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Christina Freund - Karl-Theodor-Str. 31 a – 80803 München – Tel.: 089 – 98106761 – [email protected]
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Beunruhigte Kinder.
Hyperaktivität aus dem Blickwinkel von Familienstellen, Bindung und Trauma
Ein Vortrag.
Mein Wunsch und Ziel ist es, Ihnen die Unruhe der Kinder in ihrem Wesen und Ursa-
chen darzustellen. Dabei ist es entscheidend, die kindlichen Verhaltensauffälligkeiten
zunächst als Symptome einer noch verborgenen Problematik zu erkennen und als
bestmögliche Bewältigungsversuche zu verstehen.
Dann erst sind daraus mögliche Konsequenzen für Heilung und Therapie der Kinder
zu ziehen.
Symptome der Kinder
Heilen Verstehen Erkennen
als Ausdruck und Bewältigung von Angst und Ohnmacht.
Abbildung 1
Der Schwerpunkt liegt daher auf der Stufe des Verstehens der Symptome von
ADHS:
Sie sind als Ausdruck und Bewältigungsversuch von Angst und Ohnmacht der Kinder
zu verstehen.
Was ist ADHS?
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1. Die Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
Die Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist die häufigste Verhal-
tensstörung im Kindes – und Jugendalter. Der hyperaktive Zappelphilipp ist nicht nur
in beinahe jedem Klassenzimmer, sondern auch in der Öffentlichkeit präsent.
Die ständige körperliche und geistige Unruhe der Kinder ist für Eltern, Geschwister,
Lehrer und Mitschüler sehr anstrengend und nur schwer auszuhalten.
ADHS wird als Störungsbild in den klassischen Diagnosemanualen ICD 10 und DSM
IV aufgeführt:
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (DSM IV)
Hyperkinetische Störungen (ICD 10) Aufmerksamkeitsstörung – Hyperaktivität – Impulsivität
Unruhe
Abbildung 2
Die Symptome
Trotz unterschiedlicher Bezeichnungen stimmen die beiden Manuale in der Beschrei-
bung der Kernsymptomatik überein:
Hyperaktivität ist eine permanente motorische Bewegung insbesondere dann, wenn
Stille und Ruhe erforderlich wären.
Unaufmerksamkeit bezeichnet ein Verhalten, das von Unkonzentriertheit und Un-
aufmerksamkeit gegenüber momentan zu leistenden Aufgaben und Arbeiten geprägt
ist.
Impulsivität meint ein spontanes Ausagieren von Impulsen ohne Rücksicht auf so-
ziale Konventionen.
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Dabei gibt es unterschiedliche Typen, je nach Ausprägung der drei Kardinalsympto-
me, wie beispielsweise die Aufmerksamkeitsdefizitstörung ADS.
Die Ursache
Der momentane Stand der Wissenschaft, wie sie unter anderem von Manfred
Döpfner und Gerd Lehmkuhl vertreten wird, geht von einer genetischen Disposition
bei den betroffenen Kindern aus, die zu Veränderungen im Gehirn führt. Diese
bewirken eine Störung des Neurotransmitter-Systems. Dadurch ist ihre Fähigkeit,
sich zu regulieren und zu steuern, eingeschränkt.
Die Symptomatik kann durch Umweltfaktoren, wie das Familien - und Schulsystem
verstärkt oder vermindert werden.
Die Therapie
Entsprechend dem gängigen Erklärungsmodell kann die Therapie von ADHS immer
nur eine Symptombehandlung sein, da sich die Ursache – die genetische Disposition
– nicht heilen lässt.
Es gibt drei hauptsächliche Behandlungsformen, die auch miteinander kombiniert
werden können:
Die medikamentöse Therapie wirkt direkt auf das Neurotransmitter-System im
Gehirn ein.
Die Verhaltenstherapie versucht, die Steuerungsfähigkeit der Kinder zu stärken.
Die Psychotherapie befasst sich mit den Umweltfaktoren, wie Schule und Familie.
Allerdings finden die Kinder mit keiner dieser Therapieformen wirklich zu sich. Ihre
Seele bleibt unruhig.
Da eine Therapie immer nur so gut sein kann, wie das ihr zugrunde liegende
Erklärungsmodell, ist meiner Ansicht nach ADHS in ihrer Ursache noch nicht
gänzlich verstanden.
