42
1 Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65. /1/ I. VON DER AUSWAHL DER BILDER BEI DER VORSTELLUNG. DIE FUNKTION DES LEIBES Wir wollen uns einen Augenblick vorstellen, daß wir weder von den Theorien über die Materie, noch von den Theorien über den Geist, noch von den Streitigkeiten über die Realität oder Idealität der Außenwelt irgendetwas wüßten. Da sehe ich mich denn umgeben von Bildern das Wort im unbestimmtesten Sinne verstanden -, Bildern, die ich wahrneh- me, wenn ich meine Sinne öffne, und nicht wahrnehme, wenn ich sie schließe. All diese Bilder stehen mit allen ihren elementaren Bestand- teilen in Wechselwirkung, nach konstanten Gesetzen, die wir die Natur- gesetze nennen, und da die vollkommene Wissenschaft dieser Gesetze uns zweifellos in den Stand setzen würde, das künftige Gescheheu in einem jeden dieser Bilder vorauszusehen und zu berechnen, so muß die Zukunft der Bilder in ihrer Gegenwart enthalten sein und ihr nichts mehr hinzuzufügen haben. Jedoch ist eines unter ihnen, das sich von allen anderen dadurch abhebt, daß ich es nicht nur von außen durch Wahrnehmungen, sondern auch von innen durch Affektionen kenne: mein Leib. Wenn ich nun frage, unter welchen Bedingungen diese Af- fektionen auftreten, so finde ich, daß sie sich immer zwischen Reizun- gen, die ich von außen erhalte, und Bewegungen, die ich daraufhin ausführe, einschalten, als ob sie einen gewissen, an sich nicht be- stimmten Einfluß auf die endgültige Entscheidung auszuüben berufen wären. Ich mustere die verschiedenen Affektionen, und da scheint mir, daß eine jede in ihrer Art eine Aufforderung zum Handeln enthält, mir aber gleichzeitig die Möglichkeit freistellt, abzuwarten oder auch gar nichts zu tun. Ich sehe näher zu und finde da begonnene, aber nicht ausgeführte Bewegungen, Hinweise auf eine mehr oder weniger nützli- che Entscheidung, aber nicht einen Zwang, der die Wahl ausschlösse. Ich wecke und vergleiche meine Erinnerungen und besinne mich, daß ich überall in der organischen Welt diese selbe Fähigkeit der Empfind- lichkeit genau in dem Augenblick habe auftauchen sehen, wo /2/ die Natur dem Lebewesen die Fähigkeit räumlicher Fortbewegung ge- geben hat und nun der Gattung auf dem Wege der Empfindung die ihr drohenden allgemeinen Gefahren anzeigt, es aber übrigens den Indivi- duen anheimstellt, mit Hilfe welcher Maßregeln sie den Gefahren entge- hen wollen. Ich frage endlich mein Bewußtsein, welche Funktion es sich bei der Affektion zuschreibt, und es sagt mir, daß es tatsächlich als Ge- fühl oder Empfindung alle Schritte begleitet, bei denen ich mich als aus eigenem Willen handelnd empfinde, daß es dagegen auslöscht und ver- schwindet, wenn mein Tun automatisch wird und dadurch seiner entra-

bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

  • Upload
    others

  • View
    3

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

1

Henri BergsonMaterie und Gedächtnis. Eine Abhandlungüber die Beziehung zwischen Körper und Geist.Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65.

/1/I. VON DER AUSWAHL DER BILDER BEI DERVORSTELLUNG. DIE FUNKTION DES LEIBES

Wir wollen uns einen Augenblick vorstellen, daß wir weder von denTheorien über die Materie, noch von den Theorien über den Geist, nochvon den Streitigkeiten über die Realität oder Idealität der Außenweltirgendetwas wüßten. Da sehe ich mich denn umgeben von Bildern dasWort im unbestimmtesten Sinne verstanden -, Bildern, die ich wahrneh-me, wenn ich meine Sinne öffne, und nicht wahrnehme, wenn ich sieschließe. All diese Bilder stehen mit allen ihren elementaren Bestand-teilen in Wechselwirkung, nach konstanten Gesetzen, die wir die Natur-gesetze nennen, und da die vollkommene Wissenschaft dieser Gesetzeuns zweifellos in den Stand setzen würde, das künftige Gescheheu ineinem jeden dieser Bilder vorauszusehen und zu berechnen, so mußdie Zukunft der Bilder in ihrer Gegenwart enthalten sein und ihr nichtsmehr hinzuzufügen haben. Jedoch ist eines unter ihnen, das sich vonallen anderen dadurch abhebt, daß ich es nicht nur von außen durchWahrnehmungen, sondern auch von innen durch Affektionen kenne:mein Leib. Wenn ich nun frage, unter welchen Bedingungen diese Af-fektionen auftreten, so finde ich, daß sie sich immer zwischen Reizun-gen, die ich von außen erhalte, und Bewegungen, die ich daraufhinausführe, einschalten, als ob sie einen gewissen, an sich nicht be-stimmten Einfluß auf die endgültige Entscheidung auszuüben berufenwären. Ich mustere die verschiedenen Affektionen, und da scheint mir,daß eine jede in ihrer Art eine Aufforderung zum Handeln enthält, miraber gleichzeitig die Möglichkeit freistellt, abzuwarten oder auch garnichts zu tun. Ich sehe näher zu und finde da begonnene, aber nichtausgeführte Bewegungen, Hinweise auf eine mehr oder weniger nützli-che Entscheidung, aber nicht einen Zwang, der die Wahl ausschlösse.Ich wecke und vergleiche meine Erinnerungen und besinne mich, daßich überall in der organischen Welt diese selbe Fähigkeit der Empfind-lichkeit genau in dem Augenblick habe auftauchen sehen, wo

/2/die Natur dem Lebewesen die Fähigkeit räumlicher Fortbewegung ge-geben hat und nun der Gattung auf dem Wege der Empfindung die ihrdrohenden allgemeinen Gefahren anzeigt, es aber übrigens den Indivi-duen anheimstellt, mit Hilfe welcher Maßregeln sie den Gefahren entge-hen wollen. Ich frage endlich mein Bewußtsein, welche Funktion es sichbei der Affektion zuschreibt, und es sagt mir, daß es tatsächlich als Ge-fühl oder Empfindung alle Schritte begleitet, bei denen ich mich als auseigenem Willen handelnd empfinde, daß es dagegen auslöscht und ver-schwindet, wenn mein Tun automatisch wird und dadurch seiner entra-

Page 2: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

2

ten zu können erklärt. Entweder also der subjektive Befund trügt oderaber die Tat, in die der Empfindungszustand ausläuft, ist nicht von derArt, daß sie sich aus den vorhergehenden Erscheinungen streng ablei-ten Iieße, wie sich eine Bewegung aus einer anderen Bewegung ablei-ten läßt; und wenn dem so ist, so tritt mit ihr wirklich etwas Neues in dieWelt und ihre Geschichte ein. Halten wir uns doch an den Befund; ichformuliere einfach und schlicht, was ich fühle und sehe: In der Welt derBilder, die ich das Universum nenne, geht alles so vor sich, als ob etwaswirklich Neues nur durch die Vermittlung ,gewisser eigentümlicher Bilderentstehen kenne, deren Typus mir in meinem Leibe gegeben ist.

Und nun prüfe ich an Körpern, die dem meinen ähnlich sind, die Ge-staltung dieses besonderen Bildes, das ich meinen Leib nenne. Da be-merke ich zentripetale Nerven, die den Nervenzentren Reizungen zu-leiten, und zentrifugale Nerven, die zentrale Reizungen zur Peripherieleiten und den Körper teilweise oder ganz in Bewegung setzen. Ich be-frage den Physiologen und den Psychologen über die Bestimmung die-ser beiden Nervenarten. Sie antworten, daß die zentrifugal verlaufendenProzesse im Nervensystem die Bewegung des Körpers oder einzelnerOrgane hervorzurufen vermögen, die zentripetal verlaufenden aber,oder wenigstens gewisse von ihnen, die Vorstellung der Außenwelt er-zeugen. Wie ist das zu verstehen?Die zentripetalen Nerven sind Bilder, das Gehirn ist ein Bild, die Reizun-gen,

/3/welche durch die sensorischen Nerven ins Gehirn fortgepflanzt werden,sind wiederum Bilder. Wenn jenes Bild, das ich Gehirnreiz nenne, dieäußeren Bilder erzeugen soll, so müßten diese Bilder in irgendeinerWeise in ihm selbst enthalten sein, und die Vorstellung vom Ganzen dermateriellen Welt müßte in der Vorstellung vom molekularen Prozessemit einbegriffen sein. Eine solche Behauptung braucht man aber nurauszusprechen, um sofort ihre Absurdität einzusehen. Nicht die materi-elle Welt bildet einen Teil des Gehirns, sondern das Gehirn bildet einenTeil der materiellen Welt. Man denke das Bild der materiellen Welt weg;damit vernichtet man zugleich das Gehirn und die Reizung im Gehirn,welche Teile dieser Welt sind. Stellt man sich dagegen vor, diese beidenBilder, das Gehirn und die Gehirnreizung verschwinden, so sind ebennur sie ausgelöscht, und das ist wenig genug, eine unbedeutende Ein-zelheit in einem ungeheuren Gemälde. Dieses Gemälde als Ganzes,das Universum, besteht vollständig weiter. Das Gehirn zur Bedingungdes Gesamtbildes machen wollen, heißt sich selbst widersprechen, dadas Gehirn laut Hypothese ein Teil dieses Bildes ist. Also: weder dieNerven noch die Nervenzentren können das Bild des Universums be-dingen.Bleiben wir bei diesem letzten Punkte. Da sind also die äußeren Bilder,alsdann mein Leib und endlich die Modifikationen, die mein Leib an denihn umgebenden Bildern bewirkt. Ich verstehe die Art des Einflusses,den die äußeren Bilder auf das Bild, welches ich meinen Leib nenne,ausüben: sie übertragen Bewegung auf ihn. Ebenso verstehe ich denEinfluß meines Leibes auf die äußeren Bilder: er gibt ihnen Bewegungzurück. Mein Leib ist also in der Gesamtheit der materiellen Welt einBild, das sich wie die anderen Bilder betätigt: Bewegung aufnimmt undabgibt, mit dem einzigen Unterschiede vielleicht, daß mein Leib bis zu

Page 3: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

3

einem gewissen Grade die Wahl zu haben scheint, in welcher Form erdas Empfangene zurückgeben will. Aber wie soll mein Leib im allgemei-nen und mein Nervensystem im besonderen die Vorstellung des Univer-sums ganz oder teilweise erzeugen können? Man nenne meinen LeibMaterie

/4/oder man nenne ihn Bild, auf das Wort kommt es mir nicht an. Ist erMaterie, dann ist er ein Teil der materiellen Welt und folglich existiert diematerielle Welt um ihn und außer ihm. Ist er Bild, dann kann dieses Bildnur das geben, was es darstellt, und da es laut Hypothese nur das Bildmeines Leibes ist, wäre es unsinnig, das Bild des ganzen Universumsaus ihm auswickeln zu wollen. So ist mein Leib ein Gegenstand, be-stimmt, andere Gegenstände zu bewegen, also ein Zentrum von Hand-lung; er ist nicht imstande, eine Vorstellung zu erzeugen.

Aber wenn mein Leib ein Gegenstand ist, der auf die ihn umgebendenGegenstände reale und neue Wirkungen ausüben kann, muß er wohlihnen gegenüber eine bevorzugte Stellung einnehmen. Im allgemeinenbeeinflußt jedwedes Bild die anderen Bilder in bestimmter, ja berechen-barer Weise, dem gemäß, was wir die Naturgesetze nennen. Da ihmkeine Wahl bleibt, hat es weder nötig seine Umgebung zu erforschen,noch sich vorläufig an bloßen Wirkungsmöglichkeiten zu versuchen. DieWirkung, die notwendig ist, wird sich ganz von selbst vollziehen, wennihre Stunde gekommen ist. Ich habe aber nun angenommen, daß dieFunktion des Bildes, das ich meinen Leib nenne, in der Ausübung eineswirklichen Einflusses auf andere Bilder bestehe, was eine Wahl zwi-schen verschiedenen materiell möglichen Akten voraussetzt. Und da esnun diese Akte nach dem größeren oder geringeren Vorteil, der aus denumgebenden Bildern zu ziehen ist, richten wird, so ist es nötig, daß dieBilder selbst in dem Gesicht, das sie mir zeigen, irgendwie den Vorteilandeuten, den ich aus ihnen ziehen könnte. In der Tat beobachte ich,daß die Größe, die Form, ja selbst die Farbe der äußeren Gegenständesich verändert, je nachdem sich mein Körper ihnen nähert oder von ih-nen entfernt, daß die Intensität der Gerüche, die Stärke der Töne sichmit dem Grade der Entfernung erhöht oder vermindert, kurz, daß dieseEntfernung selber das Maß ist, in dem die Dinge der Umwelt gegen dieunmittelbare Wirkung meines Leibes sozusagen versichert sind. Jemehr sich mein Hori-

/5/zont erweitert, desto gleichförmiger wird der Hintergrund, von dem sichdie Bilder meiner Umgebung abheben, und desto gleichgültiger werdenmir diese selbst. Je mehr ich meinen Horizont einenge, um so deutlicherstufen sich mir die Gegenstände ab, je nach der größeren oder geringe-ren Leichtigkeit, mit der mein Körper sie berühren und bewegen kann.Sie sind also wie ein Spiegel und zeigen meinem Leibe seinen eventu-ellen Einfluß; sie ordnen sich meinem Körper unter in dem Maße wieseine Macht zu- oder abnimmt. Die Gegenstände, welche meinen Kör-per umgeben, reflektieren die mögliche Wirkung meines Körpers auf sie.Ich will jetzt einmal, ohne an die anderen Bilder zu rühren, an dem, warich meinen Leib nenne, eine kleine Änderung vornehmen. Ich denke miran diesem Bilde alle zentripetalen Nerven des zerebrospinalen Systems

Page 4: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

4

durchgeschnitten. Was wird geschehen? Das Messer hat einige Faser-bündel zerschnitten: die übrige Welt und sogar der übrige Leib sind ge-blieben, was sie waren. Die verursachte Veränderung erscheint alsounbedeutend. Tatsächlich aber ist "meine Wahrnehmung" total ver-schwunden. Sehen wir genauer zu, was eigentlich geschehen ist. Dasind einmal die Bilder, welche die Gesamtheit des Universums ausma-chen, dann jene, welche unmittelbar an meinen Leib grenzen, und end-lich mein Leib selbst. In diesem letzten Bilde haben die zentripetalenNerven die spezifische Funktion, Bewegungen auf das Gehirn und dasRückenmark zu übertragen; die zentrifugalen Nerven geben diese Be-wegung an die Peripherie zurück. Der Schnitt durch die zentripetalenNerven kann nur eine einzige wirklich begreifliche Folge haben: er un-terbricht den Strom, der von Peripherie zu Peripherie läuft und dabeidurch das Zentrum geht; damit nimmt er meinem Körper die Möglichkeit,aus den Dingen, die ihn umgeben, Bewegung von der Art und in derMenge zu schöpfen, wie er sie braucht, um auf die Dinge zu wirken.Also um Wirken handelt es sich und bloß um Wirken. Und doch erlischtmeine Wahrnehmung. Was kann das anderes heißen, als daß meineWahrnehmung

/6/die Wirkungsmöglichkeiten meines Körpers in die Gesamtheit der Bilderwie einen Schatten, wie einen Reflex einzeichnet? Nun, das System derBilder, in dem das Messer nur eine geringe Veränderung bewirkt hat, istdas, was man gemeinhin die materielle Welt nennt; und andererseits istdas, was dabei erlischt, "meine Wahrnehmung" der Materie. Darausergeben sich vorläufig die beiden Definitionen: Materie nenne ich dieGesamtheit der Bilder, und Wahrnehmung der Materie diese selbenBilder bezogen auf die mögliche Wirkung eines bestimmten Bildes, mei-nes Leibes.

Vertiefen wir diese letzte Beziehung. Ich betrachte meinen Körper mitden zentripetalen und zentrifugalen Nerven und den Nervenzentren. Ichweiß, daß die äußeren Gegenstände auf die zentripetalen Nerven Rei-zungen ausüben, die sich zu den Zentren fortpflanzen, daß die Zentrender Schauplatz von sehr mannigfaltigen molekularen Bewegungen sindund daß diese Bewegungen von der Beschaffenheit und der Lage derGegenstände abhängen. Man ändere die Gegenstände, modifiziere ihreBeziehung zu meinem Körper, und die inneren Bewegungen meinerWahrnehmungszentren sind durchaus verändert. Aber auch "meineWahrnehmung" ist völlig verändert. Meine Wahrnehmung ist also Funk-tion dieser molekularen Bewegungen, sie hängt von ihnen ab. Aber wiehängt sie von ihnen ab? Man antwortet mir vielleicht, daß sie sie einfachübersetzt und daß ich mir letzten Endes nichts anderes vorstelle als diemolekularen Bewegungen der Gehirnsubstanz. Aber dieser Satz hättenicht den geringsten Sinn, da das Bild des Nervensystems und seinerinneren Bewegung, laut Hypothese, nur das eines einzelnen materiellenGegenstands ist und ich mir doch das Universum in seiner Totalität vor-stelle. Man versucht allerdings hier die Schwierigkeit zu umgehen. Manzeigt uns ein Gehirn, das in seinem Wesen dem übrigen Universumgleicht, folglich ein Bild ist, wenn das Universum eines ist. Nun will manja aber beweisen, daß die inneren Bewegungen dieses Gehirns die Vor-stellung der gesamten materiellen Welt - also eines Bildes, das unend-lich viel mehr umfaßt als

Page 5: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

5

/7/das Bild der Gehirnschwingungen - hervorbringen oder bestimmen: mantut also auf einmal, als sähe man weder in diesen molekularen Bewe-gungen noch in der Bewegung überhaupt Bilder wie alle anderen, son-dern habe in ihnen ein Etwas, das mehr oder weniger als ein Bild, je-denfalls von anderer Art als ein Bild wäre und aus dem die Vorstellungdurch ein wahres Wunder hervorginge. Die Materie wird dadurch einvon der Vorstellung radikal Verschiedenes, das folglich für uns nie Bildwerden kann; man stellt ihr ein Bewußtsein gegenüber, in dem es garkeine Bilder gibt, was eine mögliche Vorstellung ist; und um dieses Be-wußtsein auszufüllen, erfindet man schließlich eine unbegreifliche Wir-kung dieser Materie ohne Form auf dieses Denken ohne Materie. InWirklichkeit aber enthalten die Bewegungen der Materie überhaupt keinProblem, solange man in ihnen Bilder sieht, und ès ist kein Grund, inihnen etwas anderes zu sehen, als was der Augenschein lehrt. Die ein-zige Schwierigkeit wäre, aus jener einen ganz besonderen Klasse vonBildern die unendliche Mannigfaltigkeit der Vorstellungen abzuleiten;aber warum dieses wollen, da doch nach der Ansicht aller die Gehirn-schwingungen einen Teil der materiellen Welt bilden und folglich diesebesonderen Bilder nur eine sehr kleine Ecke der Vorstellung sind. Wassind denn nun aber eigentlich diese Bewegungen, und welche Funktionhaben diese besonderen Bilder bei der Vorstellung des Ganzen? -Zweifellos verhält es sich so: sie sind Bewegungen im Innern meinesLeibes, die die Rückwirkung meines Leibes auf die Wirkung der äuße-ren Gegenstände in die Wege leiten und derart die erste Phase dieserRückwirkung darstellen. Da sie selbst Bilder sind, können sie keine Bil-der erzeugen; aber sie zeigen jeden Augenblick, wie ein unter der Nadelverschobener Kompaß, die Lage eines bestimmten Bildes, meines Kör-pers, in bezug auf die umgebenden Bilder an. In der Gesamtvorstellungsind sie von geringer Bedeutung; aber sie sind von größter Wichtigkeitfür jenen Teil der Vorstellung, den ich meinen Leib nenne, dessen mög-liches Verhalten sie jeden Augenblick in Umrissen festlegen. Es ist alsozwischen dem sogenannten

