, как бог. „ I 'm lonesome as hell." (19) Меня тоска заела.

Fälle freier Ubersetzung gibt es viele in der russischen Übersetzung von I i . Lees Erzählung „To Kill a Mocking-bird" (russisch von N. Gal und R. Oblonskaja), z. В.:

He was difficult to live with, inconsistent, moody. His appetite was appaling, and he told me so many times to stop pestering him. (12)

С ним стало трудно ужиться, то он злился, то дулся, настроение у него менялось пятнадцать раз на день. Ел он много и жадно, даже смотреть было страшно, и всё огрызался — не приставай ко мне.

In allen diesen Fällen erfolgt die Übersetzung auf der Ebene der Sätze. Die Sätze des englischen Texts werden als unteilbare Einheiten behandelt, obwohl sie durchaus „näher zum Text" übersetzt werden könnten, d. h. auf der Ebene der Wortgruppen oder auch der einzelnen Wörter.

Es liegt auf der Hand, daß die freie Ubersetzung im ganzen vertretbarer ist als die buchstäbliche. In der freien Übersetzung gibt es gewöhnlich weder Sinnentstellungen noch Verletzungen der ZS-Norm. Ein Nachteil der freien Übersetzung ist jedoch, daß die Bedeutung des AS-Textes nicht exakt genug wiedergegeben wird: Es findet ein un-vertretbarer Informationsverlust statt, weil der Ausgangs-text tiefgreifenden Veränderungen unterzogen wird, wo dies vermieden werden könnte. Dabei läuft der Übersetzer stets Gefahr, die sehr schwer feststellbare Grenze zu über-schreiten, die die freie Übersetzung vom willkürlichen „Nach-schaffen" trennt, wofür im Russischen die treffende Be-zeichnung „отсебятина" gebräuchlich ist. Selbst in den hier angeführten Ubersetzungen, die von anerkannten Mei-stern ausgeführt wurden, findet eine gewisse Inhaltsände-rung gegenüber dem AS-Text statt. Im zweiten Satz (I was too depressed...) ist im Original lediglich vom Gemüts-

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zustand des Erzählers die Rede, in der Übersetzung kommt es aber zu einer allgemeingültigen Feststeilung, die grund-sätzlich auf jeden Menschen zutrifft. Bei weniger quali-fizierten Übersetzern sind solche semantische Abweichungen in der freien Übersetzung noch viel auffälliger.

Die Behauptung, daß freie Übersetzung der buchstäb-lichen vorzuziehen sei, ist ebenfalls nicht uneingeschränkt gültig: hier muß auch der Gattungszugehörigkeit des Textes Bechnung getragen werden. So ist bei der Übersetzung literarischer Kunstwerke die freie Übersetzung durchaus vertretbar und sehr häufig, während sie bei der Überset-zung offizieller, juristischer und diplomatischer Texte völl ig unzulässig ist.

Die Ubersetzungsweise aber, die der Ubersetzer bei der Arbeit an Texten aller Arten und Gattungen anzustre-ben hat, ist einzig die äquivalente Ubersetzung. In der Praxis ist es jedoch meistens äußerst schwer, die jewei-lige Ubersetzung eindeutig als „äquivalent" oder „nichtäqui-valent" zu qualifizieren (wenn es um die Beurteilung von Ubersetzungen ausreichend langer Textabschnitte geht). Es ist wohl richtiger, von verschiedenen Ä q u i v a l e n z -g r a d e n der Ubersetzung zu sprechen, von einer grö-ßeren oder geringeren Annäherung an die „vollkommen äquivalente" Übersetzung, die somit eher als eine Art ideelles Leitbild denn als Realität aufzufassen ist.

Dem Problem, mit welchen Mitteln und Verfahren die Äquivalenz der Ubersetzung gewährleistet werden kann, ist das folgende Kapitel dieser Untersuchung gewidmet.

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FÜNFTES KAPITEL DIE ÜBERSETZUNGSTRANSFORMATIÖNEN

§ 50. Die vorangehenden Kapitel behandelten vor al lern die Unterschiede zwischen den Systemen der beiden Partnersprachen (der Ausgangssprache und der Zielsprache) und deren Einfluß auf den Ubersetzungsprozeß. Es wurde von uns aber wiederholt betont, daß das Objekt der Über-setzung nicht das Sprachsystem in abstracto ist, sondern ein konkretes Redeprodukt, auf dessen Grundlage ein Rede-produkt in einer anderen Sprache (eben der Text der Über-setzung) geschaffen wird. Die Gewährleistung der Überset-zungsäquivalenz (der „Adäquatheit der Übersetzung") über die formellen und semantischen Differenzen der Sprach-systeme hinweg setzt beim Übersetzer zunächst die Fähig-keit voraus, zahlreiche und verschiedenartige zwischen-sprachliche Umwandlungen — die sogenannten Übersetzungs-transformationen — auszuführen, um zu erreichen, daß die Ubersetzung unter strikter Beachtung der Normen der Ziel-sprache mit größtmöglicher Vollständigkeit die gesamte im Ausgangstext enthaltene Information wiedergibt. In welchem Sinne die Ausdrücke „Umwandlung" bzw. „Transformation" zu verstehen sind, haben wir am Anfang dieser Untersuchung erläutert (siehe § 1).

Die Arten der Umwandlungen oder Transformationen, die im Ubersetzungsprozeß vollzogen werden, lassen sich auf vier Elementartypen reduzieren:

1. Umstellungen; 2. Substitutionen; 3. Ergänzungen; 4. Weglassungen.

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Es sei jedoch ausdrücklich gesagt, daß diese Eintei-lung nur als annähernd und zum Teil willkürlich aufzufas-sen ist. Eine bestimmte Umwandlung kann häufig mit glei-cher Berechtigung unter den einen wie unter den anderen elementaren Transformationstyp eingeordnet werden. So kann z. B. die für die Übersetzung aus dem Englischen ins Russische typische Wiedergabe der asyndetischen Verbindung durch eine konjunktioneile entweder als Substitution (eine Art der syntaktischen Verbindung wird durch eine andere substituiert) oder als Weglassung (die im Ausgangstext vorhandene Konjunktion wird weggelassen) eingestuft werden. Noch wichtiger ist aber folgendes. In der Praxis kommen diese vier Typen der elementaren Ubersetzungs-transformation äußerst selten „in Reinkultur" vor, meistens sind sie, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen sollen, derart ineinander verflochten, daß sie einen vielschichtigen, „komplexen" Charakter annehmen. Mit diesen Vorbehalten schreiten wir nun zur Betrachtung der vier Typen der im Ubersetzungsprozeß auftretenden Transformationen.

1. Umstellungen

§ 51. Die Umstellung ist eine Transformation, bei der die Reihenfolge der sprachlichen Elemente im Text der Über-setzung gegenüber dem Originaltext geändert wird. Die von der Umstellung betroffenen Elemente sind meistens Wörter, Wortgruppen, Teile von zusammengesetzten Sätzen (Neben-sätze u. dgl.) und selbständige Sätze als Bestandteile des Texts.

Der gewöhnlichste Fall, der im Ubersetzungsprozeß nor-malerweise vorkommt, ist die Änderung der Wortfolge bzw. der Reihenfolge der Wortgruppen innerhalb der Satz-struktur. Bekanntlich gelten in verschiedenen Sprachen für die Wortfolge verschiedene Normen, was sich selbstverständ-lich notwendigerweise auch auf die Ubersetzung auswirkt. Untersuchen wir in diesem Sinne folgendes Beispiel:

1 2 3 4 A suburban train|was derailed. | near London | last light.

3 2 4 1 Unweit von London|entgleiste!gestern abend|ein Vorortzug.

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1 2 4 3 Ein Vorortzug]entgleisteIgestern abend |unweit von London.

4 3 2 1 Вчера вечеромI вблизи Лондона| сошёл с рельс|пригородньш

поезд.

Mit den Zahlen 1, 2, 3, 4, sind die Satzglieder bezeich-net: Subjekt, Prädikat, Adverbiale des Ortes, Adverbiale der Zeit. In diesem Beispiel zeigt der russische Satz eine Reihenfolge der Komponenten, die der des englischen Satzes genau entgegengesetzt ist. Dieses bei der Ubersetzung häufig vorkommende Verhältnis ist darauf zurückzuführen, daß im Englischen die Wortfolge syntaktisch festgelegt ist: In einem Satz ohne Inversion (diese aber kommt nur in beschränkten Fällen vor und muß stets strukturell und funk-tionell motiviert sein) folgt das Prädikat auf das Subjekt, die Adverbialien aber stehen nach dem Prädikat (und dem Objekt, falls ein solches vorhanden ist), wobei das Adver-biale des Ortes dem Adverbiale der Zeit vorangeht (letzteres kann auch am Satzanfang, vor dem Subjekt stehen — Last night a suburban train was derailed near London). Im Bus-sischen dagegen wird die Wortfolge im Satz bekanntlich nicht durch die syntaktische Funktion der Wörter (die deut-lich genug durch morphologische Merkmale gekennzeichnet ist), sondern durch die „kommunikative Gliederung des Satzes" bestimmt (dieser Begriff wurde bereits in § 28 behan-delt). Am Ende des Satzes steht (bei nichtemphatischer Betonung) meist das „Neue", es sind die Wörter, die die im Satz erstmalig mitgeteilte Information enthalten (in unserem Beispiel сошёл с рельс пригородный поезд). Die zweit-rangigen Elemente — die Nebenglieder, die die Zeit und den Ort des Geschehens angeben — stehen meist am Anfang des Satzes (mit Ausnahme der Fälle, wo sie selbst etwas „Neues" darstellen und dadurch zum kommunikativen Mittel-punkt des Satzes werden). Die deutsche Sprache nimmt in dieser Hinsicht eine Art Mittelstellung ein. Die Stellung des Prädikats ist syntaktisch festgelegt, die übrigen Glieder werden entsprechend ihrem „kommunikativen Gewicht" um das Prädikat herum angeordnet. Diese Wortfolge reprä-sentiert der erste der beiden deutschen Sätze, der sich in dieser Hinsicht ebenfalls wesentlich vom englischen Original

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entfernt. Der zweite deutsche Satz enthält eine „kommuni-kative Inversion" — das Subjekt nimmt in ihm die Anfangs-stellung ein, obwohl es ein Teil des „Neuen" ist. Diese mit dem Englischen weitgehend übereinstimmende Wortfolge, die im Deutschen allgemein verbreitet ist, wenn das Subjekt keine neue Information enthält, ist hier ausnahmsweise be-rechtigt,^ da nach den für journalistische Kurznachrichten geltenden Stilnormen das „Neue" emphatisch an den Anfang gerückt wird, - im Englischen (und im Deutschen) wird dazu noch das „Neue" nicht nur durch die Wortfolge (und die in der Schrift nicht nachvollziehbare Betonung), sondern auch durch clen unbestimmten Artikel bezeichnet.

Vgl . weitere analoge Beispiele:

1 2 3 A boy |came|into the room.

3 2 1 Ins Zimmer | trat |ein Junge.

1 2 3 Ein Junge | trat | ins Zimmer.

3 2 1 В комнату | вошёл | мальчик.

1 2 3 А match | flared | in the darkness.

3 2 1 Im Dunkeln | flammte | ein Streichholz

1 2 3 Ein Streichholz | flammte | im Dunkeln

3 2 1 В темноте | вспыхнула | спичка.

Die kommunikative Gliederung des Satzes ist nicht der einzige Faktor, der für die Wahl der Wortfolge beim Uber-setzen entscheidend ist. Die Änderung der Wortfolge kann auch durch andere Ursachen bedingt sein. Sehr häufig ist sie von Transformationen anderer Art begleitet, und zwar von Substitutionen, wofür im weiteren noch Beispiele gegeben werden sollen.

(2) auf.

(2)

auf.

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Manchmal kommt es bei der Übersetzung zu einer Um-stellung, bei der ein Wort aus einem Satz in einen anderen übertragen wird wie z. B. in folgendem Textauszug:

... I put on this hat that I 'd bought in New York that morning. It was this red hunting hat, with one of those very, very long peaks. (J. Salinger, The Catcher in the Rye, 3)

Я ... надел красную шапку, которую утром купил в Нью-Йорке. Это была охотничья шапка с очень-очень длинным козырьком.

Diese Übertragung wird hier durch die Wiederholung des Wortes hat — шапка in zwei benachbarten Sätzen ermög-licht, auf die sich das Adjektiv red — красная bezieht.

Eine in der Übersetzung häufig vorkommende Umstel-lung ist die Änderung der Reihenfolge der Teilsätze eines zusammengesetzten Satzes, z. В.:

If he ever gets married, his own wife ' l l probably call him „Ackley". (J. Salinger, The Catcher in the Rye, 3)

Наверное и жена будет звать его „Экли", если только он когда-нибудь женится.

Im englischen Text geht der Nebensatz dem Hauptsatz voraus, in der russischen Übersetzung ist es umgekehrt, der Hauptsatz steht vor dem Nebensatz. Es gibt auch gegen-sätzliche Fälle. In den beiden folgenden Beispielen geht jeweils der Hauptsatz dem Nebensatz voraus, im Russischen aber ändert sich die Satzfolge, und gleichzeitig wird das Satzgefüge zu einer Satzreihe umgewandelt, die Umstellung wird von einer für die Übersetzung aus dem Englischen ins Russische typischen Substitution des syntaktischen Verbin-dungstyps begleitet (Näheres darüber siehe - weiter unten im. Abschnitt „Substitutionen"):

The silver saucer clattered when he replaced the pit-cher. (Ii . Lee, To Kill a Mockingbird, 3)

Он быстро поставил кувшин, даже серебряная под-ставка звякнула.

Не took another look at my hat while he was clea-ning them. (J. Salinger, The Catcher in the Rye, 3)

Он ИХ чистил, А сам смотрел на мою шапку.

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Page 216: Barchudarow Sprache und Übersetzung

Schließlich können auch, wie bereits gesagt, selbstän-dige Sätze innerhalb des Textes umgestellt werden. Betrach-ten wir folgendes Beispiel:

„You goin' to court this morning?" asked Jem. We had strolled over. (Ii . Lee, To Kill a Mockingbird, 16)

Мы подошли к её забору*. — Вы в суд пойдёте? — — спросил Джим.

Die Umstellung ist hier notwendig geworden, weil das Past Perfect im zweiten Satz auf die Vorzeitigkeit der hier genannten Handlung gegenüber der Handlung des ersten Satzes hinweist. Da die russische unspezifische Vergangen-heitsform подошли dieses Verhältnis nicht auszudrücken vermag, würde die Beibehaltung der Satzfolge des Originals zu einer Inhaltsentstellung führen (die durch das Verb подошли benannte Handlung müßte als auf die erste Hand-lung спросил folgend aufgefaßt werden). Die Umstellung der Sätze bringt die Beihenfolge der Handlungen in Uberein-stimmung mit dem Inhalt des Originals. (Ein anderes Ver-fahren zur Wiedergabe der grammatischen Bedeutung des Past Perfect im Russischen sind lexikalische Ergänzungen wie прежде, раньше u. a., die in § 37 beschrieben wurden.**)

Die Umstellung kommt als Übersetzungstransformation recht häufig vor, meistens wird sie aber von verschiedenen grammatischen und lexikalischen Substitutionen begleitet, die im folgenden Abschnitt behandelt werden.