Was beunruhigt die Kinder so sehr?
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2. Ein Erklärungsansatz
Ich möchte zusammen mit Ihnen einen neuen Blick auf die unbändige Unruhe der
Kinder werfen.
Dabei stelle ich Ihnen einen Erklärungsansatz vor, der von Ergebnissen aus der
Analyse von Aufstellungen ausgeht.
Diese werden dann mit den theoretischen Erkenntnissen der Bindungstheorie von
John Bowlby, Karl Heinz Brisch, u.a. und der Mehrgenerationalen Psychotrauma-
tologie von Franz Ruppert verbunden.
Erklärungsansatz
Bindung Trauma Unruhe
Aufstellung
Abbildung 3
Aufstellungen, Bindung und Trauma sind derart grundlegende Themenkomplexe,
dass ich Ihnen nur einen kleinen Einblick schenken kann. Es wäre vermessen, diese
in einem Vortrag angemessen darstellen zu wollen.
Was sind Aufstellungen?
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3. Die Aufstellungen
Eine Aufstellung ist eine psychotherapeutische Methode, mit deren Hilfe Menschen
einen Blick auf ihre Seele, deren Zustand und Struktur werfen können.
Dabei zeigt sich, welche seelischen Prozesse in einem Menschen wirksam sind und
welche Faktoren sein Denken, Fühlen und Handeln bestimmen. Darüber hinaus sind
Aufstellungen ein wichtiges Instrument, um Symptome und Erkrankungen in ihrem
tatsächlichen Ursachen und Wirkungsbezügen zu erkennen und zu verstehen.
Aufstellungen
sind eine psychotherapeutische Methode zur Visualisierung von
seelischen Prozessen, Einflussfaktoren auf Denken, Fühlen, Handeln, Ursachen und Zusammenhängen von Symptomen und Krankheiten.
Die StellvertreterInnen spiegeln die seelische Wirklichkeit eines Menschen in seinem Bindungssystem wider.
Abbildung 4
Es gibt unterschiedliche Formen der Aufstellung, wie beispielsweise das klassische
Familienstellen, das Bert Hellinger entwickelt und bekannt machte. Im Unterschied
dazu entwickelt Franz Ruppert eine besondere Form, in der sich die Stellvertreter frei
ausdrücken können.
Dabei spiegeln sich seelische Prozesse und Wirklichkeiten der Menschen in ihren
jeweiligen Bindungssystemen wieder. Diese seelischen Realitäten sind oft über-
raschend und unterschiedlich zu dem, was sie rational erwarteten.
Was zeigt sich in den Aufstellungen?
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Die Analyse
Ich habe insgesamt zehn Aufstellungen aus zwei ADHS – Seminaren mit der
Videokamera aufgenommen, transkribiert und analysiert.
Meine Leitfragen waren dabei:
Was beunruhigt die Kinder so sehr?
Worauf ist ihre ganze Aufmerksamkeit gerichtet?
Wie können die Kinder zu ihrer inneren und äußeren Ruhe finden?
Die Antworten auf diese grundlegenden Fragen sind in meiner Diplomarbeit „ADHS,
Bindung und Trauma“ und in dem Artikel „Hyperaktivität und ADHS“ in der „Praxis
der Systemaufstellung“ zu finden.
Die Ergebnisse
Die Gene sind es nicht, welche die Unruhe der Kinder verursachen.
Die Kinder erreichen ihre Mutter emotional nicht.
Die Mütter sind mit sich beschäftigt; sie wissen gar nicht, dass sie überhaupt ein Kind
haben und betonen, selber noch Kind zu sein; sie können sich nicht bewegen, fühlen
nichts, sprechen nichts, ... .
Die Kinder werden immer unruhiger. Sie quengeln, zupfen an der Kleidung der Mut-
ter, reden und bewegen sich unaufhörlich, hören nicht auf, nach der Mutter zu su-
chen und zu rufen... .
Durch schlimme Erlebnisse der Mutter wird nicht nur ihre Seele verletzt, sondern
auch ihre Fähigkeit, sichere Bindungen einzugehen.
Die Mütter sind genauso verzweifelt wie ihre Kinder. Sie suchen bei ihren Müttern
vergeblich nach Schutz und Liebe. Dabei zeigen sich schlimme Erlebnisse, die Müt-
ter und/oder Großmütter erlebten.