/8/Wahrnehmungsvermögen des Gehirnes und den Reflexfunktionen desRückenmarks nur ein gradueller und durchaus kein wesentlicher Unter-schied. Das Rückenmark setzt die empfangenen Reize auf der Stelle inausgeführte Bewegungen um; das Gehirn verlängert sie erst einmal inbloße Anfangsstadien von Reaktionen, aber in beiden Fällen ist es dieFunktion der Nervensubstanz, Bewegungen zu leiten, zu kombinierenoder zu hemmen. Wie kommt es nun, daß "meine Wahrnehmung desUniversums" von den inneren Bewegungen der Gehirnsubstanz abzu-hängen scheint, daß sie sich verändert, wenn diese sich verändern, daßsie erlischt, wenn diese zerstört werden?Die Schwierigkeit dieses Problems liegt darin, daß man sich die graueSubstanz und ihre Modifikationen als etwas aus sich selbst Existieren-des vorstellt, als etwas, das sich von dem übrigen Universum isolierenkönnte. Materialisten und Dualisten stimmen im Grunde in diesemPunkte überein. Sie betrachten die fraglichen molekularen Bewegungender Gehirnsubstanz ganz für sich, und so sehen die einen in unsererbewußten Wahrnehmung eine Phosphoreszenz, welche die Gehirnbe-wegungen begleitet und ihren Gang beleuchtet; die anderen lassen un-sere Wahrnehmungen in einem Bewußtsein vor sich gehen, welches die

Page 6: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

6

molekularen Vorgänge der Rindensubstanz beständig in seine eigeneSprache übersetzt: in einem Falle wie im andern aber wird ange-nommen, daß in der Wahrnehmung Zustände unseres Nervensystemsabgebildet oder übersetzt zum Ausdruck gebracht werden. Aber kanndas Nervensystem lebend gedacht werden ohne den Organismus, deres ernährt, ohne die Atmosphäre, in welcher der Organismus atmet,ohne die Erde, welche von dieser Atmosphäre umweht wird, ohne dieSonne, um welche die Erde gravitiert? Allgemeiner gesprochen: die Fik-tion eines materiellen Gegenstandes, der isoliert für sich bestünde, ent-hält, kann man sagen, eine Absurdität; denn der Gegenstand verdanktja seine physikalischen Qualitäten den Relationen, in denen er mit allenanderen Gegenständen steht, und hängt mit allen seinen Bestimmthei-ten und somit seiner ganzen Existenz von seinem Platze in der Ge-

/9/samtheit des Universums ab. Wir können also nicht sagen, daß unsereWahrnehmungen einfach von den molekularen Bewegungen der Ge-hirnmasse abhängen. Sondern: sie verändern sich zwar mit ihnen, aberdie Bewegungen selbst bleiben unzertrennlich an die übrige materielleWelt gebunden. Also es handelt sich nicht mehr bloß um die Frage, wieunsere Wahrnehmungen mit den Modifikationen der grauen Substanzverknüpft sind; das Problem erweitert sich jetzt und kann nun in viel kla-reren Begriffen formuliert werden. Da ist einmal ein System von Bildern,das nenne ich meine Wahrnehmung des Universums; in ihm ändert sichalles von Grund auf, wenn sich an einem bevorzugten Bilde, meinemLeib, leichte Veränderungen vollziehen. Dieses Bild befindet sich imMittelpunkte; nach ihm richten sich alle anderen; bei jeder seiner Bewe-gungen verändert sich alles, wie wenn man ein Kaleidoskop dreht. Undda sind andererseits dieselben Bilder, aber jedes nur auf sich selbstbezogen; zweifellos einander beeinflussend, aber doch so, daß die Wir-kung immer im genauen Verhältnis zur Ursache sieht: das nenne ichdas Universum. Wie ist es zu erklären, daß diese beiden Systeme ne-beneinander bestehen und daß dieselben Bilder im Universum relativunveränderlich, in der Wahrnehmung dagegen unendlich veränderlichsind? Das Problem, das dem Streit zwischen Realismus und Idealismus,ja vielleicht auch dem zwischen Materialismus und Spiritualismuszugrunde liegt, würden wir also so formulieren: Wie geht es zu, daß die-selben Bilder zu gleicher Zeit zwei verschiedenen Systemen angehörenkönnen, einem System, in dem jedes Bild für sich selbst variiert undzwar genau nach Maßgabe der realen Wirkungen, die es von den an-dern Bildern erfährt, und einem anderen System, in dem alle Bilder fürein einziges variieren und zwar verschieden je nach der Weise, in dersie die virtuelle Wirkung des einen bevorzugten Bildes reflektieren`

Jedes Bild ist für gewisse Bilder innen und für andere außen, aber vonder Gesamtheit der Bilder kann man nicht sagen, daß sie in uns, undebensowenig, daß sie außer uns sei, da ja Innen und Außen nur Bezie-hungen zwischen

/10/Bildern sind. Fragen, ob das Universum nur in unseren Gedanken oderdraußen für sich existiere, heißt das Problem in schiefen, wenn nichtüberhaupt unverständlichen Begriffen stellen; es heißt, sich zu einerunfruchtbaren Diskussion verdammen, wo die Begriffe Gedanke, Sein,

Page 7: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

7

Universum von beiden Seiten notgedrungen in ganz verschiedenemSinn gebraucht werden. Um den Streit zu Ende zu bringen, muß zuersteinmal eingemeinsamer Boden gefunden werden, wo der Kampf statt-finden kann, und da beide Parteien darin einig sind, daß wir die Dingenur in der Form von Bildern erfassen, so ,müssen wir unser Problem fürBilder, und nur für Bilder, stellen. Nun, keine philosophische Lehre be-streitet, daß dieselben Bilder gleichzeitig in zwei deutlich unterschiedeneSysteme eingehen können: in eines, das der Wissenschaft (science)zugehört, wo jedes Bild, nur auf sich selbst bezogen, seinen absolutenWert behält, und in ein anderes, in die Welt des Bewußtseins (conscien-ce), wo sich alle Bilder nach einem zentralen Bilde, unserem Leibe,richten, von dessen Veränderungen sie abhängen. Die Frage zwischenRealismus und Idealismus wird nun ganz klar: welche Beziehung be-steht zwischen diesen beiden Systemen von Bildern? Und es ist leichtzu ersehen, daß der subjektive Idealismus sich dadurch kennzeichnet,daß er das erste System aus dem zweiten herleitet, während der mate-rialistische Realismus das zweite auf das erste zurückführt.Der Realist geht in der Tat vom Universum aus, d. h. von einer Gesamt-heit von Bildern, die in ihren gegenseitigen Beziehungen von unwandel-baren Gesetzen beherrscht werden, nach denen die Wirkungen denUrsachen entsprechen; das Charakteristikum dieses Universums ist,daß es kein Zentrum hat, daß alle Bilder sich in einer und derselbenEbene ins Unendliche aneinanderreihen. Aber der Realist ist gezwun-gen zu konstatieren, daß es außer diesem Systeme noch Wahr-nehmungen gibt, d. h. Systeme, in welchen diese selben Bilder auf eineinziges Bild bezogen sind, sich in verschiedenen Ebenen um diesesgruppieren und sich bei jeder leichten Änderung dieses zentralen Bildesin ihrer Gesamtheit ver-

/11/ändern. Von dieser Wahrnehmung geht nun gerade der Idealist aus: inseinem System von Bildern gibt es in der Tat ein bevorzugtes Bild, sei-nen Leib, und nach dem ordnen sich die anderen Bilder. Aber sobald erdie Gegenwart an die Vergangenheit knüpfen und die Zukunft voraus-sehen will, ist er sofort gezwungen, diesen seinen Ausgangspunkt auf-zugeben, alle Bilder wieder in eine Ebene zu verlegen, anzunehmen,daß sie nicht für ihn, sondern für sich selbst variieren, und sie so zu be-handeln, als gehörten sie einem Systeme an, wo jede Veränderung ge-wissermaßen die Größe ihrer Ursache genau mißt. Nur unter dieserVoraussetzung wird die Wissenschaft vom Universum möglich; und dadiese Wissenschaft existiert und da es ihr in der Tat gelingt, die Zukunftvorauszusehen, so kann die Hypothese, auf der sie beruht, keine will-kürliche sein. Das erste System allein ist in der gegenwärtigen Erfah-rung gegeben, an das zweite aber glauben wir, sobald wir die Kontinui-tät von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft annehmen. So wird so-wohl im Idealismus als im Realismus das eine der beiden Systeme ge-setzt und dann versucht, das andere daraus abzuleiten.Aber in dieser Ableitung kann weder der Realismus noch der Idealismuszum Ziele kommen, da keines der beiden Bildersysteme in dem andernenthalten ist und jedes sich selbst genügt. Geht man von jenem Bilder-system ohne Mittelpunkt aus, in dem jedes Element seine absoluteGröße und seinen bestimmten Wert hat, dann ist nicht einzusehen, war-um dieses System ein zweites hinzuzieht, in dem jedes Bild einen ver-änderlichen Wert bekommt, der allen Wechselfällen des zentralen Bil-

Page 8: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

8

des unterworfen ist. So ist man, um die Wahrnehmung entstehen zulassen, genötigt, einen deus ex machina einzuführen, wie es die mate-rialistische Hypothese vom Bewußtsein als Epiphänomenon tut. Manwählt dann unter all den sich absolut verändernden Bildern, von denenman ausgegangen ist, das eine Bild, das wir unser Gehirn nennen, undverleiht dessen inneren Zuständen das eigentümliche Vorrecht, sich -man weiß zwar nicht wie - durch die (jetzt relative und variable) Repro-duktion aller anderen Bilder zu verdoppeln. Zwar wird man sich hinter-her den Anschein

/12/geben, als legte man gar kein Gewicht auf diese Vorstellung und sähedarin nur eine Phosphoreszenz, welche die Gehirnschwingungen hinter-ließen; als ob die Gehirnsubstanz, die Gehirnschwingungen, verflochtenwie sie sind in die Bilder; aus denen jene Vorstellung besteht, von ande-rem Wesen sein könnten als diese Bilder selbst! Der Realismus wirdalso immer aus der Wahrnehmung einen Zufall und damit ein Mysteriummachen. Aber geht man umgekehrt von einem System veränderlicherBilder aus, die um ein bevorzugtes Zentrum gruppiert sind und durchleichte Verschiebungen dieses Zentrums beträchtlich modifiziert wer-den, dann wird man von vornherein der Ordnung der Natur nicht ge-recht, jener Ordnung, der es ganz gleichgültig ist, welchen Standpunktman einnimmt und an welchem Ende man anfängt. Um dann diese Ord-nung überhaupt wieder einzuführen, wird man ebenfalls zu einem deusex machina greifen müssen, indem man durch eine willkürliche Hypo-these irgendeine prästabilierte Harmonie zwischen den Dingen und demGeiste, oder wenigstens, um mit Kant zu reden, zwischen der Sinn-lichkeit und dem Verstand annimmt. Damit wird die Wissenschaft zumZufall und ihr Erfolg zum Mysterium. - Man kann also weder das ersteSystem der Bilder aus dem zweiten, noch das zweite aus dem erstenableiten, und wenn die beiden gegensätzlichen Lehren, Realismus undIdealismus, sich endlich auf demselben Boden begegnen, dann stürzensie beide, von verschiedenen Seiten kommend, an demselben Hinder-nis.Wenn wir nun den Grundlagen dieser beiden Lehren nachgraben, sodecken wir ein gemeinsames Postulat auf, das sich folgendermaßenformulieren läßt: die Wahrnehmung hat ein rein spekulatives Interesse;sie ist reine Erkenntnis. Und ihr ganzer Streit läuft darauf hinaus, wel-cher Wert dieser Erkenntnis gegenüber der wissenschaftlichen Erkennt-nis zukommt. Die einen bestehen auf der von der Wissenschaft gefor-derten Ordnung und sehen in der Wahrnehmung nichts als eine verwor-rene und vorläufige Wissenschaft. Die anderen setzen die Wahrneh-mung an die erste Stelle, erheben sie zum Absoluten und halten danndie Wissenschaft für einen

/13/symbolischen Ausdruck der Realität. Aber für die einen wie für die ande-ren bedeutet Wahrnehmen vor allem Erkennen.Nun, dieses Postulat fechten wir an. Es wird schon durch die oberfläch-lichste Prüfung der Struktur des Nervensystems im Tierreich widerlegt,und man kann es nicht gelten lassen, ohne das dreifache Problem derMaterie, des Bewußtseins und ihres Zusammenhangs hoffnungslos zu

Page 9: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

9

verwirren.Verfolgt man nämlich die Entwicklung der äußeren WahrnehmungSchritt für Schritt von der Monere an bis zu den höchsten Wirbeltieren,so findet man, daß die lebende Materie schon im Zustand des einfachenProtoplasmaklümpchens reizbar und zusammenziehbar ist, daß sie demEinfluß äußerer Reize untersteht und mit mechanischen, physikalischenund chemischen Reaktionen auf sie antwortet. Je weiter man in derReihe der Organismen aufsteigt, desto differenzierter gestaltet sich diephysiologische Arbeit. Nervenzellen treten auf, differenzieren sich undzeigen die Tendenz, sich zu Systemen zu vereinigen. Gleichzeitig wer-den die Bewegungen, mit denen das Lebewesen auf den äußeren Reizreagiert, mannigfaltiger entwickelt. Aber wenn sich auch der empfange-ne Reiz nicht mehr sofort in eine ausgeführte Bewegung verlängert, soscheint er doch immer auf eine Gelegenheit dazu zu warten, und der-selbe Eindruck, der dem Organismus die Veränderungen der Umge-bung übermittelt, bestimmt ihn auch oder disponiert ihn, sich ihnen an-zupassen. Bei den höheren Wirbeltieren bildet sich zweifellos ein ra-dikaler Unterschied heraus zwischen dem reinen Automatismus, derseinen Sitz vor allem im Rückenmark hat, und der willkürlichen Tätigkeit,welche der Vermittlung des Gehirns bedarf. Es könnte scheinen, als obsich der empfangene Eindruck, statt sich wie früher zu Bewegengenauszuwachsen, zur Erkenntnis vergeistigte. Aber man braucht nur dieStruktur des Gehirns mit der des Rückenmarks zu vergleichen, um sichzu überzeugen, daß die Funktion des Gehirns und die Reflextätigkeitdes Rückenmarksystems nicht in ihrem Wesen, sondern nur in ihrerKompliziertheit verschieden sind. Denn was geht denn eigentlich beieiner Reflexwirkung vor sich? Die zentripetale, durch den Reiz vermit-telte Be-

/14/wegung wird durch die Vermittlung der Nervenzellen des Rückenmarkssofort in eine zentrifugale Bewegung umgesetzt, die eine Muskelkon-traktion hervorruft. Und worin besteht andererseits die Funktion des Ge-hirnsystems? Statt sich direkt zu den motorischen Zellen des Rücken-marks fortzupflanzen und dem Muskel die jeweils nötige Kontraktionmitzuteilen, steigt die peripherische Reizung erst zum Gehirn auf undläuft dann von da zu jenen motorischen Zellen des Rückenmarks, dieschon die Reflexbewegung vermittelten. Was hat sie nun auf diesemUmwege gewonnen und was hat sie in den sogenannten sensorischenNervenzellen der Hirnrinde zu suchen gehabt? Ich verstehe nicht undwerde nie verstehen, daß sie dort die wunderbare Kraft schöpfen soll,sich in eine Vorstellung von Dingen zu verwandeln; ich halte zudemdiese Hypothese für unnütz, wie man sofort sehen wird. Dies aber istmir sehr deutlich: daß die Zellen der verschiedenen sogenannten senso-rischen Regionen der Hirnrinde, die zwischen die verästelten Enden derzentripetalen Fasern und die motorischen Zellen der Rolandischen Fur-che eingeschaltet sind, der Reizung die Möglichkeit geben, diesen oderjenen motorischen Mechanismus des Rückenmarks nach Belieben zuerreichen und so die Art ihrer Wirksamkeit zu wählen. Je mehr solcheZellen zwischengeschaltet sind, je mehr sie solche amöboiden Fortsätzeaussenden, die zweifellos fähig sind, verschiedene Verbindungen zuschlagen, desto zahlreicher und verschiedener werden die Bahnen sein,welche sich vor ein und demselben peripherischen Reiz auftun können,desto zahlreicher werden folglich auch die Bewegungskomplexe sein,

Page 10: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

10

unter welchen ein und dieselbe Reizung die Wahl läßt. Das Gehirn istalso nach unserer Ansicht nichts anderes als eine Telephonzentrale:seine Aufgabe ist, "die Verbindung herzustellen" - oder aufzuschieben.Es fügt dem, was es empfängt, nichts hinzu; aber da alle Wahrneh-mungsorgane mit ihren letzten Enden in ihm münden und alle motori-schen Mechanismen des Rückenmarks und des verlängerten Marks ihrebefugte Vertretung in ihm haben, so ist es in Wahrheit eine Zentralstelle,wo der peripherische Reiz Anschluß an diesen oder jenen moto-

/15/rischen Mechanismus gewinnt, den er sich jetzt wählt und nicht mehraufdrängen läßt. Da sich aber in dieser Substanz eine ungeheure Men-ge motorischer Bahnen auftun können und zwar alle zugleich für ein unddenselben peripherischen Reiz, so hat dieser Reiz die Fähigkeit, sichins Unendliche zu teilen und sich folglich in unzähligen bloßen Ansätzenzu motorischen Reaktionen zu verlieren. Somit ist die Aufgabe des Ge-hirns, einesteils die aufgenommene Bewegung zum Zwecke der Reakti-on dem gewählten Organe zuzuführen, andernteils vor dieser Bewe-gung die Totalität der motorischen Bahnen aufzutun, damit sie ihnen alleerdenklichen Reaktionen, mit denen sie geladen ist, einzeichnen undsich selbst in dieser Zerstreuung analysieren Mit anderen Worten: dasGehirn erscheint inbezug auf die aufgenommene Bewegung als einWerkzeug der Analyse und inbezug auf die ausgeführte Bewegung alsein Werkzeug der Auswahl. Aber in dem einen wie dem andern Fallebesteht seine Funktion nur in der Vermittlung und Zerteilung von Bewe-gung. Und in den höheren Zentren der Hirnrinde arbeiten die Nerven-zellen ebensowenig wie im Rückenmark mit irgendwelcher Abzweckungauf Erkenntnis, sie zeigen nur entweder eine Menge möglicher Wirkun-gen auf einmal auf oder bringen eine einzige von ihnen zur Ausführung.Damit ist gesagt, daß das Nervensystem schlechterdings nichts voneinem Apparate hat, der zur Fabrikation, ja auch nur zur Zubereitungvon Vorstellungen dienen könnte. Seine Funktion ist, Reize aufzuneh-men, motorische Apparate zusammenzusetzen und einem gegebenenReize die größtmögliche Zahl dieser Apparate zur Verfügung zu stellen.Je mehr es sich entwickelt, desto zahlreichere und fernere Punkte desRaumes setzt es zu seinen immer komplizierter werdenden motorischenMechanismen in Beziehung: damit vergrößert sich der Spielraum, denes unserer Tätigkeit erschließt, und gerade hierin besteht seine wach-sende Vervollkommnung. Aber wenn im Aufstieg des Tierreiches dasNervensystem auf ein allmähliches Freierwerden der Tätigkeit abzielt,muß man da nicht annehmen, daß auch die Wahrnehmung, deren Fort-schritt von dem des Nervensystems abhängt, ganz und

/16/gar auf Tätigkeit und nicht auf die reine Erkenntnis gerichtet ist? Undwenn dem so ist, sollte dann nicht die wachsende Fülle dieser Wahr-nehmung einfach die Versinnbildlichung der wachsenden Indetermi-niertheit sein, die dem Lebewesen den Dingen gegenüber eine immerfreiere Wahl läßt? Gehen wir also von dieser Indeterminiertheit als demeigentlichen Prinzip aus. Untersuchen wir, ob sich nicht aus. ihr die be-wußte Wahrnehmung als möglich oder gar notwendig deduzieren läßt.Mit anderen Worten, setzen wir dieses System engverbundener Bilder,die wir die materielle Welt nennen, und denken wir uns hier und dort in