*Die Ubersetzung von strolled over mit подошли к её забору ist ein Fall der kontextuellen Konkretisierung, die etwas weiter erörtert werden soll.

**Die gleichen Gesetzmäßigkeiten gelten auch für die Wiedergabe des deutschen Plusquamperfekts im Russischen. Vgl. folgendes Bei-spiel, in dem zugleich eine Umstellung und eine lexikalische Ergänzung vorkommt:

Paris wurde fortwährend bombardiert, und zwar von densel-ben Leuten, die das Bombardement derselben Stadt durch die Preußen als eine Heiligtumschändung gebrandmarkt hatten. (К. Marx: „Der Bürgerkrieg in Frankreich", S. 14.) Те люди, которые клеймили бомбардировку Парижа пруссаками как свя-тотатство, теперь сами непрерывно подвергали его бомбарди-ровке. (К. Маркс: „Гражданская война во Франции", с. 12.)

(Zitiert nach 3. Е. Розанова: Пособие по переводу с немецкого на русский язык. М., 1961, с. 178.)

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2. Substitutionen

§ 52. Die Substitutionen sind die meistverbreitete und vielfältigste Art der Übersetzungstransformationen. Bei der Übersetzung können sowohl grammatische Einheiten—Wort-formen, Wortarten, Satzglieder, syntaktische Verbindungs-typen usw. — als auch lexikalische Einheiten substituiert werden, weshalb man v o n g r a m m a t i s c h e n u n d l e x i k a l i s c h e n S u b s t i t u t i o n e n spricht. Außerdem können von der Substitution nicht nur einzelne Elemente, sondern auch ganze Konstruktionen betroffen sein. Dabei handelt es sich um sogenannte komplexe lexi-kalisch-grammatische Substitutionen, die im weiteren durch 3eispiele belegt werden.

a ) S u b s t i t u t i o n e n d e r W o r t f o r m e n

Beispiele für die Substitution der grammatischen Form des Wortes in der Ubersetzung — Numerus des Substan-tivs, Tempus des Verbs u. a. — wurden bereits in Kapitel 3 angeführt (s. §§ 36 und 38).

b ) S u b s t i t u t i o n e n d e r W o r t a r t e n

Dieser Substitutionstyp ist weit verbreitet. Die ein-fachste Form ist die sogenannte „Pronominalisierung" oder die Substitution d e s S u b s t a n t i v s d u r c h e i n P r o n o m e n . Ein Beispiel:

1/ Сначала он висел в комнате деда, но скоро дед изгнал его к нам на чердак, потому что скворец нау-чился дразнить дедушку. (М. Горький, Детство, VII.) I/ Er hing zuerst im Zimmer des Großvaters, bald jedoch

verbannte ihn dieser zu uns auf den Boden. -Der Star hatte sich nämlich herausgenommen, ihn zu necken...

At first the bird hung in my grandfather's room, but soon he outlawed it to our attic, because it began to imitate him...

Wir sehen an der englischen Ubersetzung dieses Satzes, daß auch die umgekehrte Substitution eines Pronomens durch ein Substantiv vorkommt (сначала он висел — at first the bird hung.. .) . Deutlicher kann man das an folgendem Beispiel erkennen;

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,1 took possession of his effects after his death', I explained. ,They were done up in a parcel and I was directed to give them to you.' (S. Maugham, A. Casual Affair)

— Всё, что осталось от него после смерти, отдали мне, — объяснил я. — Письма и портсигар были свя-заны в пакет. На рем было написано: передать леди Кастеллан лично. (Пер. М. Литвиновой.)

Die Konkretisierung der Pronomen they und you erfolgt hier auf Grund des weiteren Kontexts, denn einige Seiten vorher heißt es in dieser Erzählung:

I took the parcel.. . Inside was another wrapping, and on this, in a neat, well-educated writing: ...Please deliver personally to the Viscountess Kastellan... The first thing I found was a gold and platinum cigarette case... Besides the cigarette-case there was nothing but a bundle] of letters.

Wir haben es hier somit wiederum mit einem Fall der Herstellung semantischer Äquivalenz auf der Ebene des Gesamttextes zu tun, was sich in der Umverteilung der semantischen Elemente zwischen einzelnen Sätzen bei der Übertragung des Textes aus der Ausgangssprache rin die Zielsprache äußert. (Vgl. auch §§ 3 und 4.)

Ein recht typischer Fall beim Ubersetzen aus dem Eng-lischen (und Deutschen) ins Russische ist die Substitution eines V e r b a l s u b s t a n t i v s d u r c h e i n V e r b in persönlicher Form:

He had one of those very piercing whistles that was practically never in tune... (J. Salinger, The Catcher in the Rye, 4)

Свистел он ужасно пронзительно и всегда фальшиво...

(In diesem Beispiel verlangt die Substitution des Sub-stantivs durch ein Verb zugleich die Substitution des adjek-tivischen Attributs zum Substantiv durch ein Adverb; pier-cing — пронзительно. Dieselbe Folgeerscheinung beobach-ten wir auch in den weiteren Beispielen.)

It is our hope that the Human Bights Commission will be able to establish a presence in Guyana. („The Canadian Tribune", 21.111,73)

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Мы надеемся, что Комиссия по правам человека смо-жет послать своих представителей в Гайану.

(Hier beruht die Substitution auf der Identität der Tiefenstruktur der nominalisierten Gruppe our hope und des Satzes мы надеемся; vgl. § 39 und das dort behandelte Beispiel der Substitution des Verbalsubstantivs abandon-ment durch die persönliche Form des Verbs оставила.)

Gesetzmäßig und weitverbreitet ist die Substitution des englischen Verbalsubstantivs in der Bedeutung der han-delnden Person (meist mit dem Suffix — er) durch die persönliche Form des russischen Verbs.* Derartige Beispiele sind sehr häufig:

„Oh, I am no dancer, but I like watching her dance." (G. Greene, The Quiet American, p. I. Ch. I l l )

— А я ведь не танцую, я только люблю смотреть, как она танцует. (Пер. Р. Райт-Ковалёвой и С. Митиной.)

I 'm quite a heavy smoker, for one thing.. . (J. Salinger, The Catcher in the Rye, I)

Во-первых, я курю как паровоз. . . I 'm a very rapid packer, (ib., 7) Я очень быстро укладываюсь. I 'm a very light eater, (ib., 15) Я очень мало ем. Не was a pretty heavy drinker, (ib., 24) Он ... пил как лошадь.

Ein häufiger Fall ähnlicher Wortartsubstitutionen ist die Verwendung deutscher Verbalsubstantive als Äquivalent für Partizipialformen des russischen Verbs, z. В. :

Уезжая, он не торопился и держал себя вообще не так, как в прошлые свои приезды. (А. Чехов, В овраге, И) Mit seiner Abreise beeilte er sich nicht und verhielt sich überhaupt nicht so wie bei seinen früheren Besuchen...

Тщательно изучив все материалы по делу, мы при-шли к выводу.. .

Nach sorgfältiger Prüfung aller Unterlagen zu diesem I Fall kamen wir zum Schluß.. .

*М. М. Фалъкович: Возможные направления сопоставительных лексических исследований. „Иностранные языки в школе", 1973, № 1, с. 19/20,

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Page 220: Barchudarow Sprache und Übersetzung

Auch andere Wortarten unterliegen zuweilen der Substi-tution. Ziemlich oft kommt es zu einer Substitution des A d j e к t i 'v s (das meist von einem geographischen Namen abgeleitet ist) durch das betreffende S u b s t a n t i v :

Australien prosperity was followed by a slump.* За экономическим процветанием Австралии пос-

ледовал кризис.

Eine ähnliche Substitution wird häufig auch bei der Ubersetzung aus dem Deutschen ins Russische notwendig, vgl . sozialdemokratische Gewerkschaftler — профсоюзные деятели — социал-демократы; denkmalpflegerische S t e l l e n -органы охраны памятников и. а. m.

Englische und deutsche Adjektive im Komparativ werden bei der Ubersetzung ins" Russische häufig durch Verbalsub-stantive substituiert, die auf eine Vergrößerung" bzw. Ver-ringerung des Umfanges, der Ausmaße oder der Intensität hinweisen, (etwa увеличение, уменьшение, повышение, по-нижение, сокращение u. dg] .**) , z. В. :

The stoppage, which is in support of higher pay and shorter working hours, begann on Monday.

Забастовка, участники которой требуют повышения заработной платы и сокращения рабочего дня, нача-лась в понедельник.

In der deutsch-russischen Übersetzung wird diese Sub-stitution ebenfalls zur Regel: für höhere Löhne — за повы-шение заработной платы; für bessere Arbeitsbedingungen —' за улучшение условий труда usw.

Eine recht häufige Substitution geschieht bei der Uber-setzung prädikativer Adjektive, denen im Russischen Verben entsprechen: sie ist eifersüchtig — она ревнует, sei mir nicht böse — не сердись на меня, seid doch endlich still — — замолчите же вы наконец.

Die Wortartsubstitutionen,5 die auch in zahlreichen weiteren Kombinationen auftreten, werden häufig von

*Das Beispiel ist aus der Arbeit Т. Р. Левицкая, А. M. Фитер-ман: „Теория и практика перевода с английского языка на русский, с. 62 entlehnt, wo noch mehr Beispiele für eine solche Substitution angeführt sind.

**Ju. M. Katzer, A. W. Kunin: а. a. 0 . , S. 73.

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Page 221: Barchudarow Sprache und Übersetzung

Satzgliedsubstitutionen, d. h. von einer syntaktischen Umstrukturierung des Satzes begleitet.

c ) S u b s t i t u t i o n e n v o n S a t z g l i e d e r n (Umbau der syntaktischen Struktur des Satzes)

Bei der Substitution von Satzgliedern werden Wörter und Wortgruppen im Text der Übersetzung in anderen syn-taktischen Funktionen verwendet als ihre Äquivalente im Text des Originals. Es findet somit ein Umbau (eine Um-strukturierung) des syntaktischen Gefüges des Satzes statt. Die Ursachen dafür können verschieden sein. Am häufig-sten wird sie vorgenommen, wenn die „kommunikative Gliederung" des Satzes wiedergegeben werden muß, wovon in den vorangehenden Abschnitten die Rede war.* Wir haben bereits gezeigt, daß im russischen Satz die Wortfolge ent-scheidend von den Faktoren der „kommunikativen Gliede-rung" beeinflußt wird. Das „Neue", d. h. das Wort bzw. die Wor^gruppe, die die erstmalig mitgeteilte Information enthalten, steht (in der nichtemphatischen Rede) am Ende des Satzes, das „Gegebene" aber, d. h. die Wörter bzw. Wort-gruppen, die eine bereits bekannte (im vorangehenden Kpn.-text schon erwähnte) Information enthalten, steht am Efi3«r des Satzes. Im Englischen jedoch wird die Wortfolge im Satz grundsätzlich von syntaktischen Faktoren bestimmt; nämlich durch die Funktion eines Wortes als Satzglied: Das Subjekt geht fast immer dem Prädikat voraus, das Objekt dagegen r;folgt auf dieses.

Andererseits herrscht im Englischen grundsätzlich die gleiche Folge der Elemente der „kommunikativen Gliede-rung" (des „Gegebenen" und des „Neuen") wie im Russischen. Mit Ausnahme der Fälle, wenn das „Neue" durch das substan-tivische Subjekt {mit dem unbestimmten Artikel ausge-drückt ist (Beispiele dafür siehe in § 51), herrscht im engli-schen Satz die Folge „das Gegebene" — „das Neue". Dies wird hauptsächlich dadurch ermöglicht, daß das syntak-tische Schema des englischen Satzes mit seiner kommunika-tiven Gliederung in Übereinstimmung gebracht wird. Als „Gegebenes" fungiert in der überwiegenden Mehrzahl der

*Eirie ausführliche Erörterung dieses Problems an Hand rus-sisch-englischer Ubersetzungen enthält die bereits zitierte Disserta-tion von L. A. Tschernjachowskaja.

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Page 222: Barchudarow Sprache und Übersetzung

Sätze das Subjekt, als „Neues" die Prädikatgruppe oder ein Glied dieser Gruppe (z. B. ein Objekt). Dadurch wird die syntaktische Umstrukturierung des Satzes bei seiner Über-setzung ins Russische erforderlich. Das englische Subjekt wird durch ein zweitrangiges Satzglied (ein Objekt oder Adverbiale) substituiert, das als „Gegebenes" die Erststelle im Satz einnimmt, während ein Nebenglied der Prädikat-gruppe des englischen Satzes (ein Objekt oder seltener das Prädikativ selbst) zum Subjekt des russischen Satzes erhoben wird. Meist verlangt das zugleich auch eine entsprechende Substitution des Prädikatverbs.

Der gewöhnlichste Fall einer syntaktischen Umstruk-turierung dieser Art ist die Substitution der englischen Passivkonstruktion durch die russische Aktivkonstruktion. Dabei entspricht dem englischen Subjekt im russischen Satz ein O b j e k t , das als „Gegebenes" am Anfang des Satzes steht; zum Subjekt des russischen Satzes wird das Äquivalent des englischen by-Objekts, wenn es nicht über-haupt wegfällt (in der sogenannten „unbestimmt-persön-lichen" Konstruktion). Die Passivform des englischen Verbs wird durch die Aktivform des russischen ersetzt, z. В.:

He was met by his sister. Его встретила сестра. He was given money. Ему дали денег. I was offered another post. Мне предложили новую должность. Visitors are requested to leave their coats in the

cloak-room. Посетителей просят сдавать верхнюю одежду в

гардероб.

Obwohl die Wortfolgeregeln im Deutschen von denen des Englischen abweichen, gibt es auch hier analoge Fälle, die eine syntaktische Umstrukturierung des Satzes bei der Ubersetzung ins Russische aus kommunikationsbedingten Gründen erforderlich machen. Vgl . z. В. :

Eine Antwort auf diese Frage wurde nicht gegeben. Ответа на этот вопрос не дали.

Solche Transformationen („Passiv -> Aktiv") kommen recht häufig vor. Sie werden in vielen Grammatiken der englischen und der deutschen Sprache für russische Studenten

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dargestellt.* Wie die anderen in diesem Abschnitt behandel-ten Transformationen sind diese Substitutionen „umkehr-bar", bei der Übersetzung aus dem Russischen ins Englische (und u. U. ins Deutsche) wird die „umgekehrte" Transfor-mation „Aktiv —>- Passiv" angewandt.