Die Kinder sind völlig außer sich und versuchen, ihren Müttern zu helfen, so dass sie
die Mütter doch noch erreichen können. Sie wollen sie vor den schlimmen
Erlebnissen beschützen. Sie suchen vehement nach Lösungen und Heilung in ihren
Familiensystemen.
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Dadurch werden die Kinder existentiell beunruhigt. Ihre ständigen Bewegungen sind
lebenswichtige Bewältigungsversuche der Angst und Ohnmacht.
Die Kinder sind verzweifelt, weil sie weder ihre Mutter erreichen können, noch diese
retten können. Sie sinken erschöpft in sich zusammen und liegen regungslos am
Boden. Bis sie doch wieder Kraft finden und sich weiter bewegen. Es zeigt sich ein
andauernder Kreislauf von ständigen Bewegungen und völligen Erschöpfungszu-
ständen.
Ergebnisse
Die Kinder erreichen ihre Mutter emotional nicht. Durch traumatische Erlebnisse der Mutter wird nicht nur ihre Seele verletzt, sondern auch ihre Fähigkeit, sichere Bindungen einzugehen. Dadurch werden die Kinder existentiell beunruhigt. Ihre ständigen Bewegungen sind lebenswichtige Bewältigungsversuche der Angst und Ohnmacht.
Abbildung 5
Wie lassen sich diese Ergebnisse erklären?
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4. Die Bindungstheorie
Die Bindungstheorie des britischen Kinderpsychiaters John Bowlby und der kanadi-
schen Psychologin Mary Ainsworth liefert dazu erste wichtige Hinweise. Sie beschäf-
tigten sich mit dem Aufbau und den Veränderungen von Bindungen im Laufe des
Lebens. Dabei lag ihr Forschungsschwerpunkt auf der Mutter-Kind-Bindung.
Was ist eine Bindung?
Die Bindung
Ein Kind sucht und findet in der Bindung zu seiner Mutter immer dann Schutz, Trost
und Liebe, wenn es sich unwohl oder bedroht fühlt.
Dadurch wird das Überleben eines Kindes gewährleistet. Im Gegensatz zu
verschiedenen Tierarten ist der Mensch alleine nicht lebensfähig. Über seine Geburt
hinaus ist er auf die Mutter und später dann auch auf andere Menschen hin bezogen.
Diese Bindung an die Mutter (später auch an den Vater, die Geschwister und andere
Menschen) ist der nährende Boden für jegliche weitere Entwicklung eines Kindes.
Besonders wichtig ist die Bindung für die Entwicklung der Fähigkeit, Kontakte und
Beziehungen zu sich selber, zu anderen Menschen und zur Welt an sich einzugehen.
Bindung
Großeltern Geschwister
Freunde
PartnerInnen
Kinder
Kind Mutter und Vater
Abbildung 6
Die Bindung an die Mutter, die ein Mensch als Kind erfährt, ist zunächst das Muster
für alle weiteren Beziehungen, die er im Laufe seines Lebens eingeht. Dabei ist vor
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allem die Qualität dieser Bindung von entscheidender Bedeutung. Man kann sagen:
Die Bindung an die Mutter ist dem Menschen ein Vor-Bild, wie Beziehungen zu Men-
schen beschaffen sind und wie sie zu gestalten sind:
Finde ich in meinen Beziehungen Schutz, Trost und Geborgenheit?
Oder sind meine Beziehungen für mich einschränkend, unsicher und gefährlich?
Suche ich nach Beziehungen oder vermeide ich sie?
Diese Bindungsmuster aus der Kindheit sind daher weit über die ersten Lebensjahre
hinaus sehr einflussreich. Insbesondere für die Bindung zu eigenen Kindern sind sie
von entscheidender Bedeutung.
Wie findet Bindung statt?
Der Bindungsprozess
Der Prozess der Bindung besteht aus einem Wechselspiel zwischen einem Bin-
dungsverhalten des Kindes und dem entsprechenden Fürsorgeverhalten der Mutter.
Bindungsprozess Bedrohung Bindungsverhalten Feinfühligkeit
schreien weinen klammern nachlaufen
füttern trösten schmusen wiegen
Liebe Sicherheit
Abbildung 7
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Das Kind äußert ein Bedürfnis. Es schreit, weint, … .