Page 11: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

11

diesem System Zentren wirklicher Tätigkeit, durch die lebende Materierepräsentiert: wir wollen beweisen, daß sich um jedes dieser ZentrenBilder gruppieren müssen, die von seiner Lage abhängen und sich mitihr verändern; daß sich die bewußte Wahrnehmung ergeben muß, undnoch mehr, daß es möglich ist zu begreifen, wie diese Wahrnehmungentsteht.Beachten wir zunächst, daß ein strenges Gesetz die Weite der bewuß-ten Wahrnehmung an die Stärke der Aktivität bindet, über die das Le-bewesen verfügt. Wenn unsere Hypothese begründet ist, dann müssenwir annehmen, daß die Wahrnehmung genau in dem Moment auftritt, indem ein von der Materie empfangener Reiz sich nicht in eine not-wendige Reaktion verlängert. Handelt es sich um einen Organismusniederer Art, so bedarf es allerdings eines unmittelbaren Kontaktes mitdem Reizobjekt, wenn ein Reiz ausgelöst werden soll, und da kanndenn die Reaktion nicht gut verzögert werden. So ist bei den niederenLebewesen der Gefühlssinn passiv und aktiv zugleich; er dient zugleichzum Erkennen und zum Ergreifen des Raubes, zur Empfindung und zurAbwehr der Gefahr. Die verschiedenen Fortsätze der Protozoen, dieAmbulakralfüßchen der Echinodermen. fungieren sowohl als Bewe-gungsorgane wie als Organe des Tastsinns; der Nesselapparat derCoelenteraten ist gleichzeitig ein Sinneswerkzeug und eine Verteidi-gungswaffe. Mit einem Wort: je unmittelbarer die Reaktion sein muß, umso mehr muß die Wahrnehmung einer bloßen Berührung gleichen, undder ganze Vorgang von Wahrnehmung

/17/und Reaktion unterscheidet sich dann kaum von einem mechanischenAnstoß mit notwendig darauffolgender Bewegung. Aber je ungewisserdie Reaktion wird und je mehr sie ein Abwarten zuläßt, desto mehrnimmt auch die Entfernung zu, in der das Lebewesen die Wirkung desGegenstandes, der es beschäftigt, empfindet. Durch das Gesicht, durchdas Gehör setzt es sich zu einer immer größer werdenden Zahl vonDingen in Beziehung und unterliegt ihren Einflüssen auf immer größereEntfernungen; und ob ihm nun diese Dinge Vorteil versprechen oderGefahr drohen, gerade weil sie nur versprechen und drohen, ist der kri-tische Moment hinausgeschoben. Aus dem Grade der Unabhängigkeit,über die ein Lebewesen verfügt, oder, wie wir sagen wollen, aus derGröße der Zone von Indeterminiertheit, die seine Aktivität umgibt, läßtsich a priori auf die Zahl und Entfernung der Dinge, mit denen es in Be-ziehung steht, schließen. Welcher Art diese Beziehung und die eigentli-che Beschaffenheit der Wahrnehmung auch sei, jedenfalls kann be-hauptet werden, daß die Weite der Wahrnehmung in genauem Verhält-nis zur Indeterminiertheit der nachfolgenden Tat steht. Wir können alsofolgendes Gesetz formulieren: Die Wahrnehmung beherrscht den Raumgenau in dem Verhältnis; in dem die Tat die Zeit beherrscht.

Aber warum nimmt diese Beziehung des Organismus zu mehr oder we-niger fernen Dingen gerade die Form der bewußten Wahrnehmung an?Wir haben untersucht, was im organischen Körper vor sich geht; wirfanden weitergeführte oder gehemmte Bewegungen, umgesetzt in voll-zogene Handlungen oder in bloße Ansätze zu Handlungen zersplittert.Diese Bewegungen gingen, so schien es, einzig und allein die Aktivitätan; sie blieben dem Vorstellungsprozesse absolut fremd. Dann be-trachteten wir die Aktivität selbst und die Indeterminiertheit, von der sieumgeben ist, eine Indeterminiertheit, die in der Struktur des Nervensy-

Page 12: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

12

stems gegeben ist und auf die dieses System in seiner Einrichtung vieleher abzuzwecken scheint als auf die Vorstellung. Diese In-determiniertheit einmal als Tatsache angenommen, konnten wir zu demSchlusse kommen, daß es Wahrnehmungen

/18/geben muß, d. h. eine variable Beziehung zwischen dem Lebewesenund den mehr oder minder fernen Einflüssen der Gegenstände, die esbeschäftigen. Wie kommt es nun, daß diese Wahrnehmung Bewußtseinist, und warum geht alles so vor sich, als ob das Bewußtsein aus deninneren Bewegungen der Gehirnsubstanz geboren würde?Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zuerst einmal die Bedin-gungen stark vereinfachen, unter denen sich die bewußte Wahrneh-mung vollzieht. Tatsächlich gibt es keine Wahrnehmung, die nicht mitErinnerungen gesättigt ist. Dem, was unsere Sinne uns unmittelbar undgegenwärtig geben, mengen wir tausend und abertausend Elementeaus unserer vergangenen Erfahrung bei. Meistens verdrängen dieseErinnerungen unsere eigentlichen Wahrnehmungen, und es bleiben unsvon diesen nur noch Andeutungen zurück, bloße "Zeichen", die uns anfrühere Bilder erinnern sollen. Wir erkaufen um diesen Preis das be-queme und rasche Funktionieren unserer Wahrnehmung; aber auchTäuschungen aller Art stammen aus dieser Quelle. Nichts hindert, anStelle dieser ganz vergangenheitsgetränkten Wahrnehmung die Wahr-nehmung eines reifen und ausgebildeten Bewußtseins zu setzen, wel-ches aber ganz in der Gegenwart befangen, von jeder anderen Funktionausgeschlossen und nur der Aufgabe hingegeben sei, sich rein nachdem äußeren Gegenstande zu formen. Das ist natürlich eine freie Fikti-on, und diese ideale Wahrnehmung, die wir durch Elimination der indivi-duellen Zufälligkeiten gewinnen, entspricht gar nicht mehr der Wirklich-keit. Aber wir wollen nachweisen, daß diese individuellen Zufälligkeitenjener unpersönlichen Wahrnehmung aufgepfropft sind, daß die unper-sönliche Wahrnehmung die eigentliche Wurzel unserer Kenntnis vonden Dingen ist und daß man aus ihr nur deshalb eine Art innerer sub-jektiver Vision, die sich von der Erinnerung nur durch größere Intensitätunterschied, hat machen können, weil man sie mißverstand und nichtauseinanderhielt, das ihr vom Gedächtnis hinzugefügt oder genommenwird. Dieses wäre also unsere erste Hypothese. Aber sie zieht vonselbst eine andere nach sich. So

/19/kurz man die Wahrnehmung auch ansetzen mag, so erfüllt sie dochimmer eine gewisse Zeit und bedarf folglich einer Anstrengung des Ge-dächtnisses, durch welche die einzelnen Momente ineinandergedehntund verschmolzen werden. Selbst die "Subjektivität" der Empfindungs-qualitäten besteht, wie wir zu zeigen versuchen wollen, hauptsächlich indieser Kontraktion des Wirklichen, die unser Gedächtnis leistet. Kurz,das Gedächtnis, das einerseits einen Kern von unmittelbarer Wahrneh-mung mit einer Hülle von Erinnerungen umwebt und andererseits eineMehrzahl von Momenten in eins zusammenzieht, bildet bei der Wahr-nehmung den Hauptbestandteil des individuellen Bewußtseins, diesubjektive Seite unserer Erkenntnis der Dinge; und wenn wir nun, umunsern Gedankengang zu vereinfachen, gerade diesen Bestandteil ver-nachlässigen, so wagen wir uns auf unserem Wege weiter, als wir dürf-

Page 13: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

13

ten. Aber wir brauchen ja nur auf unserer Bahn alsdann wieder zurück-zugehen und besonders dadurch, daß wir das Gedächtnis wieder ein-führen, unsere vielleicht übertriebenen Folgerungen zu korrigieren. Mandarf also im folgenden nichts weiter als eine schematische Darstellungerblicken, und ich bitte, vorläufig unter Wahrnehmung nicht meine kon-krete und komplexe Wahrnehmung zu verstehen, die mit meinen Erin-nerungen gesättigt ist und immer eine gewisse Dauer aufweist, sonderndie reine Wahrnehmung, die freilich mehr dem Rechte als der Tatsachenach besteht, eine Wahrnehmung, die ein Wesen in meiner Lage habenwürde, das lebte, wie ich lebe, das aber von der Gegenwart absorbiertund fähig wäre, durch Elimination des Gedächtnisses in allen seinenFormen von der Materie eine unmittelbare und rein momentane An-schauung zu haben. Lassen wir uns also auf diese Hypothese ein undsehen wir zu, wie sich dann die bewußte Wahrnehmung erklären läßt.Das Bewußtsein deduzieren zu wollen, wäre ein gewagtes Unterneh-men, aber dies ist hier in der Tat auch gar nicht nötig, da die materielleWelt setzen eine Summe von Bildern setzen heißt, und da es zudemüberhaupt unmöglich ist, etwas anderes als Bilder zu setzen. KeineTheorie der Materie

/20/kommt um diese Notwendigkeit herum. Denn führt man die Materie aufbewegte Atome zurück: selbst wenn man diesen Atomen ihre physikali-schen Qualitäten nimmt, so werden sie doch nur durch Beziehung aufeine mögliche Anschauung oder mögliche Berührung denkbar, und da-mit fällt dann wieder die Materialität des Lichtes und des Stoffes. Ver-dichtet man das Atom zu Kraftzentren, löst man es in rotierende Wirbeleines kontinuierlichen Fluidums auf: auch dieses Fluidum, diese Bewe-gungen und Zentren sind denkbar nur durch eine freilich ganz abge-blaßte Fühlbarkeit, Kraftwirkung und Farbigkeit - sie sind also immernoch Bilder. Es ist richtig, ein Bild kann sein, ohne wahrgenommen zuwerden; es kann gegenwärtig sein, ohne vorgestellt zu werden, undgerade das Auseinanderfallen dieser beiden Begriffe Gegenwärtigkeitund Vorstellung scheint die Differenz zwischen Materie und bewußterWahrnehmung der Materie auszumachen. Aber untersuchen wir dieSache genauer und sehen wir zu, worin eigentlich dieser Unterschiedbesteht. Wenn der zweite jener Begriffe ein Plus gegenüber dem erstenenthielte, wenn man, um von der Gegenwärtigkeit zur Vorstellung zugelangen, jener etwas hinzufügen müßte, so bliebe der Abstand unü-bersteigbar, und der Übergang von der Materie zur Wahrnehmung blie-be in ein undurchdringliches Geheimnis gehüllt. Etwas anderes wäre es,wenn man auf dem Wege der Subtraktion vom ersten Begriffe zumzweiten übergehen könnte und folglich die Vorstellung eines Bildes einMinus gegenüber seiner Gegenwart bedeutete; denn dann würde mannur den gegenwärtigen Bildern etwas von ihrem Wesen zu nehmenbrauchen, wenn sich ihre einfache Gegenwart in Vorstellung verwandelnsoll. Also: hier ist das Bild, das ich materieller Gegenstand nenne; ichhabe eine Vorstellung davon. Woher kommt es, daß es an sich etwasanderes zu sein scheint als für mich? Das hat seinen Grund darin, daßes in die Gesamtheit der übrigen Bilder fest eingefügt ist und sich eben-so in denen, die ihm folgen, fortsetzt wie es die Fortsetzung der voran-gegangenen ist. Um nun sein reines bloßes Sein in Vorstellung zu ver-wandeln, würde es genügen, alles was ihm folgt und vorangeht, aber

Page 14: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

14

/21/auch das, wovon es erfüllt ist, auszuscheiden, also bloß noch die äuße-re Schale, die oberste Haut übrig zu behalten. Das, was dieses gegen-wärtige Bild, diese objektive Realität von einem vorgestellten Bilde un-terscheidet, ist der Zwang, dem es untersteht, mit allen seinen Punktenauf alle Punkte der übrigen Bilder zu wirken, alle empfangenen Einwir-kungen weiterzuleiten, jeder Wirkung eine äquivalente Reaktion ent-gegenzusetzen, mit einem Wort, nichts anderes als ein Schnittpunktaller Veränderungen im unendlichen Weltall zu sein. Ich könnte es inVorstellung verwandeln, wenn ich es isolieren könnte, insonderheit sei-ne Hülle isolieren könnte. Die Vorstellung ist ja immer da, aber immernur virtuell, da sie in dem Augenblick, wo sie aktuell werden würde,neutralisiert wird durch den Zwang, sich fortzusetzen und in etwas An-derem aufzugehen. Um jene Verwandlung zu vollziehen, bedarf es nichtder Aufhellung des Gegenstandes, sondern im Gegenteil der Verdun-kelung gewisser Seiten an ihm, der Verminderung um den größten Teilseines Wesens, so daß der Rest, statt wie ein Ding in die Umgebungeingeschachtelt zu sein, sich wie ein Gemälde davon abhebt. Wenn nunaber die Lebewesen im Weltall "Zentren der Indeterminiertheit" dar-stellen und diese Inderterminiertheit mit der Zahl und der Feinheit ihrerFunktionen wächst, begreift man, daß ihr Vorhandensein ganz vonselbst die Ausscheidung aller der Elemente in den Gegenständen mitsich führt, an denen ihre Funktionen nicht interessiert sind. Sie lassengewissermaßen jene äußeren Wirkungen, die ihnen gleichgültig sind,durch sich hindurchgehen; dadurch werden die anderen isoliert undeben durch diese Isolierung zu "Wahrnehmungen". Es wird sich also füruns alles so vollziehen, als ob wir das Licht, das von den Oberflüchenausgeht, auf sie zurückwürfen, ein Licht, das niemals sichtbar gewordenwäre, wenn es sich ungestört fortgepflanzt hatte. Die uns umgebendenBilder scheinen nun unserem Körper jene Seite, die ihn interessiert, undzwar diesmal im vollen Lichte, zuzuwenden, sie geben von ihrem Gehaltdas an uns ab, was wir im Vorübergehen festgehalten haben, weil wireinen Einfluß darauf auszuüben vermögen. Der Zusammenhang, in demdie Bilder unter-

/22/einander stehen, ist der indifferente einer rein mechanischen Bezie-hung, sie wenden einander alle ihre Seiten auf einmal zu, d.h. sie wirkenund reagieren mit allen ihren Elementen auf einander, und folglich wirdkeines von ihnen zur Wahrnehmung, und keines nimmt bewußt wahr.Stoßen sie aber irgendwo auf ein Etwas, das mit einer gewissen Stärkespontan reagiert, so wird ihre Wirkung in demselben Maße geschwächt,und diese Verringerung ihrer Wirkung ist gerade unsere Vorstellung vonihnen. Unsere Vorstellung von den Dingen würde also letzten Endesdaher stammen, daß die Dinge sich an unserer Freibeil brechen.Wenn ein Lichtstrahl aus einem Medium in ein anderes übergeht, änderter gewöhnlich seine Richtung. Aber die spezifische Dichtigkeit der bei-den Medien kann so sein, daß bei einem gegebenen Einfallswinkel eineBrechung nicht mehr möglich ist. Dann tritt totale Reflexion ein. Es bildetsich von dem leuchtenden Punkte ein virtuelles Bild, das gewisserma-ßen die Unfähigkeit der Lichtstrahlen, ihren Weg fortzusetzen, symboli-siert. Diesem Phänomen ähnelt die Wahrnehmung. Gegeben ist dieTotalität der Bilder der materiellen Welt mit der Totalität ihrer innerenElemente. Aber wenn wir Zentren tatsächlicher d. h. spontaner Aktivität

Page 15: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

15

annehmen, dann werden die Strahlen, die auf sie treffen und ihr Interes-se zu erregen vermögen, nicht mehr durch sie hindurchgehen, sondernzurückgeworfen werden und so die Konturen des Gegenstandes, der sieaussendet, abzeichnen. Es geschieht dabei nichts Positives, dem Bildewird nichts hinzugefügt, es tritt nichts Neues auf. Die Gegenstände ge-ben nur etwas von ihrer reellen Wirkung auf und stellen dafür ihre vir-tuelle Wirkung dar, und das heißt im Grunde den möglichen Einfluß desLebewesens auf sie. Die Wahrnehmung ähnelt also ganz den Phäno-menen der Reflexion, die in gewissen Fällen an Stelle der Brechungtreten; sie ist eine Art Spiegelungserscheinung.Damit aber ist gesagt, daß zwischen dem Sein und dem bewußtenWahrgenommenwerden der Bilder nur ein Unterschied des Grades undnicht des Wesens ist. Die Realität der Materie besteht in der Totalitätihrer Elemente und in

/23/deren mannigfaltigen Wirkungen. Unsere Vorstellung der Materie ent-spricht genau unserer möglichen Wirkung auf die Körper; sie resultiert,wenn wir alles eliminieren, was für unsere Bedürfnisse oder allgemeiner:unsere Funktionen ohne Interesse ist. In gewissem Sinne könnte mansagen, daß das Wahrnehmen irgend eines unbewußten materiellenPunktes in seiner reinen Momentaneität unendlich viel umfassender undvollständiger sei als das unsere, da dieser Punkt ja alle Wirkungen allerPunkte der materiellen Welt aufnimmt und weitergibt, während unserBewußtsein nur gewisse Teile und nur gewisse Seiten dieser Teile er-faßt. Gerade in dieser Auswahl besteht- soweit die äußere Wahr-nehmung in Betracht kommt - das Wesen des Bewußtseins. Aber indieser notwendigen Armut unserer bewußten Wahrnehmung steckt et-was Positives, etwas, das bereits den Geist ankündigt: das Vermögenzu unterscheiden.Die ganze Schwierigkeit des Problems, mit dem wir uns beschäftigen,rührt daher, daß man sich die Wahrnehmung als eine Art photographi-scher Ansicht der Dinge vorstellt, welche von einem bestimmten Punktemit einem besonderen Apparat - unserem Wahrnehmungsorgan - auf-genommen wird, um alsdann in der Gehirnsubstanz durch einen un-bekannten chemischen und psychischen Vorgang entwickelt zu werden.Aber warum will man nicht sehen, daß die Photographie, wenn es über-haupt eine Photographie ist, von allen Punkten des Raumes aus im In-nern der Dinge schon auf genommen und schon entwickelt ist? KeineMetaphysik, nicht einmal die Physik kann sich dieser Schlußfolgerungentziehen. Baut man das Universum aus Atomen auf: in jedem Atommachen sich, qualitativ und quantitativ mit der Entfernung variierend, dieWirkungen bemerkbar, die alle materiellen Atome ausüben. Baut manes aus Kraftzentren auf: die Kraftlinien, die von jedem einzelnen Zen-trum nach allen Richtungen ausgesendet werden, leiten die Einflüsseder gesamten materiellen Welt auf jedes einzelne Zentrum hin. Undbaut man endlich aus Monaden: jede Monade ist nach Leibniz ein Spie-gel des Universums. Man ist sich also über diesen Punkt völlig einig.Nur liegt, wenn man einen beliebigen