Ziemlich verbreitet sind auch die Fälle, wo das eng-lische Subjekt sich bei der Ubersetzung ins Deutsche oder Russische in ein A d v e r b i a l e verwandelt. Häufig kommt es zu dieser Transformation, wenn das Subjekt im englischen Satz durch ein Substantiv bzw. eine Substantiv-gruppe mit t e m p o r a l e r Bedeutung ausgedrückt ist. Im deutschen und im russischen Satz wird es durch ein Adverbiale der Zeit substituiert, zum Subjekt aber wird das Wort (bzw. die Wortgruppe) erhoben, das dem Objekt des englischen Satzes semantisch äquivalent ist. Diese Trans-formation verlangt auch die Substitution des transitiven Verbs des englischen Satzes durch ein intransitives Verb (oder seltener durch ein Verb in der Passivform) im Deutschen und Russischen. Vgl . folgende Beispiele:

The last week has seen an intensification of the diplomatic activity. . .

In der letzten Woche kam es zu einer Intensivierung der diplomatischen Aktivitäten.. . (Oder: In der letzten Woche war ... zu beobachten.)

В течение истекшей недели имела место активизация дипломатической деятельности (или: На прошлой не-деле наблюдалась...)

The eight years form 1963 through 1970 saw the publication of eight') relatively füll treatments of the subject.. („Language", v. 48, No 4)

In den acht Jahren von 1963 bis 1970 wurden acht Arbeiten veröffentlicht, in denen dieses Problem recht eingehend behandelt wird.

За восемь лет, с 1963 по 1970, было опубликовано восемь работ, дающих относительно исчерпывающее освещение этой проблемы.

Diese Wendung mit dem Verb see (das in diesem Falle seine konkrete Bedeutung eingebüßt hat und lediglich auf

*Л. С. Бархударов, Д. А. Штелинг: Грамматика английского языка, §§ 229, 232—234; К. Г. Крушельницкая: Очерки по сопоста-вительной грамматике немецкого и русского языков, М., 1961, с, 216—218,

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Page 224: Barchudarow Sprache und Übersetzung

die Existenz, das Vorhandensein eines Objekts oder Ereig-nisses hinweist) ist für die Sprache der englischen Presse ziemlich typisch. Vgl. : 1973 saw... — Im Jahre 1973: The next week will see... — In der kommenden Woche...; Tonight sees... — Heute abend... Als Objekt wird nach diesem see meist ein Verbalsubstantiv gebraucht, wie publication, renewal, performance, beginning u. dgl., das bei der Uber-setzung ins Deutsche in ein Prädikatverb umgewandelt wird: wurde^veröffentlicht, wurde erneuert, wurde dargestellt, begann и. a.

Eine ähnliche Transformation findet auch in anderen Fäl-len statt, wenn das englische Subjekt als das „Gegebene" am Anfang des Satzes steht und eine adverbiale Bedeutung aus-drückt. Bei der Ubersetzung eines solchen Satzes kommt es häufig zu einer Substitution des Subjekts durch ein Adver-biale des O r t e s .

The little town of Clay Gross today witnessed a massi-ve demonstration... („Morning Star", 4. X I I . 72)

In der kleinen Stadt Clay Cross fand heute eine ein-drucksvolle Demonstration statt...

Сегодня в небольшом городе Клей-Кросс состоя-лась массовая демонстрация...

...the room was too damn hot. (J. Salinger, The Catcher in the Rye, 3)

Im Zimmer war es furchtbar heiß... В комнате стояла страшная я<ара...

In der russischen Übersetzung des letzten Satzes findet auch eine Wortartsubstitution statt: Das Adjektiv hot wird in das Substantiv жара transformiert.

Eine ähnliche syntaktische^ Transformation sehen wir bei der Ubersetzung solcher für die englische Presse typischer Konstruktionen wie: The communique says... — Im Kommu-nique heißt es...; The note strongly protests... — In der Note wird ein entschiedener Protest ausgedrückt ... usw. Vgl. z. В. :

The memorandum accuses the present government Г with violations which include the rigging of elections...

(„The Canadian Tribune", 21. III. 73) Im Memorandum werden der jetzigen Regierung

mehrere Rechtsübertretungen vorgeworfen, u, a, die Fälschung der Wahlergebnisse.,,

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Page 225: Barchudarow Sprache und Übersetzung

Ähnlich gebaute Konstruktionen treten häufig auch in wissenschaftlichen Fachtexten auf, z. B. :

Chapter 8 discusses some general considerations with regard to semantic structure. (W. Chafe, Meaning and the Structure of Language.)

Im Kapitel 8 werden einige allgemeine Probleme der semantischen Struktur erörtert...

(Möglich ist hier im Deutschen allerdings auch die Erhaltung der ursprünglichen Satzkonstruktion: Das 8. Kapitel behandelt...)

Fig. 50 shows diagrammatically a single-phase induc-tion wattmeter...

Auf Abb. 50 ist das Schaltbild eines Einphasen-Induktionsleistungsmessers dargestellt...

(Iiier sehen wir auch einen interessanten Fall der Wort-artsubstitution: Das Adverb diagrammatically wird durch das Substantiv Schaltbild wiedergegeben.)

Nachstehend bringen wir noch einige Beispiele für die Substitution des Subjekts des englischen Satzes durch ein Adverbiale des deutschen, wie sie für die Ubersetzung von Zeitungsnachrichten typisch ist:

The careful reconstruction of the last years has unear-thed many historic treasures. („Morning Star", 23.1II.73)

Bei den mit großer Behutsamkeit ausgeführten Re-staurierungsarbeiten der letzten Jahre wurden zahlreiche Gegenstände von hohem historischem Wert zutage geför-dert.

(Beachtenswert ist in diesem Satz auch die Substitu-tion des Adjektivs careful durch das Substantiv Behut-samkeit.)

Military operations carried out by them in some cases have involved v/hole divisions, (ib.)

An den von ihnen durchgeführten militärischen Opera-tionen waren in einigen Fällen ganze Divisionen be-teiligt.

Häufig erhält dabei das Adverbiale in der Ubersetzung k a u s a l e Bedeutung, z . B. :

The crash killed 106 people.

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Page 226: Barchudarow Sprache und Übersetzung

Durch den Flugzeugabsturz sind 106 Personen ums Leben gekommen.*

Solcherart syntaktische Transformation ist selbstver-ständlich ebenfalls „umkehrbar": bei der Übersetzung aus dem Russischen ins Englische findet also die „entgegenge-setzte" Substitution des Adverbiales durch das Subjekt statt, die von anderen notwendigen Transformationen be-gleitet wird:

В сундуках у него лежало множество диковинных нарядов... (М. Горький, Детство)

His trunks were füll of many extraordinary costumes...

Der Umbau der syntaktischen Struktur des Satzes bei der Übersetzung kann neben der Notwendigkeit , die kom-munikative Gliederung des Satzes wiederzugeben, auch andere Ursachen haben. Eine ausführliche Beschreibung dieser Ubersetzungstransformation und ihrer Gründe findet man in Ubersetzungshandbüchern.**

Es ist zu beachten, daß in vielen Fällen eine solche Umstrukturierung nicht aus grammatischen, sondern aus stilistischen Gründen vorgenommen werden muß. Im folgen-den Satz sehen wir z. В . , daß gleichzeitig sowohl eine Satz-glied- als auch eine Wortartsubstitution stattfindet.

After dinner they talked long and quietly. (S. Maug-ham, Before the Party)

После обеда у них был долгий, душевный разго-вор. (пер. Е. Калашниковой)

Die grammatischen Normen der russischen Sprache lassen die Erhaltung der syntaktischen Struktur des Aus-gangssatzes ohne weiteres zu: После обеда они долго и ду-

* Dieser Typ der Ubersetzungstransformation wird in der folgenden Arbeit behandelt: О. Мешков: „Об одном типе переводческих соот-ветствий", „Тетради переводчика", вып. 9, 1972, с. 45—50.

**Siehe z. В. folgende Handbücher: В. Н. Комиссаров, Я. И. Рец-кер, В. И. Тархое: Пособие по переводу с английского языка на рус-ский, Ч. II. ; Т. Р. Левицкая, А. М. Фитерман: Пособие по переводу с английского языка на русский. М., „Высшая школа", 1973; 3. Е. Розанова: Перевод с русского языка на немецкий. М., „Выс-шая школа", 1971; S. Black, Е. А. Sabelina, М. J. Zwilling: Uber-setzungspraktikum, Moskau, Verlag „Internationale Beziehungen", 1966; W. Hor'nung u. a.: Die Ubersetzung wissenschaftlicher Literatur aus dem Russischen ins Deutsche, Leipzig, Verlag Enzyklopädie, 1974.

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Page 227: Barchudarow Sprache und Übersetzung

шевно разговаривали; jedoch ist die erste Variante stili-stisch eindeutig vorteilhafter.

Ähnliche Verhältnisse ergeben sich hier bei der Über-setzung ins Deutsche. Es sind ebenfalls zwei verschiedene Varianten möglich, unter denen eine Auswahl nach stili-stischen Gesichtspunkten getroffen werden kann:

Nach dem Essen führten sie ein langes und ruhiges Gespräch.

Nach dem Essen unterhielten sie sich lange und in aller Ruhe. d ) S y n t a k t i s c h e S u b s t i t u t i o n e n i m

z u s a m m e n g e s e t z t e n S a t z In der Struktur des zusammengesetzten Satzes treten am

häufigsten folgende syntaktische Transformationen auf: 1. Substitution eines einfachen Satzes durch einen zusammen-gesetzten; 2. Substitution eines zusammengesetzten Satzes durch einen einfachen; 3. Substitution des Hauptsatzes durch einen Nebensatz und umgekehrt; 4. Substitution der Subordination durch die Koordination und umgekehrt; 5. Substitution der konjunktioneilen Verbindung durch eine asyndetische und umgekehrt.

Substitution eines einfachen Satzes durch einen zusammengesetzten

Substitutionen dieser Art werden häufig durch gramma-tische Ursachen hervorgerufen, und zwar durch strukturelle Differenzen zwischen den Sätzen der Ausgangssprache und der Zielsprache. Bei der Ubersetzung aus dem Deutschen muß diese Substitution meist angewandt werden, wenn es um die Wiedergabe von Infinitivkonstruktionen oder Wort-gruppen mit substantivierten Infinitiven innerhalb einfacher erweiterter Sätze geht, für die es im Russischen grammatisch (oder stilistisch) kein strukturell gleichartiges Äquivalent gibt.

Er hatte tiefer unten eine Wohnungstür gehen gehört. (Ii. Fallada, Jeder stirbt für sich allein, S. 23)*

Он слышал, как внизу хлопнула дверь.

*Die Beispiele entnehmen wir dem Buch 3. E. Розанова: Пособие по переводу с немецкого на русский язык, М., 1961, с. 256/57.

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Er erinnerte sich deutlich, diesen Riß vor einem halben Jahr gesehen zu haben. (L. Feuchtwanger, Erfolg, S. 150)

Он ЯСНО понимал, что видел эту дыру ... уже с пол-года назад.

Durch ihr Zurückgehen hängt unsere rechte Flanke wie ein Balkon in der Luft. (L. Renn, Der spanische Krieg, S. 209)

Из-за того, что они отошли, наш правый фланг, словно балкон, повис в воздухе.

Es gibt selbstverständlich auch in diesem Bereich Fäl-le, wo die Transformation nicht aus zwingenden grammati-schen Gründen, sondern fakultativ, auf Grund stilistischer Überlegungen vorgenommen wird.

So könnte z. B. der letzte Satz auch ohne syntaktische Umstrukturierung übersetzt werden:

Из-за их отхода наш правый фланг повис в воздухе, словно балкон.

Es bleibt hier dem Ubersetzer überlassen, unter Be-rücksichtigung aller stilistischen (und pragmatischen) Momente die jeweils geeignetere Variante zu verwenden.

Im folgenden Beispiel ist die komplexe lexikalisch-grammatische Transformation bei der Ubersetzung des englischen Satzes ins Bussische ebenfalls stilistisch bedingt:

At that moment the door was opened by the maid. (S. Maugham, Before the Party)

Дверь открылась, и заглянула горничная.

Der AS-Satz wird hier folgenden Transformationen unterworfen: 1. Der einfache Satz wird durch einen zusam-mengesetzten ersetzt; 2. an die Stelle der Subordination tritt die Koordination; 3. es erfolgt eine lexikalisch-gramma-tische Substitution: was opened ->- открылась-, 4. das Präpositionalobjekt mit by wird zum Subjekt erhoben; 5. das Wort заглянула wird zusätzlich aufgenommen; 6. die Wörter at that moment werden weggelassen. Bei einem Versuch, die Ausgangskonstruktion unverändert zu erhalten, kämen wir zu einem grammatisch zwar mögli-chen, stilistisch aber kaum vertretbaren Satz: В это мгно-вение дверь была открыта горничной. Im Bussischen ist die Passivkonstruktion viel seltener als im Englischen, sie

224

Page 229: Barchudarow Sprache und Übersetzung

hat auch eine andere stilistische Färbung (im Englisc 1 < ist das Passiv stilistisch neutral mit einer gewissen Ten-denz zur schriftsprachlichen Verwendung, im Russischen dagegen ist die Passivform fast ausschließlich auf den schriftsprachlichen Bereich beschränkt, vor allem auf Texte der amtlichen und wissenschaftlichen Gattung).

Ein besonderer Fall der hier behandelten Transforma-tion ist die Verschmelzung von zwei einfachen Sätzen zu einem zusammengesetzten, die sogenannte Satzvereinigung z. В. :

That was a long time ago. It seemed like f i fty years ago. (J. Salinger, The Catcher in the Rye, 15)

Это было давно — казалось, что прошло лет пять-десят.

Закончил свою жизнь дед председателем комитета министров. Умер он в 1880 году. (А. А. Игнатьев, 50 лет в строю)

Mein Großvater starb im Jahre 1880 als Vorsitzender des Ministerkomitees.*

Substitution eines zusammengesetzten Sat-zes durch einen einfachen

Diese Transformation ist das Gegenstück zu der vor -stehend behandelten. Wir wollen sie an folgenden Beispielen zeigen:

... I figured I probably wouldn't see him again till Christmas vacation started. (J. Salinger, The Catcher in the Rye, 1)

Mir war klar, daß ich ihn vor Beginn der Weihnachts-ferien nicht mehr sehen werde.

Even though it was so late, old Ernie's was jam-packed. (ib., 12)

Selbst zu dieser späten Stunde war es bei Ernie prop-fenvoll.

It was so dark I couldn't see her. (ib., 23) Im Dunkeln konnte ich sie nicht sehen.

*Das Beispiel entnehmen wir dem Buch 3. E. Розанова: Перевод с русского языка на немецкий, с. 23.