Daraufhin wendet sich die Mutter dem Kind zu. Sie fühlt, ob es gerade schreit, weil
es Hunger hat, weil die Windeln voll sind oder weil es einfach schlecht gelaunt ist.
Diese Feinfühligkeit ist der Mutter angeboren. Mit dieser Fähigkeit versteht eine Mut-
ter das jeweilige kindliche Bedürfnis und kann es so rechtzeitig stillen.
Reagiert eine Mutter wiederholt und vorhersehbar mit Feinfühligkeit auf das Bin-
dungsverhalten ihres Kindes, so ist das Kind sicher gebunden.
Warum ist eine sichere Bindung so wichtig?
Die Selbstwirksamkeit und der Selbstwert
In einer sicheren Bindung gewinnt das Kind langsam Sicherheit und Gewissheit dar-
über, dass seine Bedürfnisse passend und rasch befriedigt werden. Es lernt dabei,
dass ein unangenehmer Zustand zeitlich begrenzt ist und es selber etwas dafür tun
kann, damit es ihm wieder gut geht. Das Kind weiß, dass es aktiv und wirksam für
sich selber sorgen und sich schützen kann. Und es weiß, dass ihm andere
Menschen dabei helfen.
„Ich fühle mich unwohl. Ich habe Hunger. Ich schreie. Mama kommt und füttert mich.
Ich habe keinen Hunger mehr. Es geht mir gut.“
Erlebt ein Kind dies immer wieder, kann sich in ihm eine innere Vorstellung oder ein
„inneres Bild“, wie es Gerald Hüther nennt, verfestigen. Die Macht dieser inneren Bil-
der besteht darin, dass sie ein Kind befähigen, für sich zu sorgen.
„Ich fühle mich unwohl, weil ich Hunger habe. Ich muss zu schreien beginnen, damit
Mama kommt, um mich zu füttern, damit es mir wieder gut geht.“
Insbesondere die inneren Bilder der Selbstwirksamkeit und des Selbstwertes sind
von großer Wichtigkeit für ein Kind.
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„Die Macht der inneren Bilder“ (Gerald Hüther) Ich weiß, dass ich mit
meinem Handeln meine Ich weiß, dass ich es wert
Wünsche und Ziele bin, dass ich und andere sich
erreichen kann. um mich kümmern.
Selbstwirksamkeit Selbstwert
Abbildung 8
Selbstwirksamkeit bedeutet, dass ein Kind um die Wirksamkeit seines Handelns
weiß. Es ist sicher, dass es damit eigene Ziele und Wünsche erreichen kann. Dies ist
vor allem in der Schule beim Lernen wichtig.
Selbstwert meint, dass, ein Kind um seinen Wert weiß. Das Kind ist es wert, dass
sich Menschen kümmern und helfen und, dass es für sich selber sorgt.
Was geschieht, wenn eine Bindung nicht sicher ist?
Die Bindungsstörung
Eine sichere Bindung zwischen Mutter und Kind ist leider nur der Idealfall.
Für ihr Gelingen ist die Feinfühligkeit der Mutter entscheidend. Doch ist diese höchst
störanfällig. Äußere und innere Einflussfaktoren, die bei der Mutter Stress auslösen,
können die Feinfühligkeit verringern oder verhindern. Dann kann eine Mutter die Be-
dürfnisse ihres Kindes nicht mehr richtig deuten. Sie versteht das Kind nicht mehr.
Die Bindung ist unsicher.
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Bindungsstörung Bindungsverhalten
missverstehen
bestrafen Wut über-,unterreagieren Angst ignorieren Verlassenheit
Abbildung 9
Ein Kind hat Hunger. Es beginnt zu quengeln und zu schreien. In einer unsicheren
Bindung könnte es zu folgenden Reaktionen der Mutter kommen:
Die Mutter erschrickt und beginnt hastig ihr Kind zu füttern. Dabei gibt sie ihm viel
mehr, als es eigentlich will. Sie hat Angst, dass sie ihr Kind nicht gut versorgt, dass
sie keine gute Mutter ist, dass es sterben könnte, … . Die Mutter reagiert zu viel.
Die Mutter gibt dem Kind verspätet eine von ihr zuvor bestimmte Menge an Nahrung.
Die Mutter hat Angst, dass sie das Kind zu sehr verwöhnen könnte, dass es ihr über
den Kopf wächst, dass es zu viel wollen könnte, dass es sie aussaugt, … . Die Mut-
ter reagiert zu wenig.