/24/Punkt im Weltall betrachtet, die Sache so, daß die Wirkung der gesam-

Page 16: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

16

ten Materie ohne Widerstand und ohne Verlust hindurchgeht; dannbleibt die Photographie des Ganzen Licht, denn es fehlt die Platte, aufder das Bild aufgefangen wird. Unsere Zonen der Indeterminiertheitübernehmen sozusagen die Rolle dieser Platte. Sie fügen dem Vorhan-denen nichts hinzu; sie bewirken nur, daß die reelle Wirkung durchgehtund die virtuelle bleibt.Das ist keine Hypothese. Wir beschränken uns darauf, Tatsachen zuformulieren, an denen keine Theorie der Wahrnehmung vorüber kann.Der Psychologe kann überhaupt an das Studium der äußeren Wahr-nehmung nicht herantreten, ohne wenigstens die Möglichkeit einer ma-teriellen Wett anzunehmen, und das bedeutet im Grunde die virtuelleWahrnehmung aller Dinge. Aus dieser nur als möglich gedachten Masseder Materie isoliert man dann das besondere Objekt, das ich meinenLeib nenne, und in diesem Leibe wiederum die Wahrnehmungszentren:man zeigt mir dann, wie eine Erschütterung von irgend einem Punktedes Raumes herkommt, die Nerven entlang läuft und die Zentren er-reicht. Aber nun wird plötzlich ein Taschenspielerkunststück ausgeführt.Diese materielle Welt, die den Körper umgibt, dieser Körper, der dasGehirn beherbergt, dieses Gehirn, in dem man Zentren unterschied -alles das wird kurzerhand verabschiedet; und wie mit einem Zaubersta-be läßt man nun als etwas absolut Neues eine Vorstellung erscheinen,die Vorstellung von dem, was man zuerst gesetzt hatte. Man reißt dieseVorstellung aus dem Raume heraus, damit sie nichts mehr mit der Ma-terie, von der man doch ausging, gemein habe. Auch auf die Materieselbst würde man gerne verzichten, wenn es nur ginge, aber ihre Phä-nomene stellen untereinander eine so strenge, gegen jedweden Aus-gangspunkt so gleichgültige Ordnung dar, daß solche Regelmäßigkeitund Gleichgültigkeit wahrlich eine unabhängige Existenz begründet.Man muß sich also wohl oder übel entschließen, von der Materie wenig-stens ein Schattenbild beizubehalten. Das aber beraubt man aller derEigenschaften, die das Leben ausmachen. Aus einem amorphen Raum

/25/schneidet man bewegliche Figuren aus; oder man denkt sich (was un-gefähr auf dasselbe hinausläuft) Größenbeziehungen zwischen ihnen,mathematische Funktionen, die ablaufen und dabei ihr inneres Gesetzentwickeln: und dann kann sich freilich die Vorstellung, im erborgtenGlanze des besten Teils der Materie, in dem unausgedehnten Bewußt-sein schön entfalten. Aber mit dem Zerschneiden ist es nicht getan, manmuß auch wieder zusammennähen. Man muß jetzt zeigen, wie die Qua-litäten, die man von ihrer materiellen Grundlage losgelöst hat, wiederdamit zu vereinigen sind. Jedes Attribut, um das man die Materie kürzt,vergrößert den Zwischenraum von der Vorstellung zu ihrem Objekt.Wenn man diese Materie unausgedehnt sein läßt, woher soll ihr danndie Ausdehnung kommen? Wenn man sie auf eine homogene Bewe-gung reduziert, woher stammt dann die Qualität? Und vor allem: wie sollman sich eine Beziehung zwischen Ding und Bild, zwischen Materie undGedanken vorstellen, da doch jeder dieser beiden Begriffe laut Definiti-on gerade nur das besitzt, was dem andern fehlt? So wachsen einemdie Schwierigkeiten unter den Händen, und bei jedem Griff, mit demman eine zu beseitigen sucht, hat man ein ganzes Nest von neuen inder Hand. Was verlangen wir also? Einfach, daß man seinen Zauber-stab aus dem Spiele lasse und den anfänglichen Weg zu Ende gehe.Man hat uns äußere Bilder gezeigt, die auf die Sinnesorgane treffen, die

Page 17: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

17

Nerven modifizieren und ihren Einfluß zum Gehirne fortpflanzen. Gehenwir doch diesen Weg zu Ende. Die Bewegung wird durch die Gehirn-substanz hindurchgehen, nicht ohne darin zu verweilen, und schließlichwird eine willkürliche Handlung aus ihr hervorwachsen. Und damit ha-ben wir den Mechanismus der Wahrnehmung beisammen. Was dieseWahrnehmung selbst, insofern sie Bild ist, betrifft, so braucht man ihrerGenesis gar nicht erst nachzugehen, da man sie von allem Anfang angesetzt hat und ja auch gar nicht anders konnte, als sie setzen; denn alsman das Gehirn, als man den geringsten Teil der Materie annahm, hatman damit nicht die Gesamtheit aller Bilder angenommen? Was alsonach Erklärung verlangt, ist

/26/nicht die Entstehung der Wahrnehmung, sondern ihre Beschränktheit,denn sie sollte doch von Rechts wegen das Bild des Ganzen sein, gibtuns aber de facto nur, was uns interessiert. Wenn sie sich aber von demreinen Bilde gerade dadurch unterscheidet, daß sich ihre Teile im Bezu-ge auf ein variables Zentrum ordnen, dann ist ihre Eingeschränktheitganz begreiflich: vor Rechts wegen unbegrenzt, beschränkt sie sichtatsächlich darauf, das Maß von Indeterminiertheit anzugeben, das denHandlangen des besonderen Bildes, das wir unseren Leib nennen, ge-lassen ist. Und folglich ist umgekehrt die Indeterminiertheit der Körper-bewegungen, so wie sie aus der Struktur der grauen Hirnsubstanz re-sultiert, der exakte Maßstab für den Umfang unserer Wahrnehmung. Esbraucht uns also nicht in Erstaunen zu setzen, wenn alles so verläuft,als ob unsere Wahrnehmung die Folge der inneren Bewegungen desGehirns sei und irgendwie aus den kortikalen Zentren hervorginge. Siekann aber gar nicht daraus hervorgehen, da das Gehirn nur ein Bild wiealle anderen ist und in der Masse der anderen Bilder steckt, und da esabsurd wäre zu sagen, daß das Enthaltende aus dem Enthaltenen her-vorginge. Die strenge Beziehung zwischen bewußter Wahrnehmungund zerebraler Modifikation geht vielmehr darauf zurück, daß einerseitsdie Struktur des Gehirns den genauen Plan der Bewegungen, unter de-nen wir die Wahl haben, darstellt und daß andererseits diejenigen Be-standteile der äußeren Bilder, die gewissermaßen zu sich selbst zurück-kehren und so die Wahrnehmung bilden, genau die Punkte des Univer-sums bezeichnen, auf die jene Bewegungen einen Einflug ausübenkönnen. Die sogenannte wechselseitige Abhängigkeit von bewußterWahrnehmung und Gehirnmodifikation rührt also einfach daher, daß siebeide aus einem Brüten, nämlich der Indeterminiertheit des Willens,folgen.Nehmen wir z. B. einen leuchtenden Punkt P, dessen Strahlen dieNetzhaut in den Punkten a, b und c treffen. In diesem Punkte lokalisiertdie Wissenschaft Schwingungen von einer gewissen Amplitude undeiner gewissen Dauer. In diesem selben Punkte P nimmt das Bewußt-sein Licht wahr. Wir

/27/wollen nun im Verlauf dieser Untersuchung zeigen, daß beide Rechthaben und daß kein wesentlicher Unterschied zwischen diesem Lichtund jenen Bewegungen besteht, vorausgesetzt daß man der Bewegungdie Einheitlichkeit, Unteilbarkeit und qualitative Heterogenität wiedergibt,welche eine abstrakte Mechanik ihr abspricht, und weiter vorausgesetzt,

Page 18: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

18

daß man die Empfindungsqualitäten als Kontraktionen auffaßt, die von,unserem Gedächtnis geleistet werden: Wissenschaft und Bewußtseinwürden so für den reinen Moment zusammenfallen. Sagen wir vorläufigganz schlicht, ohne den Sinn der Worte zu tief zu fassen, daß der PunktP der Netzhaut Lichterschütterungen zusendet. Was wird geschehen?Wenn das visuelle Bild des Punktes P nicht gegeben wäre, dann müß-ten wir zu erforschen suchen, wie es sich bildet, und dann ständen wirsehr bald vor einem unlösbaren Problem. Aber wie man auch vorgehenwill, man kommt nicht darum herum, das visuelle Bild von Anfang an zusetzen: die einzige Frage ist also, warum und wieso gerade dieses Bildausgewählt und in meine Wahrnehmung einbezogen wurde, da dochunendlich viele andre Bilder ausgeschlossen bleiben. Nun sehe ich, daßdie Erschütterungen, welche vom Punkte P auf die verschiedenen Zel-len der Netzhaut ausgehen, den subkortikalen und kortikalen Sehzen-tren, zuweilen auch anderen Zentren zugeleitet werden und daß dieseZentren sie manchmal an motorische Mechanismen weitergeben undmanchmal sie fürs erste festhalten. Welche Wirksamkeit die empfange-ne Erschütterung bekommt, wird also davon abhängen, welche Ele-mente des Nervensystems beteiligt sind; in ihnen symbolisiert sich dieIndeterminiertheit des Willens; von ihrer Integrität hängt diese Indeter-miniertheit ab, und folglich muß jede Verletzung dieser Elemente, indem sie unsere Aktivität verringert, in gleichem Maße unsere Wahr-nehmung verringern. Mit anderen Worten, wenn es in der materiellenWelt Punkte gibt, wo die empfangenen Erschütterungen nicht mecha-nisch weitergeführt werden, wenn es Zonen der Indeterminiertheit, wiewir sie nannten, gibt, müssen diese Zonen auf dem Wege des senso-risch-motorischen Prozesses genau wie Trajekte fungieren; und des-

/28/halb wird alles so vor sich gehen, als ob die Strahlen Pa, Pb, Pc an die-ser Stelle des Weges wahrgenommen und dann in den Punkt P proji-ziert würden. Ja noch mehr: während diese Indeterminiertheit sich ihrerNatur nach dem Experiment und der Berechnung entzieht, so ist diesnicht mit den Elementen des Nervensystems der Fall, von denen derEindruck aufgenommen und weitergeführt wird. Diese Elemente sind esalso, mit denen sich die Physiologen und Psychologen werden beschäf-tigen müssen, nach ihnen richten und aus ihnen erklären sich alle Ein-zelheiten der äußeren Wahrnehmung. Man kann dann, wenn man will,sagen, daß der Reiz, nachdem er diese Elemente durchlaufen und dasZentrum erreicht hat, sich hier in ein bewußtes Bild umsetzt, das als-dann nach außen in den Punkt P verlegt wird. Aber wenn man so for-muliert, tut man es nur, weil man unter dem Zwange der wissenschaftli-chen Methode steht; der wirkliche Vorgang wird damit in keiner Weisebeschrieben. In Wirklichkeit gibt es kein unausgedehntes Bild, daß sichim Bewußtsein bildet und dann in den Punkt P projiziert wird. Die Wahr-heit ist die, daß der Punkt P, die Strahlen, die er aussendet, die Netz-haut und die beteiligten Elemente des Nervensystems ein solidarischesGanzes bilden, in dem der Punkt P ein Teil ist, und daß im Punkte P,und nirgends anders, das Bild von P gebildet und wahrgenommen wird.Wir wenden uns nur eben der naiven Auffassung des gesunden Men-schenverstandes wieder zu, wenn wir uns die Dinge so vorstellen. Wiralle haben damit angefangen zu glauben, daß wir in das Objekt selbsteindringen; daß wir es in ihm wahrnehmen und nicht in uns. Wenn derPsychologe diese ebenso einfache wie der Wirklichkeit nahekommende

Page 19: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

19

Auffassung verwirft, geschieht es aus dem Grunde, weil ihm der intraze-rebrale Vorgang, dieser winzige Teil der Wahrnehmung, die ganzeWahrnehmung zu repräsentieren scheint. Wenn wir das wahrgenom-mene Objekt ausschalten und nur den inneren Vorgang beibehalten, sowird er erklären, daß sich nichts ändere, daß das Bild des Gegen-standes bleibe. Und dieser Glaube ist leicht begreiflich; es

/29/gibt zahlreiche Zustände, wie z. B. Traum und Halluzination, wo Bilderauftauchen, die der äußeren Wahrnehmung in allen Stücken gleichen.Da in diesem Falle das Objekt verschwunden ist, während das Gehirnweiterbesteht, so schließt man daraus, der Gehirnvorgang genüge zurErzeugung des Bildes. Aber man vergesse nicht, daß in allen psychi-schen Zuständen dieser Art das Gedächtnis die Hauptrolle spielt. Nunwerden wir weiter unten zu zeigen versuchen, daß, faßt man den Begriffder Wahrnehmung einmal so wie wir, das Gedächtnis auftreten mußund daß dieses Gedächtnis ebenso wenig wie die Wahrnehmung selbstin einem Gehirnzustande seinen reellen und ausreichenden Grund hat.Ohne zunächst an die Untersuchung dieser beiden Punkte heran-zutreten, führen wir eine ganz einfache und wohlbekannte Beobachtungan. Bei vielen Blindgeborenen sind die Sehzentren völlig unversehrt,dennoch leben und sterben sie, ohne ein einziges Sehbild gehabt zuhaben. Ein solches Bild kann also nur dann auftreten, wenn der äußereGegenstand wenigstens ein erstes Mal seine Rolle gespielt hat: er mußfolglich, das erste Mal wenigstens, beim Zustandekommen der Vorstel-lung wirksam beteiligt gewesen sein. Und dies genügt uns für den Au-genblick, denn wir meinen jetzt die reine Wahrnehmung und nicht diedurch Hinzutritt des Gedächtnisses komplizierte Wahrnehmung. Schal-ten wir also den Anteil des Gedächtnisses aus und betrachten dieWahrnehmung im Rohzustande, dann ist klar, daß es kein Bild ohneGegenstand gibt. Sobald man außer den intrazerebralen Prozessen denäußeren Gegenstand setzt, der ihre Ursache ist, sehe ich leicht ein, wiemit und in diesem Gegenstande sein Bild gegeben ist; wie aber diesesBild aus der Gehirnbewegung hervorgehen soll, das sehe ich ganz undgar nicht ein.Wenn eine Verletzung der Nerven oder der Zentren das Trajekt, aberdas die nervöse Reizung läuft, mehr oder minder stört, so wird dieWahrnehmung um ebensoviel beeinträchtigt. Soll uns das wundern? DieAufgabe des Nervensystems besteht ja doch darin, Reizungen auszu-nützen, sie in praktische Handlungen, seien es reelle oder virtuelle,

/30/umzusetzen. Wenn nun aus irgendeinem Grunde der Reiz keinenDurchgang mehr findet, dann wäre es sonderbar, wenn die entspre-chende Wahrnehmung noch stattfände, da diese Wahrnehmung ja als-dann unseren Körper zu Punkten des Raumes in Beziehung setzenwürde, die nicht mehr direkt eine Wahl von ihm fordern. Durchschneidetman bei einem Tiere den Sehnerv, so wird der von einem bestimmtenPunkte ausgehende Lichtreiz nicht mehr auf das Gehirn und von da aufdie motorischen Nerven übertragen; der Faden, der den äußeren Ge-genstand durch den Sehnerv hindurch mit den motorischen Mechanis-men des Tieres verband, ist zerrissen: die Gesichtswahrnehmung istmachtlos geworden, und weil sie machtlos ist, ist sie unbewußt; ihre

Page 20: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

20

Unbewußtheit ist der Ausdruck ihrer Machtlosigkeit. Daß die Materieohne die Mitwirkung eines Nervensystems und ohne Sinnesorganewahrgenommen werden könnte, ist theoretisch nicht undenkbar, aberpraktisch unmöglich, weil eine Wahrnehmung dieser Art zu nichts gutwäre. Sie würde einem Phantome anstehen, aber nicht einem lebendend. h. handelnden Wesen. Man stellt sich den lebenden Körper immer alseinen Staat im Staate vor, das Nervensystem als ein Wesen für sich,dessen Aufgabe darin bestände, zuerst Wahrnehmungen herzustellenund dann Bewegungen zu schaffen. In Wahrheit ist mein Nervensystem,das zwischen die Objekte, welche meinen Körper affizieren und die, aufwelche ich Einfluß habe, eingeschaltet ist, nur einfach ein Konduktor,der Bewegung weiterleitet, verteilt oder aufhebt. Dieser Konduktor be-steht aus einer ungeheuren Menge von Fäden, die von der Peripheriezum Zentrum und vom Zentrum zur Peripherie gespannt sind. SovielFäden von der Peripherie zum Zentrum laufen, soviel Punkte im Raumegibt es, die an meinen Willen appellieren und sozusagen eine elementa-re Frage an meine motorische Tätigkeit richten können: jede solcheFrage ist eben das, was man eine Wahrnehmung nennt. Deshalb wirdunsere Wahrnehmung um eins ihrer Elemente verringert, so oft einerder sogenannten sensorischen Fäden durchschnitten wird, denn da-durch wird ein Teil des äußeren Gegenstandes außerstand gesetzt,

/31/an unsere Tätigkeit zu appellieren; dasselbe geschieht, wenn sich einefeste Gewohnheit gebildet hat, weil dann die fertige Antwort die Frageüberflüssig macht. Was hier im einen Falle wie im andern verschwindet,ist die scheinbare Rückläufigkeit des äußeren Reizes, die Rückkehr desLichtes zu dem Bilde, von welchem es ausging, oder vielmehr jener Aktder Ablösung, der Unterscheidung, der die Wahrnehmung vom Bildetrennt. plan kann demnach sagen, daß jede Einzelheit der Wahrneh-mung völlig von den sensorischen Nerven abhängt, daß aber die Wahr-nehmung als Ganzes ihre Wurzel wirklich und schließlich in der Ten-denz unseres Körpers zur Bewegung hat. Ursache für die Täuschung,der man in diesem Punkte gewöhnlich unterliegt, ist die scheinbareGleichgültigkeit unserer Bewegungen gegen die Art des Reizes, der siehervorruft. Es scheint, daß die Bewegung meines Körpers, durch die icheinen Gegenstand erreiche und modifiziere, dieselbe bleibt, ob ich nunseine Existenz durch das Gehör, das Gesicht oder das Gefühl erfahrenhabe. Von da aus wird meine motorische Tätigkeit zu einer besonderenWesenheit, zu einer Art Behälter, aus dem die Bewegung nach Beliebenhervorgeht, immer dieselbe Bewegung für dieselbe Handlung, gleich-gültig, welche Art von Bild sie hervorgelockt hat. Aber tatsächlich ist esso, daß äußerlich identische Bewegungen im Innern etwas ganz Ver-schiedenes sind, je nachdem sie auf einen Gesichts-, Gehör- oder Tast-eindruck die Antwort geben. Ich sehe eine Menge Gegenstände imRaum; sie appellieren alle an meine Tätigkeit, insoweit ein jeder opti-sche Form ist. Wenn ich nun plötzlich die Sehkraft verliere, so verfügeich zweifellos noch über dieselbe Quantität und Qualität von Bewegun-gen im Raume; aber diese Bewegungen können nicht mehr mit opti-schen Eindrücken verbunden werden; sie müssen von nun an anderenSinneseindrücken, etwa den taktilen, folgen, und zweifellos wird sich imGehirn eine neue Ordnung herstellen; die protoplasmischen Fortsätzeder motorischen Nerven stehen jetzt in der Hirnrinde mit einer viel ge-ringeren Anzahl von sensorischen Nerven in Beziehung. Meine Tätigkeitist also doch tatsächlich geschmälert, denn wenn ich auch