15-019 225

Page 230: Barchudarow Sprache und Übersetzung

Ein Sonderfall dieser Transformation ist die sogenann-te Satzzerlegung, bei der ein zusammengesetzter (seltener auch ein einfacher) Satz in zwei oder mehrere einfache Sätze aufgegliedert wird, z. В.:

Передо мной слепит глаза под ярким солнцем белая от выпавшего за ночь снега Театральная площадь, хотя на улицах снег от езды уже обратился в смесь, похожую цветом на ореховую халву. (В. Гиляровский, Москва и москвичи)

Der Theaterplatz, den in der Nacht gefallener Schnee in ein weißes Kleid gehüllt hat, wird von grellem Sonnen-licht überflutet. Die Augen tun mir weh, so stark blendet es. Auf den Straßen hat sich der weiße Schnee durch den Verkehr bereits in eine Mischung verwandelt, die in der Farbe an Walnußmarzipan erinnert.*

Es kommt vor, daß Vereinigung und Zerlegung von Sätzen gleichzeitig angewandt werden müssen. Im nachfol-genden Beispiel wird ein Satz des Originals in zwei Sätze zerlegt, wobei ein Teil des zweiten Teilsatzes (clause) des englischen Satzes in den zweiten (selbständigen) Satz des russischen Textes übertragen und hier mit dem Äquivalent des dritten Teilsatzes zu einem Ganzen vereinigt wird. Das ist erforderlich, um das semantische und syntaktische „Gleichgewicht" der beiden russischen Sätze zu sichern:;

You couldn't see the grandstand too hot, but you could hear them all yelling, deep and terrific on the Pencey side, because practically the whole school except me was there... (J. Salinger, The Catcher in the Rye, 1)

Трибун я как следует разглядеть не мог, только слыхал, как там орут. На нашей стороне орали во всю глотку — там собралась вся школа, кроме меня... Ein ähnliches Beispiel für die russisch-deutsche Uber-

setzung gibt S. E. Roganowa (а. а. O., S. 25): Пешеход за минуту делает 100 шагов. Определить

скорость движения пешехода в км/ч, считая длину шага равной 80 см. (П. А. Знаменский и др., Сборник во-просов и задач по физике)

*Das Beispiel stammt aus 3. E. Розанова: Перевод с русского языка на немецкий, с. 25.

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Page 231: Barchudarow Sprache und Übersetzung

Ein Fußgänger macht je Minute 100 Schritte, wobei die Länge eines Schrittes mit 80 cm angenommen wird. Bestimmen Sie die Geschwindigkeit des Fußgängers in km/h.

Der erste Satz wird hier mit einem Teil des zweiten Satzes vereinigt. Der Restsatz ist ein Ergebnis der Zerle-gung dieses zweiten Satzes.

Substitution des Hauptsatzes durch einen Nebensatz und umgekehrt

In einigen Fällen tauschen bei der Ubersetzung von Satzgefügen Haupt- und Nebensatz gleichsam ihre Rollen. Der Nebensatz des Ausgangstextes wird zum Hauptsatz der Ubersetzung, der Hauptsatz des Ausgangstextes aber zum Nebensatz:

While I was eating my eggs, these two nuns with suitcases and all ... came in. (ib., 15)

Ich war gerade beim Spiegeleieressen, als diese bei-den Nonnen mit ihren Koffern und übrigen Sieben-sachen ... angerückt kamen.

Häufig ist eine solche Reziproksubstitution bei der Ubersetzung von kurzen Pressenachrichten aus dem Deut-schen ins Russische und umgekehrt:

Газеты сообщают, что в городе FI. состоялась встре-ча делегаций...

Wie in den Zeitungen mitgeteilt wird, fand in N. eine Begegnung der Delegationen statt...

Substitution der Subordination durch Koor-dination

In den meisten Sprachen (u. a. auch im Deutschen, Englischen und Russischen) können die Sätze miteinander sowohl durch koordinative (beiordnende) als auch subor-dinative (unterordnende) Verbindung verknüpft werden. Der Anteil dieser beiden Verbindungsarten ist in verschie-denen Sprachen je nach Stil unterschiedlich. So überwiegt z. B. in der russischen mündlichen Umgangssprache eindeu-

15* 227

Page 232: Barchudarow Sprache und Übersetzung

tig die Koordination, während im entsprechenden Bereich des Englischen auch die Subordination häufig genug vor-kommt. Daher wird bei der Ubersetzung aus dem Englischen ins Russische die Subordination oft in Koordination verwan-delt (das Satzgefüge durch die Satzreihe substituiert), z. В.:

We had strolled to the front yard where Dill stood looking down the street at the dreary face of the Badley Place. (H. Lee, To Kill a Mockingbird, 4)

Мы поплелись в палисадник. Дилл выглянул на улицу и уставился на мрачный дом Рэдли.

Die Ubersetzung ins Deutsche verlangt hier grundsätz-lich die gleiche Transformation:

Wir gingen in den Vorgarten. Dill blickte über die Straße, auf die düstere Fassade des Hauses von Radley. Bei der Übersetzung aus dem Deutschen ins Russische

(vor allem in literarischen Texten) kommt es ebenfalls häufig zu stilistisch bedingter Substitution von Satzge-fügen durch Satzreihen, vgl. folgende Beispiele*:

Während sie noch schrieben und redeten, sahen wir Lazarette und Sterbende... (E. M. Bemarque, Im Westen nichts Neues, S. 29)

Они все еще писали статьи и произносили речи, а мы уже видели лазареты и умирающих...

Das nächste war ein Gewaltmarsch, der die beiden weitgetrennten Teile des Heeres tatsächlich vereinte (H. Mann, Die Jugend des Königs Henri Quatre, S. 69).

И вот войско двинулось форсированным маршем, и обе его разобщенные части действительно соедини-

лись. Es gibt Fälle, wo die Substituierung der Subordination

durch die Koordination mit der Umwandlung eines zusam-mengesetzten Satzes in einen einfachen Satz mit gleicharti-gen Prädikaten einhergeht:

Stradlater kept whistling 'Song of India' while he shaved. (J. Salinger, The Catcher in the Rye 15)

Стрэдлейтер брился и насвистывал „Индийскую песню".

*Aus 3. Е. Розанова: Пособие по переводу с немецкого языка на русский, с. 264/65.

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Page 233: Barchudarow Sprache und Übersetzung

Substituierung der Subordination durch Koordination (unter Umständen in Form einer asyndetischen Verbindung) kann auch innerhalb des einfachen Satzes stattfinden, z. В. :

... I lived in the Ossenburger Memorial Wing of the new dorms, (ib. , 3)

Я жил в корпусе имени Оссенбергера в новом обще-житии.

(Weitere Beispiele solcher Substitutionen siehe unter § 51.)

Beim Übersetzen aus dem Bussischen ins Englische und Deutsche wird im Gegenteil die koordinative Verbindung häufig durch die subordinative wiedergegeben, wie aus nachstehenden Beispielen ersichtlich ist:

В столике нашел бумажки листочек, а на бумажке написано... (Ф. Достоевский, Бедные люди)

Also, on the table I found a scrap of paper which had written on it. . . („Poor People", The Modern Library, N. Y.)

Белый корпус хорошо отражал лучи солнца, и внутри вездехода не было жарко. (Г. Мартынов, 220 дней на звездолете)

Da die weißgestrichene Karosserie die Sonnenstrah-len gut reflektierte, war es im Inneren des Wagens nicht heiß.*

Substitution der konjunktionellen Verbin-dung durch eine asyndetische

Im Deutschen, Englischen und Russischen kann die koor-dinative Verbindung sowohl konjunktionell („syndetisch") als auch konjunktionslos („asyndetisch") bezeichnet werden. Für das Russische aber, besonders in der mündlichen Um-gangssprache, ist die asyndetische Verbindungsweise charak-teristischer als für das Englische und zum Teil das Deutsche. Dies findet meistens darin seinen Ausdruck, daß bei der Ubersetzung aus dem Englischen die konjunktioneile Ver-bindung oft durch eine asyndetische substituiert wird, z. B.:

*Das Beispiel stammt von S. E. Roganowa: а. a. 0 . , S. 196

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Page 234: Barchudarow Sprache und Übersetzung

So I opened my suitcases and took out a clean shirt, and then I went in the bathroom and washed and changed my shirt. (J. Salinger, The Catcher in the Rye, 10)

Я открыл чемодан, вынул чистую рубашку, пошел в ванную, вымылся и переоделся.

Im englischen Satz tritt hier die koordinierende („kopulative") Konjunktion and viermal auf, im russischen aber gibt es nur eine einzige Konjunktion vor dem letzten Glied der Aufzählung.

Genau denselben Fall repräsentiert auch der folgende Satz:

All you do is make a lot of dough and play golf and play bridge and buy cars and drink martinis and look like a liot-shot (ib., 22)

... Будешь просто гнать деньгу, играть в гольф, в бридж, покупать машины, пить сухие коктейли и ходить этаким франтом.

Ähnlich verhält es sich auch bei der Ubersetzung aus dem Deutschen ins Russische:

... mir war, als ob der kleine Raum sich höbe und mit uns durch die Nacht und durch die Jahre schwebte, vorbei an vielen Erinnerungen. (E. M. Remarque, Drei Kameraden, S. 33)

... мне казалося, что маленькая комната трактира вместе с нами подымается ввысь и, покачиваясь, плывет сквозь ночь, сквозь годы, сквозь множество воспоми-наний.

(Der asyndetische Charakter der Verbindung wird hier durch die ausdrückliche dreifache Wiederholung der Präpo-sition betont.)

Bei der Ubersetzung aus dem Russischen weicht anderer-seits die asyndetische Verbindung häufig der konjunktionel-len, polysyndetischen:

Ф и p с : И сушеная вишня тогда была мягкая, сладкая, душистая... (А. П. Чехов, Вишневый сад, I) The dried cherries were soft and juicy and sweet and

sweet-smelling then. ... сама хозяйка тоже рисовала, лепила, пела и

аккомпанировала. (А. П. Чехов, Попрыгунья, II)

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Page 235: Barchudarow Sprache und Übersetzung

... die Hausfrau selber zeichnete und modellierte ebenfalls, sie sang und begleitete sich und die anderen.

(Anstelle einer einzigen Konjunktion im Original treten in der Übersetzung drei hintereinander auf.)

e ) L e x i k a l i s c h e S u b s t i t u t i o n e n

§ 53. Bei der lexikalischen Substitution werden einzel-ne lexikalische Einheiten (Wörter und stehende Wortverbin-dungen) der Ausgangssprache durch solche lexikalische Einheiten der Zielsprache repräsentiert, die n i c h t i h r e W ö r t e r b u c h m ä ß i g e n Ä q u i v a l e n t e sind, d. h. die isoliert genommen eine andere referentielle Be-deutung besitzen als die von ihnen in der Ubersetzung repräsentierten AS-Einheiten. Am häufigsten treten hier drei Fälle auf: K o n k r e t i s i e r u n g , G e n e r a l i -s i e r u n g u n d a u f k a u s a l - k o n s e k u t i v e n B e z i e h u n g e n b e r u h e n d e S u b s t i t u t i o n (Sub-stituierung der Folge durch die Ursache und umgekehrt).

Konkretisierung

Als Konkretisierung bezeichnet man die Substitution eines Wortes (einer Wortverbindung) der Ausgangssprache mit einer weiteren referentiellen Bedeutung durch ein Wort (eine Wortverbindung) der Zielsprache mit engerer Bedeutung. Man unterscheidet zwischen s p r a c h l i c h e r und k o n -t e x t u e l l e r (redebezogener) Konkretisierung. I m Fal-le der sprachlichen Konkretisierung ist die Substitution eines Wortes mit weiterer Bedeutung durch ein Wort mit engerer Bedeutung durch Differenzen zwischen den sprach-lichen Systemen bedingt: einmal durch das Fehlen einer ZS-Einheit mit dem gleichen Bedeutungsumfang wie bei der wiederzugebenden AS-Einheit*, zum anderen durch Unterschiede in ihren stilistischen Merkmalen oder aber durch Forderungen grammatischer Art (die Notwendigkeit syntaktischer Transformation des Satzes, u. a. der Substitu-tion des nominalen Prädikats durch ein verbales). So wird

*Vgl. dazu § 19, wo die Frage der „Undifferenziertheit" der Wörter einer Sprache im Vergleich mit einer anderen behandelt wird.

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Page 236: Barchudarow Sprache und Übersetzung

das englische Substantiv thing, das eine äußerst abstrakte, nahezu pronominale Bedeutung hat (The Sliorter Oxford Dictionary definiert es als „an entity of any kind", „that which is or may be in any way an object of perception, knowledge, or thought"), ins Bussische immer mittels einer Konkretisierung übersetzt: вещь, предмет, дело, факт, случай, обстоятельство, произведение, существо usw.

Konkretisiert werden bei der Ubersetzung ins Russische die Bewegungsverben come (englisch) und kommen (deutsch), da sie keine semantische Komponente enthalten, die auf die Bewegungsart hinweist, deren Bezeichnung im Russischen obligatorisch ist. Bei der Ubersetzung konkretisiert man daher come oder kommen durch die Äquivalente приходить, прибывать, приезжать, подходить, подбегать, приплы-вать, прилетать u. dgl. Auch das englische go (nicht aber das deutsche gehen) wird auf ähnliche Weise konkretisiert, seine Äquivalente sind идти, ехать, отправляться, схо-дить, проходить, плыть, лететь и. а. (vgl. das Beispiel unter § 34). Weitverbreitet ist die Konkretisierung der ver-ba dicendi say und teil, die nicht nur mit говорить und сказать übersetzt werden, sondern auch mit vielen anderen Wörtern dieser Reihe: молвить, повторить, заметить, отметить, утверждать, сообщать, высказываться, воз-разить, приказать, велеть usw. Vgl . :

„So what?" I said. (J. Salinger, The Catcher in the Rye, 6)

— Ну так что же? — спрашиваю я. „Hello", I said when somebody answered the goddam

phone, (ib., 20) — Алло! — крикнул я, когда кто-то подошел к это-

му треклятому телефону. She had said that she was in bed and ill. (W. Thacke-

ray, Vanity Fair, X I X ) Бекки писала, что она больна и лежит в постели. Не told us we should always pray to God. . . (J. Salin-

ger, The Catcher in the Rye, 3) И нам тоже советовал всегда молиться богу. . . Не toldjne to come right over, if I felt like it. ( ib. , 23) Велел, хоть сейчас приходить, если надо. „Thanks for telling me", I said, ( ib. , 23) — Спасибо, что предупредила!— говорю.

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Page 237: Barchudarow Sprache und Übersetzung

Mit ähnlichen Fällen der Konkretisierung haben wir es in folgenden Beispielen bei der russisch-deutschen Über-setzung zu tun:*

С какой скоростью должна двигаться нефть в трубо-проводе..? (П. А. Знаменский и др. Сборник вопросов и задач по физию).

Mit welcher Geschwindigkeit muß das Erdöl in einer Rohrleitung ... fließen?

Какова скорость движения самолета, если он дви-жется по ветру? (там же).

Mit welcher Geschwindigkeit kommt das Flugzeug vorwärts, wenn es ... mit dem Wind fliegt?