Die Mutter erschrickt. Sie ist hilflos, weil sie sich nicht weiß, warum das Kind schreit.
Sie wechselt ihm die Windeln. Das Kind schreit weiter und die Mutter ist noch verun-
sicherter. Die Mutter hat Angst, nie wirklich zu wissen, was das Kind braucht, es ein-
fach nicht zu verstehen. Die Mutter missversteht ihr Kind.
Die Mutter reagiert gar nicht auf das Schreien des Kindes und füttert es erst dann,
wenn es aufgehört hat. Die Mutter hat generell Angst vor allen Bedürfnisäußerungen
des Kindes. Die Mutter ignoriert das Kind.
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Die Mutter kann aufgrund ihrer Angst das Bedürfnis des Kindes nicht stillen. Das
Kind ist sich nicht sicher, ob und wann und wie die Mutter auf sein Bindungsverhalten
reagiert. Seine Bedürfnisse bleiben trotz aller Anstrengung unbefriedigt. Dazu kom-
men noch Gefühle von Angst, Wut und Verlassenheit, weil die Mutter nicht ent-
sprechend reagierte.
Man kann sagen: Die Not des Kindes verdoppelt sich. Und dies immer und immer
wieder.
Was beeinträchtigt ihre Feinfühligkeit?
Warum hat die Mutter Angst?
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5 Das Trauma
In den Aufstellungen zeigt sich, dass die eigenen Bindungsstörungen und traumati-
schen Lebenserfahrungen die Feinfühligkeit einer Mutter vermindern und verhindern.
Ein Trauma ist eine momentane oder andauernde oder sich wiederholende Situation,
die für den betroffenen Menschen objektiv und/oder subjektiv lebensgefährlich ist. Er
ist in der Situation absolut schutzlos und ohnmächtig. Dadurch wird er seelisch und
körperlich überfordert.
Unfälle, Kriege, Verluste, Vernachlässigungen, körperliche Misshandlungen und
sexuelle Gewalt sind Beispiele für traumatische Erlebnisse.
Trauma
- momentane / andauernde / sich wiederholende Situation der Existenz- gefährdung
- Gefühle von Ohnmacht und Todesangst
- körperliche und seelische Überforderung
- Überleben durch Spaltung
Abbildung 10
Ein Überleben ist nur durch den psychischen Mechanismus der Spaltung möglich.
Es gibt zwei unterschiedliche Arten der Spaltung:
Fragmentierung des traumatischen Ereignisses
Das Trauma wird im Gehirn in einzelne Fragmente gespalten. Es sind dies
einzelne zusammenhanglose Gefühle, Gedanken, Sinneseindrücke, körper-
liche Empfindungen, u.ä.. Diese Fragmente werden im Gehirn zersplittert ge-
speichert. Dadurch verlieren sie jeglichen Bezug zueinander. Das Trauma ist
nicht mehr als ein ganzes Erlebnis erinnerbar. Die Fragmente tauchen immer
nur kurz wie Blitze als flash-backs im Bewusstsein auf, ohne dass der Mensch
sie einem Ereignis zuordnen könnte.
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So ist ein Weiterleben ohne Bewusstsein über die schrecklichen Erlebnisse
möglich.
Spaltung 1 Fragmentierung des traumatischen Ereignisses Sinneseindrücke Gedanken Trauma Gefühle körperliche Empfindungen
Abbildung 11
Spaltung der menschlichen Seele
Die menschliche Seele spaltet sich in unterschiedliche Persönlichkeitsanteile.
Die traumatisierten Anteile
Sie haben das Trauma erlebt. Sie stecken noch inmitten des Schreckens. Für
sie ist das Trauma Gegenwart und Dauerzustand. Ihre Entwicklung ist mit dem
Trauma abgebrochen. Sie sind immer noch Ungeborenes, Säugling oder
Kleinkind, … .
Die Überlebensanteile
Sie sichern das Überleben des Menschen, indem sie verhindern, dass das
Trauma in das Bewusstsein des Menschen kommt. Deswegen vermeiden sie
alles, was nur im Geringsten daran erinnern könnte. Insbesondere vermeiden
sie Gefühle. Die Überlebensanteile verdrängen, kontrollieren, kompensieren,
betäuben und vermeiden. Je schlimmer das Trauma war, desto mächtiger und
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stabiler sind sie. Dadurch ermöglichen sie das Überleben, verhindern jedoch
ein emotional erfülltes Leben. Es sind diese Anteile, die in einer Therapie, vor
allem in einer Traumatherapie, oft vehement Widerstand leisten.