Page 21: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

21

/32/noch dieselben Bewegungen auszuführen vermag, die Gegenständegeben mir jetzt weniger Gelegenheit dazu. Und folglich hat die plötzlicheUnterbrechung der optischen Leitung dadurch eine wesentliche undeinschneidende Wirkung gehabt, daß sie einen beträchtlichen Teil derfrüheren Appellationen an meine Tätigkeit unterdrückt hat: diese Appel-lationen aber sind die Wahrnehmungen, wie wir gesehen haben. Wirlegen hier den Finger auf den Irrtum derer, die die Wahrnehmung ausder sensorischen Erschütterung im engeren Sinne hervorgehen lassenund nicht aus einer Frage, die unserer motorischen Tätigkeit gestelltwird. Jene trennen Wahrnehmungsprozeß und motorische Tätigkeit, undda diese das Erlöschen der Wahrnehmung zu überdauern scheint, sofolgern sie, daß die Wahrnehmung in den sogenannten sensorischenNerven lokalisiert sein müsse. In Wirklichkeit ist sie ebensowenig in densensorischen wie in den motorischen Zentren; sie ist das Maß der Kom-plexheft der Beziehungen zwischen beiden und ist da, wo sie erscheint.Die Kinderpsychologie hat festgestellt, daß unsere Vorstellung im An-fang unpersönlich ist. Nur ganz allmählich und erst auf Grund sehr vielerInduktionen bezieht sie sich auf unsern Leib als Mittelpunkt und wirddamit unsere Vorstellung. Wie das zugeht, ist übrigens leicht verständ-lich. Wenn mein Körper im Raume den Ort wechselt, verändern sich alleanderen Bilder entsprechend, und nur er selbst bleibt unveränderlich.Ich muß also wohl oder übel ihn zu dem Mittelpunkt machen, auf den ichalle übrigen Bilder beziehe. Mein Glaube an eine Außenwelt kann un-möglich daraus entstehen, daß ich unausgedehnte Empfindungen nachaußen projiziere, denn wie könnten diese Empfindungen Ausdehnungbekommen und woher sollte ich den Begriff des Außen nehmen? Wennman mir aber, wie es ja auch die Erfahrung bezeugt, zugibt, daß dieGesamtheit der Bilder von vornherein gegeben ist, dann kann ich sehrgut verstehen, wie mein Körper in dieser Gesamtheit schließlich zu einerbevorzugten Stellung kommen muß. Ich verstehe dann auch, wie wei-terhin der Begriff des Äußeren und des Inneren

/33/entsteht; er ist im Anfang nichts weiter als die Unterscheidung meinesKörpers von den übrigen Körpern. Geht man nämlich von meinem Kör-per aus, wie man das gewöhnlich tut, so wird man mir nie klar machenkönnen, wieso Eindrücke, die mein Körper erhält und die nur ihn ange-hen, sich für mich zu unabhängigen Gegenständen zusammenschließenund eine Außenwelt bilden. Gehe ich dagegen von der Masse der Bilderim allgemeinen aus, so muß sich zuletzt mein Körper ganz von selbstals ein besonderes in ihrer Mitte abheben, da die übrigen immerfortwechseln und nur er unverändert bleibt.Der Unterschied zwischen Innen und Außen läuft so auf den Unter-schied zwischen Teil und Ganzem hinaus. Zuerst ist also die Gesamt-heit der Bilder; in dieser Gesamtheit sind "Zentren von Aktivität", vondenen die Bilder, soweit sie diese Aktivität interessieren, reflektiert zuwerden scheinen; auf diese Weise werden die Wahrnehmungen erzeugtund die Handlungen vorbereitet. Was sich im Mittelpunkt der Wahrneh-mungen abhebt, ist mein Leib; meine Persönlichkeit ist dasjenige We-sen, auf das die Handlungen zu beziehen sind. Alles wird klar und ver-ständlich, wenn man derart von der Peripherie der Wahrnehmung zum

Page 22: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

22

Zentrum geht, wie es das Kind tut und wie uns unmittelbare Erfahrungund gesunder Menschenverstand nahelegen. Dagegen wird alles dunkelund unklar, und die Probleme vermehren sich ins Unabsehbare, wennman mit den l4iännern der Theorie vom Zentrum nach der Peripheriegehen will. Woher kommt dann auf einmal diese merkwürdige Idee einerAußenwelt, die aus ausdehnungslosen Empfindungen Steck für Stückkünstlich konstruiert wird, wo man dann weder begreift, wie solche Un-ausgedehntheiten eine Ausdehnung zustande bringen noch wie sienach außen projiziert werden? Warum soll ich denn gegen allen Augen-schein von meinem bewußten Ich zu meinem Körper und dann vonmeinem Körper zu den andern Körpern vorgehen, während ich michdoch tatsächlich mit einem Schlage in die gesamte materielle Welt ver-setze und dann erst allmählich das Zentrum von Aktivität abgrenze undvon allem andern unterscheide, das

/34/ich meinen Leib nennen werde? In diesem Glauben an die ursprüngli-che Unausgedehntheit unserer äußeren Wahrnehmung steckt eine sol-che Menge von Irrtümern, und in der Ansicht, daß wir rein innere Zu-stände nach außen projizieren, sind so viele Mißverständnisse, so vielschiefe Antworten auf verkehrte Fragen enthalten, daß wir nicht hoffendürfen, alles das mit einem Schlage zu entwirren. Wir hoffen das mit derZeit zu tun, wenn wir hinter diesen Irrtümern den metaphysischen Wirr-warr von unteilbarer Ausdehnung und homogenem Raum und die psy-chologische Vermischung der "reinen Wahrnehmung" mit dem Gedächt-nis aufzeigen werden. Freilich finden diese Theorien einen gewissenAnhalt an einer Reihe von Tatsachen, die wir gleich hier anführen wol-len, um ihre Interpretation richtig zu stellen.Die erste dieser Tatsachen besteht in der Erziehungsbedürftigkeit unse-rer Sinne. Weder Gefühl noch Gesicht bringen es gleich fertig, ihre Ein-drücke zu lokalisieren. Nur durch eine ganze Reihe von Vergleichungenund Induktionen können wir allmählich unsere Eindrücke einander koor-dinieren. Es ist ein Sprung, wenn man daraus schließt, die Empfindun-gen seien ihrem Wesen nach unausgedehnt und die Ausdehnung kämeerst dadurch zustande, daß sie sich nebeneinander lagern. Aber mansieht leicht ein, daß auch für unsern Standpunkt die Sinne der Erzie-hung bedürfen, freilich nicht, um sich den Dingen anzupassen, aber umsich untereinander in Übereinstimmung setzen. Hier habe ich inmittenall der Bilder ein Bild, das ich meinen Leib nenne; seine virtuelle Aktivitäterscheint als Reflexion der umgebenden Dinge auf sich selbst. So vieleArten möglicher Tätigkeiten es für meinen Leib gibt, so viele verschie-dene Systeme der Reflexion muß es für die anderen Körper geben, undjedes dieser Systeme muß einem meiner Sinne entsprechen. Mein Leibbenimmt sich also wie ein Bild, das andere Bilder reflektiert, indem essie unter dem Gesichtspunkte der verschiedenen Wirkungen, die es aufsie ausüben kann, analysiert. Folglich symbolisiert jede der von meinenverschiedenen Sinnen an ein und demselben Gegenstande wahrge-nommenen Qualitäten

/35/eine gewisse Richtung meiner Aktivität, ein gewisses Bedürfnis. Werdennun alle Wahrnehmungen, die ich mittels meiner verschiedenen Sinnevon demselben Körper habe, durch ihre Vereinigung mir ein vollständi-

Page 23: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

23

ges Bild von diesem Körper geben? Natürlich nicht, da sie gleichsamaus einem größeren Ganzen herausgepflückt worden sind. Alle Einflüs-se von allen Punkten aller Körper wahrnehmen, hieße zum materiellenGegenstande werden. Bewußt wahrnehmen heißt wühlen, und das Be-wußtsein besteht vor allem in diesem praktischen Unterscheidungsver-mögen. Die verschiedenen Wahrnehmungen, die mir meine verschiede-nen Sinne von ein und demselben Gegenstande geben, stellen alsonicht durch ihre Vereinigung das vollständige Bild des Gegenstandesher, sondern es bleiben zwischen ihnen Lücken, deren jede gewisser-maßen einem nicht vorhandenen Bedürfnis entspricht; und um dieseLücken auszufüllen, bedarf es der Erziehung der Sinne. Zweck dieserErziehung ist, meine Sinne in Übereinstimmung zu bringen, zwischenihren Gegebenheiten den durchgängigen Zusammenhang, der ebendurch die Zusammenhanglosigkeit der Bedürfnisse meines Körpers zer-stört worden ist, wiederherzustellen, kurz, das Gesamtbild des materi-ellen Gegenstandes annähernd zu rekonstruieren. So erklärt sich inunserer Hypothese die Notwendigkeit einer Erziehung der Sinne. Ver-gleichen wir diese Erklärung mit der vorigen. Nach dieser sollten sichunausgedehnte Gesichtsempfindungen mit unausgedehnten Tast- undanderen Sinnesempfindungen verbinden und durch diese Synthese dieVorstellung des materiellen Gegenstandes ergeben. Aber erstens istnicht einzusehen, wo diese Empfindungen Ausdehnung erwerben sol-len, und vor allem wie man, die Ausdehnung einmal im allgemeinen alserworben angenommen, die Tatsache erklären will, daß sich im einzel-nen Fall eine bestimmte Empfindung gerade mit diesem Punkt im Rau-me verbindet. Und weiter kann man fragen, durch welch glücklichesZusammentreffen, kraft welcher prästabilierten Harmonie diese ver-schiedenartigen Empfindungen sich zusammenordnen und einen kom-pakten, von nun an beständigen Gegenstand bilden, der meiner Erfah-rung und derjenigen aller Menschen gemeinsam

/36/und in seinem Verhalten zu den übrigen Gegenständen an die unbeug-samen Regeln gebunden ist, die man Naturgesetze nennt. Nach unse-rer Erklärung dagegen sind "die Gegebenheiten unserer verschiedenenSinne" Qualitäten der Dinge und werden von Anfang an mehr in ihnenals in uns wahrgenommen: ist es da erstaunlich, daß sie sich wieder zueinem Ganzen zusammenschließen, wo sie doch nur durch Abstraktiongetrennt worden waren? - Nach der ersten Hypothese fällt das materi-elle Ding und unsere Wahrnehmung vollständig auseinander, das mate-rielle Ding ist nicht, was wir wahrnehmen: man setzt auf der einen Seitedas Bewußtsein mit den Empfindungsqualitäten, auf der andern dieMaterie, von der man nichts auszusagen weiß und die man durch Ne-gationen definieren muß, weil man sie aller wirklichen Merkmale vonvornherein beraubt hat. Nach der zweiten Hypothese ist eine immertiefere Erkenntnis der Materie möglich. Wir verkürzen die Materie umkeine einzige Qualität, die wir an ihr wahrnehmen, im Gegenteil, wirnehmen es auf uns, alle ihre Qualitäten zusammenzubringen, ihre Ver-wandtschaft herauszufinden und zwischen ihnen den Zusammenhangherzustellen, den unsere Bedürfnisse zerstört haben. Unsere Wahr-nehmung der Materie ist alsdann nicht mehr relativ und subjektiv, we-nigstens nicht im Prinzip und abgesehen vom Gefühl und vor allem vomGedächtnis, wie wir gleich sehen werden: sie ist nur zerstückelt durchdie Vielspältigkeit unserer Bedürfnisse. - In der ersten Hypothese ist derGeist ebenso unerkennbar, wie die Materie, nachdem man ihm die my-

Page 24: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

24

stische Fähigkeit beilegt, Empfindungen hervorzurufen, man weiß nichtwoher, und sie, man weiß nicht warum, in einen Raum zu projizieren,wo sie dann Körper bilden. In der zweiten dagegen ist die Rolle des Be-wußtseins klar bestimmt: Bewußtsein bedeutet mögliche Tätigkeit; unddie vom Geiste herausgebildeten festen Formen, die uns sein Wesenverhüllen, sind von diesem Grundprinzip aus aufzulösen. So ergibt sichbei unserer Hypothese die Möglichkeit, Geist und Materie klarer. zu un-terscheiden und gleichzeitig eine engere Beziehung zwischen ihnen zusehen. Lassen

/37/wir aber jetzt diesen ersten Punkt beiseite und gehen zum zweiten über.Die zweite der bezeichneten Tatsachen besteht in dem, was man langeZeit die spezifische Sinnesenergie genannt hat. Man weiß, daß die Rei-zung der Sehnerven durch eine äußere Erschütterung oder einen elek-trischen Strom eine Sehempfindung gibt und daß derselbe elektrischeStrom, auf den Hörnerv oder den Zungen- und Schlundnerv gerichtet,einen Ton oder einen Geschmack erzeugt. Aus diesen recht speziellenTatsachen folgert man die zwei reichlich allgemeinen Gesetze, daß,wenn auf den gleichen Nerven verschiedene Ursachen wirken, die glei-che Empfindung ausgelöst wird, und daß, wenn auf verschiedene Ner-ven die gleiche Ursache wirkt, verschiedene Empfindungen hervor-gerufen werden. Aus diesen Gesetzen schließt man dann wieder, daßunsere Empfindungen eine bloße Zeichensprache sind und unsere Sin-ne so funktionieren, daß jeder homogene mechanische Bewegungen,die im Raume geschehen, in seine eigentümliche Sprache übersetzt.Und von hier aus kommt man endlich auf die Idee, unsere Wahrneh-mung in zwei scharf geschiedene, hinfort nicht mehr zu vereinigendeTeile zu spalten: hier die homogenen Bewegungen im Raume, dort dieunausgedehnten Empfindungen im Bewußtsein. Es ist nicht unsere Sa-che, auf die nähere Untersuchung der physiologischen Probleme einzu-gehen, die aus der Interpretation dieser beiden Gesetze erwachsen.Wie man auch diese Gesetze versteht, ob man nun die spezifischeEnergie den Nerven zuspricht oder sie in die Zentren verlegt, jedenfallswird man immer auf unüberwindliche Hindernisse stoßen. Aber ganzabgesehen davon werden die Gesetze selbst mehr und mehr problema-tisch. Schon Lotze hegte Zweifel an ihrer Richtigkeit. Er wollte, ehe eran sie glaubte, abwarten, "bis die Schallwellen dem Auge die Empfin-dung des Lichtes, und Lichtschwingungen dem Ohre einen Ton gebenwürden"1. In Wahrheit scheinen alle angeführten Tatsachen auf eineneinzigen Typus zurückführbar: wenn wir ein und denselben Reiz ver-schiedenartige Empfindungen oder verschiedene Reize

/38/ein und dieselbe Empfindung hervorrufen sehen, so handelt es sich im-mer entweder direkt um den elektrischen Strom oder um eine mechani-sche Ursache, die im Organ eine Änderung des elektrischen Gleichge-wichts herbeiführt. Nun könnte man fragen, ob der elektrische Reiz nichtverschiedene Komponenten in sich begreift, die objektiv den ver-schiedenen Arten der Empfindungen entsprechen, und ob nicht jederSinn seine besondere Aufgabe einfach darin hat, aus dem Ganzen die 1 Lotze, Metaphysik, 2. Auf., S. 508 u.f.

Page 25: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

25

Komponente herauszuziehen, die ihn angeht: dann würden also dochdieselben Reize, dieselben Empfindungen und verschiedene Reize ver-schiedene Empfindungen hervorrufen. Um deutlicher zu sein: es istkaum denkbar, daß z. B. die Elektrisierung der Zunge nicht chemischeVeränderungen hervorrufen sollte; nun, solche Veränderungen nennenwir in jedem Falle Geschmacksempfindungen. Oder: wenn es dem Phy-siker gelungen ist, das Licht mit einer Störung des elektromagnetiscbenGleichgewichts zu identifizieren, kann man auch umgekehrt sagen, daß,was hier Störung des elektromagnetischen Gleichgewichts heißt, Lichtist, so daß es also wirklich Licht wäre, was der Sehnerv wahrnimmt,wenn er elektrisiert wird. Für keinen andern Sinn schien die Lehre vonder spezifischen Energie so sicher begründet wie für das Ohr, und nir-gends sonst ist die wirkliche Existenz der wahrgenommenen Dingewahrscheinlicher geworden, als gerade hier. Wir wollen nicht weiter aufdiese Tatsachen eingehen, da man sie in einem neueren Werke gründ-lich und nach allen Richtungen dargestellt finden kann2. Nur daraufwollen wir hinweisen, daß die Empfindungen, von denen hier immer dieRede ist, keine von uns außerhalb unseres Körpers wahrgenommenenBilder, sondern vielmehr in unserem Körper selbst lokalisierte Affektio-nen sind. Nun folgt aus der Natur und Bestimmung unseres Körpers,wie wir gleich sehen werden, daß jedes seiner sensorischen Organeseine eigentümliche reelle Wirksamkeit hat und daß von gleicher Art wiediese reelle die virtuelle Wirksamkeit sein muß, die es als Wahr-nehmung auf die äußeren Gegenstände richtet; auf diese

/39/Weise versteht man dann, warum jeder sensorische Nerv nur auf einebestimmte Empfindungsweise hin erregbar ist. Aber um diesen Punktanfzuhellen, müssen wir das Wesen der Affektion gründlicher untersu-chen. Wir kommen damit zu dem letzten und dritten Argument, das wiruntersuchen wollten.Dieses dritte Argument stützt sich auf die Tatsache, daß man ganz un-merklich aus dem vorstellenden Verhalten, das Raum einnimmt, in dasaffektive Verhalten übergeht, das ohne Ausdehnung ist. Hieraus schließtman, daß alle Empfindung von Natur und notwendig unausgedehnt sei,daß die Ausdehnung zur Empfindung erst hinzutrete und daß der Vor-gang der Wahrnehmung im Ganzen als Veräußerlichung innerer Zu-stände aufzufassen sei. Der Psychologe geht nämlich von seinem Kör-per aus, und da ihm die Eindrücke, die die Peripherie seines Körpersempfängt, zum Aufbau der gesamten materiellen Welt zu genügenscheinen, so reduziert er zunächst einmal das Universum auf seinenKörper. Aber diese seine erste Position ist nicht haltbar; sein Körper hatund kann nicht mehr und nicht weniger Realität haben als alle übrigenKörper. Er wird also noch weiter gehen und sein Prinzip bis zu Endedurchführen müssen: nachdem er das Universum auf die Oberflächedes lebenden Körpers hat zusammenschrumpfen lassen, muß er diesenKörper zu einem Zentrum zusammenziehen, dem er schließlich dasPrädikat unausgedehnt beilegen wird. Dann läßt er von diesem Zentrumunausgedehnte Empfindungen ausgehen, die gewissermaßen an-schwellen, sich zu Ausgedehntheiten auswachsen und erst unsern aus-gedehnten Körper und dann alle anderen materiellen Gegenstände er-geben. Aber diese sonderbare Annahme wäre unmöglich, wenn es nicht

2 Schwarz, Das Wahrnehmungsproblem, Leipzig 1892. S. 313 u. f.

Page 26: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

26

zwischen den ausgedehnten Bildern und den unausgedehnten Vorstel-lungen ausgerechnet eine Reihe von mehr oder minder undeutlich loka-lisierten Zwischenzuständen gäbe, die affektiven Zustände. Seinemgewohnten Irrtum folgend erzeugt unser Verstand die aussichtsloseAlternative : eine Sache müsse entweder ausgedehnt oder unausge-dehnt sein; und da der affektive Zustand nur ungefähr an der Ausdeh-nung partipiziert, nur un-

/40/deutlich lokalisiert ist, so schließt er, der affektive Zustand sei ganz undgar unausgedehnt. Dann aber sollen sich die sukzessiven Grade derAusgedehntheit und die Ausdehnung selbst durch ich weiß nicht welcheerworbene Eigenschaft der unausgedehnten Zustände erklären lassen;die Geschichte der Wahrnehmung wird damit zur Geschichte von un-ausgedehnten inneren Zuständen, die sich nach außen projizieren undausdehnen. Dieselbe Argumentation tritt noch in anderer Gestalt auf. Esgibt kaum eine Wahrnehmung, welche nicht durch eine verstärkte Wir-kung ihres Gegenstandes auf unseren Körper zur affektiven Empfin-dung, spezieller zum Schmerz werden könnte. So geht Berührung mitder Nadel unmerklich in den Stich über. Und umgekehrt, läßt derSchmerz nach, so fällt er allmählich mit der Wahrnehmung seiner Ursa-che zusammen und veräußerlicht sich sozusagen zur Vorstellung. Esscheint demnach allerdings zwischen Empfindung und Wahrnehmungnur ein gradueller und nicht ein Wesensunterschied zu bestehen. Nunaber ist die erste eng mit meiner persönlichen Existenz verbunden; waswäre auch ein Schmerz, losgelöst von dem fühlenden Subjekt? Es mußalso scheinen, daß es mit der zweiten ebenso bestellt sei, und daß dieäußere Wahrnehmung durch Projektion der schmerzlos gewordenenEmpfindung in den Raum entstehe. Realisten und Idealisten stimmen indiesem Räsonnement überein. Die Idealisten sehen im materiellen Uni-versum einfach eine Synthese unausgedehnter subjektiver Zustände;die Realisten fügen nur hinzu, daß hinter dieser Synthese eine unab-hängige Realität steht, die mit ihr übereinstimmt; aber beide schließenaus dem allmählichen l7bergang von der Empfindung zur Vorstellung,daß die Vorstellung vom materiellen Universum relativ und subjektiv sei,daß sie sozusagen aus uns hervorgegangen sei, wo doch vielmehr wiruns erst von ihr abgelöst haben.Ehe wir zur Kritik dieser anfechtbaren Interpretation einer unbestreitba-ren Tatsache übergehen, wollen wir zeigen, daß sie weder das Wesendes Schmerzes, noch der Wahrnehmung zu erklären oder auch nur auf-zuhellen vermag. Denn daß