Трамвайный вагон массой 16 тонн движется по горизонтальному пути... (там же). Ein Straßenbahnwagen mit einer Masse von 16 t rollt . . . auf horizontaler Strecke. Ein häufiger Fall der Konkretisierung ist mit der Wie-

dergabe des englischen be-Prädikats im Deutschen (und Russischen) verbunden, z. В.: He is at chool — Er geht, zur Schule

Он учится в школе He is in the Army — Er dient bei der Armee

Он служит в армии He was at the ceremony — Er war bei der Veranstal-

tung anwesend Он присутствовал на цере-

монии The concert was on Sunday — Das Konzert fand am Sonn-

tag statt Концерт состоялся в вос-

кресенье The book is on the table — Das Buch liegt auf dem

Tisch Книга лежит на столе

Tlie picture is on the wall — Das Bild hängt an der Wand

Картина висит на стене Die nachstehenden Beispiele aus der schönen Literatur

zeigen, wie sich diese Transformation im Kontext ausnimmt: * Vgl. 3. E. Розанова: Перевод с русского языка на немецкий,

с . 28.

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Page 238: Barchudarow Sprache und Übersetzung

I was in his office for about two hours, I guess. (J. Salinger, The Catcher in the Rye, 2)

Ich verbrachte in seinem Büro rund zwei Stunden... Я просидел у него в кабинете часа два... Alfred Lunt and Lynn Fontanne were the old couple,

and they were very good, (ib., 17) Alfred Lunt und Lynn Fontanne spielten das alte

Paar, und sie machten das sehr gut. Альфред Лант и Линн Фонтанн играли старых

супругов, они очень хорошо играли... ,Не may have to stay in Holl iwood and write a pictu-

re about Annapolis. . . Guess who's going to be in it ! ' (ib., 21)

Vielleicht muß er in Hol lywood bleiben und macht ein Drehbuch über Annapolis. . . Wer wird da wohl mitwirken?

Может быть, ему придется остаться в Голливуде и написать сценарий про Аннополис. . . Угадай, кто в ней будет сниматься?

Es ist nicht uninteressant, daß hier die Konkretisierung im Deutschen und im Russischen nicht immer mit den gleichen Mitteln erfolgt, denn die jeweils verwendeten Äquivalente sind untereinander in ihren referentiellen Bedeutungen nicht unbedingt identisch (verbrachte — просидел, machten — играть, mitwirken — сниматься).

Für die Ubersetzung aus dem Englischen ins Russische ist insgesamt die Tendenz typisch, Wörter mit allgemeiner Bedeutung wie the man, the woman, the person, the creatu-re durch Eigennamen oder konkrete Substantive wie старик, солдат, прохожий, хозяйка, собака, кошка u.a. zu ersetzen.* Dasselbe gilt grundsätzlich auch für die Uber-setzung aus dem Englischen ins Deutsche. Diese Gesetz-mäßigkeit fällt besonders bei der Übersetzung literarischer Werke ins Gewicht, da der übermäßige Gebrauch von Wörtern mit abstrakter oder allgemeiner Bedeutung hier stilistisch unangebracht wäre.

Was die kontextuelle Konkretisierung anbetrifft, so ist sie nicht durch System- und Strukturdifferenzen der bei-den Partnersprachen bedingt, sondern durch Faktoren, die im jeweiligen Kontext wirksam sind. Es handelt sich dabei

»Vgl. N. Gal: а. a. 0., S. 21/22

234

Page 239: Barchudarow Sprache und Übersetzung

meist um stilistische Erwägungen wie die Forderungen nach Abgeschlossenheit, Vermeidung von Wiederholungen, größe-rer Anschaulichkeit u. dgl. Hier einige Beispiele aus einer veröffentlichten Übersetzung:

Der Ford stand fertig in der Werkstatt. Neue Arbeit war nicht hereingekommen. (E. M. Bemarque, Drei Kameraden, X)

В мастерской стоял отремонтированный форд. Но-вых заказов не было.

Ich setzte mich in die Fensterecke und versuchte zu schlafen, ( ib. , X X I )

Я ... сел в углу у окна и попытался вздремнуть. Sie saßen müde da, in einer Haltung, als wären sie

gleich bereit aufzustehen, wenn jemand käme, um sie fortzuweisen, ( ib. , X X )

Сидели усталые, но по их позам было видно, что они готовы встать и уйти по первому знаку служителя.

Uber die pragmatisch bedingte Konkretisierung siehe den Abschnitt „Der pragmatische Aspekt der Ubersetzung".

Generalisierung

Als Generalisierung bezeichnet man die der Konkreti-sierung entgegengesetzte Transformation — die Substituie-rung einer AS-Einheit mit engerer Bedeutung durch eine ZS-Einheit mit weiterer Bedeutung. Hier einige Beispiele:

Wir gingen in den Saal, wo die Teppiche hingen... Die Teppiche sahen wundervoll aus. (E. M. Remarque, Drei Kameraden, XX)

Мы вошли в ... зал, где были развешены ковры.. . Экспонанты поражали роскошью.

Ich stand neben ihr ... und dachte, was für eine ver-dammte Sache es doch sei, eine Frau zu lieben und arm zu sein, (ib, X X )

Я стоял рядом с ней ... и думал, до чего же страшно любить женщину и быть бедным.

Hier ist die Generalisierung von einer syntaktischen Transformation — dem Umbau der Satzkonstruktion — be-gleitet.

Die Generalisierung wird häufig durch pragmatische

235

Page 240: Barchudarow Sprache und Übersetzung

Faktoren verursacht, die im entsprechenden Abschnitt be-handelt wurden. Hier einige weitere Beispiele dafür:

Es handelte sich um den Stutz. Wir hatten ihn repa-riert und vor vierzehn Tagen abgeliefert. (E. M. Remar-que, Drei Kameraden, X X I I )

Речь шла о машине... Мы ее отремонтировали и сда-ли две недели тому назад.

В сундуках у него лежало множество диковинных нарядов: ... шелковые сарафаны, тканые серебром, кики и кокошники, шитые жемчугом. (М. Горький, Детство, гл. XI) In seinen Truhen und Kästen lag allerhand seltsamer Putz, ... mit Silber durchwirkte Sarafane, kostbarer weiblicher Kopfputz jeglicher Art. . .

Die Substitution der Ursache durch die Folge und umgekehrt

In der Übersetzung treten häufig lexikalische Substi-tutionen auf, denen kausal-konsekutive Beziehungen zwi-schen den Begriffen zugrunde liegen. Ein Wort oder eine Wortgruppe der Ausgangssprache kann dabei durch ein Wort bzw. eine Wortgruppe der Zielsprache substituiert werden, die auf Grund logischer Beziehungen die U r s a -c h e der Handlung oder des Zustandes bezeichnen, die den Inhalt der betreffenden AS-Einheit ausmachen.

Hier einige Beispiele*:

Ich erschreckte nicht. Ein Stein hat mir weh getan; diese Schuhe taugen nicht für das Land. (H. Mann, Die kleine Stadt, S. 42)

Ничего я не испугался. Я наступил на'острый каме-шек. Эти башмаки не для загородных прогулок.

Die Substitution erfolgt" nach dem Schema des Bück-schlusses von der Folge auf die Ursache: Ein Stein hat mir weh getan, weil ich auf ihn getreten bin.

*Nach 3. E. Розанова: Пособие по переводу с немецкого языка на русский, с. 20/21.

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Merkwürdig war, daß sie trotz ihrer geräuschvollen Ankunft in den Straßen völl ig allein blieben (H. Mann, Die Jugend des Königs Henri Quatre, S. 134).

Однако странным было то, что, несмотря на шумный въезд отряда, улицы оставаться продолжали безлюд-ными.

(Sie blieben allein, weil die Straßen menschenleer waren.) Selbstverständlich kommt diese Transformation auch in

anderen Sprachkombinationen als in der deutsch-russischen vor, z. В . :

He always madej you say everything twice. (3) (J. Salinger, The Catcher in the Rye, 3)

Он всегда переспрашивал. (Sie mußten ihm alles zweimal sagen, weil er immer

nochmals fragte.) A l o t of schools were home for vacation already... (17) Во многих пансионатах и колледжах уже начались

каникулы... (Viele Schüler waren schon zu Hause, weil die Ferien

begonnen hatten.) Auch die umgekehrte Substitution — Folge für Ursa-

che — kommt bei der Ubersetzung vor, wenn auch seltener: Mußt du heute wieder mit den Provianttüten in die

Turnhalle? (B. Brecht, Die Gesichte der Simone Machard, I) Ты сегодня опять понесешь пакеты с продуктами

в спортивный клуб? (Simone bringt die Provianttüten in die Turnhalle,

weil sie muß.) Ich beschäftige sie, weil sie sonst hungern, (ib., I) Я даю им работу, потому что иначе они умерли бы

с голоду. (Sie würden sterben, weil sie sonst hungern müßten.) Das Leinen hast du nicht ausgesucht... ( ib. , I) Не ты покупала скатерть. (Du hast es nicht gekauft, weil du es nicht ausgesucht

hast.) Außer den hier behandelten gibt es noch weitere Typen

lexikalischer Substitutionen, sie kommen aber relativ selten vor und sind deshalb von geringerem Interesse, so daß hier nicht auf sie eingegangen werden soll.

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f ) A n t o n y m i s c h e U b e r s e t z u n g *

§ 54. Unter dieser Bezeichnung versteht man in der übersetzungstheoretischen Fachliteratur eine weitverbreite-te komplexe lexikalisch-grammatische Substitution, die in der Umwandlung einer affirmativen Konstruktion in eine negative (oder umgekehrt) besteht, wobei mindestens ein Wort des AS-Textes im ZS-Text durch ein antonymisches Wort repräsentiert wirdj (Als „antonymisch" bezeichnen wir hier, abweichend vom allgemeinen Gebrauch, nicht Gegenwörter ein und derselben Sprache, sondern Wörter der Partnersprachen mit entgegengesetzter referentieller Bedeu-tung.)

Betrachten wir folgendes Beispiel: Der Oberarm fühlt sich jetzt noch taub an.

(B. Brecht, Die Gesichte der Simone Machard, I) Плечо еще тоже ничего не чувствует.

Hier wird die deutsche affirmative Konstruktion durch eine russische negative wiedergegeben, das deutsche Nomi-nalprädikat taub sein wird durch das antonymische russische Verb чувствовать ersetzt. Zusammen ergeben beide Änderun-gen dieselbe Gesamtbedeutung.

Einen anderen Fall antonymischer Übersetzung veran-schaulicht folgendes Beispiel:

Es waren inzwischen noch mehr Leute hinzugekom-men, und man sah jetzt deutlich, daß sie eigentlich nicht hierher gehörten. (E. M. Bemarque, Drei Kamera-den, X X )

Народу прибавилось, и теперь было совершенно ясно, что многие оказались здесь случайно.

Die Negation ist hier im AS-Text bereits enthalten, verschwindet aber bei der Ubersetzung infolge der Verwen-dung eines antonymischen ZS-Wortes (wer nicht hierherge-hört, ist zufällig da).

Interessant sind die Fälle, in denen zwei miteinander verbundene Wörter gleichsam die Negation tauschen, indem

»Näheres über die antonymische Ubersetzung siehe auch В. H. Комиссаров, Я. И. Рецкер, В. И. Тархов: „Пособие по перево-ду с английского языка на русский". Ч. I, М., с. 74—84. 3. Е. Ро-занова: „Пособие по переводу с немецкого на русский язык". М., с . 2 2 - 2 3 .

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sich jedes von ihnen in seinen Gegensatz verwandelt: I don't believe this is a smoker... (J. Salinger, The

Catcher in the Rve, 8) Ich glaube, das ist ein Nichtraucherwagen.

Hier gibt das Verb seine Negation an das Substantiv ab.

She wasn't looking too happy, (ib., 17) Sie sah recht unglücklich aus.

In diesem Beispiel erfolgt der „Negationstausch" zwischen dem Verb und dem Adjektiv.

Wir sehen, daß die Negation nicht nur als selbständige Partikel auftreten kann, sondern auch in anderer Form, nämlich als Vorsilbe (Nichtraucher, ««glückl ich) .

Noch eine andere Art der Negationsübertragung zeigt das folgende Beispiel:

... I couldn't think of anybody to call up. (ib., 9) Mir fiel niemand ein, den ich anrufen konnte.

Ein häufiger Fall der antonymischen Ubersetzung ist die Wiedergabe der englischen Konstruktion not ... (un)til (tili) im Deutschen und Russischen. Dabei wird (un)til (tili) durch Wörter wie erst, лишь тогда u. dgl. wiedergege-ben.

They gave me the wrong book, and I didn't notice it till I got back to my room. (J. Salinger, The Catcher in the Rye, 3)

Sie hatten mir das falsche Buch gegeben, aber das merkte ich erst zu Hause.

Я только дома заметил, что мне дали не эту книгу. I didn't think of it till we went half-way through

the park, (ib., 9) Das fiel mir erst ein, als wir schon den halben Park

hinter uns hatten. Вспомнил я об этом, когда мы уже проехали почти

весь парк.

Besondere Beachtung verdienen die Fälle antonymischer Ubersetzung ohne jegliche Negation, bei denen die referen-tielle Bedeutung eines der beteiligten Wörter unmittelbar eine negative Komponente enthält, vgl. zum Beispiel:

„Sie sprechen so gut", sagte Jeanne und hörte schon

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Page 244: Barchudarow Sprache und Übersetzung

auf, ihre Schwiegertochter zu duzen. (H. Mann, Die Jugend des Königs Henri Quatre, S. 95)*

— Говорите Вы, без сомнения, очень складно,— от-ветила Жанна, снова обращаясь к будущей невестке на „Вы".

Da die im Verb „aufhören" implizit enthaltene Negation in der Übersetzung fortfällt, ist die antonymische Substitu-tion duzen — обращаться на „Вы" berechtigt und notwendig.

Mit einem speziellen Fall der antonymischen Ubersetzung haben wir es zu tun, wenn ein englisches Adjektiv oder Ad-verb im Komparativ oder Superlativ durch ein Adjektiv (Adverb) im Positiv (oder umgekehrt) wiedergegeben und dabei gleichzeitig das „Vorzeichen" der Aussage vertauscht wird (affirmativ gegen negativ oder umgekehrt).

... She paid Riri 's parents the proper visit of condo-lence, but she neither ate less heartily nor slept less soundly. (S. Maugham, A Man with a Conscience)

... Sie stattete Biris Eltern den üblichen Beileidsbe-such ab, aber sie aß trotzdem mit dem gleichen Appetit und schlief genauso fest wie sonst.

It wasn't as cold as it was the day before (J. Salinger, The Catcher in the Rye, 16)

Es war wärmer als am Tag zuvor. Стало теплее, чем вчера.

Im nachfolgenden Beispiel ist die Transformation der affirmativen Aussage in eine negative nicht von einer antonymischen Substitution begleitet, sondern von einer Umwandlung eines Satzgefüges in einen einfachen Satz und von der Veränderung der syntaktischen Funktion von before:

It will be February 8 before they return to Earth. (BBC broadcast, 16.XI.73)

Sie (die Astronauten) kommen nicht vor dem 8. Fe-bruar auf die Erde zurück.

g ) K o m p e n s a t i o n

§ 55. Die Äquivalenz der Ubersetzung kann auch durch eine Substitution besonderer Art gewährleistet werden, man

*Das Beispiel ist dem obenerwähnten Buch von S. Roganowa entnommen (S. 23).