Die gesunden Anteile
Sie sind der Kern des Menschen, der vom Trauma unberührt ist. Es gibt sie in
jedem Menschen, was auch immer er Schreckliches erlebte. Sie sind klein,
verkümmert und ganz vom Trauma verdeckt. Sie emotional wiederzufinden
und zu stärken, ist die Voraussetzung für Heilung.
Spaltung 2 traumatisierte Anteile Überlebensanteile
gesunde Anteile
Spaltung in einzelne Persönlichkeitsanteile
Abbildung 12
Der Mensch weiß oft ebenso wenig von seinen Anteilen, wie diese von einan-
der wissen.
Mit Hilfe von Aufstellungen können Menschen erkennen, welche Anteile in ih-
nen sind. Sie können emotional in Kontakt mit ihnen treten und sie als zu sich
gehörig fühlen.
Traumatische Erlebnisse verletzen den Menschen nicht nur in seiner seelischen Inte-
grität, sondern vor allem auch in seiner Bindungsfähigkeit.
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Indem er von seinen Gefühlen wie abgeschnitten ist, kann er nicht mehr feinfühlig auf
die Bindungsbedürfnisse seiner Kinder und seiner Partner zu reagieren. Die Gefühle
sind fast ausschließlich an das Trauma gebunden.
Deswegen vermeiden Mütter Gefühle und deswegen können die Kinder ihre Mütter
nicht erreichen.
Sie sind unsicher gebunden.
Wie wirkt sich diese Bindungsstörung auf die Kinder aus?
Das Bindungstrauma
Ohne Kontakt zu den eigenen Gefühlen kann eine Mutter die Bedürfnisse eines
Kindes nach Schutz, Trost und Wärme nicht ausreichend erfüllen. Die seelische und
körperliche Not des Kindes bleibt bestehen.
Die symbiotische Verstrickung
Das Kind intensiviert sein Bindungsverhalten, um die Mutter doch noch zu erreichen.
Diese bedingungslose Suche nach emotionaler Nähe in den mütterlichen Gefühlen
ist überlebenswichtig. Das Kind muss solange suchen, bis es Gefühle der Mutter fin-
det. Und es findet sie im Trauma der Mutter.
Daran bindet sich das Kind.
War das Trauma für die Mutter schon lebensbedrohlich, so ist es das für das Kind
noch viel mehr. Auch das Kind muss das Trauma abspalten, um zu überleben. Dabei
übernimmt das Kind nicht nur das Trauma und die entsprechenden Gefühle, sondern
auch die Spaltung der Mutter.
Es ist symbiotisch verstrickt mit der Mutter.
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Bindungstrauma
Symbiotische Verstrickung Scham Spaltung
Angst
Schuld
Trauer
Wut
Die Bindung selbst ist für ein Kind traumatisierend.
Abbildung 13
In dieser Verstrickung überschreiten Kinder Grenzen der eigenen Person und Identi-
tät. Sie binden sich an Anteile ihrer Vorfahren, an denen auch ihre Mütter gebunden
sind. Dabei fühlen sie diese übernommenen Gefühle als wären es eigene Gefühle.
Als hätten sie selber das Trauma erlebt.
Dadurch verlieren sie jegliche Identität und Orientierung.
Wer bin ich? Welche Gefühle gehören zu mir?
Wer ist meine Mutter? Meine Oma? Meine Uroma?
So ist die Bindung an sich für das Kind traumatisch.
Die seelische Not in der emotionalen Abwesenheit der Mutter ist derart groß, dass
die Kinder sich an die traumatischen Gefühle der Mutter binden. Dadurch werden sie
selber traumatisiert. Das Kind erleidet ein Bindungstrauma.
Wie versuchen die Kinder dieses Bindungstrauma zu bewältigen?
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6 Die Überlebensstrategien der Kinder
Die Überaufmerksamkeit und Hyperaktivität
Ein Kind versucht die Bindungsunsicherheit und das Bindungstrauma auf seine ihm
bestmögliche Art und Weise zu bewältigen.