/41/affektive Zustände, die wesentlich an meine Person gebunden sind undverschwinden, wenn ich verschwinde, durch eine bloße Intensitätsver-ringerung zu Ausdehnung kommen, einen bestimmten Ort im Raumeeinnehmen und eine dauerhafte Erfahrung begründen sollen, die immermit sich selbst und mit der Erfahrung der übrigen Menschen im Einklangsteht, das wird man sehr schwer begreiflich machen können. Wie manes auch anfängt, schließlich wird man doch immer in irgendeiner Formden Empfindungen erst die Ausgedehntheit und dann die Selbständig-keit wiedergeben müssen, ohne die man auskommen wollte. Und ande-rerseits ist in dieser Hypothese Empfindung kaum ein klarerer Begriff als

Page 27: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

27

Vorstellung. Denn wenn nicht einzusehen ist, wie Empfindungen durchVerringerung ihrer Intensität zu Vorstellungen werden können, so ist aufder anderen Seite mindestens ebenso unbegreiflich, wie dasselbe Phä-nomen, das zuerst als Wahrnehmung gegeben war, nun durch bloßeVerstärkung der Intensität zur Empfindung werden soll. Im Schmerzsteckt etwas Positives, Aktives, dem man nicht gerecht wird, wenn manihn mit gewissen Philosophen für eine undeutliche Vorstellung erklärt.Aber das ist immer noch nicht die Hauptschwierigkeit. Daß durch all-mähliche Steigerung des Reizes schließlich aus der Wahrnehmung einSchmerz wird, ist unbestreitbar, und nicht minder wahr ist, daß dieserÜbergang sich in einem ganz bestimmten Augenblick fühlbar macht:warum aber gerade in diesem Augenblick und nicht in einem andern`?Und was ist der eigentliche Grund dafür, daß ein Phänomen, dem icherst als gleichgültiger Zuschauer gegenüberstand, plötzlich ein vitalesInteresse für mich bekommt2 Ich kann also mit dieser Hypothese zwei-erlei nicht erfassen: erstens warum in einem ganz bestimmten Augen-blicke eine Verringerung der Intensität dem Phänomen ein Recht aufAusdehnung und offenbare Selbständigkeit gibt und zweitens wie durchVerstärkung der Intensität in diesem ganz bestimmten Augenblick undkeinem andern jene neue Qualität Schmerz entsteht, die eine Quellepositiven Handelns wird.Wir kehren nun zu unserer eigenen Hypothese zurück

/42/und zeigen, wie aus dem Bilde in einem bestimmten Augenblick dieEmpfindung hervorgehen muß. Wir werden dann auch verstehen, wieman von einer Wahrnehmung, die Ausdehnung hat, zu einer unausge-dehnten Empfindung kommt. Doch sind dafür einige einleitende Bemer-kungen über die eigentliche Bedeutung des Schmerzes nicht zu entbeh-ren.Wenn ein fremder Körper einen der Fortsätze einer Amöbe berührt, sozieht sich dieser Fortsatz zurück; die protoplasmische Masse ist also injedem ihrer Teile fähig, den Reiz aufzunehmen und auf ihn zu reagieren;Wahrnehmung und Bewegung fallen hier noch in eine einzige Fähigkeitzusammen: die Zusammenziehbarkeit. Aber wenn der Organismuskomplizierter wird, so tritt Arbeitsteilung ein, die Funktionen differenzie-ren sich und die dadurch gebildeten anatomischen Organe gehen ihrerSelbständigkeit verlustig. In einem Organismus wie dem unsern habendie sogenannten sensorischen Nerven ausschließlich die Funktion, dieReize nach einer zentralen Region zu leiten, von wo die Erschütterungsich auf motorische Nerven fortpflanzt. Es möchte also scheinen, daßsie auf selbständige individuelle Tätigkeit verzichtet haben, um als vor-geschobene Posten bei den Bewegungen des ganzen Körpers mitzu-wirken. Nichtsdestoweniger bleiben sie denselben Fährlichkeiten aus-gesetzt, die den ganzen Organismus bedrohen; während aber der Ge-samtorganismus sich fortbewegen und so der Gefahr entgehen und sichwehren kann, verbleiben die sensorischen Organe in der relativen Be-wegungslosigkeit, zu der sie die Arbeitsteilung verurteilt. So entsteht derSchmerz, der nach unserer Ansicht nichts anderes ist, als die Anstren-gung des verletzten Organs, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen,eine Art motorische Tendenz in einem sensorischen Nerv. JederSchmerz ist also eine Anstrengung und zwar eine ohnmächtige An-strengung. Jeder Schmerz ist eine lokale Anstrengung, und gerade seinlokaler Charakter ist die Ursache seiner Ohnmacht, denn da die Teile

Page 28: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

28

des Organismus solidarisch verbunden sind, so ist er nur noch als Gan-zes bewegungsfähig. In dem lokalen Charakter der Anstrengung grün-det auch das absolute Mißverhältnis zwischen dem Schmerz und der

/43/Gefahr für den Körper: die Gefahr kann tödlich und der Schmerz nurleicht sein; und der Schmerz kann unerträglich und die Gefahr unbe-deutend sein, beim Zahnschmerz zum Beispiel. Es gibt also und es mußeinen bestimmten Augenblick geben, wo der Schmerz einsetzt, undzwar ist er dann gegeben, wenn der beteiligte Teil des Organismus, stattden Reiz aufzunehmen, ihn zurückstößt. Und zwischen Wahrnehmungund Empfindung gibt es nicht nur einen Unterschied des Grades, son-dern des Wesens.Wenn wir so sagen, betrachten wir den lebenden Körper als eine ArtMittelpunkt, der die Wirkung, die die umgebenden Objekte auf ihn aus-üben, auf diese Objekte reflektiert; in dieser Reflexion besteht die äuße-re Wahrnehmung. Aber dieser Mittelpunkt ist kein mathematischerPunkt: er ist ein Körper und wie alle Körper der Wirkung äußerer Ur-sachen ausgesetzt, die sein Gefüge zu zerstören drohen. Wir sahensoeben, daß er dem Einfluß dieser Ursachen Widerstand entgegensetzt.Er reflektiert nicht nur die von außen kommende Wirkung, sondern erkämpft gegen sie und absorbiert damit einen Teil von ihr. Hier ist dieQuelle der Empfindung zu suchen. Man könnte somit metaphorisch sa-gen: wie die Wahrnehmung der Maßstab für die reflektierende Kraft desKörpers ist, so ist die Empfindung der Maßstab für seine absorbierendeKraft.Aber das ist nur eine Metapher. Man muß die Dinge etwas näher bese-hen und sich klar machen, daß die Empfindung mit Notwendigkeit ausder Existenz der Wahrnehmung hervorgeht. Die Wahrnehmung, in un-serem Sinne verstanden, entspricht unserer möglichen Wirkung auf dieDinge und daher auch umgekehrt der möglichen Wirkung der Dinge aufuns. Je größer die Aktionsfähigkeit des Körpers (die sich in einer größe-ren Kompliziertheit des Nervensystems ausspricht), um so größer dasGebiet, das die Wahrnehmung umfaßt. Die Entfernung, die unsern Kör-per von einem wahrgenommenen Gegenstande trennt, ist also tatsäch-lich der Gradmesser für die mehr oder minder große Nähe sei es einerGefahr oder eines Vorteils. Und deshalb ist unsere Wahrnehmung einesvon unserem Körper verschiedenen und

/44/durch einen Zwischenraum von ihm getrennten Gegenstandes nichtsandres als der Ausdruck einer virtuellen Handlung. Je kleiner aber dieEntfernung zwischen diesem Gegenstand und unserem Körper, je drin-gender mit anderen Worten die Gefahr und je wahrscheinlicher derVorteil wird, desto stärker wird die Tendenz der virtuellen Handlung, sichin eine aktuelle umzuwandeln. Nehmen wir nun den Grenzfall, nehmenwir an, daß die Entfernung gleich Null wird, d. h. daß der Gegenstandder Wahrnehmung mit unserm Körper zusammenfällt, d. h. daß unserKörper selbst der Gegenstand der Wahrnehmung wird; dann drückt sichin diesem Spezialfall von Wahrnehmung keine virtuelle, sondern eineaktuelle Wirkung aus: und darin besteht die Empfindung. Unsere Emp-findungen verhalten sich also zu unseren Wahrnehmungen wie die

Page 29: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

29

reelle Tätigkeit unseres Körpers zu seiner möglichen oder virtuellen Tä-tigkeit. Seine virtuelle Tätigkeit bezieht sich auf die anderen Gegenstän-de und kommt an ihnen zum Ausdruck; seine reelle Tätigkeit beziehtsich auf ihn selbst und kommt folglich an ihm selber zum Ausdruck.Kurzum es spielt sich alles so ab, als ob wahrhaftig sowohl die reellenals die virtuellen Handlungen zu ihren Beziehungs- oder Ausgangs-punkten zurückkehrten, als ob die äußeren Bilder von unserem Körperin den umgebenden Raum reflektiert, die reellen Handlungen von ihmim Innern seiner Substanz zurockgehalten worden. Und deshalb ist dieOberfläche meines Körpers, als gemeinsame Grenze des Äußern unddes Innern, der einzige Teil der ausgedehnten Welt, der zugleich wahr-genommen und empfunden wird.Es ergibt sich also abermals, daß die Wahrnehmung außerhalb meinesKörpers, die Empfindung dagegen in meinem Körper ist. Ebenso wie dieäußeren Gegenstände von mir dort wahrgenommen werden, wo siesind, nämlich in ihnen und nicht in mir, so werden meine Empfindungs-zustände dort erlebt, wo sie auftreten, d. h. in einem bestimmten Punktemeines Körpers. Betrachten wir das System der Bilder, welches man diematerielle Welt nennt. Mein Körper ist eins von ihnen. Um dieses Bildordnen sich die Vorstellungen, d. h. seine eventuellen Einflosse auf dieandern Bilder. In

/45/ihm entsteht die Empfindung, d. h. seine aktuelle Wirkung auf sichselbst. Das ist im Grunde der Unterschied, den jeder von uns naturge-mäß von selbst zwischen einem Bilde und einer Empfindung macht.Wenn wir sagen, daß das Bild draußen existiert, so meinen wir, daß esaußerhalb unseres Körpers ist. Wenn wir von der Empfindung als eineminneren Zustand sprechen, wollen wir sagen, daß sie in unserem Körperentsteht. Und deswegen behaupten wir, daß die Gesamtheit der wahr-genommenen Bilder fortbesteht, auch wenn unser Körper verschwindet,daß wir aber unsern Körper nicht wegdenken können, ohne damit auchunsere Empfindungen aufzuheben.An dieser Stelle erkennen wir die Notwendigkeit einer ersten Korrekturunserer Theorie von der reinen Wahrnehmung. Wir haben argumentiert,als ob unsere Wahrnehmung ein von der Substanz der Bilder einfachabgelöster Teil sei, als ob sie, indem sie die virtuelle Wirkung des Ge-genstandes auf unsern Körper und unsers Körpers auf den Gegenstandzum Ausdruck bringt, einfach von dem Gesamtobjekt diejenige Ansichtlostrennte, an der wir interessiert sind. Man muß aber bedenken, daßunser Körper Mein mathematischer Punkt im Raume ist, daß seine vir-tuellen Handlungen sich mit den aktuellen vermengen und durchdrin-gen, mit andern Worten, daß es keine Wahrnehmung ohne Empfindunggibt. Die Empfindung ist demnach das, was wir vom Innern unsers Kör-pers dem Bilde der äußeren Körper zufügen; was wir also, wollen wirdas Bild wieder in reiner Gestalt bekommen, zuförderst von der Wahr-nehmung zu sondern haben. Der Psychologe freilich, der nicht sehenwill, wie sich Wahrnehmung und Empfindung Ihrem Wesen und ihrerFunktion nach unterscheiden, diese enthält ein wirkliches Tun, jene nurein mögliches - muß zuletzt zwischen ihnen nur noch einen Gradunter-schied finden. Weil die Empfindung (infolge der vagen, unorganisiertenAnstrengung, die in ihr liegt) nur undeutlich lokalisiert ist, erklärt er siesofort für unausgedehnt und macht dann verallgemeinernd aus derEmpfindung das einfache Element, aus dem wir durch einfache Zu-

Page 30: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

30

sammensetzung

/46/die äußeren Bilder aufbauen. In Wahrheit aber ist die Empfindung garnicht der Rohstoff, aus dem die Wahrnehmung gemacht ist; weit eherdie Unreinigkeit, die ihr beigemengt ist.Wir fassen hier den Irrtum an der Wurzel, der den Psychologen dahinfuhrt, die Empfindung als unausgedehnt und die Wahrnehmung als einAggregat von Empfindungen anzusehen. Dieser Irrtum verstärkt sich,wie wir sehen werden, unterwegs durch Argumente, welche einer fal-schen Auffassung von der Bedeutung des Raumes und vom Wesen derAusdehnung entnommen sind. Überdies wird er durch falsch interpre-tierte Tatsachen gestutzt, die es jetzt näher zu untersuchen gilt.Zuerst dies: es scheint, daß die Lokalisation einer Empfindung an einerStelle des Körpers tatsächlich einer besonderen Erziehung bedarf. Esdauert eine Weile, bis ein Kind dazu kommt, genau die Stelle der Hautzu finden, wo es einen Stich empfangen hat. Die Tatsache ist unan-fechtbar, aber was aus ihr geschlossen werden kann, ist einzig, daß einBetasten nötig ist, um die schmerzhaften Eindrucke der Haut, die denStich empfing, mit den Empfindungen des Muskelsinnes, der die Bewe-gungen des Armes und der Hand dirigiert, zusammenzuordnen. Unsereinneren Empfindungen zerfallen wie unsere äußeren Wahrnehmungenin verschiedene Arien. Wie bei der Wahrnehmung so besteht auch beider Empfindung zwischen diesen Arten kein kontinuierlicher Übergang,sondern sie sind deutlich voneinander geschieden und erst die Erzie-hung stellt die Verbindung zwischen ihnen her. Daraus folgt aber durch-aus nicht, daß es nicht für jede Art Empfindung eine unmittelbare Loka-lisation bestimmter Art gäbe, eine Lokalfarbe, die nur ihr eignet. Wirkönnen noch weiter gehen: wenn die Empfindung diese Lokalfarbe nichtgleich hat, so wird sie sie niemals haben. Denn alles, was die Erziehungtun kann, ist, der jeweiligen Empfindung die Vorstellung einer be-stimmten Seh- oder Testwahrnehmung zu assoziieren, sodaß eine be-stimmte Empfindung das Bild einer ebenso bestimmten Seh- oder Test-wahrnehmung erweckt. Es muß also in jeder Empfindung bereits etwassein, was sie von

/47/andern Empfindungen gleicher Art unterscheidet und es möglich macht,daß wir sie gerade mit dieses Gesichts- oder Tastwahrnehmung in Ver-bindung bringen und nicht mit einer anderen. Heißt das aber nicht, daßdie Empfindung von Anfang an eine gewisse räumliche Bestimmtheithat?Auch die Lokalisationstäuschungen werden gern angeführt, zum Bei-spiel die Empfindungstäuschungen nach Amputationen (die man übri-gens einer erneuten Untersuchung würdigen sollte). Aber was folgt dar-aus? Doch nur, daß die Gewöhnung, einmal erworben, bestehen bleibt,und daß die Angaben des Gedächtnisses, soweit sie für das praktischeLeben nützlicher sind, an die Stelle der Angaben des unmittelbaren Be-wußtseins treten. Wir sind als handelnde Wesen darauf angewiesen,unser Empfindungserlebnis in dispositionelle Gesichts-, Gefühls- undMuskelwahrnehmungen zu übersetzen. Ist einmal diese Übersetzungvollzogen, so verblaßt das Original; aber sie hätte sich nie vollziehen

Page 31: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

31

können, wenn das Original nicht zuvor gegeben gewesen wäre undwenn sich nicht die Empfindung von vornherein von sich aus und aufeigene Art lokalisiert hätte.Dem Psychologen aber fällt es sehr schwer, diese Anschauung desgesunden Menschenverstandes hinzunehmen. Ebenso wie die Wahr-nehmung seiner Meinung nach nur denn in den Dingen sein könnte,wenn diese selbst wahrnähmen, so könnte, meint er, auch die Empfin-dung nur dann im Nerv sein, wenn dieser selbst empfände. Nun ist esaber offenbar, daß der Nerv nicht empfindet. So nimmt man denn dieEmpfindung, löst sie von dem Punkte, wo der gesunde Menschenvers-tand sie lokalisiert, los und rückt sie dem Gehirn näher, mit dem sienoch enger zusammenzuhängen scheint als mit dem Nerven: logi-scherweise müßte man sie schließlich in das Gehirn verlegen. Aber sehrbald bemerkt man, daß sie, wenn sie nicht in dem Punkte ist, wo sieerlebt wird, erst recht nicht wo anders sein kann; daß sie also, wennnicht im Nerv, auch nicht im Gehirn sein wird; denn um ihre Projektionaus dem Zentrum an die Peripherie zu erklären, ist eine gewisse Kraftnötig, die man nicht umhin können wird einem mehr oder minder

/48/aktiven Bewußtsein zuzuschreiben. Man wird also noch weiter gehenmüssen: erst hat man die Empfindungen zum Gehirnzentrum konvergie-ren lassen, jetzt aber stößt man sie aus dem Gehirn und damit aus demRaume überhaupt. Man denkt sich jetzt absolut unausgedehnte Emp-findungen und dazu einen leeren Raum, dem die Empfindungen, diesich in ihn projizieren, völlig gleichgültig sind, und müht sich nun auf alleWeise ab, uns verständlich zu machen, wie diese unausgedehntenEmpfindungen zu Ausdehnung kommen und, wenn sie sich lokalisieren,ganz bestimmte Punkte des Raines allen anderen vorziehen. Aber dieseLehre ist nicht nur nicht imstande, uns zu sagen, wie das Unausge-dehnte sich ausdehnt, sie macht alle drei, Empfindung, Ausdehnungund Vorstellung, gleicherweise unerklärbar. Sie muß die affektiven Zu-stände als lauter Absoluta nehmen, die ohne jeden ersichtlichen Grundim Bewußtsein bald erscheinen und bald wieder verschwinden. Auchder Übergang von der Empfindung zur Vorstellung bleibt in undurch-dringliches Geheimnis gehüllt, weil sich, wir wiederholen es, in einfa-chen und unausgedehnten inneren Zuständen niemals ein Grund wirdfinden lassen, warum sie gerade diese oder jene bestimmte Ordnung imRaume annehmen sollen. So muß man schließlich auch die Vorstellungals ein Absolutes setzen: man weiß weder ihren Ursprung noch ihreBestimmung.Geht man dagegen von der Vorstellung selbst, das heißt von der Ge-samtheit der wahrgenommenen Bilder aus, so klärt sich die Lage. MeineWahrnehmung nimmt, wenn sie rein und von Gedächtnis frei ist, ihreRichtung nicht von meinem Körper auf die andern Körper, sondern sieist von vornherein in der Gesamtheit der Körper, schließt sich allmählichzusammen und nimmt meinen Körper als Mittelpunkt. Sie kommt dazueben durch die Erfahrung, daß dieser Körper zweierlei kann, Handlun-gen ausführen und Empfindungen erleben, mit andern Worten durch dieErfahrung der sensorisch-motorischen Kraft eines bestimmten, vor denandern ausgezeichneten Bildes. Dieses Bild steht nämlich einerseitsimmer im Mittelpunkt der Vorstellung, derart, daß