240

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nennt sie K o m p e n s a t i o n . Dieses Verfahren wird angewandt, wenn bestimmte Elemente des AS-Textes aus irgendeinem Grunde keine Äquivalente in der Zielsprache ha-ben und mit deren Mitteln nicht wiedergegeben werden können,' Um den semantischen Verlust auszugleichen (zu „kompensieren"), der dadurch entsteht, daß eine AS-Einheit unübersetzt oder unvollständig (nicht im vollen Umfang ihrer Bedeutung) übersetzt bleibt, gibt der Ubersetzer die-selbe Information mit i r g e n d e i n e m a n d e r e n M i t t e l wieder, das zudem nicht unbedingt an der glei-chen Stelle erscheinen muß wie im Original.

In einem Kommentar zu seiner Ubersetzung von Gustave Flauberts „Madame Bovary" schreibt der bekannte sowjeti-sche Ubersetzer N. M. Ljubimow: „Das ist im Grunde ge-nommen ein provinziel ler ' (областной) Roman. . . In Uber-einstimmung mit dem allgemeinen provinziel len ' Kolorit des Bomans erhält auch sein Wortschatz mitunter ein beson-deres Kolorit . . . Flaubert nennt die Schwiegertochter nicht nur ,belle-fille ' , sondern auch ,bru' . Für das Wort ,Ruder' gibt Flaubert einen Ausdruck, der nur in einem Mundartlexi-kon zu finden ist (bauce). Es kam mir selbstverständlich nicht darauf an, die Provinzialismen genau an denselben Stellen anzubringen, wo sie bei Flaubert vorkommen. So ist es meines Erachtens zwecklos, sich anstatt des allgemein gebräuchlichen und ohne weiteres verständlichen Wortes ,Ruder' irgendeinen ausgefallenen Fachausdruck auszuden-ken. Dafür aber kommt bei mir in der Landschaftsbeschrei-bung z. B. das Wort зеленя vor."* Damit charakterisiert N. M. Ljubimow das Wesen der Kompensation, ohne aller-dings diesen Ausdruck zu benutzen.

Das Kompensationsverfahren wird weitgehend beim Ubersetzen literarischer Werke angewandt, in denen die ver-schiedensten Abweichungen von der neutralen Stil- und Registerebene vom Verfasser großzügig als sprachliche Aus-drucksmittel bzw. zur Charakterisierung handelnder Perso-nen eingesetzt werden.

So ist es z. B. begreiflich, daß der Ubersetzer von Wassili Schukschins Filmerzählung „Калина красная", Ruprecht Wi l lnow** , neben anderen Übersetzungsverfahren auchKom-

*„Тетради переводчика", изд. I МГПИИЯ, № 3, 1960, с. 8. **W. Schukschin: Schöner Schneeballstrauch. Ubersetzt von

R. Wi l lnow. In: Verwandlungen. Neue russische Novellen. Berlin 1974, S. 3 4 5 - 4 3 8 .

l/2 16-019 241

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pensationen anwenden muß, um die eigenartige Mischung aus Bauernmundart und Gaunersprache wiederzugeben, die einen charakteristischen Stilzug dieses Werkes ausmacht:

Жми, Лёша, на весь костыль. А то у меня сердце счас из груди выпрыгнет. Надо что-то сделать. Drück auf die Tube, Kleiner. Sonst schnappe ich über. Ich muß was tun.

Auf den ersten Blick mag diese Ubersetzung nicht vol l -kommen äquivalent erscheinen. Der Chauffeur, an den diese Worte gerichtet sind, wird im russischen Text neutral mit seinem Vornamen angeredet, im deutschen Text aber er-scheint als Anrede das herablassend-familiäre „Kleiner".

Einen ähnlichen Fall sehen wir in folgendem Passus:

— Эх-х! — огорчилась Люсьен — Проза.. . Опять покойники, кровь. . . Брр. . .

„Ach!" sagte Lucienne erbittert. „Miststück... Wieder Tote, Blut. . . Brrr."

Das neutral-schriftsprachliche проза ist durch das nega-tiv-umgangsspracliliche Wort „Miststück" wiedergegeben, ohne daß aus dem Satzzusammenhang ein zwingender Grund dafür erschließbar wäre.

Wir haben es hier eben mit ausgesprochenen Kompensa-tionserscheinungen zu tun. Die negativ-umgangssprachlichen Wörter, die an diesen Stellen vom ^Übersetzer verwendet wurden, gleichen die unvermeidlichen Stil- und Register-charakterisierungsverluste aus, die an anderen Stellen des Textes in Kauf genommen werden mußten, was u. a. an fol-genden Beispielen zu sehen ist:

„Малина" была в сборе.| Die Bande war vollzählig versammelt.

Das Argot-Wort „малина" ist hier durch das neutral-gemeinsprachliche „Bande" übersetzt, da dem Übersetzer kein Äquivalent zur Verfügung stand, das sowohl die refe-rentiellen als auch die pragmatischen Bedeutungen des Ausgangswortes wiederzugeben imstande wäre.

Dasselbe Verhältnis zeigt uns auch folgender Satz:

Хороши (стихи). Как стакан спирта дёрнул. Ja, das sind sie. Gehen einem ein wie ein Glas Schnaps.

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Auch hier wird das stilistisch markierte Wort „дернуть" durch das neutrale „eingehen" repräsentiert. Damit derar-tige Verluste die äquivalente Wiedergabe der stilistischen und registermäßigen Eigenart des gesamten Textes nicht beeinträchtigen, ist es notwendig, den Ubersetzungstext mit entsprechend markierten Einheiten anzureichern.

Einen nicht ganz gewöhnlichen, aber aufschlußreichen Fall der Kompensation finden wir in der deutschen Überset-zung des berühmten satirischen Romans von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow „Золотой теленок"*:

Едва он успел произнести эти слова, как Генрих-Мария Заузе подскочил на диване и злобно посмот-рел на плыхаевскую дверь, за которой слышались телефонные звонки. „Wolokita!"— взвизгнул он дис-кантом, и, бросившись к великому комбинатору, стал изо всей силы трясти его за плечи.

— Геноссе Полыхаев! — кричал он, прыгая пе-перед Остапом.— Геноссе Полыхаев!

Kaum hatte Ostap ausgesprochen, da sprang Hein-rich Maria Sause vom Diwan hoch und warf einen wütenden Blick auf Polychajews Tür, hinter der die vereinsamten Telefone schrillten. „Amtsschimmel!" heul-te er im Diskant, stürzte sich auf den großen Kombina-tor und rüttelte ihn heftig an der Schulter.

„Towaristsch Polychajew!" schrie er ungebärdig auf Ostap ein. „Towaristsch Polychajew!"

In diesem Textabschnitt kam es den Autoren darauf an, darzustellen, daß der aus der Fassung gebrachte Ausländer in seiner Not Russisch zu sprechen beginnt. Im Original le-gen ihm die Verfasser das russische Wort „волокита" in den Mund (die lateinische Schreibung soll wahrscheinlich die fremdartige Aussprache des Wortes symbolisieren). Волокита war in den dreißiger Jahren ein Modewort und zugleich Schlagwort der antibürokratischen Kritik. Die Ubersetzer hielten es nicht für möglich, das Wort unübersetzt in den deutschen Text zu übernehmen, da seine referentielle Bedeu-tung dabei dem deutschsprachigen Leser unverständlich geblieben wäre. Um aber das hier wichtigste Ausdrucksmit-

*/. Ilf, J. Petrow: Die Jagd nach der Million. Übersetzt von B. Brod, M. von Pruss-Glowatzky und R. Hoffmann, Berlin 1968, S. 199.

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tel — das russische Wort im Munde des Ausländers — zu bewahren, ersetzen die Ubersetzer das deutsche Wort „re-носсе" des russischen Textes im deutschen Text durch das russische „towaristsch", wodurch das Gleichgewicht einiger-maßen wiederhergestellt wird.

Das nachstehende Beispiel aus demselben Boman zeigt wieder eine andere Art der Kompensation:

И до самой своей смерти квартирант будет сыпать юридическими словечками..., будет говорит не „нака-зывается", а , наказуется", не (поступок", а „деяние".

Bis zum Tode wird solch ein Mieter Begriffe der Jurisprudenz im Munde führen... Er wird nicht „bestraft" sagen, sondern geahndet", nicht Vergehen", sondern Delikt". »

Im Original wird der Gegensatz zwischen der neutralen Alltagssprache und der Amtssprache zum literarischen Aus-drucksmittel erhoben. Im ersten Wortpaar beruht im Russischen die Gegenüberstellung auf der unterschiedlichen Konjugation ein und desselben Verbs in verschiedenen Sti-len. Da es im Deutschen keine vergleichbare Unterscheidung gibt, wird die hier vorrangig wichtige pragmatische Bedeu-tungsmarkierung der grammatischen Formen durch die Ver-wendung eines geeigneten Synonympaars, also durch ein lexikalisches Mittel, kompensiert.

Beim zweiten Wortpaar bleibt die Markierung auf lexi-kalischer Ebene dadurch erhalten, daß Wörter mit abwei-chender referentieller Bedeutung verwendet werden, was ebenfalls als Kompensation zu werten ist.

Wie aus diesen Beispielen ersichtlich ist, wird die Kom-pensation vor allem dort benutzt, wo ausgesprochen intra-linguistische Bedeutungen wiedergegeben werden müssen, in denen sprachliche Besonderheiten des Originals zum Ausdruck kommen — mundartliche Färbung und andere Abweichungen von der Sprachnorm, individuelle Redecharak-teristika, Wortspiele u. a. — sowie bei der Wiedergabe pragmatischer Bedeutungen, wenn in der Zielsprache direkte Äquivalente für die jeweiligen AS-Einheiten fehlen. Die Kompensation ist eine anschauliche Bestätigung des von uns bereits wiederholt betonten Grundsatzes, wonach die Äquivalenz der Übersetzung nicht auf der Ebene einzel-ner Textelemente (namentlich der Wörter) gewährleistet

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wird, sondern auf der Ebene des gesamten Textes. Anders ausgedrückt heißt das: Es gibt zwar unübersetzbare[Details, aber'"es gibt keine unübersetzbaren Texte.

3. ERGÄNZUNGEN

§ 56. Lexikalische Ergänzungen im Text der Ubersetzung können aus verschiedenen Gründen notwendig werden. Die wohl häufigste Ursache ist das, was man als „f o r m e 1 1 e U n a u s g e d r ü c k t h e i t " d e r s e m a n t i s c h e n K o m p o n e n t e n e i n e r W o r t v e r b i n d u n g in der Ausgangssprache bezeichnen darf. Für die Wortverbin-dungen der englischen Sprache ist diese Erscheinung beson-ders charakteristisch. Vom Standpunkt der generativen Grammatik aus kann man das als „Ellipse" oder „Weglas-sung" bestimmter in der Tiefenstruktur des Satzes enthalte-ner semantischer Elemente bei deren Transformierung in die Oberflächenstruktur auffassen. Von dieser „Ellipse" sind oft Wörter betroffen, die der amerikanische Sprachwissenschaft-ler Z. Harris als „passende Wörter" (appropriate words) bezeichnet. In einer seiner Arbeiten* definiert Harris den Begriff des „passenden Wortes" folgendermaßen: „ . . . the main word to occur with the particular other words.. . in the given culture or subject matter." Als Beispiel gibt er die Wortgruppen violin prodigy, wo playing das „passen-de Wort" ist, und violin merchant mit dem „passenden Wort" selling. Diese Wortgruppen lassen sich somit als Derivate der Tiefenstrukturen violin-playing prodigy bzw. violin-selling merchant interpretieren, in denen beim Uber-gang zur Oberflächenstruktur das „passende Wort" wegge-lassen wird. Gleichermaßen kann im Satz I began the book als „passendes Wort" entweder to read auftreten, falls im weiteren Kontext von einem Leser die Bede ist, oder aber to write, falls es um einen Autor geht, nicht aber to buy, das hier als „passendes Wort" nicht in Frage kommt.

Da in verschiedenen Sprachen die Oberflächenstruktur von Sätzen mit gleicher Tiefenstruktur verschieden sein kann, müssen bei der Ubersetzung die in der Ausgangsspra-che weggelassenen „passenden Wörter" unter Umständen „rekonstruiert" werden. Darauf beruht eben die Transforma-

*Z. S. Harris: Papers in Structural and Transformational Lingui-stics. Dordrecht 1970, pp. 559/60.

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tion der Ergänzung, die besonders bei der Ubersetzung aus dem Englischen so häufig auftritt. (Für die Struktur des Deutschen und insbesondere des Russischen ist die Ellipse der „passenden Wörter" offenbar weniger typisch als für das Englische, was allerdings noch einer umfassenden Prü-fung und Begründung bedarf.) Als Beispiel wollen wir fol-genden Satz untersuchen:

The new American Secretary of State has proposed a world conference on food supplies.

In der Wortverbindung has proposed a world conference ist eine Komponente der Tiefenstruktur weggelassen, der das „passende Wort" to call (einberufen) entspricht. Diese semantische Komponente, die im englischen Satz (in seiner Oberflächenstruktur) „formell unausgedrückt" bleibt, muß in anderen Sprachen auf Grund der in ihnen geltenden Normen explizit ausgedrückt werden:

\J Der neue US-Außenminister schlug die Einberufung einer Welternährungskonferenz vor.

Новый государственный секретарь США предложил созвать всемирную конференцию по вопросам продо-вольственных ресурсов.

Ein weiteres Beispiel: Is it surprising then that Japan's Premier Tanaka

should have sent a letter to Leonid Brezhnev... proposing that negotiations be reopened on a peace treaty? („Daily World", 28.III.73)

Das „passende Wort" zu peace treaty ist to conclude. In der deutschen und russischen Ubersetzung ist diese Bedeu-tung formell zum Ausdruck zu bringen, es muß daher heißen:

... mit dem Vorschlag, die Verhandlungen über den Abschluß eines Friedensvertrages wiederaufzunehmen.

... предлагая возобновить переговоры о заключении мирного договора. Selbstverständlich gilt das Gesagte nicht nur für Über-

setzungen aus dem Englischen. Auch in der deutsch-russischen Ubersetzung kommen ähnliche Situationen vor, in denen implizite „passende Wörter" aus der Tiefenstruktur erst durch die Ubersetzung zu formellem Ausdruck gelangen, z. В. :

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Dunkle Stimme aus dem Dunkeln, die etwas Zweifel-haftes zu verkünden scheint. (H. Boll , Hier ist Tibten)

Гулкий голос, громыхающий из тьмы, — кажется, что он вещает нечто сомнительное... Das „passende Wort" zu Stimme ist tönen, es wird durch

ein Synonym der äquivalenten Wortreihe ins Bussische übertragen.

Es bestehe immer noch Hoffnung auf Erdöl in Zimp-ren... (I i . Boll , Der Bahnhof von Zimpren)

Перспектива возобновления добычи нефти в Цим-прене ... несомненно существует. Hier ist das fehlende „passende Wort" zu Erdöl —

gewinnen — in erweiterter Form im russischen Ubersetzungs-text ausgedrückt.