In den Aufstellungen zeigen sich immer wieder die Symptome von ADHS als Über-
lebensstrategien. Mit ihnen versucht das Kind, die drohende Resignation zu verhin-
dern. Man kann sagen: Hyperaktivität ist die Kehrseite der Depression angesichts
der kindlichen Angst und Ohnmacht.
Bewältigungsversuche
Überaufmerksamkeit
Fokussierung auf die Mutter
körperliche und geistige Hyperaktivität
Suche nach der Mutter und Abbau des körperlichen Erregungszustandes
Impulsivität
Wut als Ausdruck tiefster Verzweiflung
Abbildung 14
Die Überaufmerksamkeit
Ein Kind versucht mit aller Kraft und Verzweiflung die Mutter und ihre Gefühle
zu erreichen. Doch dazu muss es wissen, wo die Mutter sich emotional be-
findet. Hochkonzentriert verfolgt es jede ihrer emotionalen Bewegungen. Die
Gefühle der Mutter sind für das Kind ein überlebenswichtiger Orientierungs-
punkt. Auf sie ist das Kind ausschließlich fokussiert. Es verwundert daher
nicht, dass (zu) wenig Aufmerksamkeit zum Beispiel für die Schule und andere
nicht primär überlebenswichtige Dinge übrig bleibt. Das Kind erscheint unkon-
zentriert.
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Das Symptom der Aufmerksamkeitsstörung ist daher mehr ein zu viel als zu
wenig an Aufmerksamkeit.
Die körperliche und geistige Hyperaktivität
In den unaufhörlichen Bewegungen zeigt sich die Angst und Ohnmacht des
Kindes.
Grundlegend ist die Hyperaktivität ein Ausdruck dieser andauernden Suchbe-
wegungen der Kinder.
Darüber hinaus ist sie ein Versuch, den ständig erhöhten Erregungszustand
der Kinder zu regulieren. Die emotionale Abwesenheit der Mutter ist für ein
Kind derart bedrohlich, dass ein physiologisches Notfallprogramm gestartet
wird. Dabei wird der Körper in Hochspannung versetzt, damit das Kind um
sein Überleben kämpfen kann. Da jedoch bei einem Bindungstrauma die Situ-
ation gleich bleibend bedrohlich ist, bleibt das Kind diesem Dauerstress aus-
gesetzt. Diese wird durch die Bindung an das Trauma noch zusätzlich ge-
steigert.
Die Hyperaktivität ermöglicht, diese andauernde Hochspannung soweit abzu-
bauen, dass das Überleben gesichert ist.
Die Impulsivität
In ihren impulsiven Äußerungen zeigt sich die Wut der Kinder, von ihrer Mutter
nicht wirklich gesehen zu werden. Hinter dieser Wut liegt eine tiefe Verzweif-
lung und Ohnmacht der Kinder.
Wie finden Kinder zur Ruhe?
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7 Die Heilung
Die Kinder finden dann Beruhigung, wenn Eltern Verantwortung für sich selbst und
ihr Leben übernehmen. Dies beinhaltet die Bereitschaft, eigene seelische Verletzun-
gen erkennen, verstehen und heilen zu wollen.
In diesem Prozess können sich Mutter und Vater jetzt als erwachsene Menschen aus
ihren symbiotischen Verstrickungen mit ihren Eltern lösen. Dadurch werden sie für
ihre Kinder sichtbar und greifbar. Dann können Kinder in der Bindung zu ihnen
Schutz, Trost und Liebe finden.
Kinder können sich nicht vor symbiotischen Verstrickungen schützen und sich auch
nicht daraus lösen. Das ist Aufgabe der erwachsenen Eltern. Dieser intensive Pro-
zess der Lösung setzt eine therapeutische Begleitung in einem geschützten Raum
voraus.
Heilung
Kinder finden dann zu ihrer inneren und äußeren Ruhe, wenn Eltern ihre
eigenen seelischen Verletzungen
Heilen. Verstehen Erkennen
Abbildung 15
Meiner Ansicht nach ist eine Aufstellung dazu sehr gut geeignet. Sie ist eine Metho-
de der Klarheit. Sie offenbart die unterschiedlichen Anteile der Menschen mit ihren
tatsächlichen Bedürfnissen.
Dadurch zeigen sich symbiotischen Verstrickungen, in denen Menschen gefangen
sind. Zugleich öffnen sich ihnen Wege, um sich daraus befreien zu können.