Page 32: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

32

/49/die übrigen Bilder sich darum lagern, in der Ordnung, in der sie Objektseiner Tätigkeit werden können; andererseits perzipiere ich dieses Bildvon innen mit Hilfe affektiver Erlebnisse, die ich Empfindungen nenne,ich perzipiere bei ihm nicht nur die äußere Oberfläche, wie bei den übri-gen Bildern. Ich finde also in der Gesamtheit der Bilder ein vor den an-dern bevorzugtes Bild, das in seiner Tiefe und nicht nur an seiner Ober-fläche wahrgenommen wird, Sitz von Empfindungen und zugleichQuelle von Tätigkeit ist: dieses besondere Bild mache ich zum Mittel-punkt meines Universums und zur physischen Grundlage meiner Per-sönlichkeit.Doch ehe wir weiter gehen und die Beziehung zwischen der Person undden Bildern, in deren Mitte sie sich einrichtet, genau aufzeigen, wollenwir in Kürze, mit Betonung des Gegensatzes zu den Analysen der übli-chen Psychologie, unsere bisher skizzierte Theorie der "reinen Wahr-nehmung" resümieren.Der Einfachheit halber nehmen wir wieder den Gesichtssinn als Bei-spiel. Man nimmt da gewöhnlich elementare Empfindungen an, welcheden von den Zapfen und Stäbchen der Netzhaut empfangenen Eindrük-ken entsprechen. Aus diesen Empfindungen soll nun die Gesichtswahr-nehmung aufgebaut werden. Nun aber gibt es zunächst nicht nur eineNetzhaut, sondern zwei. Man müßte also nachweisen, wie zwei als ge-trennt angenommene Empfindungen zu einer einzigen Wahrnehmungverschmelzen können, die dem, was wir einen Punkt des Raumes nen-nen, entspräche.Aber nehmen wir an, diese Frage sei erledigt. Die Empfindungen, mitdenen man arbeitet, sind unausgedehnt. Wie kommen sie zu Ausdeh-nung? Gleichviel ob einem die Ausdehnung ein leerer Rahmen zu seinscheint, der zur Aufnahme von Empfindungen bereitsteht, oder ob mansie einzig ans der Gleichzeitigkeit der Empfindungen, die im Bewußtseinkoexistieren, ohne zu verschmelzen, als Effekt resultieren läßt, in beidenFällen führt man mit der Tatlache der Ausdehnung etwas Neues ein,daß man nicht erklären kann: der Prozeß, mit dessen Hilfe die Empfin-dung

/50/Ausdehnung bekommt, und die Tatsache, daß jeder elementaren Emp-findung ein bestimmter Punkt im Raum entspricht, bleiben auf dieseWeise unerklärt.Doch lassen wir auch diese Schwierigkeit beiseite: der Sehraum sei da.Wie geht es zu, daß er sich mit dem Tastraum vereinigt? Alles, wasmein Gesicht im Raume feststellt, wird durch meinen Tastsinn verifiziert.Will man uns etwa einwenden, daß die Gegenstände sich ja geradedurch das Zusammenwirken von Gesichts- und Tastsinn bilden, unddaß die Übereinstimmung der beiden Sinne in der Wahrnehmung sichdurch. die Tatsache erkläre, daß das wahrgenommene Objekt ihr ge-meinsames Werk ist? Aber welche Gemeinsamkeit, die qualitativ wäre,ließe sich wohl zwischen einer elementaren Gesichtsempfindung undeiner Tastempfindung finden, da doch beide ganz verschiedenen Artenangehören? Die Übereinstimmung zwischen dem Sehraum und demTastraum könnte also nur durch einen Parallelismus der Ordnung derGesichtsempfindungen mit der Ordnung der Tastempfindungen erklärt

Page 33: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

33

werden. Wir sind also genötigt, außer den Gesichtsempfindungen undaußer den Tastempfindungen noch eine bestimmte Ordnung anzuneh-men, die beiden gemeinsam ist und folglich von beiden unabhängig seinmuß. Und wir können noch weiter gehen: diese Ordnung ist auch unab-hängig von unserer individuellen Wahrnehmung, da sie ja für alle Men-schen dieselbe ist und eine materielle Welt konstituiert, in der Wir-kungen an Ursachen geknüpft sind und die Erscheinungen nach Geset-zen verlaufen. Und damit stehen wir vor der Hypothese einer objektiven,von uns unabhängigen Ordnung, d. h. einer von der Empfindung ver-schiedenen materiellen Welt.So hat sich uns im Fortgang unserer Überlegung die Zahl der nichtweiter erklärbaren Tatsachen vergrößert und die einfache Hypothese,von der wir ausgingen, ist immer komplizierter geworden. Aber habenwir damit etwas gewonnen? Die Materie, bei der wir gelandet sind, istzwar höchst brauchbar, um die wunderbare Übereinstimmung der Emp-findungen untereinander zu erklären, aber was wissen wir

/51/denn in Wahrheit von ihr, da wir ihr ja doch alle wahrnehmbaren Quali-täten und alle Empfindungen absprechen müssen und ihr nur die Funk-tion lassen dürfen, den Zusammenhang unter diesen zu erklären? Siehat nichts Wißbares und Erfahrbares an sich, nicht einmal denkbar istsie. Sie bleibt eine rechte mystische Wesenheit.Aber dann bleibt auch unser eigenes Wesen, bleibt Auf gebe und Be-stimmung unserer Person in ein mystisches Dunkel gehüllt. Denn woherkommen, wie entstehen und wozu dienen jene unausgedehnten ele-mentaren Empfindungen, die im Raum zur Entwicklung kommen? Manmuß sie als lauter Absoluta setzen, deren Ursprung und Endzweck un-verkennbar ist. Und wenn man nun von der Notwendigkeit überzeugt ist,daß in jedem von uns Geist und Körper zu scheiden sind, wie will mandann, sei es vom Körper, sei es vom Geiste, sei es vom Zusammen-hang beider irgendetwas erkennen können?Worin besteht dagegen unsere Hypothese und an welchem Punktescheidet sie sich von der anderen? Statt von der Empfindung auszuge-hen, von der wir nichts aussagen können, da gar keine Notwendigkeiteinzusehen ist, daß sie gerade das ist, was sie ist und nicht etwas ganzanderes, gehen wir von der Tätigkeit aus, d. h, von unserer Fähigkeit,Veränderungen in den Dingen zu bewirken, einer Fähigkeit, die uns dasBewußtsein beglaubigt und in die alle Kräfte des organischen Körperseinzugehen scheinen. Damit versetzen wir uns mit einem Schlage mit-ten in die Gesamtheit der ausgedehnten Bilder, und da, in diesem mate-riellen Universum, finden wir Zentren der Indeterminiertheit, die auf Le-ben schließen lassen. Damit von diesen Zentren Handlungen ausstrah-len können, müssen die Bewegungen oder .Einflüsse der anderen Bildereinerseits aufgenommen, anderseits nutzbar gedacht werden. DieseFunktion macht die lebende Materie neben den Funktionen der Ernäh-rung und Regeneration schon in ihrer einfachsten Form, als homogeneMasse, aus. Der Fortschritt dieser lebenden Materie besteht darin, daßsie diese doppelte Arbeit auf zwei Kategorien von Organen verteilt, vondenen die ersten, die Er-

/52/

Page 34: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

34

nährungsorgane, die Bestimmung haben, die zweiten zu erhalten. Diesezweiten sind da, um zu handeln. Ihre einfache Grundform ist eine Kettevon Elementen nervöser Substanz, die zwischen zwei Punkten ge-spannt ist; der eine Endpunkt nimmt äußere Eindrücke auf, der andereführt Bewegungen aus. So ist, um auf unser Beispiel von der Ge-sichtswahrnehmung zurückzukommen, die Funktion der Zapfen undStäbchen einfach die, Reizungen aufzunehmen, die sich dann in Bewe-gungen oder in Ansätze zu Bewegungen umsetzen. Niemals aber kanndaraus eine Wahrnehmung entstehen, und nirgends im Nervensystemgibt es Bewußtseinszentren, sondern die Wahrnehmung entsteht ausderselben Ursache, aus der die nervöse Kette, die Organe, die sie tra-gen, und das Leben überhaupt hervorgegangen sind: sie ist Ausdruckund Maß für die Aktivität des Lebewesens, für die Indeterminiertheit derBewegung oder Handlung, die auf die aufgenommene Reizung folgt.Diese Indeterminiertheit wird, wie wir gesehen haben, in einer Reflexionder unsern Körper umgebenden Bilder auf sich selbst oder vielmehr ineiner Teilung dieser Bilder zum Ausdruck kommen; und nur weil geradedie nervöse Kette, welche die Bewegungen aufnimmt, hemmt oder wei-terleitet, Sitz und Maß dieser Indeterminiertheit ist, entspricht unsereWahrnehmung in allen Einzelheiten den Veränderungen der nervösenSubstanz und erscheint als deren unmittelbarer Ausdruck. UnsereWahrnehmung ist, wenn sie rein ist, wirklich ein Bestandteil der Dingeselbst. Und die eigentliche Empfindung bricht keineswegs spontan ausden Tiefen des Bewußtseins hervor, um durch Einbuße an IntensitätAusdehnung im Raum zu gewinnen, sie ist vielmehr identisch mit dennatürlichen Modifikationen, die unter dem Einfluß der übrigen Bilder je-nes eine besondere Bild erfährt, das ein jeder von uns seinen Leibnennt.Dies wäre also die vereinfachte schematische Theorie der äußerenWahrnehmung, die wir aufstellen wollten. Es wäre eine Theorie der rei-nen Wahrnehmung. Wenn man sie für definitiv hielte, so hätte unserBewußtsein bei der Wahr-

/53/nehmung einzig die Funktion, an dem fortlaufenden Faden unseres Ge-dächtnisses eine ununterbrochene Kette momentaner Anschauungenaufzureihen, die vielmehr ein Bestandteil der Dinge selbst als Teil vonuns wären. Daß übrigens unser Bewußtsein bei der äußeren Wahrneh-mung wirklich diese Aufgabe vor allen andern hat, das kann schon apriori aus der Definition der lebenden Körper abgeleitet werden. Dennwenn auch die lebenden Körper den Zweck haben, Reize aufzunehmenund sie zu unvorhersehbaren Reaktionen zu verarbeiten, so darf esdoch nicht vom Zufall abhängen, welche Reaktion gewählt wird. DieWahl der Reaktion wird ohne Zweifel von der bisherigen Erfahrung in-spiriert und vollzieht sich nie, ohne daß auf die Erinnerung an analogeVorgänge zurückgegriffen wird. Die Indeterminiertheit der zu vollziehen-den Handlungen erfordert folglich, soll sie nicht zu reiner Willkür werden,die Erhaltung der wahrgenommenen Bilder. Man könnte sagen, daßohne einen Rückblick von entsprechender Weite keine Besitzergreifungder Zukunft möglich ist; daß der Vorstoß unserer Aktivität nach Vorwärtseine Leere hinter sich läßt, in die sich die Erinnerungen stürzen; daßsomit unser Gedächtnis eine Art Rückwirkung darstellt, die sich in derSphäre des Bewußtseins als eine Folge der Indeterminiertheit unseresWillens ergibt. Aber die Tätigkeit unseres Gedächtnisses erstreckt sich

Page 35: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

35

viel weiter und tiefer als diese oberflächliche Prüfung erraten läßt. DerAugenblick ist gekommen, das Gedächtnis wieder in die Wahrnehmungeinzuführen, dadurch richtig zu stellen, was unsere Folgerungen etwaÜbertriebenes haben könnten, und so den Berührungspunkt zwischendem Bewußtsein und den Dingen, zwischen Körper und Geist genauerals roher zu bestimmen.Zunächst: nehmen wir überhaupt ein Gedächtnis, d. h den Fortbestandvergangener Bilder an, so werden sich diese Bilder fortwährend mit un-serer gegenwärtigen Wahrnehmung mischen und sogar an ihre Stelletreten können. Denn sie ja nur geblieben, um sich nützlich zu machen;sie vervollständigen jeden Augenblick die gegenwärtige Erfahrung undbereichern sie aus den Schätzen der früher erworbenen;

/54/und da diese sich unaufhörlich vergrößert, muß sie zuletzt die andereüberdecken und überschwemmen. Es ist unbestreitbar, daß der Be-stand an wirklicher, sozusagen momentaner Anschauung, auf welchersich unsere Wahrnehmung der äußeren Welt aufbaut, sehr klein ist imVergleich zu all dem, was unser Gedächtnis hinzufügt. Gerade weil dieErinnerung an frühere analoge Anschauungen nützlicher ist, als die An-schauung selbst, da sie in unserem Gedächtnis mit der ganzen Reiheder nachfolgenden Ereignisse verknüpft ist und deshalb unsere Ent-scheidung besser beleuchten kann, vermag sie die wirkliche Anschau-ung zu ersetzen, deren Aufgabe dann nur noch, wie wir später zeigenwerden, darin besteht, die Erinnerung herbeizurufen, ihr einen Körper zugeben, sie aktiv und dadurch aktuell zu machen. Wir hatten also recht,wenn wir behaupteten, daß das Zusammenfallen der Wahrnehmung mitdem wahrgenommenen Objekt mehr de jure als de facto gelte. Manmuß eben im Auge behalten, daß Wahrnehmung schließlich nur nochein Anlaß zur Erinnerung ist, daß wir in der Praxis die Realität einesEindrucks am Grade seiner Nützlichkeit messen und daß uns alles dar-an liegen muß, die unmittelbaren Schauungen, die im Grunde mit derRealität selbst zusammenfallen, als bloße Zeichen für das Wirklichehinzustellen. Und ganz deutlich wird uns jetzt der Irrtum derer, die in derWahrnehmung eine Projektion unausgedehnter, aus den Tiefen unsererSeele stammender, im Raume sich entwickelnder Empfindungen erblik-ken. Daß unsere Gesamtwahrnehmung voll von Bildern ist, die uns per-sönlich zugehören, Bildern, die wir nach außen setzen (d. h. alles inallem: Erinnerungen), das zu beweisen wird ihnen nicht schwer; sie ver-gessen dabei nur, daß ein unpersönlicher Bestand bleibt, in welchemdie Wahrnehmung mit dem Objekte zusammenfällt, und daß dieser Be-stand geradezu das Außen ist.Der Hauptirrtum, der Irrtum, der aus der Psychologie in die Metaphysikeindringt und uns zuletzt die Erkenntnis des Körpers sowohl wie desGeistes verdeckt, besteht darin, daß man zwischen der reinen Wahr-nehmung und der Erinnerung nur einen Unterschied der Intensität undnicht

/55/einen Unterschied des Wesens sieht. Unsere Wahrnehmungen sindzweifellos von Erinnerungen durchsetzt, und umgekehrt kann eine Erin-nerung, wie wir später zeigen wollen, nur so wieder gegenwärtig wer-

Page 36: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

36

den, daß sie von irgendeiner Wahrnehmung den Körper leiht und sichihm einfügt. Die beiden Vorgänge, Wahrnehmung und Erinnerung,durchdringen sich fortwährend und tauschen fortwährend durch eine ArtEndosmose etwas von ihren Substanzen aus. Die Aufgabe des Psy-chologen wäre nun, sie auseinanderzulösen und jeden wieder im reinenZustande herzustellen; auf diese Weise würden sich eine MengeSchwierigkeiten der Psychologie und vielleicht auch der Metaphysikaufklären. Aber das tut man keineswegs. Man bleibt dabei, jene seeli-schen Gebilde, die zu ungleichen Teilen aus reiner Wahrnehmung undreiner Erinnerung gemischt sind, seien einfache Zustände. So beübtman sich in die mißliche Lage, daß man sowohl reine Erinnerung wiereine Wahrnehmung gar nicht sieht und nur roch eine einzige Art vonPhänomenen kennt, welche man einmal Erinnerung, das andere MalWahrnehmung nennt, je nachdem sie mehr der einen oder der andernähnlich leben, so daß man zuletzt zwischen Wahrnehmung und Erinne-rung nur noch einen Gradunterschied, aber keinen Wesensunterschiedfindet. Die erste Folge dieses Irrtums ist, wie wir des Näheren sehenwerden, daß die Theorie des Gedächtnisses gründlich verdorben wird;denn wenn man die Erinnerung für eine schwächere Wahrnehmunghält, verkennt man den Wesensunterschied zwischen Vergangenheitund Gegenwart und verzichtet darauf, die Phänomene des Wiederer-kennens und den Mechanismus des Unbewußten überhaupt zu verste-hen. Und umgekehrt muß man, da man aus der Erinnerung eine abge-schwächte Wahrnehmung gemacht hat, die Wahrnehmung notwendi-gerweise für eine gesteigerte Erinnerung halten. Man arbeitet alsdannmit der Wahrnehmung, als ob sie uns, wie die Erinnerungen auch, alsein innerer Zustand gegeben wäre, als einfache Modifikation unsererPerson, man verkennt dabei den originalen Wahrnehmungsakt, jenenAkt, der für die reine Wahrnehmung konstitutiv ist und durch den wir unsmit einem

/56/Schlage in die Dinge versetzen. Und derselbe Irrtum, der in der Psy-chologie durch seine radikale Unfähigkeit, den Mechanismus des Ge-dächtnisses zu erklären, sichtbar wird, ist in der Metaphysik in die Auf-fassung der Materie, die realistische sowohl wie die idealistische, tiefeingedrungen.Für den Realismus nämlich beruht die unveränderliche Ordnung derNaturerscheinungen auf einer von unseren Wahrnehmungen durchausverschiedenen Ursache, mag nun diese Ursache unerkennbar bleibenoder durch eine (mehr oder weniger willkürliche) metaphysische Kon-struktion erfaßt werden. Für den Idealisten dagegen sind unsere Wahr-nehmungen die ganze Realität, und die unveränderliche Ordnung derNaturerscheinungen ist nichts weiter als das Symbol, durch welches,neben den wirklichen Wahrnehmungen, die möglichen Wahrnehmungenausgedrückt werden. Aber sowohl für den Realismus wie für den Idealis-mus sind die Wahrnehmungen "wahre Halluzinationen", nach außenprojizierte Zustände des Subjektes, und die beiden Lehrsysteme unter-scheiden sich nur darin, daß ín dem einen jene Zustände die Realitätausmachen, während sie in dem anderen mit ihr übereinstimmen wol-len.Aber hinter diesem Irrtum steckt noch ein anderer, der auf die allgemei-ne Erkenntnistheorie übergreift. Die materielle Welt besteht, wie wir ge-sehen haben, aus Gegenständen, oder wenn man will, aus Bildern, die

Page 37: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

37

mit allen ihren Bestandteilen in einer Wechselwirkung von Bewegungenstehen. Und was wir unsere reine Wahrnehmung heißen, das ist unsereansetzende Aktivität, die sich im Herzen der Dinge abzeichnet. Aktuellist unsere Wahrnehmung, weil sie aktiv ist, weil sie Bewegungen zurFolge hat, und nicht weil sie intensiver ist als die Erinnerung: die Ver-gangenheit ist nur Vorstellung, die Gegenwart ist bewegende Vorstel-lung. Aber gerade gegen diese Einsicht sträubt man sich, weil man dieWahrnehmung für eine Art Kontemplation hält, ihr einen rein spekulati-ven Zweck setzt und der Meinung ist, sie sei auf wer weiß welche unei-gennützige Erkenntnis gerichtet: als ob sie nicht dadurch, daß man sievon der Tätigkeit isoliert und so ihre Verbindungen mit dem Wirk-