Die „formelle Unausgedrücktheit" semantiscli selbstver-ständlicher Komponenten ist ein typisches Merkmal der zusammengesetzten Substantive der deutschen Sprache wie z. B. Lohnforderung (Forderung nach höherem Lohn), Waf -fenschein (Schein, der zum Tragen von Waffen berechtigt), Stromsperre (Sperre der Stromlieferung), Wirtschaftsredak-teur (Bedakteur des Wirtschaftsteils) usw. Bei der Uber-setzung ins Russische werden diese Wörter meist nicht durch zweigliedrige, sondern gemäß ihrer semantischen Struktur durch mindestens dreigliedrige Wortgruppen wie-dergegeben: требование о повышении заработной платы, удостоверение на право ношения оружия, прекращение подачи тока, редактор отдела экономики u. clgl. Diese Transformation hat aber nicht uneingeschränkte Geltung, da auch im Bussischen die Weglassung des „mittleren Gliedes" an sich möglich ist, wenn auch seltener als im Deutschen. Vgl. z. B. Berufsverbot (Verbot, einen Beruf auszuüben) — запрет па профессии.

Es gibt auch andere Ursachen für die Aufnahme ergänzen-der Wörter in die Ubersetzung. Oft sind lexikalische Ergän-zungen notwendig, um in der Ubersetzung Bedeutungen zum Ausdruck zu bringen, die im Original in den grammatischen Formen „verborgen" sind. Beispiele dafür brachten wir u. a. im Abschnitt, in dem die Wiedergabe des Plusquamperfekts behandelt wurde: die Vorzeitigkeit der Handlung wird im Russischen durch Adverbien zum Ausdruck gebracht.*

»Diese Transformation läßt sich auch als Substitution gram-matischer Ausdrucksmittel durch lexikalische deuten.

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Typisch sind lexikalische Ergänzungen bei der Wieder-gabe deutscher Substantive im Plural, die im Russischen nur in der Singularform vorkommen wie z. B. Lügen — лживые утверждения; Schlüsselindustrien — ключевые от-расли промышленности; moderne Technologien — совре-менные технологические методы; konventionelle Waffen — обычные виды оружия.

Ergänzungen werden manchmal notwendig, um Mißver-ständnissen vorzubeugen, wenn die im Ausgangstext eindeu-tige Aussage bei der Ubersetzung im System der Zielsprache mehrdeutig wird, z. В . :

Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr eigenstes Produkt. (K. Marx, F. Engels, „Manifest der Kommuni-stischen Partei")

Все прочие классы приходят в упадок и уничтожа-ются с развитием крупной промышленности, про-летариат же есть её собственный продукт.*

Die Ergänzung с развитием ist erforderlich, um die mißverständliche Auffassung, als ob „die übrigen Klassen" zusammen mit der großen Industrie untergingen, zu verhin-dern.**

Oder ein ähnlicher Fall: Nach dem gestrigen Zusammenstoß mit dem Reichs-

kanzler, wobei Wahlgeheimnisse platzten, ist Marokko gefährlich geworden. (H. Mann, Publizistische Schriften, S. 24)

После вчерашней стычки с рейхсканцлером, в ходе которой с треском лопались секреты избирательной компании, вопрос о Марокко стал опасным. Der Zusatz ist notwendig, weil sonst der Staat Marokko

als Gefahrenquelle (etwa als Aggressor) aufgefaßt würde, während es sich hier um das Thema Marokko, um die politi-schen Verwicklungen um dieses Land herum, handelt.

Es können aber auch rein stilistische Erwägungen sein, die den Übersetzer zur Ergänzung des ZS-Textes durch hinzugefügte Wörter veranlassen, z. В . :

*K. Маркс, Ф. Энгельсу „Манифест коммунистической партии". М., с. 43.

**Dieses und das folgende Beispiel analysiert S. Roganowa а. a. 0, S. 23.

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Nie empfand ich das Geheimnis des ewig Fremden der Frau mehr, als bei diesem leisen Hin- und Hergehen vor dem Spiegel, . . . diesem ganz in sich Versinken, diesem Zurückgehen in den unbewußten Spürsinn des Geschlech-tes. (E. M. Remarque, Drei Kameraden, X V I I I )

Никогда еще я не чувствовал с такой силой вечную непостижимую тайну женщины, как в минуты, когда она тихо двигалась перед зеркалом ... полностью растворяясь в себе, уходя в подсознательное необъяс-нимое ощущение своего пола.

In diesem kurzen Auszug sind vom Übersetzer mehrere Wörter ergänzt worden, um eine den Stilnormen der Ziel-sprache vollkommen entsprechende Fassung der Uberset-zung zu erreichen.

(Über pragmatisch bedingte Ergänzungen s. § 33.)

4. Weglassungen § 57. Die Weglassung ist eine der Ergänzung entgegen-

gesetzte Transformation. Bei der Ubersetzung werden mei-stens die semantisch r e d u n d a n t e n Wörter weggelassen, deren Bedeutungen sich auch ohne ausdrückliche Bezeich-nung aus dem Text erschließen lassem Sowohl das Sprach-system als Ganzes als auch die konkreten Redeprodukte besitzen bekanntlich ein hohes Maß an Redundanz, wodurch die Weglassungen im Ubersetzungsprozeß möglich werden.

Ein Beispiel von Redundanz sind u. a. die in bestimm-ten Stilen des Englischen weitverbreiteten „ S y n o n y m -p а а r e", die gleichzeitige Verwendung von zwei sinnver-wandten Wörtern (mit gleicher oder sehr ähnlicher referen-tieller Bedeutung), die durch die Konjunktion and gekoppelt sind. Dies ist insbesondere für juristische Dokumente und andere Texte juristischen Inhalts typisch. Bei der Überset-zung ins Deutsche oder ins Russische wird eines der beiden Wörter weggelassen (das Wortpaar wird durch ein einziges Synonym substituiert). Vgl. z. B. just and equitable treat-ment — gerechte Behandlung — справедливое обращение; the proposal was rejeeted and repudiated — der Vorschlag wurde abgelehnt — предложение было отвергнуто, by force and violence — mit Gewalt — насильственным путем.*

*Vgl . Т. R. Lewizkaja, А. M. Fiterman: а. a. 0 . , S. 99.

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Dasselbe Stilmittel kommt auch in publizistischen Texten vor, z. B. :

The bold and courageous struggle of the working class and its Communist Party carried the day. („Daily World" , 20.III.73)

Der mutige Kampf der Arbeiterklasse und ihrer Kom-munistischen Partei waren von Erfolg gekrönt.

Sehr häufig bedient man sich dieses Mittels in der öffent-lichen Rede. Als Beispiel bringen wir nachstehend einen Auszug aus der Rede eines Delegierten in der X I V . UNO-Vollversammlung am 25. September 1959:

Judging by all external appearances, this session of our Assembly is regular and normal... Yet the atmosphere is neither usual nor seasonal, for this session stands outsi-de the pattern of the thirteen sessions held since the days of San Fransisco. The fateful events that are rushing into the international arena ... are neither of a usual character nor of an ordinary nature... It is a unique session — happily and fortunately led by a unique President.

Die im Text durch Fettdruck hervorgehobenen Stellen sind „Synonympaare". Da im heutigen Deutsch ein solcher Gebrauch von Synonymen unüblich ist, werden hier in der Übersetzung Weglassungen erforderlich:

Nach den äußeren Merkmalen zu urteilen, ist dies eine ganz gewöhnliche Tagung unserer Vollversammlung... Aber die Atmosphäre, in der sie verläuft, ist alles andere als gewöhnlich, denn... Die bedeutsamen Ereignisse, die sich in der Welt vollziehen, besitzen einen wahrhaft außerordentlichen Charakter. Es ist dies eine ganz besondere Tagung, die zum Glück ein hervorragender Präsident leitet.

Die Verwendung von „Synonympaaren" ist nicht immer ein Stilmittel. Manchmal beruht sie auf anderen Faktoren wie etwa im folgenden Satz, der aus einem wissenschaftlich-technischen Text stammt:

Burning or combustion is the process of uniting a f uel or combustible with the oxigen in the air.

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Hier werden im Text die technischen Fachausdrücke combustion, combustible verwendet, die dem fachlich unbewanderten Leser fremd sein können. Deshalb werden die-se Wörter für den Laien durch den parallelen Gebrauch der englischen Wörter burning, fuel erläutert. Da aber die deutschen Äquivalente „Brennen, Brennstoff" allgemein ver-ständlich sind und keiner Erläuterung bedürfen, wird bei der Übersetzung die Redundanz durch das Weglassen des jeweils zweiten Wortes im Synonympaar beseitigt:

Das Brennen ist der Prozeß der Vereinigung des Brenn-stoffs mit dem in der Luft enthaltenen Sauerstoff.

Von der Weglassung können auch ganze Wortgruppen und sogar Sätze betroffen worden, wenn sie, wie im vorstehen-den Beispiel, eine lediglich für den AS-Leser relevante Er-läuterung irgendeines anderen Textelements darstellen. Sehr aufschlußreich ist nachstehendes Beispiel, das im Handbuch von S. Boganowa gegeben wird:

... главнокомандующий рейхсвером (так именова-лись вооруженные силы Германской республики) гене-рал Курт фон Гаммерштейп-Экворд... (J1. А. Безы) меиский, Германские генералы — с Гитлером и без него-

. . . der Chef der Heeresleitung der Reichswehr, Gene-ral Kurt Freiherr von Hammerstein-Equord.. .

(Für den deutschsprachigen Leser ist die Erläuterung des Begriffs „Reichswehr" überflüssig.)

Jeder Text kann natürlich außer den hier ausführlich behandelten „Synonympaaren" und den mit ihnen semantisch verwandten Erläuterungen, auch redundante Elemente enthalten. Jeder Fall von semantischer Wiederholung bzw. jede aus dem Zusammenhang erschließbare Wortbedeutung sind potentielle Objekte der Weglassung. Das läßt sich u. a. an Beispielen aus der schönen Literatur nachweisen:

Ich rief den Hund zu mir und setzte mich in den Sessel neben das Fenster./Ich liebte es, so still dazusitzen und Pat zuzusehen, währeud sie sich anzogT(E. M. Remarque,

' Drei Jfamerad^^XVYlT) Я подозвал собаку и уселся в кресло у окна.

Я_дю^ил смотреть, как Пат одевается.

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Es war eine breite viergleisige Brücke über den Rhein und auf viele schwere Strompfeiler gestützt. (H. Boll , Über die Brücke)

Большой четырехколейный мост через Рейн, покоив-шийся на каменных быках.

Man nimmt an, daß den Ungeheuern schnell das Benzin ausgehen wird. Dann bleiben sie an der Straße liegen, wissen Sie. (B. Brecht, Die Gesichte der Simone Machard, I)

Полагают, что этим чудовищам скоро не хватит бензина. Тогда они застрянут. Понимаете?

Die Beseitigung semantisch redundanter Elemente des Ausgangstextes befähigt den Ubersetzer zur sogenannten „ T e x t k o m p r e s s i o n", d . h . zur Verringerung des Textumfangs in der Übersetzung gegenüber dem Original. Dies ist häufig notwendig, weil die zahlreichen Zusätze und Erläuterungen, die der Ubersetzer (meist aus pragmati-schen Gründen) während der Übersetzung einfügen muß, um den Text verständlich zu machen, sonst ein übermäßiges „Anschwellen" des Textes zur Folge haben könnten. Um diese Tendenz aufzufangen, muß sich der Übersetzer, soweit dies die Sprach- und Stilnormen der Zielsprache zulassen, stets um die Kürze des Ausdrucks bemühen, indem er die semantisch redundanten Elemente des Ausgangstextes weg-läßt.*

Weglassungen werden aber nicht immer nur durch sprach-liche Redundanz des Ausgangstextes bedingt. Manchmal haben sie auch andere Gründe. Die für das Englische kenn-zeichnende Tendenz zur größtmöglichen Konkretisierung; die sich im ausgiebigen Gebrauch von Zahlwörtern und Maß-angaben äußert, wo dies semantisch eigentlich nicht moti-viert ist, veranlaßt den Ubersetzer ebenfalls zu Weglassungen. Ein Beispiel:**

About a gallon of water was dripping down my neck, getting all over my collar and tie. . . (J. Salinger, The Catcher in the Rye, 20)

Das Wasser strömte mir am Nacken herunter, Schlips und Kragen waren schon ganz naß...

*Еще ausführliche Behandlung dieser Frage enthält folgende Arbeit: А. Д. Швейцер: Перевод и лингвистика, с. 199—206.

**Т. Д. Lewizkaja, А. М. Fiterman: а. а. 0., S. 28.

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Вода с головы лилась за шиворот, весь галстук промок, весь воротник...

(Uber Weglassungen aus pragmatischen Gründen s. § 33.)

Zum Schluß möchten wir noch einmal betonen, daß die hier aufgezählten Ubersetzungstransformationen (wie aus den angeführten Beispielen ersichtlich ist), kaum „in Rein-kultur" vorkommen. Meist kommen verschiedene Transfor-mationen zugleich vor und verflechten sich miteinander: Eine Umstellung ist von einer Substitution begleitet, eine gram-matische Umwandlung von einer lexikalischen usw. Eben-dieses fazettenreiche, komplexe Wesen der Transformationen macht die Übersetzung zu einer so schwierigen und mühevol-len Arbeit. Der bekannte englische Philosoph I. A. Richards hat wohl nicht allzusehr übertrieben, wenn er sagte: „Es ist durchaus möglich, daß wir es hier mit dem kompliziertesten aller Prozesse zu tun haben, der im Zuge der Evolution je im Weltall entstanden ist."* Auch wenn das eine Übertrei-bung ist, so weicht sie doch nicht zu sehr von der Wahrheit ab.

*/. A. Richards: Towards a Theory of Translating. „Studies in Chinese Thought", ed. by A. F. Wright, 1953, pp. 247—262.

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SCHLUSSBEMERKUNGEN

In der vorliegenden Arbeit ist in allgemeinen Zügen eine Auffassung dargelegt, für die das Wesen der Ubersetzung ein zwischensprachlicher Transformationsprozeß ist, und die in den Rahmen eines als „semantisch-semiotisch" zu bezeich-nenden Modells eingeordnet ist. Das Wesen dieses Modells läßt sich bei nichtformalisierter Betrachtung auf folgendes reduzieren: Dem Übersetzer wird ein Text in der Ausgangs-sprache vorgegeben, bei dem es sich um eine nach bestimm-ten Begeln aufgebaute und eine bestimmte Information enthaltende Folge von Einheiten handelt, die zum gegebe-nen Zeichensystem (dem AS-System) gehören. Die Aufgabe des Übersetzers ist die Umwandlung dieses Textes in einen ihm äquivalenten Text in einer anderen Sprache (Zielspra-che). Unter „Äquivalenz" ist „gleicher Informationsgehalt" zu verstehen, „äquivalent" sind in diesem Sinne Texte, die denselben semantischen Inhalt haben, obwohl sie sich in der Art unterscheiden, wie dieser Inhalt ausgedrückt wird.