/57/lichen zerschneidet, völlig unerklärlich und zugleich unnütz würde 1 Manhebt durch diese Anschauung jeden Unterschied zwischen Wahrneh-mung und Erinnerung auf, denn die Vergangenheit ist ja ihrem Wesennach das was nicht mehr wirkt; und wenn man diesen Charakter derVergangenheit überzieht, so ist man nicht mehr in der Lage, sie von derGegenwart, d. h. vom Wirkenden richtig zu unterscheiden. Dann kannfreilich der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Gedächtnis nurrein graduell sein, und weder hier noch dort kommt das Subjekt aus sichselbst heraus. Stellen wir dagegen den wahren Charakter der Wahr-nehmung wieder her, weisen wir in der reinen Wahrnehmung ein Sy-stem beginnender Handlungen nach, das seine Wurzeln tief in der Wirk-lichkeit hat, so wird diese Wahrnehmung sich von der Erinnerung radikalunterscheiden und die Realität der Dinge wird nun nicht mehr konstruiertoder rekonstruiert, sondern erfaßt, durchdrungen, erlebt. Das Problemaber, das zwischen Realismus und Idealismus schwebt, wird dann nichtin ewigen metaphysischen Streitigkeiten immer wieder aufleben, son-dern von der Intuition gelöst oder besser auf gelöst werden.Damit ist auch klar, welche Stellung zwischen Realismus und Idealis-mus wir einzunehmen haben, die beide sich genötigt sehen, in der Ma-terie lediglich eine Konstruktion oder Rekonstruktion durch den Geist zuerblicken. Verfolgen wir nämlich das von uns aufgestellte Prinzip, nachwelchem die Subjektivität unserer Wahrnehmung hauptsächlich auf demEinschlag unseres Gedächtnisses beruht, bis zu Ende, so müssen wirsagen, daß die empfindbaren Eigenschaften der Materie wirklich ansich, von innen heraus und nicht mehr von außen, erkannt werdenkönnten, wenn es uns gelinge, sie aus dem eigentümlichen Rhythmusder Dauer, in dem unser Bewußtsein besteht, loszulösen. Denn soflüchtig wir unsere reine Wahrnehmung auch ansetzen, sie nimmt docheine gewisse konkrete Dauer ein, so daß unsere aufeinanderfolgendenmomentanen Wahrnehmungen niemals wirkliche Momente der Dingesind, wie wir bisher angenommen haben, sondern vielmehr Momenteunseres Bewußtseins. Theoretisch

/58/sollte nun, wie wir bisher angenommen haben, die Aufgabe des Be-wußtseins bei der äußeren Wahrnehmung darin bestehen, daß es durchden fortlaufenden Faden des Gedächtnisses momentane Anschauun-gen der Wirklichkeit miteinander verbände. Tatsächlich aber gibt es füruns nichts Momentanes. Was wir so nennen, enthält schon eine Lei-stung unseres Gedächtnisses und folglich unsres Bewußtseins, das

Page 38: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

38

beliebig zahlreiche Momente einer unendlich teilbaren Zeit ineinander-dehnt, um sie in einer verhältnismäßig einfachen Gesamtanschauungergreifen zu können. Und wo ist nun eigentlich der Unterschied zwi-schen der Materie, wie sie der radikale Realismus versteht, und unsererWahrnehmung von der Materie? Unsere Wahrnehmung liefert uns vomUniversum eine bunte Reihe diskontinuierlicher Ansichten: wir könnennicht von unserer aktuellen Wahrnehmung auf künftige Wahrnehmun-gen schließen., weil in einer Summe gegebener Empfindungsqualitätennichts zu finden sein wird, wodurch sich voraussehen ließe, in welcheneuen Qualitäten die jetzigen sich verwandeln werden. Wogegen dieMaterie, wie sie der Realismus gewöhnlich versteht, sich derart ent-wickelt, daß man durch mathematische Deduktion von einem Momentzum andern übergehen kann. Allerdings kann der wissenschaftlicheRealismus zwischen dieser Wahrnehmung und dieser Materie keinenBerührungspunkt finden, weil er die Materie zu homogenen Verände-rungen im Raume umdenkt und die Wahrnehmung, in Gestalt unausge-dehnter Empfindungen, in ein Bewußtsein einsperrt. Trifft aber unsereHypothese zu, dann sieht man ohne weiteres, wodurch Wahrnehmungund Materie sich unterscheiden und worin sie übereinstimmen. Die qua-litative Heterogenität unserer aufeinanderfolgenden Wahrnehmungendes Universums beruht darauf, daß jede dieser Wahrnehmungen sichbereits über eine gewisse konkrete Dauer erstreckt, daß in jeder dasGedächtnis eine ungeheure Mannigfaltigkeit von Erschütterungen soverdichtet hat, daß wir sie alle auf einmal gegenwärtig haben, obgleichsie doch eine auf die andere folgen. Man brauchte nur diese unteilbareZeitdauer zerteilt zu denken, darin die nötige Menge von Momenten zuunterscheiden,

/59/mit einem Wort das Gedächtnis völlig zu eliminieren - um von der Wahr-nehmung zur Materie, vom Subjekt zum Objekt zu gelangen. Wenn sichin dieser Weise unsere ausgedehnten Empfindungen auf eine größereZahl von Momenten verteilten, so würde damit die Materie mehr undmehr homogen werden und sich asymptotisch dem System homogenerErschütterungen nähern, von dem der Realismus spricht. Es wäre danngar nicht nötig, einerseits den Raum mit nichtwahrgenommenen Bewe-gungen und andererseits das Bewußtsein mit unausgedehnten Empfin-dungen zu setzen. Im Gegenteil, in einer ausgedehnten Wahrnehmungwurden Subjekt und Objekt von vornherein vereinigt sein; die subjektiveSeite der Wahrnehmung bestünde in der Kontraktion der einzelnenMomente durch das Gedächtnis, und die objektive Realität der Materieverschmölze mit der Menge sukzessiver Erschütterungen, iri welche dieWahrnehmung innerlich zerfällt. Wenigstens ist das der Schluß, zu demwir im letzten Teil unserer Arbeit zu gelangen hoffen: die auf Subjektund Objekt, auf ihre Unterscheidung und Vereinigung bezüglichen Fra-gen müssen als Fragen mehr der Zeit als des Raumes formuliert wer-den.

Aber unsere Unterscheidung der "reinen Wahrnehmung" und des "rei-nen Gedächtnisses" hat noch einen anderen Zweck. Ebenso wie uns diereine Wahrnehmung dadurch, sie Hinweise auf das Wesen der Materiegibt, eine Stellung zwischen Realismus und Idealismus ermöglicht, somuß das reine Gedächtnis dadurch, daß es einen Blick auf Wesen desGeistes eröffnet, im Streit jener beiden andern Lehren, des Materialis-mus und des Spiritualismus, ausschlaggebend sein. Wir werden uns

Page 39: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

39

sogar in den beiden folgenden Kapiteln mit dieser Seite der Frage zu-erst beschäftigen, gerade von hier aus für unsere Hypothese eine ge-wisseren experimentelle Bestätigung möglich ist.Denn man könnte unsere Schlüsse aber die reine Wahrmung so zu-sammenfassen: in der Materie ist mehr als aktuell Gegebene, abernichts Andersgeartetes. Sicherlich erfaßt die bewußte Wahrnehmungnicht das Ganze der

/60/Materie, da sie, soferne sie bewußt ist, in der Trennung oder "Unter-scheidung" dessen besteht, was an dieser Materie unsere verschiede-nen Bedürfnisse angeht. Aber zwischen dieser Wahrnehmung der Mate-rie und der Materie selbst ist nur ein Unterschied des Grades und nichtdes Wesens, da sich die reine Wahrnehmung zur Materie wie der Teilzum Ganzen verhält. Das will sagen, daß die Materie keine andersarti-gen Wirkungen auszuüben vermag als die wir an ihr wahrnehmen. Ge-heimnisvolle Kräfte hat sie nicht, kann also auch keine im Hinterhalthaben. Um ein ganz bestimmtes Beispiel heranzuziehen, eines das unsobendrein am meisten interessiert: vom Nervensystem sagen wir aus,daß es ein materielles Gebilde mit bestimmten Qualitäten (der Farbe,des Widerstandes, der Kohäsion usw.) ist, das vielleicht noch andereunwahrnehmbare physikalische Qualitäten besitzt, aber eben nur physi-kalische Qualitäten. Und also ist seine einzige Funktion, Bewegungenaufzunehmen, zu hemmen oder weiterzuleiten.Nun liegt im Wesen des Materialismus immer beschlossen, daß er dasGegenteil behauptet, da er das Bewußtsein mit allen seinen Funktioneneinzig und allein aus dem Spiel der materiellen Elemente hervorgehenlassen will. So kommt er dazu, schon die Qualitäten der Materie, diewahrgenommenen, also wahrnehmbaren, also vorhandenen Qualitätender Materie, lediglich als Phosphoreszenzen anzusehen, die im Wahr-nehmungsakt dem Lauf der Gehirnvorgänge folgen. Eine Materie, diederart die elementaren Tatsachen des Bewußtseins erzeugen könnte,müßte natürlich auch die höchsten intellektuellen Vorgänge hervorbrin-gen können. Der Satz von der völligen Relativität der sinnlichen Quali-täten liegt also im Wesen des Materialismus; nicht ohne Grund ist dieserSatz, den schon Demokrit genau formuliert hat, so alt wie der Materia-lismus selbst.Der Spiritualismus aber ist in einer merkwürdigen Verblendung demMaterialismus auf dieser Bahn immer gefolgt. Weil er glaubte, der Geistwürde reicher, wenn die Materie ärmer würde, hat er niemals gezögert,die Materie der Qualitäten, mit denen sie in unserer Wahrnehmung aus-

/61/gestattet ist, zu berauben und lauter subjektive Erscheinungen darauszu machen. Er hat damit nur zu oft aus der Materie eine mystische We-senheit gemacht, die, gerade weil wir sie nicht selber, sondern nur ihre"Erscheinung" kennen, so gut wie alle andern Phänomene auch die desDenkens gebären könnte.In Wahrheit gibt es nur ein einziges Mittel, den Materialismus zu wider-legen: daß man die Materie absolut für das nimmt, was sie zu seinscheint. Dadurch würde man ihr jede Virtualität, jede verborgene Kraft

Page 40: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

40

nehmen, und die Phänomene des Geistes bekämen eine unabhängigeRealität. Man müßte dann freilich der Materie alle Qualität lassen, die ihrin seltsamer Eintracht Materialisten und SpirituaIisten absprechen, die-se, um Vorstellungen des Geistes daraus zu machen, jene, um in ihnendas zufällige Kleid des Räumlichen zu sehen.Genau dies ist die Anschauung des gesunden Menschenverstandes vonder Materie, und deshalb glaubt der gesunde Menschenverstand auchan den Geist. Die Philosophie, so haben wir uns gedacht, sollte hier dieAnschauung des gesunden Menschenverstandes annehmen, freilichnicht, ohne sie in einem Punkte zu berichtigen. Das Gedächtnis nämlich,das in der Praxis von der Wahrnehmung nicht zu trennen ist, schaltetVergangenes in das Gegenwärtige ein, zieht viele Momente der Dauerin einer einzigen Schauung zusammen, und wird durch diese doppelteFunktion Ursache, daß wir die Materie tatsächlich in uns wahrnehmen,wo wir sie doch von Rechts wegen in ihr selbst wahrnehmen.Daher die entscheidende Bedeutung des Gedächtnisproblems. Wennder subjektive Charakter der Wahrnehmung vornehmlich vom Gedächt-nis herrührt, so muß die Theorie der Materie vor allem danach streben,den Anteil des Gedächtnisses auszuschalten. Davon gingen wir aus undfügen hinzu: da uns die reine Wahrnehmung das Ganze oder wenig-stens das Wesentliche der Materie gibt, das übrige r aus dem Gedächt-nis stammt und zur Materie hinzutritt, so muß das Gedächtnis im Prinzipeine von der

/62/Materie absolut unabhängige Kraft sein. Ist also der Geist eine Wirklich-keit: hier, in dem Phänomen des Gedächtnisses, müssen wir ihm expe-rimentell beikommen können. Und deshalb wird sich jeder Versuch, diereine Erinnerung aus einem Gehirnvorgang abzuleiten, in der Analyseals ein fundamentaler Irrtum erweisen.Sprechen wir dasselbe noch einmal und deutlicher aus. Wir behaupten,daß die Materie keine verborgene oder unerkennbare Kraft hat, daß siein allem wesentlichen mit der reinen Wahrnehmung zusammenfällt.Daraus schließen wir, daß der lebende Körper im allgemeinen, das Ner-vensystem im besondern nur Durchgangsstellen für Bewegungen sind,die als Reiz empfangen und als Reflexe oder als willkürliche Handlun-gen weitergegeben werden. Also wäre es vergeblich, wollte man derGehirnsubstanz die Erzeugung von Vorstellungen als Eigenschaft beile-gen. Nun wird eine oberflächliche Psychologie die Phänomene des Ge-dächtnisses, in denen wir den Geist in seiner greifbarsten Form zu er-fassen glauben, am liebsten ganz aus der Gehirntätigkeit hervorgehenlassen, gerade weil sie sich am Berührungspunkte von Bewußtsein undMaterie vollziehen und weil deshalb sogar die Gegner des Materialis-mus nicht anstehen, im Gehirn einen Behälter mit Erinnerungen zu se-hen. Gelänge es aber einwandfrei festzustellen, daß der Gehirnvorgangnur einem ganz kleinen Teil des Gedächtnisses entspricht, daß er eherdessen Wirkung als seine Ursache ist, daß die Materie hier wie überalldas Vehikel einer Tätigkeit und nicht das Substrat einer Erkenntnis ist,dann wäre unsere These ausgerechnet an dem Beispiel bewiesen, dasman allgemein gerade dazu fair am ungeeignetsten halten wird, und esergäbe sich die Notwendigkeit, den Geist zu einer selbständigen Reali-tät zu erheben. Außerdem würde dann vielleicht das Wesen dessen,was wir Geist nennen, und die Möglichkeit der gegenseitigen Einwirkung

Page 41: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

41

von Geist und Materie zum Teil verständlich werden. Denn eine Be-weisführung dieser Art darf nicht rein negativ bleiben. Nachdem wir ge-zeigt haben, was das Gedächtnis nicht ist, ersteht uns die Aufgabe zuuntersuchen, was es ist. Nachdem

/63/wir dem Leibe nur die eine Funktion, Handlungen vorzubereiten, beige-legt haben, sind wir gezwungen zu untersuchen, warum das Gedächtnisaufs engste mit diesem Leibe zusammenzuhängen scheint, ob und wiees von körperlichen Verletzungen betroffen wird und wieso es in seinerVerfassung von der Beschaffenheit der Gehirnsubstanz abhängt. Zu-dem muß uns am Ende diese Untersuchung zugleich über den psycho-logischen Mechanismus des Gedächtnisses, wie auch über verschiede-ne andere geistige Funktionen, die damit zusammenhängen, Aufschlüs-se geben. Und wenn so von unserer Hypothese aus auf die Problemeder reinen Psychologie einiges Licht fallen dürfte, so wird dabei auchumgekehrt die Hypothese selbst an Sicherheit und Festigkeit gewinnen.Doch wir müssen denselben Gedanken noch in einen dritten Zusam-menhang einstellen, um ganz deutlich zu machen, weshalb wir das Pro-blem des Gedächtnisses für so wichtig halten. Aus unserer Analyse derreinen Wahrnehmung können zwei in gewissem Sinne divergierendeFolgerungen gezogen werden; beide gehen über das Gebiet der Psy-chologie hinaus, die eine in der Richtung der Psychophysik, die anderein der Richtung der Metaphysik, beide lassen eine unmittelbare Verifika-tion nicht zu. Die erste betrifft die Aufgabe des Gehirns bei der Wahr-nehmung: das Gehirn sollte ein Werkzeug der Tätigkeit, nicht der Vor-stellung sein. Wir konnten von den Tatsachen keine direkte Bestätigungdieser These erwarten, da laut Definition die reine Wahrnehmung sichauf gegenwärtige Objekte richtet, indem sie unsere Organe und Ner-venzentren in Bewegung fetzt, und sich deshalb alles so vollziehenmuß, als ob unsere Wahrnehmungen aus unserem Gehirn hervorgingenund alsdann auf einen Gegenstand projiziert würden, der von ihnen ab-solut verschieden ist. Mit andern Worten, in dem Falle der äußernWahrnehmung führen beide Thesen, die von uns bekämpfte und unsereeigene, zu ganz denselben Konsequenzen, so daß man zugunsten dereinen oder anderen wohl ihre leichtere Begreiflichkeit, aber niemals dieAutoritt der Erfahrung anfahren kann. Dagegen kann und muß

/64/eine empirische Untersuchung des Gedächtnisses zwischen beiden denAusschlag geben. Denn die reine Erinnerung ist laut Hypothese die Vor-stellung eines nicht gegenwärtigen Objektes. Wenn nun die Wahrneh-mung ihre notwendige und zureichende Ursache in einer bestimmtenGehirntätigkeit hätte, so müßte diese selbe Gehirntätigkeit, wenn siesich in Abwesenheit des Objektes mehr oder weniger vollständig wie-derholt, genügen, um die Wahrnehmung zu reproduzieren: dann ließesich das Gedächtnis restlos durch das Gehirn erklären. Wenn wir aberfinden, daß der Gehirnmechanismus die Erinnerung zwar in gewisserHinsicht bedingt, daß er aber nicht genügt, ihren Fortbestand zu sichern;daß er mit der Reproduktion der Wahrnehmungen mehr im Dienst unse-res Tuns als unseres Vorstellens steht, dann sind wir zu dem Schlußberechtigt, daß er schon bei der Erzeugung der Wahrnehmungen eineanaloge Aufgabe hat und daß seine Funktion einfach ist, unserm Tun

Page 42: bergson materie 1 - swiki.hfbk-hamburg.de · Henri Bergson Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner 1991, S.1 – 65

42

seine Wirkung auf das jeweilige Objekt zu sichern. Damit wäre dannunsere erste Schlußfolgerung bestätigt. - Bliebe alsdann jene zweiteFolgerung mehr metaphysischer Art: daß wir in der reinen Wahrneh-mung wirklich außer uns versetzt werden und daß wir dabei die Realitätdes Gegenstandes in einer unmittelbaren Anschauung erfassen. Auchhier wäre eine experimentelle Verifikation nicht möglich, da der Effektganz derselbe sein muß, gleichgültig ob man die Realität des Objektesintuitiv wahrnimmt oder verstandesgemäß konstruiert. Aber eine Unter-suchung der Erinnerung wird au h hier zwischen den beiden Hypothe-sen entscheiden können. In der zweiten Hypothese kann nämlich zwi-schen Wahrnehmung und Erinnerung nur ein Unterschied der Intensitätoder allgemeiner des Grades bestehen, da beide einfach Vorstellungs-phänomene sind, die sich selbst genügen. Stellt sich dagegen heraus,daß zwischen Erinnerung und Wahrnehmung nicht ein einfacher Unter-schied des Grades, sondern ein radikaler Unterschied des Wesens be-steht, dann neigt sich die Schale zugunsten der Hypothese, die in derWahrnehmung ein Etwas findet, das in der Erinnerung auch nicht imschwächsten Grade anzutreffen ist:

/65/eine intuitiv erfaßte Realität. So ist das Problem des Gedächtnisseswirklich von ungemeiner Wichtigkeit, da es zur psychologischen Verifi-kation zweier Thesen führt, die unverifizierbar scheinen, und von denendie zweite, metaphysischen Ranges, weit jenseits aller Psychologie zuliegen scheint.Unser Weg ist also klar vorgezeichnet. Wir werden zunächst die ver-schiedenen Fakten der normalen und der pathologischen PsychologieRevue passieren lassen, aus denen man eine physiologische Theoriedes Gedächtnisses glaubt ableiten zu können. Diese Untersuchung wirdnotwendigerweise sehr in die Einzelheiten gehen müssen, da sie andersunnütz wäre. Wir müssen, indem wir uns so genau wie möglich an dieTatsachen halten, zu erforschen suchen, wo bei den Operationen desGedächtnisses die Beteiligung llnaeres Körpers anfängt und wo sie auf-hört. Und sollten wir bei dieser Untersuchung unsere Hypothese bestä-tigt finden, so würden wir ohne Zaudern einen Schritt weiter/Ehen unddie elementare Funktion des Geistes für sich los Auge fassen, um dieTheorie von den Beziehungen zwischen Geist und Körper, die wir dannwerden ausgeführt beben, in diesem Stücke zu ergänzen.