Da der Text eine Folge sprachlicher oder, anders aus-gedrückt, semiotischer (zeichenmäßiger) Einheiten ist, kann und muß der semantische Gehalt (die Bedeutung) dieser Ein-heiten und des gesamten Textes durch die Feststellung von Verbindungen zwischen diesen Einheiten und den außerhalb dieser Einheiten liegenden Dingen erschlossen werden, d. h. durch Aufdeckung der Beziehungen zwischen den Zeichen-einheiten und dem, was sie bezeichnen, sowie der Beziehun-gen der Zeicheneinheiten untereinander. Auf diese Weise werden drei Typen von Beziehungen festgestellt: die Bezie-hungen zwischen dem Zeichen und seinem Referenten, die

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Beziehungen zwischen dem Zeichen und seinem „Benutzer" (der Sprachgemeinschaft) und die Beziehungen der Zeichen untereinander innerhalb des jeweiligen sprachlichen Sy-stems. Mit anderen Worten, es werden drei Typen von Bedeu-tungen nachgewiesen — die referentiellen, die pragmati-schen und die intralinguistischen. Da aber ein Text nicht schlechthin eine Folge von Zeicheneinheiten ist, sondern eine auf bestimmte Art und Weise organisierte und inte-grierte Zeichensequenz, erschöpft sich das Verstehen eines Textes nicht im Verstehen der Bedeutungen der diesen Text bildenden Einheiten, sondern es setzt eben voraus, daß der Text als einheitliches Ganzes verstanden wird, und daß es zu einer „Integration" aller drei Bedeutungsarten der sprach-lichen Einheiten im Rahmen des gesamten Redeprodukts kommt.

Es ist die Aufgabe des Übersetzers, nachdem er die Be-deutung des Ausgangstextes verstanden hat, dieselbe Bedeu-tung (oder richtiger dasselbe System von Bedeutungen) mit den Mitteln einer anderen Sprache auszudrücken. Da dabei eine zwischensprachliche Transformation vol lzogen, d. h. das eine Zeichensystem gegen ein anderes (wenn auch gleich-artiges) ausgetauscht wird, entstehen unvermeidlich seman-tische Verluste, von denen vorwiegend die intralinguisti-schen Bedeutungen des Ausgangstextes betroffen sind, aber nicht nur diese allein.

Es ist die Pflicht des Übersetzers, diese Verluste zu minimalisieren, d. h. die größtmögliche Äquivalenz des AS-Textes und des ZS-Textes zu gewährleisten (ohne sich darüber zu täuschen, daß die Sicherung einer „hundert-prozentigen" Äquivalenz eine im Grunde unausführbare Auf-gabe ist, ein anzustrebendes Ideal, das nie erreicht werden kann). Dies veranlaßt den Ubersetzer, eine „Bangfolge" der wiederzugebenden Bedeutungen festzulegen, indem er be-stimmt, welche Inhalte i m j e w e i l s v o r l i e g e n d e n T e x t vorrangig erhalten werden müssen und welche man opfern muß, um die höchstmögliche Äquivalenz zu erreichen. Das a l l g e m e i n s t e Prinzip der Rangfolge läßt sich zwar vereinfacht in der Reihe „referentielle Bedeutungen — pragmatische Bedeutungen — intralinguistische Bedeutun-gen" zusammenfassen, aber die Praxis zwingt häufig zu Ab -weichungen von diesem Prinzip, vor allem bei der Uber-setzung mit vorwiegend pragmatischer bzw. vorwiegend intralinguistischer Orientierung.

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Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich der Ubersetzungs-prozeß in zwei Grundphasen zerlegen, denen zwei Etappen in der Arbeit des Ubersetzers am Text entsprechen — die Phase der Analyse und die Phase der Synthese. Das Wesen der ersten Phase ist die E r f a s s u n g der Bedeutung (der Summe bzw. dos Systems der Bedeutungen) des Ausgangs-textes durch den Ubersetzer; das Wesen der zweiten ist die F o r m u l i e r u n g derselben Bedeutung (der Summe oder des Systems der Bedeutungen) mit den Mitteln einer anderen Sprache. Die erste Phase, die Erfassung oder das Verstehen, verlangt die Erschließung der Hierarchie des sprachlichen Systems vom Morphem (unter Umständen sogar vom Phonem bzw. Graphem) bis hin zum gesamten Text. Die zweite Phase, d. h. die Neuformulierung der erfaßten Bedeutung mit den Mitteln einer anderen Sprache, erfordert die Auffindung der für den Ausdruck der gleichen Bedeutung geeigneten Einheiten auf allen Ebenen der Hierarchie der Zielsprache. Infolge der Differenzen in der formellen und semantischen Struktur sind dabei zahlreiche und kom-plizierte Umwandlungen oder Transformationen unvermeid-lich. Da sich der Ubersetzer aber dessen bewußt ist, daß jede Umwandlung einen gewissen Informationsverlust nach sich zieht, ist er bestrebt, diese Transformationen auf ein ver-tretbares Mindestmaß zu reduzieren, soweit dies die lexikali-schen, grammatischen und stilistischen Normen der Ziel-sprache und die pragmatischen Faktoren erlauben. Bildhaft ausgedrückt, laviert der Übersetzer stets zwischen der Scylla der buchstäblichen und der Charybdis der freien Ubersetzung, er versucht, die enge, aber befahrbare Passage zwischen ihnen zu finden, die ihn zum ersehnten Ziel, eben zur opti-mal äquivalenten Ubersetzung, hinzuführen vermag.

Dies sind, in großen Zügen, die Grundbegriffe des von uns vertretenen semantisch-semiotischen Ubersetzungsmodells. Dieses Modell dürfte sich im Prinzip auch formalisieren las-sen, nur sind dazu bestimmte Voraussetzungen notwendig, die zur Zeit nicht vorhanden sind. Die wichtigste unter die-sen Voraussetzungen wäre die Ausarbeitung einer objektge-rechten linguistischen Theorie der Bedeutungen, die streng genug und zugleich formalisiert sein müßte. In dieser Hin-sicht ist es noch ein sehr weiter Weg zum gesteckten Ziel. Bisher wurden die semantischen Probleme fast ausschließ-lich am Material der untersten Ebenen der sprachlichen Hierarchie — der Morphemebene und der Wortebene —

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behandelt. Von der semantischen Struktur der Einheiten höherer Ordnungen — der Wortgruppen, der Sätze und ganzer Texte — besitzen wir bisher eine recht vage Vorstel-lung. Es wäre aber von besonderem Wert für die Uberset-zungstheorie, gerade die Gesetze aufzudecken, nach denen die „Integration" der Bedeutungen diskreter Einheiten im Bahmen des Redeprodukts als eines ganzheitlichen Systems erfolgt. Diese Aufgabe wird jetzt eigentlich erst in Angriff genommen. Die Theorie der Semantik (die Semasiologie) hat sich bisher zudem fast ausschließlich auf die Untersuchung referentieller Bedeutungen konzentriert und den anderen Bedeutungstypen — den pragmatischen und den intralin-guistischen — kaum Beachtung geschenkt. Der Begriff der äquivalenten Ubersetzung aber impliziert die möglichst vollständige Wiedergabe der gesamten im Ausgangstext enthaltenen Information und nicht nur der referentiellen Bedeutungen der diesen Text bildenden Sprachelemente. Und schließlich ist sowohl für die Erfassung als auch für die Neuformulierung des gesamten Bedeutungssystems eines Redeprodukts (eines Textes) die Berücksichtigung der extra-linguistischen Faktoren unerläßlich, die den Prozeß der Redekommunikation determinieren: des Gegenstandes („The-ma") der Aussage, der Teilnehmer des Kommunikationspro-zesses („Absender" und „Empfänger"), der Situation der Äußerung (Zeit, Ort und Bedingungen, in denen der K o m -munikationsprozeß abläuft). Dabei wissen wir nicht einmal, ob sich diese extralinguistischen Aspekte der Redetätigkeit überhaupt formalisieren lassen, und wie dies geschehen kann, falls es grundsätzlich möglich ist. Eine objektgerechte Ubersetzungstheorie darf aber keinesfalls als ausschließ-lich mikrolinguistische Disziplin ausgebaut werden, die von den äußeren, nichtsprachlichen Realisierungsbedingun-gen des Redeaktes absieht.

Alle diese Schwierigkeiten, die der Entwicklung eines exakten und strengen semantisch-semiotischen Modells der Ubersetzung im Wege stehen, sind durchaus real und nicht unerheblich, doch unüberwindlich sind sie nicht. Unseres Erachtens besitzt dieses Modell nicht nur volle Existenzbe-rechtigung, sondern es kann sich in vielen Hinsichten anderen Modellen gegenüber überlegen zeigen. Der Versuch, die Ubersetzungstheorie, von den Einheiten der Ausdrucksebene ausgehend, aufzubauen („Ubersetzung lexikalischer Einhei-ten", „Ubersetzung grammatischer Formen", „Wiedergabe

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der Wortfolge" usw.) erwies sich zwar als praktisch nützlich, doch theoretisch wirkungslos, denn es kommt bei der Über-setzung vor allem darauf an, was eigentlich ausgedrückt wird, das Wie aber ist dem Was stets untergeordnet (wie überhaupt in jedem Kommunikationsakt die mitgeteilte Information der Zweck und die Art der Mitteilung eben das Mittel zu diesem Zweck ist). Deshalb muß ein einiger-maßen objektgerechtes und aussagekräftiges Modell der Übersetzung vor allem ein semantisches Modell sein. Da aber die Semantik, d. h. die Bedeutung, eine Zeichenfunk-tion ist, so muß dieses Modell notwendigerweise zugleich ein semiotisches sein. Dies soll nicht etwa heißen, daß es kei-nen anderen Weg zur Ergründung der Übersetzung geben kann. Die Übersetzung ist eine zu komplexe und vielseitige Erscheinung, als daß sie sich vollständig im notwendiger-weise beschränkten Bahmen eines einzigen Modells oder theoretischen Schemas unterbringen ließe. Je mehr derar-tige Modelle oder Schemata angewandt werden, desto besser und tiefer kann die Wissenschaft in das Wesen der Überset-zung eindringen. Wir wollen hoffen, daß auch die in dieser Arbeit dargelegten Beobachtungen und Erkenntnisse sich in diesem Sinne als nützlich erweisen werden.

Das Problem hat aber auch eine andere Seite — es geht auch um den praktischen Wert der Untersuchungen im Bereich der Ubersetzungstheorie. Für die Ubersetzungstheo-rie als angewandte wissenschaftliche Disziplin hat dieser Aspekt eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Obwohl die Ubersetzungstheorie, wie schon betont wurde, von der Praxis ausgeht und ihre Erkenntnisse aufgrund der Aus-wertung des ihr zur Verfügung stehenden Materials formu-liert, projiziert sie sodann diese Erkenntnisse in clie Praxis in Form von Empfehlungen und normativen Orientierungen. Auf die Praxis gestützt, bahnt ihr die Ubersetzungstheorie zugleich den Weg. Fleutzutage, da der Beruf des Uberset-zers zu einem Massenberuf geworden ist, und da jeder, der mit dem Fremdsprachenstudium zu tun hat oder Fremd-sprachenkenntnisse in seiner Arbeit anwendet, stets irgendwie auch mit der Übersetzung in Berührung kommt, ist die Bekanntschaft mit den Grunderkenntnissen der Übersetzungs-theorie für jeden unerläßlich, der nicht im dunkeln tappen und sich die Mühe ersparen will , längst gemachte Entdeckun-gen nachzuvollziehen. Ohne eine wissenschaftlich fundierte Ubersetzungstheorie ist gegenwärtig eine erfolgreiche Uber-

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setzungspraxis undenkbar — dies ist eine unumstößlich feststehende Wahrheit, die anzufechten ein aussichtsloses Unterfangen wäre. Man darf sich aber auch nicht dem naiven Glauben hingeben, daß die Kenntnis der Prinzipien und Lehrsätze der Ubersetzungstheorie das „handwerkliche Kön-nen" des Übersetzers selbst ersetzen könne. Man denke stets daran, daß, „die Ubersetzung viel mehr ist als eine Wissen-schaft. Sie ist auch ein Können, und eine qualitativ einwand-freie Ubersetzung ist schließlich immer auch eine Kunst"*.

*E. Kida and Ch. Taber: The Theory and Practice of Translation. P. VII .

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Inhalt

Vorwort

Vorbemerkung des Übersetzers

Erstes Kapitel. Das Wesen der Übersetzung 1. Der Gegenstand der Ubersetzungstheorie 2. Das Wesen der Übersetzung 3. Die Stellung der Übersetzungstheorie unter den anderen

wissenschaftlichen Disziplinen 4. Arten der Übersetzung

Zweites Kapitel. Sprachliche Bedeutungen und Übersetzung 1. Die Grundlagen der Theorie der sprachlichen Bedeu-

tungen 2. Die sprachlichen Bedeutungen und die Übersetzung

Drittes Kapitel. Die semantischen Entsprechungen bei der Übersetzung 1. Die Wiedergabe der referentiellen Bedeutungen 2. Die Wiedergabe der pragmatischen Bedeutungen 3. Der pragmatische Aspekt der Übersetzung 4. Die Wiedergabe der intralinguistischen Bedeutungen 5. Die grammatischen Bedeutungen in der Übersetzung 6. Der Kontext und die Situation in der Übersetzung

Viertes Kapitel. Das Problem der Übersetzungseinheiten Fünftes Kapitel. Die Übersetzungstransformationen

1. Umstellungen 2. Substitutionen

a) Substitutionen der Wortformen b) Substitutionen der Wortarten c) Substitutionen von Satzgliedern

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d) Syntaktische Substitutionen im zusammengesetzten Satz 223 e) Lexikalische Substitutionen 231 f) Antonymische Ubersetzung 238 g) Kompensation 240

3. Ergänzungen 245 4. Weglassungen 249

Selilußbemerkungen 254

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God nie lit in der UdSSR

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ИБ № 4371

Редактор русского текста Л. С. Небыкова Редактор немецкого текста М. Толстова Художник И. Борисова Художественный редактор В. Гории Технический редактор А. Токер Корректоры Г. Кононова, 3. Петровская Сдано в набор 25.12.1978 г. Подписано в печать 23.05.1979 г. Формат 84X1081/32 Бумага типограф. № 1 Гарнитура обыкновенная новая Печать высокая Условн. печ. л. 12,6 Уч.-изд. л. 15,08. Тираж 2000 экз. Заказ № 019 Цена 2 руб. 61 коп. Изд. М 26765

Издательство «Прогресс» Государственного Комитета СССР по делам издательств, полиграфии и книжной торговли. Москва 119021, Зубовский бульвар, 17 Ордена Трудового Красного Знамени Московская ти-пография № 7 «Искра революции» Союзполиграфпро-ма Государственного Комитета СССР по делам изда-тельств, полиграфии и книжной торговли. Москва 103001, Трехпрудный пер., д. 9

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